1. Das öde Land

Im langen Sommer des Jahres 1891 gab es kaum einen Mann in Fetternish, der nicht irgendetwas mit Mrs. Bridget Baverstock zu tun hatte. So hieß es zumindest in den Geschichten. Aber man weiß ja, wie Geschichten und Insulaner sind. Verknüpft man eins mit dem anderen, kommt am Ende eine Tatsache heraus, die so weit von der Wahrheit entfernt ist wie Land’s End von John o’ Groat’s.

Es ging so weit, dass einige fantasievolle Lästermäuler sogar behaupteten, dass Willy Naismith seiner Herrin näher stünde, als ein Hausdiener dürfe. Dass die Witwe von Fetternish ihn dann und wann von seiner guten Frau auslieh, nicht so sehr, um das Bett mit ihr zu teilen, sondern es fruchtbar zu machen, nicht um seinen Samen zu verstreuen, von dem inzwischen erheblich weniger da war, als es einstmals der Fall gewesen war, sondern vielmehr, um eine Art von Zauber auf den Laken zu bewirken, sodass die ausgesuchte Gruppe von Freiern, die eingeladen waren, das Himmelbett der Witwe zu wärmen, mit ungewöhnlicher Potenz ausgestattet wurden und mit einem einzigen Ausstoß aus ihrer Rute Fetternish einen Erben schenken konnten.

Natürlich war das alles Unsinn, reine Fantasie, ein Knäuel von Lügen, gesponnen von Menschen, die Biddy Baverstock ihren Reichtum missgönnten und sich noch immer über die Tatsache ärgerten, dass die Tochter eines Fischers die Ländereien von Fetternish geerbt hatte, ohne einen Handschlag dafür zu tun. So, als ob es ihre Schuld gewesen sei, dass ihr armer, liebeskranker Ehemann nur sechs Wochen, nachdem er sie zur Frau genommen hatte, gestorben war.

Jedoch – wie man ihr Verhalten auch bewerten wollte, es stand außer Frage, dass Biddy Baverstock genau die Art Frau war, deren Elan und Kühnheit zu solch skurrilen Geschichten geradezu ermutigte, eine Frau, zu der Männer hingezogen wurden wie Motten zum Licht, nicht allein wegen ihrer Schönheit – seegrüne Augen, kastanienbraunes Haar, ein Gesicht und eine Figur, die selbst einen Einsiedler in Versuchung gebracht hätten –, sondern auch wegen ihrer Entschlossenheit, sich als so gut, wenn nicht gar besser als jeder andere Landbesitzer auf Mull zu beweisen.

Bisher mussten selbst die gehässigsten Klatschbasen zugeben, dass sie ihre Talente und Vorzüge gut genutzt hatte. In den Dutzend Jahren seit dem Tode ihres Mannes hatte sie sich mehreren hinterlistigen Versuchen der Familie ihres Ehemannes, ihr Fetternish wieder zu entreißen, widersetzt und hatte dem launischen Klima und dem ausgemergelten Boden getrotzt, die bewirkt hatten, dass vorherige Besitzer von Fetternish sich zurück zum Festland geschlichen und geschworen hatten, nie wieder einen Fuß auf die Insel zu setzen.

Aber natürlich verstand sie, anders als die anderen, den eigenartigen Charakter von Mull. Sie war auf dem Kleinbauernhof Pennypol aufgewachsen, keine zwei Meilen von dem großen, prächtigen Haus auf der Klippe entfernt, das sie zusammen mit all dem dazugehörigen verwilderten Land mit dem Selbstvertrauen von jemand bewirtschaftete, der sich nie gefürchtet hatte, einem geschenkten Gaul ins Maul zu schauen, dies sogar bis zu dem Ausmaß, ihm die Kiefer auseinander zu reißen und seine Zähne zu zählen. Sie hatte allmählich den größten Teil der Bergschluchten und Landzungen des nördlichen Bereichs kultiviert und bebaut, hatte sie unter ihre Gewalt gebracht, sodass sie Profit abwarfen, so wie sie einfach alles unter ihre Gewalt brachte und dafür sorgte, dass es Profit abwarf.

