M it ihren dunklen Augen fixierte Joanna das Telefon. Sie bereute zutiefst, nicht gleich mit Kira telefoniert zu haben. Jede Stunde, die verging, sorgte dafür, dass Joanna immer nervöser wurde. Falls das überhaupt noch möglich war. Seit sie die ersten Nachrichten mit Kira getauscht hatte, war nichts mehr so wie vorher. Ihr komplettes Denken und Fühlen stand Kopf. Eine ihr bisher gänzlich unbekannte Sehnsucht nahm sie in Besitz.
Seit der Job nicht mehr den Hauptanteil der ihr zur Verfügung stehenden Zeit einnahm, wurde sie sich der Leere in ihrem Herzen immer mehr bewusst. Selbst, wenn ihre Nachbarn Hans und Anneliese Lindner sie wie eine eigene Tochter aufnahmen, war sie doch so gut wie allein. Joanna hatte sich nie viel daraus gemacht, im Grunde keine Freunde an ihrer Seite zu haben. Ihr hätte sowieso die Zeit gefehlt, die Freundschaften zu pflegen. Doch mittlerweile war das anders. Sie hätte gerne jemanden an ihrer Seite gehabt, mit dem sie ganz spontan telefonieren könnte. Oder ein Eis essen gehen.
Aber außer Felix, Murphy und den Lindners gab es niemanden, mit dem sie hätte Zeit verbringen wollen. Außer … vielleicht …
Ein Lächeln umspielte Joannas Lippen. Wie jedes Mal, wenn sie an Kira dachte. Dabei kannte sie Kira nicht. Trotzdem hatten die Nachrichten, die sie mit Kira tauschte, dafür gesorgt, dass heimlich, still und leise ein kleiner Funke in ihr Herz vordrang. Der Funke sorgte dafür, dass die innere Kälte, die sie so oft verspürt hatte, sich immer mehr in Wärme verwandelte. Und in Sehnsucht.
Ihre Schwestern Kathrin und Sabine hatten ihre Partner schon in ganz jungen Jahren kennengelernt. Früher hatte Joanna manchmal Neid empfunden. Sie hatten ihren sicheren Hafen gefunden und wussten, wo sie hingehörten. Joanna war schon immer anders gewesen als die zwei. Während die Lebensschiffe von Kathrin und Sabine sicher vertäut vor Anker lagen, schaukelte ihr eigenes Schiffchen in den Wellen des Lebens hin und her. Grund genug, um die Schwestern zu beneiden. Früher war es so gewesen. Heute … sah sie die Sache anders.
Kathrin und Sabine waren immer so verbissen, unzufrieden und unlustig. Obwohl ihr Leben in geordneten Bahnen verlief, gelang es ihnen nur ganz selten, mit einem Lächeln durch den Tag zu gehen. Das brachte Joanna dazu, die zwei Schwestern nicht mehr mit neidvollen Blicken zu betrachten. Stattdessen fing sie an, zu hinterfragen. Waren Kathrin und Sabine mit ihrer Wahl womöglich doch nicht so glücklich, wie sie jeden glauben lassen wollten? Entpuppte sich der vermeintliche Glücksgriff möglicherweise wohl doch eher als Griff ins Klo?
So glücklich wie die zwei wirkten, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, konnte es fast nicht anders sein.
Joanna, Kathrin, Sabine und Felix hatten die gleiche Erziehung genossen. Alle vier litten unter der harten Hand, mit der ihr Vater als Familienoberhaupt die Familie führte, sie beinahe schon regierte. Und an der Sprachlosigkeit ihrer Mutter, die sich kampflos ihrem cholerischen Mann unterordnete.
Ihre Mutter lebte es ihnen vor. Kathrin und Sabine machten es ihr nach. Joanna schüttelte den Kopf. Sie war sich ganz sicher, dass ihre Schwestern nicht glücklich waren. Ob Felix glücklich war, wusste Joanna nicht genau. Felix war schon immer ein Sonnenschein gewesen. Allerdings ließ er sich nicht gerne in die Karten schauen, was es schwerer machte, ihn wirklich kennenzulernen. Was Joannas Bruder fühlte und dachte, hielt er meistens hinter einem Lächeln verborgen. Er war diplomatisch und glättete die Fronten, wenn Familienmitglieder aneinander gerieten. Sein Protest gegen seinen Vater fand in aller Stille statt. In dem er zum Beispiel regelmäßig bei ihr vorbeischaute und gelegentlich sogar Essen von Rieke mitbrachte. Offen auflehnen würde er sich wahrscheinlich nie.
