6.

M it zwei gekühlten Flaschen Sekt in ihrer Umhängetasche und ihrem Hund auf dem Arm ging Joanna die Treppe hinunter.

»Pssst.«, zischte sie und legte sich den Zeigefinger der freien Hand auf die Lippen.

»Sei leise. Ich möchte, dass wir die Lindners überraschen.«

Murphy gab nur ein leises Brummeln von sich. Ansonsten verhielt er sich erstaunlicherweise ganz leise, was sonst nicht direkt seine Stärke war, sobald sie vor der Wohnung seiner Lieblingsnachbarn standen. Vorsichtig stellte Joanna den jungen Vierbeiner auf den Boden. Sie drückte den Klingelknopf und wartete gespannt ab. Die Schritte hinter der Tür wirkten schwerfällig.

»Ja?«, sagte Hans Lindner in die Gegensprechanlage, weil er dachte, das Klingeln käme von der Haustür.

Um den älteren Mann nicht zu erschrecken, klopfte Joanna.

»Hallo Hans. Ich bins.«

Hans Lindner riss die Tür auf. Murphy galoppierte an ihm vorbei und schmiss sich mit einem tiefen »Wuff.« auf den Teppich im Flur. Wie immer wälzte er sich ausgiebig. Hans Lindner drehte sich zu dem jungen Hund um und lachte herzlich.

»Komm doch herein, Murphy!«, rief er freudig, was seine Frau auf den Plan brachte.

Anneliese trug ihre Küchenschürze. In der Hand hielt sie einen Kochlöffel.

»Ah. Perfektes Timing. Komm doch herein, Kind.«

Die zwei Frauen strahlten sich an. Joanna ließ sich von Hans umarmen. Dann von Anneliese. Es störte sie nicht mal, dass die Tomatensoße vom Kochlöffel auf ihr Oberteil tropfte.

Obwohl Hans und Anneliese keinerlei verwandtschaftlichen Bezug zu Joanna hatten, verhielten sie sich so, wie Joanna es sich immer von ihren Eltern gewünscht hätte. Joannas Herz machte einen Satz. Ihr Bauch kribbelte. Das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit fühlte sie sich richtig angenommen. Wahrscheinlich sogar das erste Mal überhaupt. Joanna konnte sich nicht erinnern, jemals ohne Gegenleistung einfach gemocht zu werden. Eine vollkommen neue Erfahrung, die ihr, wie sie sich eingestehen musste, ziemlich gut gefiel.

»Hans, hol die Gläser raus, es gibt etwas zu feiern!«, jauchzte sie freudig.

»Du hast einen neuen Job?«

»Jaaaaaaaaaa!«, jubelte Joanna.

Anneliese ließ den Kochlöffel fallen und überwand ganz lässig den Abstand, der sie von Joanna trennte. Sie zog die jüngere Frau an ihre Brust.

»Ich freue mich so mit dir.«, jauchzte Anneliese.

»Hey. Darf ich vielleicht auch mal?«

Hans baute sich vor seinen zwei Lieblingsfrauen auf und strahlte sie an.

»Na klar. Sobald ich fertig bin.«

Dass die zwei älteren Menschen so um sie buhlten, tat Joanna so gut, dass sie herzhaft lachte.

»Kümmere dich lieber um die Gläser. Damit wir anstoßen können.«

»Pfffff.«

Vor sich hin schimpfend entfernte Hans sich. Er stellte die Sektgläser eine Spur zu schwungvoll auf den Tisch.

Anneliese zuckte zusammen.

»Was soll denn bitte jetzt das?«, knurrte sie.

»Ich wollte nur eure Aufmerksamkeit auf mich lenken.«

Hans nutzte den Moment und schob sich zwischen seine Frau und die jüngere Nachbarin. Seine Umarmung war fest. Und dennoch sanft.

Der ältere Mann war wie ein zu groß geratener Teddybär. An seiner Schulter fühlte Joanna sich wie das kleine Mädchen, das sie nie sein durfte. Sie schluckte. Mehrmals. Dann jedoch wurde es ihr zu viel. Sie tauchte unter der Umarmung heraus und holte die zwei Sektflaschen aus ihrer Tasche. Anneliese bekam große Augen.

»Erwartest du noch mehr Gratulanten?«, fragte sie.