Wie es schien, konnte sich nicht einmal die Natur gegen Biddy Baverstock behaupten. Außer dass die Natur, die sich dagegen sträubte, ausgetrickst zu werden, sich mit einem kleinen grausamen Trick gerächt und ihr bisher das verweigert hatte, was sie sich am meisten im Leben wünschte – ein eigenes Kind, einen Erben für Fetternish. An normalen Maßstäben gemessen, war Biddy nicht alt. Aber sie lebte in einer Gemeinde, in der Frauen früh zu heiraten und ihre Jugend mit dem Tragen und Aufziehen von Kindern zu verbrauchen pflegten, sodass das Schulhaus in Dervaig bis zum Bersten gefüllt war und es auf den Feldern um Crove fast ebenso viele Kleinkinder wie Schafe gab. So schien es jedenfalls Biddy, die, gerade dreiunddreißig Jahre alt geworden, abrupt durch die Tatsache aufgeschreckt wurde, dass sie auf dem besten Wege war, sitzen zu bleiben, und dass der beste Teil ihrer Fortpflanzungsjahre womöglich bereits hinter ihr lag.

Man wäre nie auf den Gedanken gekommen, wenn man sie ansah, dass sie eine ausgetrocknete, alte Schale war, oder konnte sich auch nur vorstellen, dass sie das überhaupt einmal sein könnte. Sie war groß und breitschultrig, und wenn auch nicht breit, so zumindest auch nicht schmal in den Hüften. Sie strahlte robuste, beste Gesundheit aus. Sie war bei jedem Wetter draußen und hatte unlängst eine regelrechte Leidenschaft für Freiluftsportarten entwickelt. Dies so intensiv, dass sie selbst mit Hilfe der neuesten Cold Creams und Gesichtslotions und ganzen Staubstürmen von französischem Puder ihren natürlichen roten Teint nicht verbergen oder ihre Neigung zu schwitzen, wenn sie irgendeinen Sport betrieb, reduzieren konnte.

»Strahlend«, erklärten dann die jagenden Gentlemen ohne eine Spur von Kritik. »Bei Gott, Bridget, Sie sehen heute definitiv strahlend aus.« Womit sie, wie Biddy dachte, sie höflich informierten, dass sie nicht besser aussah als gekochte Rote Bete.

Obwohl sie noch immer arrogant war, hatte sie einen großen Teil ihrer Eingebildetheit abgelegt. Heutzutage hatte sie nicht mehr die Zeit, an ihrer Frisierkommode Trübsal zu blasen, und sie bekam dann und wann einen Anfall von Abscheu gegen die Batterie von Tiegeln und Töpfen, die sie zusammengetragen hatte, und wies Margaret an, die zur Kammerzofe ernannt war, wenn sie nicht anderweitig zu beschäftigt war, das ganze Zeug aus dem Blickfeld zu räumen, sodass die Versuchung, sich wie eine abgehärmte Edinburgher Witwe anzumalen, vorübergehend beseitigt war. Was sie allerdings Margaret nicht zu tun anwies, war, den Spiegel wegzurollen, der in einer Ecke des Ankleidezimmers stand. In dem gekippten Glas betrachtete Biddy sich immer, wenn die Stimmung sie überkam und das leise sehnsüchtige Verlangen, das sie in den ersten Jahren ihrer Witwenschaft gequält hatte, zu etwas aufflammte, was einer Panik sehr nahe kam.

Sie stolzierte nicht vor dem Spiegel herum, stellte sich nicht zu ihrem eigenen Vergnügen zur Schau oder um das Vergnügen zu üben, das sie den ausgewählten Wenigen, denen der Zugang zu ihrem Schlafzimmer erlaubt war, geben könnte. In diesen privaten Augenblicken der Kontemplation gab sie sich nicht Gedanken an die Ehe hin, sondern vielmehr ihren Folgen, dem achten oder neunten Monat der Schwangerschaft, wenn sie mit einem eigenen Kind wundervoll und geschwollen aussehen würde. Und dann erkannte sie, wenn sie den Rücken hohl gekrümmt und Bauch vorgestreckt dastand, wie falsch dieses Posieren war und was es bedeutete, und wandte sich ab und ging davon, ihre Torheit verfluchend und verzweifelt versuchend, die Tränen zu stoppen, die aus ihren Augenwinkeln rannen.

Und so kam es, obwohl viele Frauen Mrs. Baverstock beneideten, dass es viele Frauen gab, die Mrs. Baverstock beneidete, nicht um der Einfachheit ihres Lebens willen, nicht um die Arbeiten, mit denen sie sich abmühten. Davon hatte sie für ihren Teil mehr als genug getan. Nicht um die verräucherten Cottages, in denen sie hausten, oder um die schlichte Kost auf ihren Tischen, sondern um ihre Babys, ihre Kinder, die Mädchen und Jungen, mit denen die Insel jetzt übersät war, da Brände und Zwangsräumungen der Vergangenheit angehörten und die Wirtschaft besser florierte. Es ist, dachte Biddy, Mulls Wachstumszeit, die Zeit des Sprießens, in der die nächste Generation guten Mutes im Boden verwurzelt.

