Erst als er zum ersten Male nach Edinburgh und dann nach Sangster zurückkehrte, wurde Willy bewusst, wie viel Mull – und natürlich auch Maggie – ihm bedeuteten.
Die Beerdigung war ein Ereignis.
All die Leute, die sich Austins Hochzeit entzogen hatten, waren, so schien es, nur allzu bereit, zu seiner Beisetzung zu kommen und waren enttäuscht – tatsächlich enttäuscht –, dass es da keine untröstliche Witwe gab, die sie begaffen konnten. Willy wurde von allen Seiten mit Fragen bestürmt. Er wurde bald müde, dann wütend über die Unverschämtheit der Dienstboten in Sangster, die zu glauben schienen, er sei ihnen Informationen schuldig und würde jetzt, wo Mr. Austin verschieden war, das Vertrauen seines Herrn missbrauchen und ihnen Dinge erzählen, damit sie sich amüsieren könnten.
Er besuchte seine Kinder und verhätschelte seine Enkel, spürte aber trotz seiner Zuneigung, dass er nicht länger zu ihnen gehörte. Er hatte sich von seiner Vergangenheit gelöst, und seine Nachkommen, die mit ihrem eigenen Leben beschäftigt waren, würden ohne ihn besser zurechtkommen. Er wartete ungeduldig darauf, dass alles vorbei sein würde, damit er auf die wundervolle Insel und zu seiner wundervollen Frau zurückkehren konnte.
Weder Mr. Walter noch Agnes Paul versuchten, Willy daran zu hindern, nach Fetternish zurückzukehren, nachdem die Beisetzung vorüber war. Sie nahmen an, dass er den Baverstocks und ihren Interessen noch immer treu ergeben sei, was immer diese Interessen sein mochten. Mr. Walter erzählte ihm, dass komplizierte gesetzliche Dinge zu regeln seien, aber dass er und vielleicht auch Agnes sehr bald nach Mull zurückkehren würden, um die Dinge zu regeln, die Austins verfrühtes Ende ausgelöst hatte, und mit der Witwe irgendeine Form von Übereinkunft zu schließen.
Willy wusste nur zu gut, was das bedeutete.
Sie würden versuchen, Biddy abzufinden oder auszuzahlen, sie aus dem drängen, was ihr rechtmäßig zustand. Ehe er sichs versah, würde er wieder in das enge kleine Untergeschoss am Charlotte Square oder in den Dienstbotentrakt in Sangster beordert werden, und Margaret würde sich wie ein aus dem Wasser gezogener Fisch fühlen. Er musste um jeden Preis verhindern, dass das geschah. Deshalb ging er binnen einer Stunde, nachdem er durch die Tür von Fetternish House getreten war, seine Frau umarmt und das Abendessen genossen hatte, das Queenie vorbereitet hatte, nach oben in die große Halle, um ein ernstes Gespräch mit Biddy Campbell-Baverstock zu führen.
Witwenkleidung stand Biddy gut. In den schwarzen Gewändern wirkte sie noch begehrenswerter und strahlte eine Würde aus, die in einem gewissen Maße vorher nicht vorhanden gewesen war.
Willy vermutete, dass sie den schlimmsten Schock überstanden hatte und dass sich, wenn er sich nicht sehr irrte, ihr Kummer weit genug gelegt hatte, um darüber nachzudenken, was aus Fetternish werden würde und was sie tun könnte, um sicherzustellen, dass sie so viel wie möglich aus ihrer allzu kurzen Ehe gewann.
Noch seine Reisejacke tragend und mit Kragen und Krawatte um den Hals trat er vor den georgianischen Sessel.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich ein Wort mit Ihnen reden könnte, Mrs. Baverstock.«
»Sind Sie gekommen, um mir zu erzählen, wie es auf der Beisetzung war?«
»Wenn Sie es wünschen«, sagte Willy.
»Wie viele waren dort?«, fragte Biddy.
»Die große Kirche in Sangster war übervoll.«
»Waren viele aus Edinburgh angereist?«
»Hunderte.«
»Ich verstehe«, sagte Biddy. »Nun, wir werden unseren eigenen Gottesdienst morgen Abend in der Kirche in Crove haben. Reverend Ewing wird ihn zelebrieren.«
»O-ho«, sagte Willy. »Das kann ich verstehen. Ich bin sicher, Mr. Austin würde das zu schätzen wissen.«
»Würden Sie ein paar Worte sagen?«
»Es ist nicht üblich, dass ein Diener …«
»Sie kannten Austin besser als irgendwer sonst.«
»Das ist wahr«, sagte Willy. »Ja, es wird mir eine Ehre sein, mich zu beteiligen.«
Biddys Augen waren weit offen und sehr klar. Willy bezweifelte, dass sie in der vergangenen Woche viele Tränen vergossen hatte. Er hatte mit ihrem Vater verhandelt, und das hatte zu einer Katastrophe geführt, aber Biddy war die Tochter ihrer Mutter und aus kräftigerem Holz geschnitzt. Willy vermutete, dass sie, wenn es um materielle Dinge ging, weitaus scharfsinniger war als der betrunkene kleine Fischer, der sie gezeugt hatte.
Allerdings war sie noch nicht seine, Willys, Arbeitgeberin, weil er auf dem Papier noch immer den Baverstocks vertraglich verpflichtet war, nominell noch »ihr Mann« war.
»Ich will offen zu Ihnen sein, Mrs. Baverstock«, sagte er. »Ich mache mir Sorgen wegen meiner künftigen Position auf Fetternish.«
»Heißt das, Sie wollen nach Edinburgh zurückkehren?«
»Oh nein, wirklich nicht«, sagte Willy. »Ich würde es vorziehen hierzubleiben.«
»Ist das Inselleben für Sie nicht zu langweilig?«, fragte Biddy.
»Überhaupt nicht langweilig«, sagte Willy.
»Nun, William, ich kann keine Garantien geben. Ich selbst habe keine großen Sicherheiten und kann Ihnen nicht viel anbieten.«
»Mehr als Sie denken, Mrs. Baverstock«, sagte Willy. »Mehr als Sie denken. Darüber wollte ich ja mit Ihnen sprechen.«
Sie bedeutete ihm, sich zu setzen. Er warf einen Blick auf den leeren Armsessel, Mr. Austins Platz, überlegte es sich dann aber anders und zog einen der hochlehnigen Stühle näher an den Kamin. Er schob Odin vorsichtig mit einem Zeh beiseite, machte es sich bequem und begann.
»Soweit ich verstanden habe, hat Mr. Austin ein sehr detailliertes Testament hinterlassen.«
»Hat Walter das gesagt?«
»Indirekt ja«, sagte Willy. »Man macht sich Sorgen wegen seines Inhaltes. So große Sorgen, Mrs. Baverstock, dass Sie, wie ich annehme, am Ende eine sehr wohlhabende Frau sein könnten, wenn Sie Ihre Karten richtig ausspielen.«
»Und wie soll ich meine Karten Ihrer Meinung nach richtig ausspielen?«
Willy hielt inne. Er schien, den Kopf leicht zu einer Seite geneigt, auf irgendetwas draußen zu lauschen. Er schaute Biddy nicht direkt an. Schließlich, nach zwei oder drei Sekunden, lächelte die Herrin von Fetternish und erkundigte sich: »Darf ich das so verstehen, dass Sie bereit wären, für mich statt für die Baverstocks zu arbeiten?«
»Das würde ich, Mrs. Baverstock, wenn eine geeignete Position für mich gefunden werden könnte.«
»An welche Art von Position hätten Sie denn gedacht?«
»Verwalter. Verwalter und Haushälterin, Margaret und ich.«
»Werden die Baverstocks Sie freigeben?«
»Ich bin kein Sklave«, sagte Willy. »Ich habe die Freiheit, für jeden Herrn – oder für jede Herrin – zu arbeiten, die mir eine geeignete Position anbietet.«
»Nun gut, Willy«, sagte Biddy, ohne zu zögern. »Ich werde Sie als meinen Verwalter und Ihre Frau als meine Haushälterin beschäftigen – vorausgesetzt, ich habe ein Haus. Möchten Sie, dass ich Ihnen etwas schriftlich gebe?«
»Nein, Mrs. Baverstock. Ich gehe davon aus, dass Sie Ihr Wort halten werden.«
»Sehr schön«, sagte Biddy. »Nun erzählen Sie mir, wie wohlhabend ich wahrscheinlich sein werde.«
»Sehr wohlhabend«, sagte Willy.
»Kann das Testament nicht angefochten werden?«
»Da ich das Dokument nicht gesehen habe und in Fragen des Erbrechts nicht so versiert bin, kann ich das nicht sicher sagen«, sagte Willy. »Was ich aber sicher sagen kann, ist, dass die Baverstocks jedes legale Mittel, das für Geld zu haben ist, einsetzen werden, um sicherzustellen, dass Sie nicht alles bekommen, was Ihnen zusteht.«
»Zum Beispiel einen Anteil von sechsundzwanzig Prozent an der Tweedweberei?«
»Genau das ist es«, sagte Willy, »kurz gesagt.«
»Und die Hälfte des Hauses am Charlotte Square?«
»Auf dem Anwesen am Charlotte Square liegt noch eine Hypothek«, sagte Willy. »Aber, ja, es ist ein vererbbarer Besitz, und ich könnte mir vorstellen, dass Sie oder ein geschickter Anwalt, der für Sie arbeitet, in der Lage sein könnten, Mr. Walter zu zwingen, es auf dem Markt anzubieten – und wenn auch nur, um seinen gegenwärtigen Wert zu ermitteln.«
»Walter würde das sicher verabscheuen, nicht wahr?«
»Er vermisst seinen Bruder mehr, als Sie sich vorstellen können, Mrs. Baverstock«, sagte Willy. »Ich bezweifle, dass er auch noch sein gemütliches Heim verlieren möchte.«
»Wollen Sie damit sagen, dass ich das Leid meines Schwagers ausnutzen soll?«
»Ich will damit sagen, dass Sie sich selbst schützen müssen«, sagte Willy. »Darf ich die Höflichkeit für ein paar Minuten beiseitelassen und offen sprechen?«
»Ich wünschte, Sie würden es«, sagte Biddy.