»Ehrlich gesagt … ja. Mein Bruder würde gerne mit uns feiern.«

»Oh, das ist doch ganz wunderbar. Hans. Noch ein Glas bitte.«

Keine fünf Minuten später traf Felix ein und wurde, ebenso wie Joanna, begrüßt wie ein Familienmitglied. Der junge Mann fühlte sich sofort wohl bei den älteren Menschen. Ganz locker stieß er mit ihnen an und ließ sich die Geschichte ihres Kennenlernens erzählen.

»Oh man, Jo, mit denen hast du es aber gut erwischt.«, sagte er, als er ein ganzes Stück später mit seiner Schwester und deren Hund wieder vor der Tür der Lindners stand.

»Da würde ich mich auch wohlfühlen.«

Joanna lachte herzhaft.

»Keine Chance. Das sind meine Lieblingsnachbarn. Außerdem tut Annelieses Küche deinem Bauch nicht besonders gut.«

Liebevoll tätschelte sie Felix Bauch.

»Das musst du gerade sagen. So weit ich mich erinnere, saß dein Oberteil letztens auch noch lockerer. Aber mal im Ernst … die zwei sind toll. Ich wünschte, unsere Eltern wären so.«

»Ich auch.«, gab Joanna zu.

Unangenehme Stille legte sich auf die Geschwister. Felix suchte verzweifelt nach einem Thema, das die Stimmung wieder auflockerte. Murphy half ihm auf die Sprünge.

»Darf ich euch begleiten?«, fragte Felix sanft.

»Klar. Warum auch nicht.«

»Das ist gut. Genügend Zeit, dass du mir von deinem neuen Job erzählst. Bei welchem Architekten bist du untergekommen?«

»Bei gar keinem. Erinnerst du dich, dass ich seit Jahren ehrenamtlich als Chat-Moderatorin für einen christlichen Chat arbeite? Ich habe mich einfach ganz spontan dort beworben. Und sie haben mich genommen. Ich muss den Chat betreuen und Beiträge für Foren liefern. Ab und zu auch mal einen Artikel schreiben.«

»Wow. Cool. Und was verdienst du da?«

»Nicht annähernd so viel wie als Architektin, aber wenn ich meinen Lebensstandard etwas zurückschraube, sollte es trotzdem gehen. Notfalls verkaufe ich den Wagen.«

»Hört. Hört. Das aus deinem Mund.«

Felix war ehrlich beeindruckt. Seine Schwester war nie oberflächlich gewesen und hatte sich auch nie sonderlich viel aus Geld gemacht. Trotzdem schätzte sie durchaus den Luxus, den ihre harte Arbeit ihr ermöglicht hatte.

»In sechs Wochen muss ich für drei Tage wegfahren. Kannst du Murphy in der Zeit nehmen? Die Lindners sind im Urlaub.«

»Ich schaue mal. Frag mich sicherheitshalber drei Tage vorher nochmal.«

Zu dritt drehten Joanna, Felix und Murphy eine lange Runde durch den Wald und kehrten nach fast zwei Stunden geschafft zurück. Von der ungewohnten Bewegung war Felix so kaputt, dass er sich gleich nach der Rückkehr aus dem Staub machte.

Joanna war es recht. Sie hatte mehr als genug zu tun. Nachdem sie Murphy gefüttert und sich selbst ein spärliches Abendessen gegönnt hatte, hockte sie sich vor den Laptop und wählte sich auf der Seite des christlichen Chats an. Mit einem Klick befand sie sich im Chatraum, der ausschließlich den Administratoren und Moderatoren vorbehalten war.

Besonders interessant war für sie die Liste mit den Namen. Einige der Teilnehmer und Teilnehmerinnen kannte sie bereits. Andere Namen waren ihr unbekannt. Diesen Leuten widmete Joanna besondere Aufmerksamkeit und studierte interessiert die Profile. Sieben Männer und vier Frauen waren neu dazu gekommen. Lauter attraktive Menschen. Mit einem Mal fühlte Joanna sich schlecht. Woher das kam, wusste sie selbst nicht so genau.

Ach, was solls., dachte sie und klickte einfach einen der Namen an. Ein neues Chatfenster sprang auf.

»Hallo Muschelkuschlerin.«, schrieb Joanna.