Und es gab Kinder, Kinder überall.

Aber keines von ihnen war ihres.

Von den acht Kindern, mit denen Biddy verwandt war, waren die drei, die sie am meisten liebte und begehrte, die, die ihre Schwester Innis Michael Tarrant geboren hatte, der vor langer, langer Zeit Biddys erster Liebhaber gewesen war und den sie, wäre er kein Katholik und sie nicht von den Vorurteilen ihres Vaters so angesteckt gewesen, geheiratet und vor Austin Baverstock den Vorzug gegeben hätte.

Die Tarrants kamen selten zu dem großen Haus und wurden nie zu einem der großen Feste eingeladen, die typisch für die gesellschaftliche Saison waren. Dennoch besuchte Biddy sie fast täglich. Sie spazierte die Meile zu dem Cottage von Pennymain, indem sie über die schmale Holzbrücke ging, die sie über dem Tal an der Rückseite ihres Pachtgutes hatte errichten lassen, über die üppige, feuchte Klamm, die auf Gälisch Na h-Vaignich hieß, grob übersetzt »Die Einsamkeit«. Als Michael dort zuerst allein gelebt hatte und Biddy mitten in der Nacht in sein Bett gekrochen war, hatte der Name angemessen für die Abgeschiedenheit des Hauses gewirkt. Jetzt hatte sich das verändert, war zu einem Zentrum von Lebendigkeit geworden, mit Hunden, Hühnern und Kindern, die herumtollten, sodass die einzige Stille dort, seine einzige düstere Mitte Michael selbst war, mürrischer und schweigsamer, als er jemals gewesen war, so als ob Ehe und Vaterschaft seine Einsamkeit nicht geheilt, sondern sie auf irgendeine Weise verschlimmert hätten.

Es hob Biddys Stimmung, den Hang hinunter in das Tal zu kommen und Rauch aus dem Schornstein des Hauses ihrer Schwester aufsteigen zu sehen, die ordentlichen Hecken zu betrachten, die Michael gepflanzt hatte, den Holzschuppen, in dem die Hühner schliefen, und, abseits an der seewärtigen Seite gelegen, den Torfschuppen und die Trockenwiese, an der Wäschestücke an durchhängenden Leinen wie Flaggen flatterten. Sie konnte Schafe riechen und Torfrauch und Kochdünste. Und zwischen dem Geblöke von den Weiden konnte sie das Geschrei ihrer beiden kleinen Nichten, Rachel und Rebecca, hören, die auf dem Hof spielten. Allerdings hörte sie von ihrem Tarrant-Neffen Gavin nichts, weil er schon im Alter von zehn Jahren so still und in sich gekehrt wie sein Vater war.

Die Kleinen, sechs Jahre alt, nannten sie Tante Bridget. Innis nannte sie natürlich noch immer Biddy, aber für Michael und den Jungen war sie immer Mistress Baverstock oder dann und wann, wenn ihnen etwas missfiel, sprachen sie sie mit unbewegtem Gesicht und ihr direkt ins Gesicht mit »Eure Ladyschaft« an, als ob sie damit die Unterschiede, die zwischen ihnen lagen, übertreiben wollten.

Biddys Nichten und Neffe waren keineswegs die einzigen Kinder, welche die stillen Seitenstraßen von Fetternish bevölkerten. Tatsächlich lag der einzige Wohnsitz auf dem Anwesen, in dem es, abgesehen von Fetternish House selbst, kein neues Leben gab, jenseits von Pennymain, in der Biegung des Meeresarmes der Bucht von Pennypol, diesen breiten, gut bewässerten Flächen, die einst Biddys Mutter gehört hatten und wo Vassie und Ronan Campbell noch immer lebten. Es gab keinen Rauch oder nur herzlich wenig, der über dem torfgedeckten Cottage der Campbells aufstieg, keine Katzen oder Hühner, die im Schatten der hohen Trockensteinmauer herumjagten, die Vassie einst gebaut hatte, um die Schafe der Baverstocks von ihrem Besitz fernzuhalten. Allerdings gab es Hunde, zwei gelbäugige, herumschleichende Köter, die, wenn sie nicht die Herde bewachten, in dem ehemaligen Kuhstall eingesperrt waren. Scharfe Herdenhunde, die niemand außer Vassie gehorchten und bei der ersten Witterung eines Eindringlings so wütend knurrten, dass es nicht einmal der mutige, sture, kleine Gavin wagte, in ihre Nähe zu kommen.