Willy sagte: »Sie halten Sie für dumm. Sie glauben, Sie seien naiv. Sie denken, sie könnten Sie mit ein paar Tausend Pfund abspeisen.«
»Aber wenn im Testament steht …«
»Sie werden das Testament anfechten«, sagte Willy. »So werden sie es machen. Sie werden Ihr Geld und Ihren Besitz für Jahre einer Verfügungsbeschränkung unterwerfen in der Hoffnung, dass Sie früher oder später ungeduldig werden und nehmen werden, was sie Ihnen anbieten.«
»Ich will Fetternish.«
»Oh ja, Mrs. Baverstock, das weiß ich.«
»Walter besitzt auch die Hälfte des Anwesens, wie wir nicht vergessen dürfen.«
»Das ist unser Vorteil.« Willy zog seinen Stuhl näher heran. »Agnes Paul ist diejenige, vor der wir uns hüten müssen. Sie ist eine gefährliche Frau, die alles tun wird, um ihren Willen durchzusetzen. Sie kennt überhaupt keine Skrupel. Aber Mr. Walter ist vernünftig. Und er leidet und ist einsam. Er will die Dinge schnell geregelt haben – was bedeutet, Mrs. Baverstock, dass er Fetternish so schnell wie möglich loswerden möchte.«
»Aber der Wollertrag ist doch höchst profitabel, oder nicht?«
»Das, Mrs. Baverstock, ist Ihre Trumpfkarte.«
Zu Biddys Ehre muss gesagt sein, dass die Tränen, die sie während des Abendgottesdienstes vergoß, absolut echt waren. Sie war durch Mr. Ewings Lesung aus dem Prediger Salomo gerührt, da die Verse ihr in Erinnerung riefen, wie viel Freude Austin an dem Leben auf der Insel gehabt und dort etwas gefunden hatte, von dessen Existenz sie nicht einmal etwas wusste. Noch mehr bewegt war sie von der Lesung aus dem Johannes-Evangelium, das von dem Licht des Lebens, dem Licht der Welt und dem Schafhirten als Lebensspender sprach.
Sie saß auf der Ehrenbank unter der Kanzel, ihre Familie neben und ihre Diener unmittelbar hinter ihr. Sie presste die Knöchel in ihrem Schoß zusammen und weinte, weil genau an diesem Morgen die Natur ihr ein sicheres Zeichen gegeben hatte, dass sie kein Kind von Austin empfangen hatte und ihr selbst dieser Trost versagt blieb.
Sie weinte auch, als Willy Naismith seine holprige Rede in einer Sprache hielt, die so einfach war, dass sie nur ehrlich sein konnte.
Sie weinte, als Innis sie tröstete, weinte, als die guten Leute von Crove und Fetternish nacheinander kamen und ihr wieder kondolierten: Mr. Leggat, Mr. Kirkhope, Mr. Thrale, sogar die Barretts, der Junge und der Mann. Und auch Michael Tarrant. Michael, der auf der Bank etwas entfernt von ihr an Innis’ Seite gesessen und der seltsam düsteren Sprache der Kirche mit demselben freundlichen, nichts preisgebenden Gesichtsausdruck gelauscht hatte, der seine Gedanken und Gefühle so effektiv verbarg.
Biddy weinte jedoch nicht, als sie mit Michael ein zweites Mal sprach, allein und kurz getrennt von Innis, einen oder zwei Augenblicke bevor Willy Naismith die Kutsche brachte, um sie am Kirchentor abzuholen. Ihre Augen waren wieder trocken. Sie war nur ein wenig errötet durch die Gefühle, die sie im Hause des Herrn übermannt hatten.
Es war ein Jahr her, fast genau ein Jahr, seit der Nacht des Erntedankfestes. Seit dieser Nacht in Winfield, als er ihr zugeflüstert hatte, dass er sie liebe, dass er sie so verzweifelt und heftig begehre, dass kein Mann sie jemals mehr begehren würde. Fast genau ein Jahr, seit sie dieses Gefühl in ihrem Bauch und ihren Lenden gehabt hatte, dieses unbeschreibliche Verlangen oder diesen Schmerz, der ihr den gesunden Menschenverstand raubte.
Als sie am Kirchtor stehen blieb, ihr Gefolge von Dienern und Angestellten wie eine kleine Armee hinter sich, ihre Mutter und ihre Schwester im Halbdunkel voraus, spürte sie wieder, wie erregend es war, wenn sein Blick auf ihr ruhte. Und sie wusste, dass sie auf sein Wort hin all ihre Autorität, alle Vernunft und damenhafte Höflichkeit über Bord werfen und mit ihm gehen würde, in das nach Schaf riechende Cottage von Pennymain schleichen, in den feuchten Farn schlüpfen würde, nur um seine Hände an sich zu haben, seinen Mund, um zu spüren, wie er sich an sie presste und in sie eindrang.
Dann würde es nichts ausmachen, dass sie die Witwe von Fetternish war, eine Baverstock und keine Campbell, kein Mädchen vom Lande mehr, sondern die rechtmäßige Besitzerin der Hälfte der Nordspitze von Mull. Oder dass er ein Katholik war und bald der Ehemann ihrer Schwester sein würde.
Sie murmelte: »Komm und besuche mich, Michael. Komm zum Haus.«
»Wann?«
»Morgen.«
»Ich treibe morgen die Schafe weiter, Mrs. Baverstock.«
»Dann am Dienstag.«
»Ich habe am Dienstag auch Arbeit zu erledigen.«
»Ich verstehe«, sagte Biddy. »Ich verstehe.«
»Außer Sie befehlen es«, murmelte Michael und schaute beiseite auf die Lichter des Dorfes, zu dem feinen geisterhaften Schein des Septemberhimmels und dem Baldachin der Sterne, der über den Hügeln und der See lag. »Außer Sie verlangen das.«
»Nein«, sagte Biddy laut. »Das wird nicht nötig sein.« Und dann bewegte sie sich mit einem Rauschen ihrer pechschwarzen Röcke an ihm vorbei zu der unterwürfigen kleinen Menge von Kondolenten, die darauf warteten, sie zu verabschieden.
Alles war bereit, alles gepackt. Sie hatte ihre Kleider, so wie sie waren, mit einem Schwamm abgewaschen und die kleinen Risse in ihren Arbeitsröcken und Kleidern geflickt. Sie hatte ihre Schlüpfer und Strümpfe gebleicht und sie mit dem schweren, alten, flachen Eisen gebügelt, das ihre Mutter aus dem Schrank hinter dem Bett hervorgeholt hatte. Hatte sie, zusammen mit dem Packen von gutem neuem Bettleinen, das Vassie ihr in dem Laden hinter dem des Kurzwarenhändlers in Tobermory gekauft hatte, in die alte, fleckige Ledertruhe vom Dachboden gepackt und sogar verschnürt, bereitgemacht für den Wagen, den Willy Naismith am Freitag, dem Tag vor der Hochzeit, zu schicken versprochen hatte.
Natürlich würde sie in Weiß heiraten. Sie würde zwar kein Brautkleid tragen, aber doch ein rein weißes Kleid, das am Kragen und an den Manschetten mit Spitze besetzt war und mit einem Amorbogen aus Zuchtperlen, die Vassie aus einem Krug geholt und auf das Oberteil genäht hatte, um ihrer Brust Form und Kontur zu geben. Es würde keine Korsettstangen, keine angeberischen Turnüren oder Halbreifen oder eines dieser anderen modischen Utensilien geben, die Bräute heutzutage zu gigantischen Grotesken machten, denn Innis Campbell war ein Mädchen vom Lande, so schlank wie eine Weide und zu zierlich, um eine solche Last zu tragen.
Außerdem würden, wenn überhaupt, nur wenige Leute bei dem Hochzeitsgottesdienst in der Gemeindehalle sein, die der Pfarrgemeinde von Glenarray als Kapelle diente. Michael hatte keine Freunde unter den verstreut lebenden Gemeindemitgliedern, überhaupt wenige Freunde, und Mull war zu weit von Ettrick Pen entfernt, als dass seine Familie sich auf die Reise begeben hätte; genauer gesagt: falls Michael seine Familie überhaupt über seine Heiratspläne informiert hätte. Ihm würde ein Trauzeuge zur Seite stehen, den Pater Gunnion für ihn gefunden hatte. Und Innis würde von einer Brautjungfer begleitet werden, einem jungen Mädchen namens Bernadette, die auf einem Hof in Kettlestone lebte, der sie aber noch nie zuvor begegnet war.
Sie erhielt von ihrem Großvater einen kurzen Brief, geschrieben in einer krakeligen, lang gezogenen Handschrift. Er wünschte ihr für die Ehe alles Gute, schalt sie aber zugleich dafür, dass sie einen katholischen Schafhirten statt des Pfarrers von Crove heiratete. Sie war mehr durch den Tonfall des Briefes als durch den Inhalt verletzt, und die zwei Fünfpfundnoten, die zusammengefaltet in dem Umschlag steckten, beschwichtigten sie nicht. Obwohl er es nicht ausdrücklich gesagt hatte, wusste sie jetzt, dass ihr Großvater nicht bei ihrer Hochzeit sein würde. Die Bücher jedoch, die er ihr im Lauf der Jahre geschenkt hatte, waren ebenfalls eingepackt. Sie würde sie mit nach Pennymain nehmen und würde sie und die Erinnerung an Foss und das, was Foss ihr einst bedeutet hatte – was er, Evander McIver ihr einst bedeutet hatte –, in Ehren halten bis zu ihrem Todestag.
Sie war für die Heirat bereit, zehn Tage vor dem festgesetzten Tag völlig vorbereitet und bereit, so als ob ihre Hast den Ablauf der Zeit beschleunigen und die schwache Drohung, die über ihr hing, nämlich dass Michael seine Meinung doch noch ändern könnte, nehmen würde.
Sie hatte ihm alles angeboten, alles außer Flucht.
Sie hatte sein Essen gekocht, seine Kleidung gewaschen, den freundlichen Hund gefüttert. Sie hatte das Cottage gescheuert, bis es glänzte. Sie hatte ihn geküsst und sich an ihm gerieben und die Drahtigkeit und Kraft seines Körpers gespürt, wenn sie ihn an sich presste. Sie hatte ihm ins Ohr geflüstert, dass sie den Tag nicht erwarten könne, an dem sie Mann und Frau sein würden, und dass sie auch dieses Element der Ehe ausprobieren würde, wenn er es von ihr fordere. Aber das wollte er nicht, wollte sich vielleicht nicht der Sünde hingeben und von ihr mitreißen lassen und in einem weniger perfekten Zustand zur Beichte gehen, die einer Vereinigung vor Gott vorangehen würde.
Innis war erleichtert, erleichtert, aber auch enttäuscht. Sie hatte keine Angst vor dem, was er mit ihr tun würde, vor den Geheimnissen, die in der nunmehr vertrauten Küche in dem Cottage bei den Solitudes enthüllt werden würden. Sie fürchtete sich nicht davor, dass er ihr wehtun oder etwas von ihr verlangen würde, was sie nicht zu geben bereit war. Wenn es an der Zeit war, würde sie sich ihm willig ergeben. Es war nur so, dass es schien, als müsste er nicht gegen die Versuchung ankämpfen, müsste sich nicht in Selbstbeherrschung üben, sich widerwillig ihren Küssen und Umarmungen entziehen, als ob er sie – irgendwie – zu sehr respektierte.