Da sie nicht wusste, was sie der ihr fremden Chatterin sonst schreiben sollte, lehnte sie sich erst mal zurück und wartete mit vor dem Bauch gefalteten Händen ab. Die Hände ragten ein ganzes Stück weit vor, was Joanna überdeutlich vor Augen führte, dass Felix Worte gar nicht so weit hergeholt waren. Sie musste etwas gegen den Bauchspeck unternehmen. Und das möglichst gestern schon. Doch wie sollte sie das anstellen? Joanna hatte eine natürliche Abneigung gegen übermäßige Bewegung. Dafür liebte sie Süßes. Und Fleisch. Ein Teufelskreis.

Allein der Gedanke reichte aus. Joannas Magen vollführte eigenwillige Drehungen. Joanna stöhnte frustriert, stand aber trotzdem auf und ging zum Küchenschrank, in dessen hinterster Tür sie ihre Süßigkeiten vor sich selbst versteckte.

»In Zukunft brauche ich bessere Verstecke.«, jammerte sie, während sie einen Keks zwischen die Zähne schob.

Die Schüssel mit Gemüse auf der Arbeitsplatte ignorierte sie. Schließlich war Joanna kein Hase. Wozu also Grünzeug?

Dass ihr nicht ganz ausgewogener Essensplan sie eher weiter von ihrem Ziel, einen flachen Bauch zu bekommen, entfernte, nahm sie hin. Ausnahmsweise. Genüsslich kaute Joanna den Schokokeks und schob sich den nächsten in den Mund. Neben ihren Füßen war dumpfes Schnauben zu hören. Joanna lächelte.

»Sorry, mein Schatz. Kekse sind nichts für dich. Möchtest du eine Karotte?«

Der kleine Murphy schnaubte erneut.

»Ich bin ganz schön fies, was?«

Ein Blick in Murphys dunkle Augen genügte. Joanna wurde schwach. Mit zwei Fingern öffnete sie die Dose, in der sie die Leckerlis aufbewahrte. Zwei der Leckerlis ließ sie wie zufällig auf den Boden fallen. Es rumpelte, als Murphy sich darauf stürzte. Joanna lachte leise. Mit der Kekspackung und einer Tafel Schokolade mit ganzen Nüssen in der einen und einer Weinflasche und Glas in der anderen Hand kehrte Joanna an ihren neuen Arbeitsplatz am Esstisch zurück.

Seufzend ließ Joanna sich nieder und riss die Folie um die Schokolade auf. Mit zwei Händen hielt sie die Tafel fest. Der erste Biss killte bereits ein Viertel.

»Iff daff leffer.«, nuschelte Joanna und kaute genüsslich.

Damit die Schokolade leichter rutschte, nahm Joanna einen großen Schluck Wein. Augenblicklich fühlte sie sich besser. Viel besser sogar.

Das Fenster ihres Chats mit der Muschelkuschlerin blinkte rot. Joanna klickte sich in den Chat.

»Hey Rainbowgirl.«, stand da.

»Hat es einen besonderen Grund, dass du dich Rainbowgirl nennst?«

»Äääh … «, schrieb Joanna und schickte es grinsend ab.

Obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie erwartete, freute sie sich wie ein kleines Kind. Joanna staunte nicht schlecht, als das Nachrichtenfenster nach kurzer Zeit erneut aufsprang.

»Also, nachdem du meine Frage so überaus großzügig beantwortet hast, bleibt mir wohl keine Wahl. Ich muss raten.«

Muschelkuschlerin schreibt., stand da. Joanna rieb sich die Hände.

»Du bist also ein Mädchen.«

»Frau trifft es besser.«, schickte Joanna zurück.

»Du bist also eine Frau. Gehe ich richtig in der Annahme, dass deine Eltern nicht mit einer extragroßen Portion Humor ausgestattet waren und dir eiskalt den Namen Rainbow verpasst haben?«

Nun musste Joanna lachen. Diese Muschelkuschlerin hatte einen Humor, der ihr sehr zusagte. Mit klopfendem Herzen tippte sie »Nope.« und wartete auf die nächste Nachricht.