Es waren jedoch nicht so sehr die Hunde oder die langhörnigen Rinder, die im Uferland herumstreiften, die Pennypol so ungastlich wirken ließen, sondern Vassie selbst, Vassie und ihr betrunkener Mann.

Selbst Biddy und Innis zogen es vor, nicht zu nahe am Hause vorbeizukommen, da sie angewidert vom Anblick ihres Vaters waren, der ausgestreckt auf der Türschwelle lag, eine Whiskyflasche wie ein geliebtes Kind an die Brust gedrückt und so reglos wie Granit oder eher eine weiche und zerbröckelnde Substanz wie Braunkohle oder graue Lava. Sie allein wussten, dass es nicht das Trinken, sondern hirnloser Stolz war, der ihn zerstört hatte, der seine Ehe kaputt und Familienliebe zu Familienhass gemacht hatte. Und es gab da sogar schreckliche Geheimnisse, getuschelte Geheimnisse, die Vassie noch immer für sich behielt, während sie ihm mit rachsüchtigen Augen zuschaute, wie er verkümmerte und zerfiel.

Dem Papier nach besaß Vassie Pennypol noch immer, einschließlich der Wasserrechte und dem Wegerecht, doch vor vielen Jahren hatte sie es an Fetternish verpachtet, eine Vereinbarung, die Biddy dadurch verbessert hatte, dass sie die Schafe von den unteren Weiden genommen und genug Rinder erworben hatte, um eine kleine, hochwertige Herde zu bilden, für die ihre Mutter die alleinige Verantwortung hatte. Nun gab es dort wieder Kühe, die gemolken werden mussten, Kälber für die Kälberweide und Ochsen, die auf dem Uferland brüllten und Vassie wieder in ihr ursprüngliches Element brachten. Nur dass ihre Kinder fort waren und nie zurückkehren würden, um mit ihr in Pennypol zu leben. Und das Moor war versperrt. Und der Damm oberhalb der Kälberweide war wieder errichtet worden, der alte Landungssteg repariert und die Fischerhütte, Ronans letzter Zufluchtsort, war abgerissen und durch einen schönen, neuen, mit Schiefer gedeckten Kuhstall ersetzt worden. Verbesserungen, kostspielige Verbesserungen, die Biddy in Auftrag gegeben und bezahlt hatte, deren Vorteile Mam aber nicht anerkannte, nicht einmal widerwillig, so, als gäbe sie noch immer Biddy die Schuld für alles, was falsch gelaufen war, für alles, was unwiederbringlich verloren war.

Niemand betrat unaufgefordert Vassies Land, nicht Biddy und Innis, nicht Hector Thrale, der Verwalter, nicht einmal der liebenswürdige Willy Naismith, der für jedermann auf dem Anwesen Freund war. Niemand kam näher als bis zum Ende der Mauer, denn wenn das jemand tat, würden die Hunde bellen und Ronan sich bewegen und seinen Kopf drehen und diese unverständlichen Geräusche ausstoßen, die scheinbar nur Vassie interpretieren konnte. Und sie würde aus dem Cottage oder aus dem Kuhstall herausgehuscht kommen, einen Stock in der Faust schwenkend und schreien: »Wer ist da? Was willst du bei uns?«, und im ganzen Uferland würden die Rinder ihre Mäuler heben und ebenfalls brüllen, als ob sie nicht nur ihre Hüterin sei, sondern ihr Anführer, so gefährlich und unberechenbar wie sie, nur weiblich.

»Mam, ich bin’s. Innis.«

»Ich kann dich nicht sehen.«

»Ich bin hier, beim neuen Tor.«

»Wen hast du da bei dir?«

»Ich habe Gavin mitgebracht, der dich besuchen will, und Rachel.«

Der Knüppel wurde gesenkt, aber nicht aus der Hand gelegt. Vassie gab das Beschützen des Cottages auf und flitzte krabbengleich den Weg neben der Mauer entlang. Ihre nur aus Haut und Knochen bestehende Gestalt und ihre ledrige Gesichtsfarbe ließen sie alt wirken, aber ihre rastlose Energie blieb unerschöpflich. Sie trug ein schmieriges, schwarzes Baumwollkleid, hatte dazu eine um die Hüfte gebundene Schürze und einen im traditionellen Stil vor der Brust zusammengeknoteten, zerlumpten Schal. Jetzt, wo ihre Söhne und Töchter fort waren, vernachlässigte sie sich und ihr Heim schändlich, und das Cottage war zu einer Bruchbude verkommen. Nur ihre Liebe zum Vieh, das sie niemals vernachlässigte oder ignorierte, schien sie bei Verstand zu halten.