Zu dem Thema der Pflichten einer Frau schwieg Vassie. Vorsichtig bis zum Äußersten, wagte Innis nicht, das Thema anzusprechen, da die Erinnerung an ihr letztes Gespräch noch immer wie ein schlechter Geruch in ihrem Verstand klebte. Dafür erinnerte sie das anzügliche Geschwätz ihres Vaters daran, dass egal wie gereinigt von sexuellem Begehren ein Verlöbnis und eine katholische Hochzeit scheinen mochten, dahinter stets die ganze Hitze und Leidenschaft und schlichte Lust eines Mannes steckten, der auf einer Frau lag.
Hatte sie noch irgendwelche restlichen Zweifel an ihrer Besessenheit gehabt, Michael Tarrant zu heiraten, und ob ihre Wahl des Ehemannes klug gewesen war, so zerstreute ihr Vater diese ein für alle Male. Er, Ronan Campbell, wolle nichts mit ihrem verdammten Papisten von Ehemann zu tun haben. Und sie könne doch von Glück reden, dass er sie nicht auf der Stelle aus dem Haus werfe und sie ihrem verdammten papistischen Schafhirten überließe, der zur Sache kommen würde, ohne dass aus Anstandsgründen irgendein verdammtes papistisches Brimborium gemacht wurde, damit sie glaube, es sei mehr daran, als die Beine zu spreizen, wann immer der verdammte Hurenbock es verlangte. Ja, und wo würde der Priester sein, wenn sie unter dem Gewicht eines Mannes bockte, wo würde die Jungfrau Maria sein, wenn sie sich wand und schwitzte und um Gnade flehte? Und wer würde ihre Gebete hören, wenn sie einen schmerzhaften Preis für ihren Verrat zahlte?
Sie hielt sich von ihrem Vater fern, hielt sich weit von ihm fern, drinnen und draußen. Er hatte nicht die Kraft, sie zu bedrohen, außer mit seinem Mund. Je schwächer der Alkohol ihn machte, desto lauter wurde seine Stimme. Sie war jetzt nicht angenehm, nicht weich, nicht überredend oder schmeichelnd. Er brüllte, er wütete, er tobte, herrschte Innis an und auch Vassie – sogar Fingal, den Hund –, in welche Ecke er auch gerade gefallen war, wo er rücklings lag, die Gliedmaßen verdreht und von Whisky gelähmt, versetzt in einen Zustand von Trunkenheit, der ihn endlich impotent machte und in seiner ganzen Hilflosigkeit entlarvte.
In zehn Tagen würde sie frei von ihm sein. Sie würde sich bemühen, ihn nicht in ihre Ehe mitzunehmen, so wie sie die wehmütigen Erinnerungen an ihren Großvater mitnahm. Sie würde Pennypol hinter sich lassen, es verlassen, sich von ihm befreien, die Erinnerungen an ihre Kindheit abschütteln, wie sie Staub von einem Rock oder Schmutz von ihren Schuhen abschütteln würde; all die Sorgen, all die Enttäuschungen, all die Ängste und Verletzungen, die ihr von einem Mann zugefügt worden waren, der von niederträchiger Arroganz und der unerschütterlichen Überzeugung geprägt war, dass seine Familie ihn im Stich gelassen habe – und nicht umgekehrt.
Sie würde also von Pennypol durch Olaf’s Hill ebenso total abgeschnitten sein, wie Pennymain durch das Labyrinth der Solitudes von dem großen Haus von Fetternish abgeschnitten war. Ihr Ärger auf Biddy, ihr Mitleid für Mam würde sicher in den schönen Jahren, die vor ihr lagen, schwinden. Aber die Furcht vor ihrem Vater würde niemals nachlassen, vielleicht, weil sie in ihm ihre eigene Schwäche entdeckt hatte, ihren eigenen potenziellen Untergang, die Farce von Egoismus, die die Tragik auf den Kopf stellte.
Vor alldem würde sie durch die Ehe mit Michael gerettet werden.
Sie konnte das Herandämmern dieses Tages kaum erwarten.
Es war Willy, der den Anwalt fand. Er tat das, indem er eine Tür öffnete, die er lieber geschlossen gehalten hätte: Er schrieb an Jack Stockton. Zu seiner Überraschung bekam er als Antwortschreiben keinen Brief von Stockton aus Glasgow, sondern von der Anwaltskanzlei Ashcroft, Ashcroft & Dunlop in Perth, die erklärten, dass sie erfreut wären, sich um alle geschäftliche Dinge kümmern zu dürfen, die Fetternish ihnen anvertrauen würde, und verwiesen diskret darauf, dass sie Spezialisten in Nachlass- und Erbschaftsangelegenheiten sowie Vergleichen seien.
Willy hatte kaum Zeit, den Brief Biddy zu zeigen und mit ihr darüber zu diskutieren, ob es klug sei, eine Kanzlei »blind« zu beauftragen, was ja der Fall wäre, als schon eine Droschke aus Tobermory vorfuhr, die unangekündigt Mr. Walter Baverstock persönlich – aber allein – brachte.
Es war ein ziemlicher Schock für Biddy, sich plötzlich mit ihrem Schwager konfrontiert zu sehen. Zuerst wusste sie nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Er wirkte abgehärmt und hatte, wie sie fand, Gewicht verloren. Er war auch sehr von dem Anblick der Hunde gerührt, die nach einem kurzen Zögern von ihren Schlafplätzen neben dem Kamin zu ihm kamen, an seiner Hose schnüffelten und zaghaft an seinen Händen leckten.
»Vermissen sie ihn, Bridget?«, fragte Walter mit belegter Stimme.
»Oh ja, Mr. Bav – Walter«, sagte Biddy. »Ich glaube, sie vermissen ihn fast so sehr wie ich.« Sie ließ sich von ihrem Schwager in die Arme nehmen und kurz und unbeholfen drücken. »Wirst du lange bleiben?«
»Nur eine Nacht, zwei allenfalls.«
»Ich werde Willy bitten, dein altes Zimmer fertig zu machen.«
»Ich würde das Gästezimmer bevorzugen«, sagte Walter. »Wenn es keine Umstände macht.«
»Ganz gewiss nicht«, sagte Biddy, erfreut über die Tatsache, dass er sich ihr beugte. »Schließlich ist dies doch auch dein Haus, oder?«
»Ja«, sagte Walter. »Ja, ich bin gekommen, um darüber zu reden.«
»Das hatte ich mir gedacht«, sagte Biddy. »Ich bin überrascht, dass deine Schwester es nicht für richtig hielt mitzukommen.«
»Sie ist – Agnes ist – sie weiß nicht, dass ich hier bin.«
Biddy versuchte nicht zu lächeln und nickte Willy zu, der mit Mr. Walters Tasche in der Hand an der Tür gestanden hatte.
»Bringen Sie das hoch ins Gästezimmer, William. Würden Sie dann so freundlich sein, Margaret zu bitten, uns Tee zu servieren? Brennt das Kaminfeuer im Gesellschaftszimmer?«
»Ja, Mrs. Baverstock.«
»Dann also ins Gesellschaftszimmer.«
»Vielleicht möchte Mr. Walter etwas Stärkeres?«, schlug Willy vor, während er sich mit dem Gepäck zur Treppe bewegte.
»Nein«, sagte Biddy. »Ich glaube, es wäre besser, wenn Mr. Walter gerade im Augenblick einen klaren Kopf behielte.«
»Das finde ich auch«, sagte Walter erschöpft.
Obwohl die Sonne erst in zwei Stunden untergehen würde, schien der Tag vorzeitig zu enden, da die Dämmerung sich über die Hügel von Ardnamurchan senkte.
Biddy hätte die Vorhänge schließen lassen, doch Walter, der gegessen und getrunken hatte, verweilte vor den hohen Fenstern, als wollte er sich im Dunkel des Abends baden oder, so dachte Biddy, die Aussicht von Fetternish zum letzten Mal in sich aufnehmen. Sie stellte Walters Recht, melancholisch zu sein, nicht in Abrede, vermutete nicht, dass es gespielt sein könnte, um sie zu überrumpeln und ihre Position bei den Verhandlungen, die gleich beginnen würden, zu schwächen.
Walters Rückkehr nach Mull musste schmerzlich und schwer für ihn gewesen sein. Dies war für sie jedoch ein Vorteil, und sie hatte nicht die Absicht, sich durch Gefühle beeinflussen zu lassen, da die Baverstocks sich bereits mit der Weigerung, ihr Einblick in das Testament zu gestatten, abscheulich verhalten hatten. Willy hatte sie darauf aufmerksam gemacht. Die Anwälte der Familie hatten offensichtlich bei diesem unmoralischen Manöver mit unter der Decke gesteckt, da sie glaubten, Mrs. Campbell-Baverstock würde ihre Rechte nach schottischem Gesetz nicht kennen und Walter könnte als Austins Testamentsvollstrecker mit ihren Interessen Schindluder treiben.
Biddy wartete klugerweise, bis der Tee getrunken und das Geschirr abgeräumt worden war. Walter stand noch immer am Fenster. Nervosität mischte sich jetzt in seine Melancholie. Biddy war überzeugt, dass er wenig Interesse daran hatte, die Aussicht zu bewundern, sondern den Standort nur nutzte, um auf Distanz zu bleiben. Sie hätte es vorgezogen, wenn Willy Naismith im Gesellschaftszimmer anwesend gewesen wäre, hatte aber das sichere Gefühl, dass Walter das nicht erlauben würde. Sie versuchte, sich an den Rat zu halten, den Willy ihr gegeben hatte, nämlich ruhig und gelassen zu bleiben und ihren Ärger zu beherrschen.
»Mir war gar nicht bewusst, dass es so – so großartig war«, sagte Walter. »Die Aussicht, meine ich. Die Landschaft. Ich verstehe, was Austin darin sah und warum er Mull so geliebt hat.«
»Dann bist du zurückgekommen, um zu bleiben?«, fragte Biddy.
»Nein, ich – ich fürchte nicht.« Walter wandte sich vom Fenster ab und schaute sie fast schüchtern an. »Mein Geschäft – jetzt wo Austin nicht mehr da ist, um mir zu helfen – mein Geschäft in Edinburgh wird zu viel von meiner Zeit in Anspruch nehmen.«
»Ist Fetternish nicht dein Geschäft?«
»Natürlich. Mir gehört die Hälfte.«
»Und wer ist der Besitzer der anderen Hälfte?«, fragte Biddy.