»Dann hast du aber Glück gehabt. Nicht, dass mir Rainbowgirl nicht gefällt. Aber so richtig als Vorname … «

Erneut blinkten die zwei Worte Muschelkuschlerin schreibt auf. Joanna wartete ab und goss sich sicherheitshalber noch ein Schlückchen Wein ein. Joanna hatte ein Faible für trockenen Rotwein. In den kühlen Monaten bevorzugte sie Rotwein, in den warmen Monaten griff sie lieber auf Rosé oder Weißwein zurück. Bier mochte sie nicht. Das war ihr zu bitter.

»Glück?«, tippte Joanna.

»Was bedeutet schon Glück?«

»Bedeutet dir Glück etwa nichts?«

Mit zusammengekniffenen Augen fragte Joanna sich, an welcher Stelle das Chat-Gespräch eine andere Richtung eingenommen hatte. Wie stellte diese Muschelkuschlerin es nur an, dass sie sich einfach so zu öffnen begann? Einer völlig fremden Frau gegenüber? Von der sie im Grunde nichts wusste? Fassungslos schüttelte Joanna den Kopf und war drauf und dran, das Chatfenster einfach weg zu klicken, doch selbst das würde ihr nicht viel bringen. Solange sie die Userin nicht blockierte, konnte sie immer wieder neue Unterhaltungen starten. Und Administratoren-Kollegen blockierte man nicht einfach. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Also blieb Joanna nichts anderes übrig, als sich dem Gespräch zu stellen. Oder es auf unverfänglichere Themen zu lenken. Doch irgendwie wollte Joanna sich auch öffnen. Warum? Das war ihr selbst nicht klar.

Die Muschelkuschlerin hatte eine Art an sich, die Joanna zunehmend ansprach. Sie tippte, wartete, las und tippte wieder. Nach einer Weile hatte sie das Gefühl, der anderen Moderatorin ihr halbes Leben offenbart zu haben. Von ihr wusste sie hingegen immer noch nichts. Beziehungsweise nicht viel. Das sollte sie ändern. Ganz dringend.

»Erzähl mir von dir.«, tippte sie.

»Über mich gibt es nichts zu erzählen. Mein Leben ist langweilig. Es geht schon so weit, dass ich mich mit einer Stubenfliege unterhalte.«

Mit einer Stubenfliege … Joanna prustete frei heraus. Ein Glück, dass sie den Schluck Wein zuvor hinunter geschluckt hatte, sonst hätte sie ihren Laptop verschrotten können.

»Mit einer Stubenfliege!«, japste Joanna während ihr vor Lachen Tränen über die Wangen liefen.

»Hast du so was schon mal gehört, Murph?«

»Wuff.«, brummelte der junge Vierbeiner und schüttelte den Kopf. Einmal mit Schütteln beschäftigt, fing der ganze kleine Körper an zu wackeln und zu beben.

»Ich spreche mit meinem Hund.«, schrieb Joanna.

»Haha. Wie cool. Du hast also einen Hund. Wie heißt er? Wie alt ist er? Wie sieht er aus? Ist er sehr süß?«

»Er heißt Murphy, wie Murphy´s Gesetz, ist sieben Monate alt und der süßeste Hund, den ich mir nur vorstellen kann. Meine Eltern fanden ihn nicht so toll, was aber wahrscheinlich daran liegt, dass ich sie ein bisschen verarscht habe.«

»Verarscht? Was hast du getan?«

»Sie wollten, dass ich ihnen endlich den Mann in meinem Leben vorstelle.«

»Oh je. Ich kann nicht mehr. Erzähle mir jetzt nicht, dass du IHN vorgestellt hast.«

»Hundert Punkte. Genau das habe ich getan.«

»Du bist verrückt. Und …? Gibt es einen Mann in deinem Leben?«

»Japp. Murphy. Sonst gibt es niemanden. Und du? Hast du jemanden?«

»Nur meine Pucki. Du weißt schon, die Stubenfliege. Und meine Mutter und meine Großmutter. Wir drei halten zusammen wie Pech und Schwefel.«

»Toll. Ich hätte auch gerne so eine Familie. Meine Eltern und meine Schwestern sind … naja… ich habe keinen Kontakt mehr.«

»Oh. Warum denn das? Willst du reden?«

Joanna holte tief Luft. Sollte sie? Oder sollte sie es lieber bleiben lassen? Sie hegte Fluchtgedanken, doch dann … nahm sie sich ein Herz, trank einen großen Schluck Wein und fing an zu schreiben. Die Worte liefen ganz locker von ihrem Kopf über die Hände in die Tastatur.