Sie schaute jeden mit solchem Misstrauen an, dass ihre braunen Augen in ihrem Kopf verschwunden zu sein schienen und nichts als leere Höhlen unter den Fransen von Haar geblieben waren, die in ihre Stirn fielen. Mit ihrem Sehvermögen war alles in Ordnung – sie konnte noch immer ein kränkliches Kalb auf dreihundert Schritt ausmachen –, aber es gab viele Dinge, die sie beschloss nicht zu sehen, darunter Besucher von Pennypol.

»Wo ist die Kleine? Wo ist Rebecca?«

»Sie schläft zu Hause.«

»Willst du mir sagen, dass du sie allein gelassen hast?«

»Biddy ist bei ihr und wird bleiben, bis ich zurückkehre.«

»Warum bist du hergekommen und störst mich? Hast du selbst keine Arbeit zu tun?«, sagte Vassie, aber keineswegs bissig, nicht mehr jetzt, wo sie ganz nahe zu ihrer kleinen Enkelin und dem Jungen gekommen war, dem Jungen, der so ernst und wachsam war, dass sie nicht einmal im Ansatz erahnen konnte, was er über sie dachte. »Und du, Gavin, musst du heute nicht zur Schule gehen?«

Sie sprach ihn auf Gälisch an, wohl wissend, dass er nur auf Englisch antworten würde, da der Unterricht in der Schule in Dervaig meistens in der modernen Sprache gehalten wurde. Er konnte die alte Sprache der Inseln gut genug verstehen, aber er würde sich nicht herablassen, sie über seine Lippen zu bringen. Er ist durch und durch der Sohn seines Vaters, dachte Vassie, mehr Lowlander als Highlander, mit einer blassen, klaräugigen Stattlichkeit, die ihm das Aussehen eines Heiligen oder eines Märtyrers geben würde, wenn er größer wurde.

Sie sehnte sich danach, die Haarlocke, die in seine Stirn fiel, wegzustreichen, aber sie hatte die Rolle des feindseligen, alten Weibes so lange praktiziert, dass selbst Gavin, so mutig wie er war, sicher zurückzucken würde, wenn sie ihre Hand nach ihm ausstreckte. Dennoch war er höflich und wohlerzogen genug, um zu antworten: »Ich habe heute keine Schule, weil der Lehrer nach Hause nach Oban fahren musste, wo sein Vater krank ist.«

Vassie stützte sich auf den Stock, die krallengleichen Hände gefaltet, die Ellenbogen abgespreizt. »Ist denn kein anderer Lehrer da, der euch Unterricht geben kann?«

»Da ist noch eine Lady, aber sie ist nur für die Kinder da.«

»Ich verstehe, ich verstehe«, sagte Vassie. »Meinst du für die Babbies?«

»Ja«, antwortete ihr zehnjähriger Enkel. »Für die Babbies.«

Rachel fürchtete sich gar nicht vor Vassie und schien, anders als ihr Bruder, die alte Frau nicht abzulehnen. Sie war jedoch schüchtern. Sie klammerte sich an die Röcke ihrer Mutter und guckte zu ihrer Großmutter auf eine Art auf, die Vassie an ihre Jüngste, an Aileen, in den Tagen erinnerte, bevor jemand bemerkt hatte, dass sie übersinnlich war. In Rachel war eine Süße, eine Hochherzigkeit, die Vassie nicht als eine Qualität erkannte, die sie selbst einmal vor langer, langer Zeit besessen hatte, bevor sie die Liebe ihres Vaters für die Liebe eines wertlosen Mannes geopfert hatte.

Innis deutete auf den Weidenkorb zu ihren Füßen. »Ich habe dir ein paar Eier und einen Krug voll Brühe für eine Suppe und ein oder zwei Laib Brot vom gestrigen Backen mitgebracht.«

Vassie grunzte. Es war das Äußerste, was Innis als Zeichen von Dankbarkeit erwarten konnte.