»Oh!« Er wirkte überrascht. »Das bist du, meine Liebe.«
»Was besitze ich noch?«
»Nun, wie du den Aufstellungen des Testaments entnommen haben wirst …«
»Ich habe keine Kopie des Testaments gesehen.«
»Ach, was!«, rief Walter aus, Überraschung heuchelnd. »Hat Mr. Fanshaw dich nicht über seinen Inhalt informiert?«
»Wer ist Mr. Fanshaw?«
»Unser Rechtsanwalt.«
»Der Rechtsanwalt der Baverstocks?«
»Ja, aber er regelt auch gewisse Angelegenheiten des Gutes.«
»Dann ist er also auch mein Anwalt?«
»Was?« Walter war verwirrt. »Was? Ja, ich denke, das ist er.«
»Und sollte deshalb«, sagte Biddy, »in meinem Interesse handeln.«
»Ich bin sicher, dass er das tut. Er ist schließlich einer der angesehensten Rechtsberater in Edinburgh. Er regelt unsere Geschäfte seit vielen, vielen Jahren. Und vor ihm hat das sein Vater getan.«
»Ich vermute«, stellte Biddy fest, »dass Mr. Fanshaw in einen Gewissenskonflikt geraten könnte. Es muss dem Mann schwerfallen, unparteiisch zu sein, da er schon seit so langer Zeit für die Baverstocks arbeitet. Warum ist mir denn das Testament meines Mannes nicht gezeigt worden?«
»Offensichtlich hat es Verwirrung gegeben, was …«
»Bist du nicht Austins Nachlassverwalter?«
»Das bin ich.«
»War es nicht deine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Austins Wünsche erfüllt wurden? Mich wissen zu lassen, was diese Wünsche waren?«
»Ich dachte – ich überließ das …«
»Fanshaw, ja«, sagte Biddy. »Komm vom Fenster weg.«
»Was?«
»Komm vom Fenster weg, Walter. Du kannst dich nicht den ganzen Abend verstecken.«
»Verstecken? Ich verstecke mich nicht«, protestierte Walter, trat aber nichtsdestoweniger in den Bereich des Kaminfeuers, näher an das Sofa heran. »Warum sollte ich mich vor dir verstecken, Bridget? Ich bin eigens hergekommen, um über deine Zukunft zu sprechen, sicherzustellen, dass du …«
»Dass ich weniger erhalte, als mir zusteht.«
»Sechs Wochen Ehe berechtigen dich nicht …«
»Zehn Minuten, zehn Minuten Ehe berechtigen mich zu allem, was mein Mann mir zu vermachen für angebracht hielt.« Biddy hatte mehr von Walter erwartet. Sie spürte, dass sie wütend wurde und holte, während sie steif und aufrecht dasaß, drei- oder viermal tief Luft, bevor sie fortfuhr. »Wo ist meine Ausfertigung des Testaments?«
»Sie wird dir zugeschickt. Das verspreche ich.«
»Nein«, sagte Biddy. »Schick sie an meinen Rechtsbeistand.«
»Was?«
»Mr. Fisher Dunlop in Perth.«
»Dunlop ist dein Rechtsvertreter?«
»Das ist er. Er wird sich mit deinem Mr. Fanshaw in Verbindung setzen.«
»Warum – ich meine, wie hast du Fisher Dunlop dazu gebracht, dich zu vertreten?«
»Durch Empfehlung eines Freundes.«
Walter hatte seine Schüchternheit vergessen. Er war nahe bei ihr, beugte sich etwas vor. Sein Schnurrbart sträubte sich beunruhigt, und seine Augen waren nicht länger schwermütig. Er schien aufgewacht zu sein, fand Biddy.
Sie sagte: »Ich nehme an, du hast mit Mr. Dunlop geschäftlich zu tun gehabt und kennst seinen Ruf?«
»Gewiss kenne ich ihn.«
»Er bemüht sich, glaube ich, um ein Interdikt.«
»Ein was? Ein was?«
»Ich glaube, das ist das richtige Wort dafür«, sagte Biddy. »Jedenfalls wird Mr. Dunlop zum Gericht gehen, um sicherzustellen, dass wir eine Ausfertigung von Austins letztem Willen und Testament ohne weitere Verzögerung erhalten.«
»Gütiger Gott!«
Walter sackte in einen der brokatbezogenen Armsessel, einen aus den Exporten von Sangster. Er legte die Hände auf die Knie. Er schüttelte ungläubig, fast voller Verwunderung seinen Kopf.
Biddy sagte: »Austin hat mir alles vermacht, nicht wahr?«
Walter schniefte, schaute kurz zum Fenster, dann zur Tür und sagte dann: »Es war Agnes’ Idee. Dir das vorzuenthalten, meine ich. Sie ist durch Austins frühen Tod verletzt. Sehr verletzt. Ich sagte ihr, dass wir dir die Information nicht sehr lange vorenthalten könnten.«
»Mir welche Information vorenthalten?«, sagte Biddy. »Wie viel bin ich wert?«
»Sehr viel«, gab Walter zu. »Ja, Bridget, sehr viel.«
»Er hinterließ mir alles?«
»Ja.«
»Austin sagte mir, dass er für mich vorsorgen würde und dass er dafür entsprechende Regelungen getroffen habe«, log Biddy. »Mein Ehemann – dein Bruder – war ein ehrlicher Mann. Er würde wütend auf dich sein, weil du versucht hast, mich reinzulegen.«
»Das war nicht die Absicht«, murmelte Walter. »Nicht direkt.«
»Was war es denn?«, fragte Biddy
»Ich bin – ich bin mit einem Vorschlag gekommen.«
»Zweifellos von deiner Schwester ausgeheckt, mit Unterstützung deines Mr. Fanshaw.«
Walter hatte nicht den Mut, das zu leugnen.
Er fuhr hastig fort: »Es wird doch sicherlich nicht schaden, zu hören, was ich zu sagen habe, bevor du mich verurteilst?«
»Ich höre«, sagte Biddy.
»Es gibt so gut wie nichts an Bargeld, Bridget. Austin hatte keine großen Reserven beiseitegelegt. Sein Hauptvermögen war sein halber Anteil an Fetternish. Ich darf dir dazu gleich sagen, dass ich berechtigt bin, meinen Anteil an Fetternish zu veräußern – also Haus, Grund und Vieh, wenn mir danach ist. Ich kann einen Verkauf erzwingen. Es sei denn, du kannst das Kapital aufbringen, es von mir zu kaufen. Kannst du das?«
»Nur indem ich meinen Anteil an Charlotte Square verkaufe«, sagte Biddy.
»Worauf, was ich dich zu bedenken bitte, noch immer eine Hypothek liegt.«
»Dennoch«, sagte Biddy, »ist der Besitz in Edinburgh doch eine beträchtliche Summe wert, nicht wahr? Ihn zu verkaufen würde bedeuten, dass ich Geld bekäme, um für deinen Anteil an Fetternish zu bieten.«
»Das ist es, was du willst, nicht wahr?«, sagte Walter. »Fetternish?«
»Ich habe, denke ich, Anspruch auf mehr, als Fetternish wert ist.«
»Begreifst du nicht, meine Liebe, dass es Monate, vielleicht Jahre dauern wird, zu taxieren, zu bewerten und auseinanderzudividieren, was zwischen uns zu teilen ist? In der Zwischenzeit sind Löhne zu zahlen, laufende Kosten und …«
»Aus Verpachtungen kommt Geld herein«, erinnerte Biddy ihn. »Aus Wollverkäufen und aus meinen Anteilen an der Fabrik in Sangster.«
»Oh!«, sagte Walter.
»Besitze ich nicht achtundzwanzig Prozent der Anteile?«
»Sechsundzwanzig.«
»Nun gut, sechsundzwanzig. Und hattet ihr nicht Fetternish ursprünglich erworben, um billige Wolle für die Tweedfabrikation zu erzeugen?«
»Vielleicht hatten wir das.«
»Walter!«
»Ja, natürlich hatten wir das.«
»Und ist es nicht profitabel?«
»Ziemlich, ziemlich profitabel.«
»Walter!«, sagte Biddy wieder scheltend. »Ich mag zwar nichts von Fabrikation verstehen, aber ich verstehe genug von Landwirtschaft, um ganz sicher zu sein, dass du nicht Land pachten und mehr Schafe kaufen würdest, wenn das Anwesen Verlust machen würde.«
»Pennypol von deiner Mutter zu pachten war Austins Idee; tatsächlich war’s eine Geste der Nächstenliebe, nur um dir eine Freude zu machen.«
»Unsinn«, sagte Biddy. »Nächstenliebe hatte damit nichts zu tun.«
»Welche Lügen hat Fisher Dunlop dir erzählt?«
»Ich brauche keine Anweisungen von einem Rechtsanwalt, um die Zahlen in einer Gewinn-und-Verlust-Rechnung zu addieren«, sagte Biddy. »Wie lautet dein Vorschlag, Walter? Dass ich auf all meine Rechte und Ansprüche verzichte und als Gegenleistung alleinige Besitzerin von Fetternish bin? Habt ihr das im Sinn?«
»Wir – wir möchten nicht, dass du obdachlos wirst, Bridget.«
»Ha!«, schnappte Biddy. »Obdachlos! Ich bin wahrscheinlich ebenso reich wie du, und ich werde nie wieder ein Dach über dem Kopf haben müssen, das mir nicht gehört. Obdachlos, in der Tat! Was wolltest du mir denn anbieten, Walter? Ein Cottage an der Küste, einen Dachboden über den Stallungen? Obwohl ihr versucht habt, den Inhalt von Austins Testament geheim zu halten, weiß ich, was ich wert bin, zwar nicht auf den Penny genau, nicht einmal aufs Pfund genau, aber ich kann mir ausrechnen, dass ich Anspruch auf mehr habe, als die Baverstocks mir zugestehen möchten, und dass ich nach den Standards der Insel reich bin.«
Sie stand abrupt auf, was Walter veranlasste zurückzuweichen, als glaubte er, sie würde ihn schlagen. Doch sie fühlte sich innerlich bemerkenswert ruhig, und jede Spur von Ärger war verflogen. Sie begann sogar, sich zu amüsieren, da sie wusste, dass er ihre Intelligenz ernsthaft unterschätzt hatte, diese angeborene Schlauheit, was finanzielle Dinge anbelangte, ihr Campbell-Erbe.
Sie sagte: »Dachtest du vielleicht, ich würde nie nach dem Testament fragen? Ich bitte dich, Walter, ich bin nicht so dumm, als dass ich mir von euch nur das geben lassen würde, was mir nach eurer Meinung zusteht. Ich habe deinen Bruder nicht geheiratet, um an sein Geld zu kommen. Ich hatte geglaubt, dass meine Ehe lange dauern würde und …«
»Warum hast du ihn denn sonst geheiratet, wenn nicht um des Geldes willen?«, unterbrach Walter sie.
»Er liebte mich«, sagte Biddy spontan und wandte sich dann sofort wieder dem Thema zu. »Jetzt, wo ich Austin nicht mehr habe, um geleitet zu werden, muss ich mich selbst um meine Interessen kümmern. Ich will dir offen sagen, dass ihr mich sehr schäbig behandelt habt. Wärst du sofort zu mir gekommen, Austins Testament in der einen Hand und einen Vorschlag in der anderen, wäre ich vielleicht geneigt gewesen, den zu akzeptieren. Aber so mit mir umzugehen schien dir und deiner Schwester nicht angebracht. Ihr seid sehr plump gewesen, Walter, und habt das Gesetz ignoriert, und jetzt werden mein Mr. Dunlop und euer Mr. Fanshaw die Dinge miteinander regeln, und zwar zu meiner Zufriedenheit, nicht zu eurer.«
»Bridget«, sagte er hilflos. »Biddy, ich wollte nicht, dass du auf diese Art behandelt werden solltest. Ich hätte dich zur Testamentseröffnung nach Sangster kommen lassen, aber Agnes …«
»Agnes, Agnes! Warum gibst du immer deiner Schwester die Schuld? Für mich seid ihr alle gleich«, sagte Biddy. »Wenn du einen Vorschlag möchtest, Walter, dann schlage ich vor, dass ich meinen Anteil an deinem Haus in Edinburgh gegen deinen Anteil an Fetternish tausche.«
»Nein. Oh nein, das wäre nicht fair.«
»Für mich oder für dich?«
»Für mich.«
»Was wäre denn fair?«, fragte Biddy.