»Du stehst also auf Frauen.«, kam nach einer Weile eine Antwort.

»Das finde ich cool.«

Ach menno. Wieder so eine, die es cool fand, dass Joanna Frauen als reizvoller wahrnahm und es schlussendlich doch nur darauf anlegte, einmal einen Kuss mit einer Frau zu tauschen oder mit ihr ins Bett zu gehen. Danach würde sie zu ihrem Kerl zurückkehren und gut war. Für sie. Nicht für Joanna. Joanna war ein sensibler Mensch. Trennungen zwangen sie in die Knie. Es brauchte lange, bis Joanna jemanden loslassen konnte. Ein langer und beschwerlicher Weg voller Schmerz und Tränen. Für die Muschelkuschlerin war es ganz sicher viel einfacher. Sie klappte ihr Häuschen zu und sämtliche Verletzungen blieben außen vor. So ähnlich stellte Joanna es sich vor.

»Ich stehe übrigens auch auf Frauen.«

Joanna war hellwach. Das angenehm wattige Gefühl, das der Wein in ihrem Kopf erzeugt hatte, war wie weggeblasen. Wieder und wieder las sie den letzten Satz.

»Ich stehe übrigens auch auf Frauen.«

Wie ein Warnsignal blinkte der Satz auf. Neunundzwanzig Buchstaben. Fünf Leerzeichen. Und ein Punkt.

Ganz schnell sollte Joanna das Weite suchen, doch … sie konnte nicht. Warum auch immer.

»Habe ich dich erschreckt?«, fragte die Muschelkuschlerin.

»Nein. Nein. Ich musste mich nur kurz um meinen Hund kümmern.«, log Joanna ohne mit der Wimper zu zucken.

Joanna gingen die Nerven durch. Dieser Chat war das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass sie wissentlich mit einer Frauen liebenden Frau zu tun hatte. Das allein war nicht der Grund für ihre Aufregung. Obwohl sie nicht wusste, wie ihr Gegenüber aussah, fühlte sie sich von ihr angezogen.

»Das ist doch seltsam.«, sagte Joanna.

Murphy sah sie verwundert an.

»Ich bin seltsam.«

Große dunkle Kulleraugen blickten von unten zu Joanna herauf. Es war nicht zu übersehen, dass Murphy nicht wusste, was sein Frauchen von ihm wollte. Joanna war unruhig und zappelig. Sie hob die rechte Hand und führte sie an den Mund.

»Bin ich komplett blöd, oder was? Ich werde doch jetzt nicht anfangen, Nägel zu kauen!«

Joanna hatte gepflegte Fingernägel, worauf sie auch sehr stolz war. Sie kümmerte sich aber auch um ihre Nägel und verbrachte viel Zeit damit, sie in Ordnung zu halten. Gepflegte Hände, und dazu gehörten nun mal auch die Nägel, waren Joanna sehr wichtig. So wichtig, dass sie nicht nur Zeit, sondern auch Geld investierte.

Etwas anderes zum Beruhigen musste her. Doch was? Sie konnte sich doch nicht volllaufen lassen. Und Raucherin war sie nicht. Blieb nur noch die Schokolade. Und die Kekse.

»Wenn ich wie eine Tonne aussehe, mag sie mich ganz bestimmt nicht.«, grummelte Joanna und biss vor lauter Frust ein extra großes Stück der Schokolade ab.

Einen Teil kaute sie. Den Rest ließ sie auf der Zunge zergehen und trennte die Schokolade von den Nüssen. Ihre Nerven ließen sich nicht an der Nase herumführen. Eigenartige Nervosität überfiel Joanna. Joanna wusste selbst nicht, woher sie kam. Wie sie sie wieder loswerden konnte, wusste sie erst recht nicht. Genaugenommen wusste Joanna gar nichts mehr. Außer … dass diese Muschelkuschlerin offensichtlich eine interessante Frau war.

»Kommst du eigentlich zum Admin-Treffen?«, tippte sie.