Die Campbells waren keineswegs arm. Im Gegenteil: Das Einkommen aus den Verpachtungen war mehr als genug, um es ihnen gut gehen zu lassen. Aber in Vassie gab es jetzt keinen Willen, keine Notwendigkeit, kein Ziel, nichts, was sie zu wünschen schien. Ronan war natürlich viel zu abgetreten, um sich um etwas anderes als Whisky zu kümmern. Tatsächlich wurde es als Wunder betrachtet, dass er überhaupt noch lebte.

»Brot, Gran«, sagte Rachel. »Mammy hat’s gebacken.«

Innis war die gute Ehefrau, für die Vassie sich einst selbst gehalten hatte. Nur dass Innis liebevoller, geschickter und effizienter war. Eine bessere Köchin, eine bessere Bäckerin, besser mit Nähnadeln und Stricknadeln, auch besser in ihrer Zeiteinteilung. Wenn Vassie über ihre mittlere Tochter nachdachte, fragte sie sich manchmal, wie sie einen solchen Ausbund von Tugend produziert haben konnte – oder ob es Innis’ Konvertierung zum Katholizismus war, der sie auf mysteriöse Weise mit all diesen Fähigkeiten ausgestattet hatte.

Doch gleich wie leer ihr Herz war, wie stählern ihre Entschlossenheit, ihre Töchter auf Abstand zu halten – zu deren Wohle, nicht zu ihrem eigenen – Vassie war, ob sie wollte oder nicht, weich zu den Mädchen und dem halb herangewachsenen Jungen, die, arme Seelen, aus der Frucht ihrer Lenden erblüht waren. Sie musste Rachel einfach anlächeln, ließ ihr Gesicht sich straffen, sodass die Unmenge der feinen Falten, die ihr Antlitz überzogen, geglättet wurden und sie nicht länger grimmig wie eine alte Hexe aussah, sondern so ähnlich wie Mammy oder Tante Biddy, um ihren Enkelkindern zu versichern, dass sie ihnen nie ein Leid antun würde. Sie sagte: »Und hast du deiner Mam beim Backen geholfen, Liebes?«

»Ich hab Mehl gemischt«, antwortete Rachel, wobei ihre Faust wie eine Katzenpfote die Röcke ihrer Mutter knetete, während ihr Bruder ernst auf sie hinabstarrte. »Ich hab Mehl gemischt, Gran, und die Butter gegessen.«

»Du hättest die Butter nicht essen sollen«, sagte Gavin.

»Trotz der Butter«, sagte Innis, »ist sie eine große Hilfe in der Küche für mich. Wenn mich Rachel unterstützt, bin ich mit dem Backen zweimal so schnell fertig.« Sie zwinkerte Vassie zu, die nicht darauf reagierte, obwohl sie den Scherz gut verstand.

Gavin hingegen stieß ein winziges pedantische Hu der Missbilligung aus, trennte sich ohne Vorwarnung von der Gruppe und spazierte davon, die Hände hinter dem Rücken, als sei er zu vernünftig, um auch nur eine Minute länger bei den albernen Frauen zu bleiben.

Er bewegte sich auf den Kamm des Weges zu, wo er sich in Streifen von Sand verlief, und trat Muscheln zu der steilsten Ecke der Kälberweide. Seine Augen registrierten so schnell wie sein Gehirn. Er bemerkte Kaninchen, die im Schatten am Rande des Farnes knabberten, dieser dichten, fast undurchdringlichen Woge von Farn, die gegen den Zaun anstürmte und sich am Steilabbruch von reinem grauem Fels brach, der das Ende von Olaf’s Ridge markierte. Er suchte nach seinem Vater – zuerst. Denn er hätte bei seinem Vater sein sollen. Nur dass er seine Pflicht zu tun gehabt hatte, seine Mannespflicht, die hässliche alte Frau von Pennypol zu besuchen, um von ihr gesehen zu werden, von ihr bewundert zu werden, nicht für das, was er konnte – Kaninchen mit Schlingen fangen, Tauben schießen oder ein zappelndes Mutterschaf fangen und festhalten –, sondern nur für sein Aussehen. Diese Art von Aufmerksamkeit schmeichelte ihm und ärgerte ihn zugleich, da er eben ein Junge war.

Im Augustsonnenlicht wirkten die Weiden von Pennypol so üppig, so fruchtbar, dass er ihr Gewicht in sich spüren konnte, die Farbe von allem, den schillernden Nebel von Insekten, das Gefühl von Kaninchenfellen, die weite, erregende Ausdehnung des Horizontes, dass er in einem Augenblick alles auslöschte. Er mochte die See nicht, war nicht neugierig drauf. Sie lag einfach da und tat nichts oder brüllte ihn an, ein Ärgernis, eine Vergeudung, getrennt, wie Galvin fühlte, vom Boden, der Schafe ernährte.