Joanna hatte sich immer wie eine Gefangene in einem goldenen Käfig gefühlt. Als sie mit dem Moment ihres Outings aus der Familie verwiesen wurde, änderte sich schlagartig alles. Sie verlor den sicheren Job, gewann dafür jedoch die Freiheit, nach der sie sich so gesehnt hatte.
Das erste Mal in ihrem Leben fühlte sie sich richtig frei. Mit fast Mitte vierzig. Es enttäuschte sie selbst, dass sie nicht früher bereit war, einen Warnschuss abzugeben. Sie war die Älteste. Vielleicht erwarteten ihre jüngeren Geschwister, dass sie auf den Tisch schlug und den Vater in seine Grenzen verwies. Gut möglich, dass ihre Geschwister sie nun mit ihrer Mutter verglichen und sie auf einer Stufe mit ihr sahen.
Aber selbst das konnte Joanna mittlerweile egal sein. Sie hatte genug mit ihrem eigenen Leben zu tun. Wenn eines ihrer Geschwister, oder ihre Mutter, Hilfe brauchte, würden sie es schon sagen müssen. Dann wäre Joanna auch da.
Aber solange das nicht der Fall war, würde sie sich um sich selbst kümmern. Endlich.
Endlich standen nicht mehr die Erwartungen der Menschen um sie herum im Vordergrund, sondern sie selbst.
Joanna fing an zu leben. Egal, wie schwer es ihr manchmal noch fiel.
Dass sie wie ein eingesperrtes Raubtier durch ihre Wohnung lief und ständig aufs Telefon schielte, gehörte wohl auch zum Leben dazu. Warten konnte so grauenhaft sein. Am Fenster blieb Joanna stehen und schaute hinaus. Dann öffnete sie die Balkontür und trat auf den Balkon. Sie hatte sich ihren Balkon sehr gemütlich eingerichtet. Mit Paletten und dicken Kissen, jeder Menge Lampen und Pflanzen hatte sie sich ihre eigene grüne Oase geschaffen. Ein Ort zum Wohlfühlen. Ein Ort zum Entspannen. Ein Ort, um anzukommen. Ein Ort zum Glücklichsein. Fehlte eigentlich nur noch die richtige Frau, um das Glück gemeinsam zu genießen.
Joanna setzte sich hin. Fünf Minuten hielt sie es aus. Maximal. Dann stand sie wieder auf und ging in die Wohnung zurück. Es war kurz vor neun. Murphy lag auf dem Sofa. Sein Näschen ruhte zwischen seinen Vorderpfoten. Er schnarchte leise. Um sich abzulenken, ging Joanna zu ihm und streichelte ihm übers Köpfchen. Murphy brummelte im Schlaf. Er hob den Kopf und schaute sein Frauchen entgeistert an. Offensichtlich spürte er ihre Unruhe.
»Alles gut, mein Kleiner.«, erklärte Joanna.
»Ich bin nur ein bisschen aufgedreht.«
Oder ein bisschen mehr., schob sie in Gedanken hinterher. Warum klingelte dieses verdammte Telefon nicht endlich?
Unsicher geworden tappte Joanna zu der Stelle, an der das Kabel in der Wand befestigt war und kontrollierte, ob es auch wirklich dort war, wo es sein sollte. Schließlich konnte man ja nie wissen.
Murphy hatte den Schalk im Nacken. Es war ihm durchaus zuzutrauen, dass er beim Spielen aus Versehen … Blödsinn. Natürlich konnte Murphy das Kabel nicht einfach so aus der Box in der Wand ziehen, jedenfalls nicht, ohne die ganze Box mitzureißen.
Zwanzig Uhr neunundfünfzig. Und dreiundvierzig Sekunden. Vierundvierzig. Fünfundvierzig. In der Hoffnung, ihre Nerven mit einer stupiden Tätigkeit besänftigen zu können, zählte Joanna die Sekunden. Ihr Herz raste. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Joanna schluckte.
»Hallo, hier ist Joanna.«, sagte sie laut und war überrascht, wie blechern ihre Stimme doch klang.
Zwanzig Uhr neunundfünfzig und neunundfünfzig Sekunden.
Joanna fing an zu zittern.