»Wenn du auch auf deinen Anteil an der Fabrik in Sangster verzichten würdest.«
»Würde ich dann nicht die goldene Gans schlachten?«
»Es ist nicht deine Firma. Mein Vater hat sie aufgebaut und ich sehe keinen Grund, warum du von den Unternehmungen der Baverstocks profitieren solltest.«
»Es gibt einen. Ich bin eine Baverstock, ob’s dir gefällt oder nicht.«
»Außer du heiratest wieder.«
»Ich werde nicht wieder heiraten. Ich werde nie wieder heiraten.«
»Nie ist eine ausgesprochen lange Zeit.«
Sie stand noch immer vor ihm, nicht vorsätzlich bedrohend, aber doch die Dominanz von Jugend und Weiblichkeit projizierend und eine Sicherheit ausstrahlend, der Walter trotz all seiner Schläue nichts entgegenzusetzen hatte.
Aber er musste es versuchen, und wenn auch nur, um die Form zu wahren.
Er sagte: »Du weißt, dass wir in dieser Angelegenheit vor Gericht gehen werden. Wir werden die Regelung von Austins finanziellen Angelegenheiten so lange wie möglich hinauszögern.«
»Ihr werdet den Prozess nicht gewinnen, Walter.«
»Möglicherweise nicht«, sagte Walter. »Aber die Last der Gerichtskosten haben wir zu dritt zu tragen, und sie werden wirklich sehr hoch sein, das kannst du mir glauben, so hoch, dass sie dein Betriebskapital schmälern und du Fetternish verkaufen musst, nur um die verdammten Anwälte zu bezahlen, ganz abgesehen von dem Geld, das du auftreiben musst, um mich auszubezahlen. In der Zwischenzeit wird Fetternish treuhänderisch verwaltet. Du weißt, was das bedeutet?«
»Nein.«
»Das Verkaufsrecht wird nach Ermessen des Gerichts einem Dritten zugeteilt und dir wird gerade genug von Austins Vermögen zugewiesen, um Fetternish zu unterhalten, aber nicht mehr.«
»Aber«, sagte Biddy, »ich werde die Freiheit haben, die Wolle an den Meistbietenden zu verkaufen, und wie wir beide wissen, wird der Meistbietende nicht aus Sangster kommen.«
»Damit« –Walter stockte – »würdest du dir ins eigene Fleisch schneiden.«
»Weil ich auch Anteilseignerin an der Fabrik in Sangster bin?«
Wieder eine Pause. »Ja.«
»Die Gewinne aus der Tweedfabrikation würden sinken.«
»Oh, das bezweifle ich«, sagte Walter schulterzuckend.
»Deine wie meine Dividenden würden erheblich geringer ausfallen.«
»Nein, nein.«
»Zumindest so lange, bis die Sache geregelt ist. Und je länger das Verfahren läuft, desto geringer ist die Chance, Wolle zu niedrigsten Preisen aus Fetternish zu beziehen.«
»Wenn hier Fisher Dunlop spricht …«
»Ich spreche hier, Walter. Ich – Bridget Campbell-Baverstock.« Biddy trat einen Schritt zurück und setzte sich wieder auf das Sofa. Sie glättete ihre schwarzen Seidenröcke und strich über die Brosche an ihrer Brust, als ob die eine Quelle der Inspiration wäre oder vielleicht des Mutes. »Die Wolle ist wichtig für dich, und du tätest gut daran, das zuzugeben.«
»Es ist«, räumte Walter ein, »eine Überlegung wert.«
»Dann überlege Folgendes«, sagte Biddy. »Ich will dir ein faires Angebot machen. Ich werde meine Hälfte von Charlotte Square und vierzehn Prozent der Anteile an der Fabrik in Sangster gegen Fetternish tauschen. Da du es nicht für notwendig gehalten hast, mir das Testament oder irgendeines der dazugehörigen Dokumente zu zeigen, kann ich nicht sagen, wie viel dies alles an Geld gemessen wert ist. Aber ich weiß, dass es dem entspricht, was du haben willst.«
»Und du wirst auch haben, was du haben willst«, erinnerte Walter sie.
»Das ist wahr«, sagte Biddy.
»All deine Anteile«, sagte Walter.
Biddy schüttelte den Kopf. »Ich muss irgendwie Verbindung mit der Familie Baverstock halten, und sei es auch nur, um mich gegen euch zu schützen. Zwölf Prozent der Anteile werden genügen. Unter diesem Gesichtspunkt werde ich dafür sorgen, dass die ganze hochwertige Wolle, die in Fetternish erzeugt wird, zu einem Preis, der unter dem Marktwert liegt, nach Sangster geliefert wird.«
»Wie viel unter dem Marktwert?«
»Walter, wie kannst du von mir exakte Zahlen erwarten, wo ihr mir überhaupt keine Zahlen vorgelegt habt? Ich biete dir einen Ansatzpunkt an, das ist alles. Wenn du und ich hierin grundsätzlich übereinstimmen, dann werden wir es meinem Mr. Dunlop und deinem Mr. Fanshaw überlassen, die Einzelheiten zu klären.«
Walter trommelte mit seinen Fingern einen eigenartigen Rhythmus auf den Knien, während er über das Muster des Teppichs nachdachte.
Draußen war es inzwischen fast völlig dunkel, und See und Himmel waren miteinander verschmolzen. Er mochte Mull nicht, hatte es nie gemocht, von Anfang an nicht. Er fühlte sich hier klein, winzig gemacht durch die Landschaft und dieses riesige Haus. Von seinem Bruder war wenig auf Fetternish geblieben, wenig außer der Witwe, aber selbst sie schien vergänglich zu sein. Er stand auf, ging zu dem Fenster hinüber und zog an einer der Schnüre, die die eine Hälfte des Vorhanges schlossen. Er stand einen langen Augenblick da, die andere Schnur in seiner Faust, und starrte in die Dämmerung hinaus. Er konnte die Reflexion des Gesellschaftszimmer sehen, das klein und eng wirkte und wie eine mysteriöse Erscheinung über dem Rasen hing.
Es war unklug von ihm gewesen hierherzukommen. Es war auch falsch von ihm gewesen, auf den böswilligen Plan seiner Schwester zu hören, Biddy Campbell um das zu betrügen, was rechtens ihr gehörte. Austins Wünsche waren klar und eindeutig: Alles ging an seine Frau. Jedes Möbelstück, jeder Anteil, jedes Schaf. Austin hatte natürlich nicht wissen können, dass er so bald abtreten und keine Kinder haben würde, keine Erben, um das Inselreich zu übernehmen, das Biddy und er aufbauen würden.
Jetzt gehörte alles der Inselfrau, die gut aussehend und klug war und auf ihre Weise ebenso rücksichtslos wie die Baverstocks, sogar wie seine Schwester. Bridget Campbell wäre eine wertvolle Ergänzung für die Familie gewesen. In einer Generation wären ihre Söhne die Familie gewesen. Zumindest die Highland-Linie. Das große Haus an der Atlantikküste wäre Teil der Geschichte der Baverstocks, und sie alle wären stolz darauf gewesen. Aber dann war der arme, gute Austin gestorben. Das Herz des armen Austin war die ganze Zeit schwach gewesen, aber niemand hatte das auch nur geahnt. Jetzt waren ihm von seinem Bruder nur Erinnerungen geblieben, Erinnerungen, die Biddy Campbell niemals teilen konnte, und dazu ein ordentlicher Stapel an Blättern und Dokumenten, die in einem Safe im Büro von Mr. Fanshaw in Edinburgh lagerten.
Walter wusste, was Fetternish wert war. Er wusste auch, was zwölf Prozent der Anteile an der Tweedfabrik Baverstock, Baverstock & Paul wert waren, und das bis auf den letzten Halfpenny genau.
Es war keineswegs eine so faire Vereinbarung, wie Biddy glaubte.
Es gab noch andere Geldbeteiligungen, andere Anteile, die ihr ein gesundes Betriebskapital lieferten. Als Testamentsvollstrecker würde er dafür sorgen, dass ihr keine Hindernisse in den Weg gelegt wurden, dies zu bekommen. Zum Teufel mit Agnes! Es war, was Austin gewollt hatte. Sie, diese Frau von der Insel, war das, was Austin gewollt hatte, und sie hatte seinen Bruder glücklich gemacht, wenn auch nur für kurze und vorübergehende Zeit.
Versöhnlich drehte er sich zu ihr um.
»Nun gut, Bridget. Im Prinzip stimme ich deinem Vorschlag zu.«
»Fetternish und zwölf Prozent. Und du kannst den Rest behalten?«
»Und wir bekommen jedes Jahr die Wolle.«
»Jedes Pfund.«
»Also abgemacht«, sagte Walter und zog an der Vorhangschnur, um so die frühe Dämmerung auszusperren.
Es war weit nach elf, als Willy ihr das Glas heiße Milch, aromatisiert mit einem Schuss Brandy, brachte. Sie hatte den Gürtel ihres Morgenmantels gelöst und lehnte sich in dem georgianischen Lehnsessel in der Halle fast so zurück, wie es ein Mann tun würde, die Füße auf den krabbenfüßigen Fußschemel gelegt, die Hüfte vorgeschoben und den Kopf auf einem Kissen ruhend. Die Hunde waren in die Waffenkammer geführt worden, aber ihr Geruch, der nicht unangenehm war, hing noch immer um den großen steinernen Kamin, gemischt mit dem Holzrauch und dem Duft der Zigarre, die Walter nach dem Abendessen geraucht hatte.
Biddy blickte zu Willy mit schläfriger Genugtuung auf. Sie hatte alles erreicht – fast alles –, woran ihr Herz hing – oder würde es erreichen, sobald die Anwälte die Einzelheiten ausgearbeitet hatten. Sie fühlte sich träge und zufrieden und hätte laut geschnurrt, wäre sie eine Katze gewesen.