Er runzelte die Stirn, womit er einen winzigen Makel auf seiner seidenweichen, unversöhnlichen Stirn erzeugte. Heftiger Ärger durchfuhr ihn beim Anblick so vieler schädlicher Kaninchen, die gutes Weidegras auf Land fraßen, das, wie sein Vater ihm gesagt hatte, eines Tages ihm gehören würde – nicht als Pacht, sondern als Besitz –, wenn die hässliche alte Frau und das stinkende Bündel von Lumpen, das sein Großvater war, endlich zu Staub zerfallen und wie Boviste vom Winde verweht wurden.

Er schaute stirnrunzelnd zu den Kaninchen, knabbernden Kaninchen, sah jetzt nichts anderes, war allein darauf konzentriert; die Stimmen seiner Mutter und der hässlichen alten Frau, das blöde Gekicher, das seine Schwester von sich gab, wurden immer schwächer, verklangen, bis alles, was er hören konnte, ein klickender, kleiner Puls in seinem Kopf war, ähnlich dem Geräusch, das die Kaninchen mit ihren Zähnen machten. Und er hob seine Arme und zielte mit einem imaginären Gewehr – wie das von Mr. McCallum, groß und schwer und befriedigend – und feuerte und flüsterte verhalten: »Bamm, bamm, bamm. Stirb. Stirb. Stirb.«

Biddy erinnerte sich, dass eines der Zeichen für Aileens Geistesgestörtheit eine Neigung gewesen war, mehr zu schlafen als natürlich, sich von der Feldarbeit davonzuschleichen und im Windschatten eines Garbenhaufens oder auf dem bloßen, von Kuhmist verdreckten Weg zusammenzubrechen, einen Daumen in den Mund zu stecken und binnen Sekunden bewusstlos zu sein. Biddy sorgte sich, dass der Mangel, der Aileens Gehirn beeinträchtigt hatte, an die nächste Generation weitergegeben sein könnte, und sie war übermäßig besorgt, weil die Jüngste ihrer Schwester noch immer ein Nachmittagsschläfchen zu benötigen schien.

Wenn Biddy daran dachte, wie sie selbst als herumtollendes Kind gewesen war, dann dachte sie an Tempo, an Herumwirbeln, an Aktion, an das Bedürfnis, etwas umherzuwerfen, Dada oder Mam hinterherzulaufen oder mit ihrem alten Hund Fingal, in jener Zeit noch ein junger Hund, jetzt aber seit acht oder neun Jahren tot, auf die Weite zuzurennen, die die Küste war, oder die größere, erschreckende Weite, die die See war. Und wie sehr sie es gehasst hatte, als ihr Bruder Neil gekommen war, und dann Innis, die versuchte, wie Biddy vor Panik kreischend geglaubt hatte, Mams Euter zu essen.

Dennoch war sie erfreut darüber, für eine gute Stunde die Verantwortung für Rebecca zu haben. Im Zugang von Innis’ kühler, gescheuerter, blitzblanker Küche zu sitzen, mit dem kleinen Mädchen neben sich, das in dem kistenförmigen Kinderbett schlief, das Michael zusammengehämmert hatte. Rebecca schnarchte leise unter der kühlen Spitzentagesdecke im Schatten des Türpfostens. Sie schaute häufig in das Bett, sah die rosige Röte auf den Wangen der Schlafenden, die anzeigte, dass die kleine Becky vielleicht wegen ihrer unschuldigen Träume oder sogar wegen ihrer eigenen Anständigkeit beschämt war. Und dann richtete sie die Tagesdecke mit der Spitze ihres Ringfingers oder tupfte sanft Schweiß von der Oberlippe des Kindes und wünschte sich mit einem heftigen, fast erschreckenden Sehnen, dass das kleine Mädchen ihr gehören würde.

Biddy saß auf einem dreibeinigen Hocker in der offenen Tür und blickte hinaus auf den Garten und die Flanke von Olaf’s Hill und wünschte sich sehr, statt Innis hier zu sein, wenn Michael heimkam. Aber er würde nicht heimkommen, wenn er auch nur vermutete, dass sie dort sein könnte. Michael mied sie mit einer Geschicklichkeit, die sie bei jedem anderen Angestellten für flegelhaft befunden hätte.