Einundzwanzig Uhr.
Joanna hielt die Luft an. Das Telefon klingelte. Joanna schreckte zusammen. Panik überfiel sie. Sie wusste plötzlich weder, was sie tun oder sagen sollte, noch wusste sie ihren eigenen Namen. Hilflos stolperte sie zum Telefon und drückte auf die grüne Taste.
Außer tiefem Atem brachte sie nichts zustande.
»Hallo? Joanna? Bist du da?«
Joanna drohte, in Ohnmacht zu fallen. Kira hatte eine faszinierend schöne Stimme. Voller Wärme und Leben.
»Joanna? Sag doch bitte was.«
»Ich … kann nicht.«, stotterte Joanna abgehackt.
»Was? Was kannst du nicht?«
»Mit dir telefonieren. Ich bin viel zu … viel zu... aufgeregt.«
»Geht mir ganz genauso. Ständig habe ich das Gefühl, dass mir die Worte im Hals steckenbleiben oder ich nur Blödsinn von mir gebe.«
Joannas Augenbrauen zuckten. Woher wusste Kira, wie sie sich fühlte? Gab es in ihrer Wohnung versteckt etwa Kameras, von denen Joanna nichts wusste? Kameras, die nicht ihr Äußeres einfingen, sondern das, was sich in ihr abspielte?
»Ich bin doch bekloppt.«, grunzte sie.
»Was hast du gesagt?«
»Äh … Mist verdammter! Das galt nicht dir.«
Es gluckste aus dem Lautsprecher. Aus dem Glucksen wurde Lachen. Kira hatte ein so angenehmes und einnehmendes Lachen, dass Joanna nicht mehr anders konnte. Sie lachte ebenfalls. Einfach so. Locker und befreit. Weil es sich richtig anfühlte.
Und dann war alles ganz einfach. Die Worte sprudelten nur so. Joanna fühlte sich Kira ganz nah, obwohl mehrere hundert Kilometer sie trennten. Dass räumliche Entfernung keine Bedeutung hatte, wurde Joanna immer mehr bewusst, je länger sie mit Kira telefonierte. Ab und zu musste Joanna schwer schlucken, weil Kira aus Versehen den Finger in eine ihrer zahlreichen Wunden legte, doch selbst das fühlte sich erstaunlicherweise gut an. Kiras lockere Art tat Joanna gut. Die Worte plätscherten einfach so über ihre Ohren in ihr Herz. Es fühlte sich fast ein bisschen so an, als würde Kira sie streicheln.
Doch plötzlich, mitten im Satz, war Kira weg. Es tutete in der Leitung. Verwirrt schaute Joanna das Telefon an, doch da klingelte es bereits wieder.
»Bist du eingeschlafen?«, fragte Joanna salopp.
»Nööö. Nach zwei Stunden legt mein Handy immer eine kleine Pause ein.«
»Was?!? Zwei Stunden schon? Das kann doch nicht sein.«
So schnell waren zwei Stunden noch nie einfach an Joanna vorbeigezogen. Stunden, von denen sie sich wünschte, sie so lange wie möglich im Gedächtnis festzuhalten.
»Willst du sagen, dass es schon ein Uhr ist?«, fragte sie entgeistert, als nach zwei weiteren Stunden das Telefonat erneut hinterrücks unterbrochen wurde und Kira sie wieder anrief.
Joanna fühlte sich schrecklich müde, wollte ihren Platz am Telefon aber trotzdem nicht aufgeben. Kira hatte so viel zu erzählen. Es war schön, ihr zuzuhören. Die Wärme in ihrer Stimme streichelte Joannas geschundene Seele.
»Bist du mir böse, wenn wir morgen weiter telefonieren?«, fragte Kira.
Herzhaftes Gähnen unterstrich ihre Worte. Joanna lachte leise.
»Kein Problem. Aber … Kira, darf ich mir etwas wünschen?«
»Alles.«
»Ich wünsche mir, dass du mit mir ins Bett gehst.«
Kira hüstelte. Joanna kniff die Augen zu und ging Wort für Wort durch, was sie als Letztes von sich gegeben hatte. Ihr wurde ganz anders.
»Äh … SO meine ich das doch gar nicht.«, kiekste sie und als ihr bewusst wurde, dass sie es eben doch genau so gemeint hatte, fing sie an zu stottern.