Willy nahm das Glas vom Tablett und gab es ihr in die ausgestreckte Hand. »Ich nehme an, dass alles gut verlaufen ist, Mrs. Baverstock?«
»Sehr gut, Willy. Viel besser, als ich erwartet hatte.« Sie nippte Brandy und Milch und leckte mit ihrer Zungenspitze den cremigen Rest von ihrer Oberlippe. »Ich muss Ihnen dafür danken.«
»Ich habe nichts getan«, sagte Willy bescheiden. »Nicht viel.«
»Doch, ohne Ihren Rat hätte ich nicht weitergewusst.«
»Haben – äh –, haben Sie Mr. Walter gesagt, dass ich hierbleiben möchte?«
»Das habe ich, und er war damit einverstanden. Nach kurzer Erörterung«, fügte Biddy taktvoll hinzu. »Er wird es natürlich bedauern, Ihre Dienste zu verlieren, versteht aber, dass Sie an Ihre Frau denken müssen. Wo ist Margaret übrigens eigentlich?«
»In ihrem Bett. Sie schläft tief.«
Biddy nickte. »Ich habe das Gefühl, dass wir bald eine Reise nach Perth machen sollten. Es wäre nicht schlecht, mit diesem Mr. Dunlop von Angesicht zu Angesicht zu sprechen.«
»Ich denke, das könnte klug sein, Ma’am, ja.«
»Werden Sie mich begleiten?«
»Das werde ich.«
»Wird Margaret nichts dagegen haben?«
»Nein, Margaret wird die Lage verstehen.«
»Wir werden gegen Mitte der Woche reisen. Sagen wir am Mittwoch.«
»Für wie lange, Mrs. Baverstock?«, erkundigte sich Willy.
»Eine Woche sollte genügen. Ich denke, dass es in Perth geeignete Hotels gibt, in denen wir ohne übermäßige Unannehmlichkeiten logieren können.«
»Ich bin sicher, dass es die gibt«, sagte Willy mit leichtem Stirnrunzeln. »Aber …«
»Aber?«
»Das wird bedeuten, dass Sie die Hochzeit verpassen.«
Sie bewegte sich ein wenig, doch das feine Lächeln blieb auf ihren Lippen.
»Welche Hochzeit?«, sagte sie.
»Die Hochzeit Ihrer Schwester.«
»Oh, das!«, sagte Biddy. »Darum würde ich mir keine Sorgen machen, Willy. Nein, nein, darum würde ich mir überhaupt keine Sorgen machen.«
Im Nachhinein fand Michael es eigenartig, dass Roy nicht gebellt hatte, dass es nur Instinkt war, der ihn, einen Augenblick bevor sie in sein Bett glitt, weckte. Einen Sekundenbruchteil später und es wäre zu spät gewesen. Hätte sie ihn berührt, hätte er das Gewicht ihrer Brüste auf seiner Brust gespürt, ihren Mund auf seinem Mund, wie ihr Bauch sich an seinen Schenkeln rieb, dann wäre er für immer verloren gewesen und alles, was danach geschah, würde niemals passiert sein.
Er war sich nur zweier Dinge sicher: dass es nicht Innis war, die in der Dunkelheit neben seiner Pritsche stand, und dass es kein Traum war.
Als sie nach der Decke tastete, die ihn bedeckte, richtete er sich mit einem Ruck auf und fasste ihren Arm. Obwohl die Küche zu dieser frühen Stunde so kalt wie ein Grab war, war ihre Haut warm. Sie schwankte an ihm, und er konnte ihren Atem hören, ein sonderbar sägendes Geräusch, das für Heimlichkeit zu laut war.
»Michael. Oh Gott, Michael!«
Es war stockdunkel. Bis auf einen ganzen feinen Glutschimmer im Herd, in dem die Asche des Torffeuers der vergangenen Nacht noch ein Fünkchen barg, gab es kein Licht. Trotz des Schocks über sein Erwachen, war er erregt. Er konnte ihren Körper riechen, der schwer und üppig im Dunkeln war und dessen ganzes Gewicht auf ihm ruhte, als sie sich an ihn lehnte. Sie trug nichts außer einem glatten Unterkleid. Ihr offenes Haar fiel über ihre Schultern. Er spürte ihr Gesicht, das sie an ihn schmiegte, ihren Mund, der nach seinem suchte.
Er stieß sie heftig beiseite und stand auf.
»Wie spät ist es?«
»Früh, sehr früh. Geh ins Bett! Bitte!«
»Was tust du hier, Biddy?«
Ihre Arme tasteten nach ihm. Er wich ihrem Griff nur mit Mühe aus, mit absurder Unbeholfenheit, wankte und wäre fast wieder auf das Bett gefallen. Roy war endlich aufgewacht. Er konnte das Scharren der Krallen des Hundes auf dem Steinboden hören und das leise unsichere Jaulen, das das Tier von sich gab, befremdet über die Anwesenheit der Frau in dem Raum.
Michael wankte zur Feuerstelle. Er tastete auf dem Kaminsims herum, fand ein Streichholz und riss es an und sah sie neben dem Bett stehen, ein Knie auf der Decke. Er sah auch den schweren, mit Baumwolle gefütterten Tweedumhang, der sie bedeckt hatte, wie eine Schlangenhaut auf dem Boden liegen. Ihre Schuhe daneben. In dem begrenzten Raum der Küche wirkte sie riesig und Roy, selbst Roy, kauerte vor ihr. Sein Fell war gesträubt. Er winselte nicht mehr, sondern knurrte. Michael fand einen Kerzenstumpf, zündete ihn an, steckte ihn in einen Halter und stellte den Halter auf den Tisch.
»Biddy«, sagte er wieder, »was tust du hier?«
»Ich brauche dich, Michael. Ich brauche dich. Willst du mich nicht auch?«
Er trat zur Seite, weg von dem Bett, achtete darauf, dass der Tisch zwischen ihm und der Frau war. Er griff nach unten und presste seine Hand auf den Hals des Collies, beruhigte ihn und sagte: »Psst, psst, ist ja gut, ist ja gut«, so als ob der Hund eine Gefahr für ihn wäre und beschwichtigt werden müsste.
Biddy setzte sich, eines ihrer langen Beine angewinkelt unter sich, das Unterkleid so hochgezogen, dass er ihre Schenkel sehen konnte, auf die Bettkante. Ihr Haar, mehr rötlich braun als feuerrot, fiel ihr über Schultern und Brust. Sie war aus der Dunkelheit gekommen, war in die Dunkelheit vor der Morgendämmerung gegangen, die sandigen Wege vom großen Haus hinunter, barbeinig, mit nichts als dem Umhang bekleidet, um die Kälte abzuhalten. Ihr Anblick beunruhigte ihn und regte ihn auf, und er blieb trotz seines Ärgers erregt. Er lehnte sich an die Tischkante, stützte seine Fäuste auf die Platte und seine Arme waren vor Entrüstung steif.
»Ich bin nicht dein Leibeigener, Biddy«, brachte er mühsam heraus. »Du kannst nicht über mich verfügen, als wäre ich ein Sklave auf dem Markt. Du hast kein Recht, mitten in der Nacht in mein Haus zu schleichen.«
Sie sprach leise, konterte auf seine Heftigkeit mit offensichtlicher Kühle.
»Ich habe jedes Recht«, sagte sie. »Es ist nicht dein Haus. Es ist mein Haus.«
»Ja, gut, vielleicht ist das so«, sagte Michael. »Und vielleicht ist es auch wahr, dass ich dein Schafhirte bin. Aber das macht mich nicht zu deinem Mann.«
»Liebe mich!«
»Das werde ich nicht«, sagte er.
»Willst du mich nicht in dein Bett nehmen?«
»Doch«, sagte er. »Aber ob ich das will oder ob ich das tue, ist nicht …«
»Weißt du nicht, dass ich eine reiche Frau bin?«
»Sind das die Neuigkeiten, die Walter Baverstock dir gebracht hat?«
»Ja.«
»Wo ist Baverstock jetzt? Ich bin sicher, dass er nicht weiß, wo du bist.«
»Er ist nach Edinburgh zurückgefahren«, sagte Biddy. »Er ist gestern Morgen abgereist. Am Mittwoch werde ich nach Perth fahren, um mich mit meinem Anwalt zu beraten und Vorkehrungen hinsichtlich des Testaments treffen. Es wird keine Missstimmung geben. Ich werde sehr bald die Besitzerin von Fetternish House und allem Land und seinen Pachthöfen sein.«
»Was hat das mit mir zu tun?«, sagte Michael.
Biddy sagte: »Ich brauche einen Mann, mit dem ich teilen kann.«
»Bedeutet das, dass du bereits nach einem neuen Ehemann suchst?«
»Es kann sein, dass ich einen neuen Ehemann nehme – zu gegebener Zeit.«
»Es wird keinen Mangel an Verehrern geben, Biddy.«
»Ich denke allerdings, dass du keiner von ihnen sein wirst.«
»Soll das eine Frage sein?«, sagte Michael.
»Ich sage dir, dass ich nicht tun könnte, was meine Schwester tut. Es wäre nicht recht, wenn die Herrin von Fetternish einen Katholiken heiratet. Ich könnte das niemals tun.«
»Warum bist du dann hier?«
»Oh, nur um zu sehen, ob ich meine Meinung ändern kann.«
Sie lehnte sich zurück, ließ ihre Schultern auf das Kissen sinken, winkelte einen Ellenbogen an. Sie sah in dem schwachen Licht opulent aus, selbst in der kalten Küche. In weniger als einer Woche würde Biddys Schwester dort liegen – aber nicht so, niemals so, niemals mit dieser Arroganz, dieser sinnlichen Selbstsicherheit. Welche Macht er auch immer über Biddy Campbell, die Tochter des Fischers, gehabt haben mochte, sie war längst erschöpft. Alles, was davon geblieben war, war ein Rest von Verlangen, von starkem männlichem Bedürfnis. Er könnte sie vielleicht nehmen, könnte ihr vielleicht eine Lektion erteilen, könnte es vielleicht sogar schaffen, sie für kurze Zeit zu demütigen, aber er würde sie nie wieder so besitzen, wie er sie vorher besessen hatte.
»Ist es Innis?«, sagte Biddy. »Hast du Angst vor dem, was Innis sagen könnte?«
»Ich habe vor keiner von euch beiden Angst«, sagte Michael. »Du solltest nicht hier sein, Biddy. Es ist nicht recht.«
»Ich werde Innis nichts erzählen, falls du dich davor fürchtest.«
»Ich werde sie heiraten, wie du weißt. Dies – du – wirst mich nicht davon abhalten.«
»Weil du sie liebst?«
»Ja.«
»Weil du mich gehabt hast und jetzt sie willst?«
»Ja«, log er.
Sie streckte ihre Gliedmaßen langsam, fast vorsichtig, als ob sie plötzlich zerbrechlich geworden wären. Sie richtete sich auf, die Brüste vorgereckt, den Bauch vorgewölbt unter dem dünnen Stoff des Unterkleides, das wie silbergrauer Staub an ihr klebte. Er war erstaunt über ihre Kühnheit, ihre Reife, verwirrt durch das, was er als Verworfenheit empfand. Sie war nicht mehr das linkische Mädchen vom Lande, das er genommen und verführt hatte, und dies war weder die Zeit noch der Ort, ihre wahre Natur zu demonstrieren. Er fühlte sich beschämt, nicht wegen dem, was er mit ihr getan hatte, sondern wegen seines Unvermögens, ihre wahre Natur zu erkennen. Es war nicht richtig, dass eine Frau – egal ob Mädchen oder erwachsene Frau oder Witwe – sich so verhielt, sich ihm oder einem anderen Mann so aufdrängte, sich so schamlos anbot und verlangte, dass er sie bediente.