Kaum abgeschickt, wartete sie bereits voller Ungeduld auf die Antwort, doch die Antwort ließ ein bisschen auf sich warten. Die Muschelkuschlerin ging offline. Einfach so, ohne sich zu verabschieden.

»Aber das geht doch nicht.«, jammerte Joanna kläglich.

Joanna überlegte ernsthaft, ob sie die Gelegenheit nicht nutzen und lieber ins Bett schwanken sollte, doch kaum war ihr der Gedanke gekommen, blinkte das Chatfenster wieder auf.

»Sorry. Ich hatte ein kleines technisches Problem. Mein PC ist abgeraucht. Wie lautet deine letzte Frage?«

Erleichtert atmete Joanna auf.

»Oh. Läuft der Rechner jetzt wieder? Ich wollte wissen, ob du auch zum Admin-Treffen kommst.«

»Logo. Bleibt mir ja keine andere Wahl. Allerdings brauche ich noch eine Betreuung für meine Stubenfliege.«

Joanna prustete erneut. Die Nummer mit der Stubenfliege war der Hammer. Wie konnte jemand nur so durchgeknallt sein? Schon jetzt war Joanna gespannt wie ein Flitzebogen. War die Muschelkuschlerin wirklich so, wie sie sich im Chat gab? Oder ganz anders?

Joannas Herz schlug schneller.

Sie wünschte sich so sehr, dass ihr Gegenüber wenigstens ansatzweise so cool war, wie sie sich gab.

»Und du? Kommst du … «

Es dauerte ein paar Sekunden, bis die nächste Nachricht eintrudelte.

»Ich meine natürlich … bist du auch von der Partie?«

»Klar. Sag mal, wie heißt du eigentlich? Ich kann dich ja schlecht mit Muschelkuschlerin begrüßen, oder?«

»Doch. Natürlich kannst du das. Schließlich bin ich die Muschelkuschlerin. Die einzig wahre sogar.«

»Du bist blöd.«

»Ich weiß. Mein Name ist Kira. Und du? Wie heißt du?«

»Joanna.«

Die zwei Frauen schrieben noch eine Weile hin und her. Doch plötzlich kamen nur noch verschiedene Emojis statt einer Nachricht. Grinsegesicht, eine Bombe, Smiley mit Lachtränen. Und dann …

»Sorry, ich muss leider gehen. In meinem anderen Job gibt es gerade ein Problem, dass ich nicht so einfach nebenbei lösen kann.«

»Anderer Job? Was machst du denn noch?«

»Ich moderiere noch einen anderen Chat. Tschüss, Joanna. Bis morgen?«

»Okay. Bis morgen. Schlaf später gut.«

»Du auch.«

Zack, war das Fenster geschlossen. Kira war weg und Joanna wieder allein mit sich und ihren gefühlt tausend Fragen, mit denen sie sie hatte bombardieren wollen.

»Tja, Murph. Das wird heute wohl nichts mehr. Was hältst du davon, wenn wir schlafen gehen?«

Der junge Hund hob den Kopf und brummelte verschlafen vor sich hin. Er erhob sich so mühsam, als wäre er ein alter Hund, und tappte hinter Joanna her.

»Dir ist aber schon bewusst, dass du eigentlich im Körbchen schlafen solltest?«, schimpfte Joanna, ließ den Kleinen dann aber doch ins Schlafzimmer.

Mit einem Seufzen ließ Murphy sich auf Joannas Platz nieder. Sein Köpfchen bettete er auf einem weichen Kuschelkissen. Das andere Kissen nahm er mit seinem Po in Beschlag.

Unangenehme Gerüche wehten zu Joanna herüber. Joanna rümpfte die Nase.

»Du hast jetzt aber nicht mein Kissen angepupst, oder?«

Statt ihre Frage zu beantworten, kuschelte Murphy sich noch tiefer in die Kissen. Sein schwarzes Schnäuzchen war komplett von kuscheligem Stoff umgeben. Murphy schnarchte leise.

»Und wo soll ich mich jetzt hinlegen?«

Da auch diese Frage unbeantwortet blieb, legte Joanna sich so, dass sie ihren Murphy einrahmte. So fand sie wenigstens einen einigermaßen bequemen Platz.

»Hauptsache, du hast es gemütlich.«, sagte sie und schloss mit einem zärtlichen Lächeln auf den Lippen die Augen.