»Die … Worte … sind einfach so … über meine Lippen gehüpft.«
»Und du hast es natürlich ganz anders gemeint.«
»Habe ich. Ich wünsche mir, dass ich mit deiner Stimme im Ohr einschlafen darf.«
N atürlich gehe ich gerne mit dir ins Bett.« Es gefiel Kira ausgesprochen gut, Joanna in Verlegenheit zu bringen. Dann geriet sie ins Stottern und rang so süß um Worte. Selbst durchs Telefon konnte Kira ganz deutlich hören, wie sehr Joanna um Luft rang.
»Kira? Ich wollte doch noch wissen, was für eine Challenge du mit mir machen willst.«
»Ah, stimmt ja.«, gab Kira grinsend zurück.
»Du willst also das Thema wechseln. Bitteschön. Also … eigentlich habe ich mir überlegt, dass ich die Challenge lieber doch nicht machen möchte.«
Ursprünglich hatte Kira Joanna ihren Bauchumfang, ihr Gewicht und ihre Körpergröße sagen wollen, doch mittlerweile war es ihr peinlich. Joanna war doch bestimmt viel schlanker als sie selbst. Niemals würde sie diese sensiblen Daten ausgerechnet an sie weitergeben.
Kira war beeindruckt von Joanna. Sehr sogar. Ihre Worte saugte sie auf wie ein trockener Schwamm. In ihrem Herzen regte sich etwas. Jedem würde sie ihre persönlichsten Daten geben. Jedem. Außer Joanna. Kira wusste nicht genau, was es zu bedeuten hatte, dass sie sich wünschte, Joanna möge die bestmögliche Meinung von ihr haben.
»Ich werde die Challenge einfach mit mir selbst machen. Und wenn wir uns in sechs Wochen treffen, sage ich dir, ob ich es geschafft habe. Okay?«
»Also … Ehrlich gesagt ist es nicht okay. Aber wenn es dir so lieber ist. Bitteschön.«
Joanna klang verschnupft. Hatte sie doch während der letzten Stunden immer mehr das Gefühl gewonnen, Kira nahekommen zu können. Dass Kira sich nun vor ihr versperrte, wertete sie als herben Rückschlag.
»Sei mir bitte nicht böse. Aber es ist mir unangenehm, ausgerechnet mit dir über meinen Bauchumfang zu sprechen. Verstehst du?«
Und wie Joanna verstand. Erleichtert atmete sie auf. Niemals hätte sie Kira freiwillig erzählt, wie viele Kilos sie auf die Waage brachte.
»Joanna … bitte, bitte sei mir nicht böse. Ich meine … Ach, Mist.«
Es knisterte in der Leitung.
»Joanna? Was machst du?«
»Ich habe mich gerade ausgezogen.«
»Du bist … «
Kira stockte. Sie war nicht in der Lage, weiterzusprechen. Ihr Herz schlug heftig. Ihre Zunge verknotete sich mit den Rachenmandeln. So fühlte es sich jedenfalls an.
»Du bist … nackt?«
»Klar. Ich schlafe immer nackt. Du nicht?«
Nun war es eindeutig Joanna, die einen auf flirty machte.
»D … d … doch.«
»Weißt du was, Muschelkuschlerin … «
»Weißt du was, Rainbowgirl … «
»Du zuerst.«
»Du zuerst.«
Joanna und Kira fingen an zu lachen. Sie lachten miteinander. Sie lachten übereinander. Sie liebten das Lachen der anderen.
»Weißt du was, Rainbowgirl … «, startete Kira einen neuen Versuch.
»Ich werde jetzt mit dir ins Bett gehen. Dann kuschle ich mich unter deiner Decke an deinen warmen, weichen Körper und genieße jeden Moment, den ich neben dir verbringen darf. Und nachher … werde ich mich im Schlaf zu dir schleichen. Vielleicht träumst du ja nachher, dass dir jemand im Schlaf über den Kopf streichelt. Das bin dann ich.«
Kira schlüpfte aus den Klamotten und machte es sich nackt auf dem Sofa gemütlich. Ihr Handy hielt sie ganz fest ans Ohr gepresst, damit ihr nicht ein Atemzug von Joanna entging.
»Schlaf gut. Träum was Süßes.«, wisperte sie zärtlich, doch davon konnte Joanna nichts mehr hören.
Mit einem Lächeln auf den Lippen glitt Kira wenig später ebenfalls hinüber und schlief ein.