Er spürte, dass alles Verlangen nach ihr schwand.
Biddy sagte: »Ich bin es nicht gewohnt, abgewiesen zu werden.«
»Ich kann nicht tun, was du verlangst, Biddy.«
»Warum nicht?«
»Weil es nicht fair gegenüber Innis wäre.«
»Weißt du nicht, dass ich jetzt deine Herrin bin?«
»Was soll das heißen?«, fragte Michael einfältig.
»Ich sagte es doch. Ich bin die Herrin von Fetternish.«
»Die Baverstocks …«
»Nein, nicht die Baverstocks. Walter und ich haben eine Vereinbarung getroffen.«
Michael spürte, dass seine Knie weich wurden, dass ein Frösteln ihn erfasste, Kälte ihn plötzlich überkam. Es war mehr ein Gefühl von kaltem Wasser als von kalter Luft. Er tastete hinter sich, fand einen Stuhl, setzte sich halb darauf und beugte sich vor, um auf dem Tisch Halt zu finden.
Biddy war wieder auf den Beinen. Sie stand neben dem Bett. Sie lächelte ihn an, nachsichtig jetzt, nicht höhnisch. Er versuchte, Innis dort zu sehen, ein Bild mit dem anderen zu verschmelzen, und fand einen seltsamen, unnatürlichen Trost bei dem Gedanken an Innis, die bescheiden und intelligent und so verliebt in ihn war, dass er alles – oder nichts – mit ihr tun könnte und sie sich nicht beklagen, sich nicht in diesen bizarren Bastard verwandeln würde, diese hybride Kreatur, eine Frau, die herausgefunden hatte, was Macht bedeutete, und sie durch einen katastrophalen Zufall bekommen hatte.
»Willst du mir sagen, dass ich das zu tun habe, was du von mir verlangst«, sagte Michael, »und du mich andernfalls rauswirfst?« Ihm war kalt, entsetzlich kalt. Selbst die Worte in seinem Mund waren kalt, tiefen Schlucken von Seewasser gleich oder dem Wasser aus dem Rohr, das dort an einem Wintermorgen herauskam. Er schluckte. Er sagte: »Am kommenden Samstag werde ich Innis heiraten, egal, was du tust, Biddy. Egal, wer du bist oder was du besitzt. Ich werde Innis heiraten und damit zufrieden sein.«
»Du wirst mit ihr niemals zufrieden sein«, sagte Biddy verächtlich. »Nicht du, Michael, nicht du.«
»Willst du mich entlassen? Bin ich gefeuert?«
Sie bückte sich und nahm den Umhang vom Boden auf, schüttelte ihn aus und legte ihn um sich. Mit einer lässigen kleinen Bewegung ihrer Handgelenke öffnete sie die Kapuze und schlug sie über ihren Kopf. In diesem Augenblick – das Haar im Kerzenlicht feuerrot, das Gesicht von feinem Tweed umrahmt – sah sie geradezu unglaublich schön aus.
»Nein«, sagte Biddy und lachte. »Ich wäre eine Närrin, würde ich dich verlieren, Michael.«
»Was meinst du mit mich verlieren, in Gottes Namen?«
Sie schlüpfte in ihre Schuhe und wandte sich zur Tür.
»Ich meine«, sagte sie zu ihm, »heirate meine Schwester und sei verflucht!«
»Biddy …«
Sie drehte sich zu ihm um. Kein Lachen mehr. Ihre Stimme hatte jetzt einen strengen, fast bösartigen Klang, den er vorher nicht gehört hatte, selbst wenn sie von ihrem Temperament oder schlechten Stimmungen mitgerissen wurde.
»Nicht Biddy«, sagte sie zu ihm. »Nie wieder Biddy. Auch wenn du wild entschlossen bist, mein Schwager zu werden, werde ich von jetzt an Mrs. Austin Baverstock sein, und du tätest gut daran, das nicht zu vergessen. Hast du verstanden?«
Er öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, überlegte es sich dann aber anders.
»Ja, Mrs. Baverstock«, sagte Michael unterwürfig. »Ich glaube, ich habe verstanden.«
Dann war Samstag. Innis stand am Ende des Weges ganz allein oberhalb des goldbraunen Farns und wartete darauf, dass Michael in dem geliehenen Dogcart eintreffen würde, das sie zu ihrer Trauung brächte, sie in ein neues Leben fortbringen würde.
Sie war lange vor Anbruch der Morgendämmerung aufgewacht, hatte hellwach zum letzten Mal auf der Strohmatratze auf dem Dachboden des Cottage gelegen, das seit dem Tag ihrer Geburt ihr Zuhause gewesen war. Biddy war nach Fetternish gegangen, Aileen nach Foss. Donnie war tot und Neil für sie verloren, so als ob die Stadt ihn verschluckt hätte wie das Meer. Sie fragte sich, wem die Schuld zu geben sei. Ob es Zufall war oder die Umstände, Schicksal oder Gott, die sie voneinander getrennt und aus Pennypol fortgetrieben hatten, oder ob es ein feiner, nicht zu ergründender Makel war, nicht nur die Schlechtigkeit ihres Vaters, die Bitterkeit ihrer Mutter, sondern etwas ganz Besonderes in jedem von ihnen, das die Vergangenheit geformt hatte und die Zukunft formen würde.
Die Mauer, die sie mühsam ausgegraben hatten, um Pennypol vor Fetternish zu schützen, hatte sich nicht als Schutz erwiesen. Abgesehen von dem Namen waren Fetternish und Pennypol ein und dasselbe geworden.
Überall waren jetzt Schafe, Schafe, die auf den Moorweiden und oben rings um den Kälberpferch grasten, so weit das Auge reichte. Wenn das wahr war, was Michael ihr erzählt hatte, dann waren es Biddys Schafe, die da auf Biddys Land weideten. Ihre Schwester hatte es nicht für nötig befunden, sie über das zu informieren, was stattgefunden hatte oder warum sie, Biddy, nach Perth gefahren war oder was sie zu tun hatte, um dafür zu sorgen, dass Fetternish ihr allein gehörte.
Innis wusste, dass sie heute Mittag in der Kapelle von Glenarray Teil eben dieses Gebietes werden würde, Teil von Biddys Imperium, und ihr Leben lang von den Launen ihrer Schwester abhängig sein. Sie würde einfach nichts haben, was sie ihr Eigen nennen könnte, nichts außer Michael, den sie unsinnigerweise liebte und von dem sie nie wieder, egal, was Biddy sagte oder tat, getrennt werden würde.
Es gab zweifellos Menschen, die sie für töricht hielten; andere, darunter ihr Vater, die sie als Verräterin an ihrem Volke verurteilten; andere, die noch immer glaubten, sie habe sich von sexuellem Verlangen hinreißen lassen und sei durch die Anziehungskraft, die der Schafhirte, dieser dürre Zugezogene auf sie ausübe, verwirrt. Wahrscheinlich gab es sogar einige wenige wie Großvater McIver, die enttäuscht darüber waren, dass sie es in der Welt zu nichts gebracht, keinen Mann geheiratet hatte, den sie als ihr ebenbürtig betrachteten. Innis wusste nicht, was sie einem von ihnen sagen sollte, hatte keine Erklärung dafür, dass sie Michael Tarrant liebte, keine, die vernünftig wäre; außer dass sie die Frau dieses Mannes sein, ihn ihr Eigen nennen musste und mit den bindenden Gelöbnissen Gewissheiten und Ziele fand, die ihr allein gehörten und sonst niemandem.
Ängstlich schaute Innis zu dem Weg, der nach Pennymain hinüberführte.
Bevor Willy Naismith mit Biddy nach Perth gefahren war, hatte er dafür gesorgt, dass Mr. Bell ein Dogcart zum Cottage des Schafhirten brachte, und gestern, am Freitag, hatte Michael Innis’ Habe aus Pennypol abgeholt, hatte alles über den Weg getragen, es hinter dem Pferd aufgeladen und dann zu seinem Haus gefahren, zu dem Haus, das sie für immer mit ihm teilen würde.
Ihr Vater hatte natürlich keine Hilfe angeboten. Er war, eine Flasche in der Faust, unrasiert und zerlumpt, am Kuhstall herumgeschlichen und hatte, während Michael sich abschleppte, zusammenhanglos gehöhnt und gebrüllt und eine Faust geschüttelt, als sie Michael über den Weg gefolgt war. Mam hatte nichts gesagt, kein einziges Wort zu Michael. Sie hatte mit verschränkten Armen an der Tür des Cottage gestanden und ihrer Tochter und dem Mann, der bald ihr Schwiegersohn sein würde, zugeschaut, wie sie die Kleidertruhe und die Körbe mit den Büchern heraustrugen, als wären die beiden Diebe, deren Handlungsweise sie nicht verhindern könnte. Mam hatte nichts gesagt, weil Dada zuschaute, und sie, Vassie, nicht illoyal sein wollte. Nicht jetzt, nicht jetzt, wo sie mit ihm allein gelassen war, so lange an ihn gekettet, bis er endlich sterben würde.
Es war ein stilles Haus an diesem Freitagabend beim Essen gewesen, aber es hatte keine sentimentale Wehmütigkeit, kein Bedauern in Innis gegeben, als sie sehr früh zu Bett gegangen war. Auf dem Dachboden war außer leeren Truhen nichts gewesen, nur, sauber auf einer Zeitung zurechtgelegt, ihr weißes Kleid und die Unterwäsche, die milchweißen Strümpfe, die sie am nächsten Tag anziehen würde. Ihre abgetragene alte Arbeitskleidung würde sie zurücklassen. Sie hatte allein auf der breiten Strohmatratze gelegen und dem leisen Pah-dah der Wellen gelauscht, die dort auf den Halbmond des Sandes liefen, wo der Bach in die See mündete; sie hatte der Stimme ihrer Mutter unten gelauscht, einem langen, an- und abschwellenden murmelnden Geräusch, nicht streng, aber eindringlich, als betete sie nicht zu Gott, sondern zu Dada, zu dem Wrack von Ronan Campbell oder dem Mann, der er einmal gewesen war, der betrunken oder gefühllos oder nur in dummem Stolz schmollend keine Antwort gab, überhaupt keine Antwort gab.
Sie war noch vor Anbruch der Morgendämmerung auf gewesen und hatte sofort ihr weißes Kleid angezogen, war nach unten in die dunkle Küche gegangen und hatte die Lampe entzündet. Sie hatte Tee aufgebrüht und sich gezwungen, einen Haferkuchen zu essen, um das flaue Gefühl im Magen zu beruhigen und ihre Beklommenheit bei dem Gedanken zu beschwichtigen, dass Michael es sich doch noch anders überlegen und nicht zu ihr kommen und sie hier im Hause ihrer Mutter welken und dahinsiechen würde.
Gott sei Dank war es ein trockener Morgen, ohne jede Spur von Regen in den hohen taubengrauen Wolken, die ruhig über Treshnish standen und gen Nordwesten in der Ferne die blassblauen Berge von Skye konturierten. Ein leichter Seewind kämmte das Gras und drückte das Kleid an ihre Beine, und sie wünschte sich, einen Schal mitgenommen zu haben, um ihre Schultern warm zu halten. Sie dachte darüber nach, während sie den Rand des Moores betrachtete und dann wieder auf den Weg schaute in der Hoffnung, das Pferd und den Wagen zu sehen, der Michael zu ihr bringen und ein für alle Male ihre Zweifel beenden würde.
Er kam spät, eine halbe Stunde oder noch mehr zu spät, denn die Sonne teilte die Wolke, und die Tide hatte begonnen, die Richtung zu wechseln, und sie konnte das Schwanken des Seetangs auf den Felsen sehen und das jetzt lautere, zischende Zusammenschlagen der Wellen da auf dem Sand hören, wo die Strömungen sich trafen.
Und noch immer keine Spur von Michael.
Unten lehnte ihre Mutter an der rostigen Egge, an dieser provisorischen Barriere, die vor dreizehn Monaten errichtet worden war und nun niemals ersetzt werden würde. Sie konnte sehen, dass ihre Mutter sich wie ein Mann auf ihre Arme lehnte, über die Felder und aufs Moor schaute, nicht zu ihr blickte, einfach nur beobachtete und wartete und nach der kleinen Staubwolke Ausschau hielt, die hinter dem Farn aufsteigen würde, wartete und zuschaute, wie ihre Tochter fortgehen würde, ohne dass sie sie segnete.
Innis schaute zu Olaf’s Hill hinüber, wo der Wind über das Gras fegte und an den hohen Kiefern zerrte.
Sie blickte zu der Stelle, wo der Weg sich zwischen den zerstreuten Felsen nach unten senkte, schaute so angestrengt, dass ihre Augen heiß wurden und zu laufen begannen. Sie erschauerte in ihrem schlichten weißen Kleid. Für sie würde es die Kirche in Crove nicht geben, ebenso wenig die Leute aus Edinburgh oder den gemähten Rasen von Fetternish, keinen in der Bucht funkelnden Dampfer, keinen Glanz und Prunk bei der Hochzeit mit einem wohlhabenden und sie anbetenden Ehemann. Sie wollte das auch nicht. Es störte sie nicht einmal, dass sie ohne eine Freundin, ohne eine einzige Freundin heiraten würde, dass nicht einmal ihre Mutter da sein würde, um sie zu verabschieden und eine Träne des Glücks zu vergießen und ihr am Hochzeitstag das Beste zu wünschen.
Sie wünschte sich nur, dass Michael käme.
Sie hatte Schmerzen vor Einsamkeit und Angst vor Einsamkeit, und als sie ihre Finger an ihre Wangen presste, merkte sie, dass sie weinte, obwohl sie es nicht wollte.
Er kommt nicht, dachte Innis. Mam weiß, dass er nicht kommt. Mam weiß, dass ich sitzen gelassen worden bin. Mam weiß, dass Biddy ihn mir weggenommen hat und dass er darauf warten wird, dass sie zurückkommt, darauf warten wird, bis sie die Witwenkleidung abgelegt hat, und dass Biddy wieder aufblühen wird, wenn der Frühling kommt und er sie dann heiraten wird oder, wenn er sie nicht heiraten kann, ihr Mann sein wird. Mam weiß, dass Biddy alles haben wird, was sie will, weil es nun einmal so auf der Welt ist, und dass es falsch von mir war, darauf zu hoffen, dass es anders sein, am Ende alles gut werden würde.
Sie schaute zu der Mauer hinunter, zu Mam, als wollte sie dort Bestätigung finden, doch Vassie hatte sich nicht bewegt und ließ durch nichts erkennen, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, nichts, was Geduld und Ausdauer nicht heilen könnten.
Als Innis wieder nach hinten zu dem Kamm schaute, sah sie die kleine Wolke von bräunlichem Staub, die von den Rädern des Dogcart oder den Hufen des Pferdes aufgewirbelt wurde, und bevor sie auch nur ausatmen konnte, sah sie den Hut des Mannes, der vorne saß und dann seinen Kopf und seine Schultern, und ohne es eigentlich zu wollen, begann sie ihm entgegenzulaufen und seinen Namen zu rufen.
Aber es war nicht Michael. Es war Tom Ewing, Pfarrer Ewing, der die Zügel des Dogcart aus Fetternish hielt. Er war nicht allein. Auf dem Sitz hinter ihm war Quig, und bei Quig war das Baby, der kleine Donnie, warm und weich eingepackt und hellwach, und er lag in einem Fischkorb auf den Knien des jungen Mannes. Innis blieb abrupt stehen. Sie wartete, bis der Wagen bei ihr war und anhielt. Sie konnte nichts sagen. Ihre Zunge war so trocken wie Sand geworden und schien an ihrem Gaumen festzukleben.
»Nun, junge Dame«, sagte Tom Ewing fröhlich, »wo soll’s denn so hübsch gekleidet hingehen?«
»W-wo – wo ist er?«, stammelte Innis. »W-wo ist Michael?«
»Wir fahren zu einer Hochzeit in Glenarray«, sagte Tom Ewing. »Wenn Sie auch in diese Richtung wollen, wäre es uns eine Freude, begleiteten Sie uns.«
»Wo ist Michael?«
»Sei unbesorgt, Innis. Dein Mann wird bei der Kapelle auf dich warten«, sagte Quig zu ihr. »Mr. Ewing hat ihn auf einem anderen Wagen vorausgeschickt. Weißt du denn nicht, dass sogar Katholiken glauben, es sei ein böses Omen, wenn eine Braut und ihr Bräutigam sich an ihrem Hochzeitstag sehen, bevor sie vor den Altar treten?«
»Ist Michael fortgegangen? Hat er Mull verlassen?«
»Nein, nein«, versicherte Tom Ewing ihr. »Es tut mir leid, Innis. Ich wollte Sie nicht beunruhigen. Kommen Sie.« Er beugte sich von seinem Kutschbock und reichte ihr die Hand. »Steigen Sie auf und dann fahren wir los.«
»Haben Sie Michael gesehen? Ich meine heute? Heute Morgen?«
»Ja«, antwortete Quig. »Er brennt ebenso darauf, dich zu sehen wie du ihn, da wir das Vergnügen hatten, mit ihm ein paar Worte zu wechseln. War das nicht so, Pfarrer Ewing?«
»Er wird dort sein, Innis«, versprach Tom Ewing.
Sie starrte in sein Gesicht, das so vertraut, so freundlich war und spürte, dass wieder Tränen ihre Augen erwärmten. Sie zweifelte nicht an Tom Ewings Versicherung, dass Michael in der fast leeren Kapelle warten würde, dort wo der River Array sich in weitem Bogen durch die Ebene der langen Schlucht wand. Nicht einmal Michael würde es wagen, die Anweisungen eines Geistlichen zu missachten, von den Erwartungen eines Priesters ganz abgesehen.
Innis stieg auf den Kutschsitz und zog ihre weißen Röcke über den Knien zusammen, um ihr Kleid so sauber wie möglich zu halten. Tom schnalzte dem Pferd zu – es war eines der kräftigsten der Bells –, ließ die Zügel kurz knallen, und dann rollte der Dogcart weiter auf dem Weg. Der Farn nickte hinter ihm.
Innis drehte sich um und schaute auf Pennypol. Ihre Mutter war über die Egge gestiegen und stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, zeichnete sich gegen die dunkle Linie der Mauer ab. Ihr Vater war aus dem Haus gekommen und lehnte sich, ein beträchtliches Stück von Vassie entfernt, an das Metall. Eine Flasche baumelte in seinen Fingern und der Wind blies – es war wie ein Scherz – sein Hemd auf und zerrte an dem ergrauenden Haar auf seinem Kopf, als ob dies alles wäre, was notwendig war, um ihn mit Leben zu erfüllen.
Innis wandte sich nicht einfach ab, sondern löste ihren Blick von dem Cottage und den Menschen an der Mauer und schaute lächelnd auf das Baby, das in dem Fischkorb ruhte. Der Junge bewegte sich jetzt, krümmte seine winzigen Finger in seine Handflächen, und seine blauen Augen blickten scharf und zeigten Zeichen von Intelligenz, wie ihr schien. Obwohl er teilnahmslos war, wirkte er irgendwie aufmerksam, als ob er irgendwann in ferner Zukunft die Erinnerung an diesen Morgen aus seinem Bewusstsein holen und seinen Söhnen und Enkeln erzählen würde, dass er, ja, dass er dabei gewesen war, als Innis Campbell den Katholiken heiratete und Pennypol und Pennymain, Foss und Fetternish miteinander verbunden wurden.
Innis sagte: »Hat mein Großvater dich geschickt, damit du bei meiner Hochzeit dabei bist, Quig?«
»Ja, das hat er.«
»Warum hast du das Baby mitgebracht?«
»Der Junge soll morgen in der Kirche von Crove getauft werden.«
»Werden Sie die Zeremonie vornehmen, Mr. Ewing?«
»Wer sonst?«, erwiderte Tom Ewing.
»Warum ist Aileen nicht bei dir, Quig?«
»Oh, es wird leichter sein, wenn sie nicht da ist, wenn sie zu Hause auf Foss bleibt.«
»Wie hast du sie dazu bringen können, dich ihr Baby mitnehmen zu lassen?«
»Sie glaubt, das Baby sei auch mein Kind«, sagte Quig und zuckte die Schultern.
Innis hatte nun keine heißen Tränen der Ungewissheit mehr. Sie brauchte nicht aufzublicken, um zu wissen, dass die Mauer und ihre Eltern und die Dächer von Pennypol aus dem Blickfeld verschwunden waren. Der Weg führte jetzt dicht an dem Bach vorbei, und der trockene Boden sang unter den Rädern, und drüben im Westen auf der Landzunge über den Ards stand wachsam und gütig im frühen Morgenlicht die alte Caliach.
Plötzlich schien es passend zu sein, dass Quig und Tom Ewing sie zu ihrer Hochzeit begleiteten, und Innis spürte, dass ihr Herz sich hob und all ihre Sorge um ihre Zukunft einfach dahinschwand. Sie lachte kurz auf und fragte: »Warum, Mr. Ewing? Warum tun Sie das für mich?«
»Tja, Innis«, erwiderte der Pfarrer, »ein Versprechen ist nun mal ein Versprechen.« Und dann schlug er wieder mit den Zügeln und lenkte den Dogcart der Kapelle zu, wo Mr. Michael Tarrant darauf wartete, seine unschuldige Braut zu begrüßen.