Sie trug noch immer ihren ausgefallenen Hut – die Hahnenfeder amüsierte Becky und Rachel – und einen kurzen Rock mit Jacke sowie eine Seidenbluse, die ohne großes Theater eine gewisse Autorität aufrechterhielten. Sie zog Blusen und kurze Röcke den schwergewichtigen Abendgewändern oder rüschigen Teekleidern vor, die zu tragen ihre gesellschaftliche Position oft erforderlich machte. Am meisten aber liebte sie die sportlichen, figurbetonenden leichten Tweedmäntel, Kniehosen und Gamaschen, die ihr ein Gefühl von Freiheit gaben, ohne zu männlich zu sein.

In etwa einem Monat würde sie die Freiheit haben, zu tragen, was sie wollte, da sie dann nicht länger die einfache Biddy, nicht länger Beckys Tante oder Innis’ Schwester sein würde. Sie würde Mistress Bridget Campbell Baverstock sein, Gast von Lord Fennimore in Coilichan Lodge im dunkelgrünen Tal des Tormont-Hochwildgeheges. Sie würde auf gleicher Stufe stehend mit anderen Land besitzenden Gentlemen und ihren Damen verkehren, fanatischen Jägern, die in genau dieser Stunde in einem Moor in Sutherland versammelt waren und auf Moorhühner schossen. Sie hätte bei ihnen sein können. Iain Carbery hatte sie mit einem persönlichen Brief eingeladen. Dennoch hatte sie abgelehnt, nicht weil sie schüchtern war, sondern weil sie noch immer in erster Linie Gutsherrin war und der Anfang des Augusts ausgefüllt war mit Ernten und Verkäufen. Und sie war noch immer ebenso eine Campbell wie eine Baverstock und genauso glücklich hier, neben dem Weihwasserbecken des Pennymain Cottage, wie anderswo.

Innis und Rachel tauchten an dem Weidentor an der Seite des Gartens auf. Es gab ein allgemeines Herumgehüpfe von Katzen und ein Gegacker von Hühnern und ein Kläffen des kleinen Spaniels Fruarch, der sich als Teil der Familie ansah und wahrscheinlich überhaupt nicht als Hund. Glücklicherweise hatte Michael Roy, den Schäferhund, mitgenommen, da Roy keine Geduld mit dem neugierigen, undisziplinierten, kleinen, jungen Hund hatte und ihn mit der Nase umstupsen würde, um den Youngster zu lehren, wer der Boss war. Durch den Lärm gestört, wachte Rebecca mit einem Gähnen und sich streckend auf, setzte sich dann aufrecht hin und warf die Tagesdecke wie ein Spinnennetz ab. Obwohl sie kein Baby mehr war, hob Biddy sie hoch und trug sie hinaus ins Sonnenlicht, um die Ankömmlinge zu begrüßen.

»Ich habe euch nicht über den Ridge kommen sehen«, sagte Biddy.

»Wir sind über den Küstenpfad gekommen«, sagte Innis.

Sie führte Rachel vor sich durch das Tor und ließ dann das kleine Mädchen los, das mit dem Spaniel, der zwischen ihren Beinen verspielt herumtollte und hüpfte, mit einer Hand voll Kammmuschelschalen zu den Porreebeeten ging, um sie der dekorativen Umgrenzung hinzuzufügen.

»Wie geht’s ihr?«, fragte Biddy. »Mutter, meine ich.«

»Genauso wie immer.«

Rebecca machte keine Anstalten zu zeigen, dass sie wünschte, heruntergelassen zu werden. Sie hatte eines ihrer pummeligen Beine um die Taille ihrer Tante gehakt und einen Arm um deren Schulter gelegt und schaute, die Nase von der Hahnenfeder gekitzelt, aus luftigen Höhen auf ihre Mutter hinab.

»Hast du Dada gesehen?«, forschte Biddy.

»Nein.«

»Dennoch muss er dort gewesen sein.«

»Oh ja«, sagte Innis schulterzuckend. »Wo sollte er sonst sein?«

Biddy setzte ihre Nichte ab und schaute zu, wie das kleine Mädchen vorwärtstrippelte und sich liebevoll gegen Innis’ Röcke warf. Becky würde sicherlich zu Innis’ Ebenbild heranwachsen. Sie hatte bereits die ovale Gesichtsform ihrer Mutter und die geraden, recht ernsten Augenbrauen, dazu ein aufmerksames Verhalten, dem zu entnehmen war, dass auch sie zu einer Cottage-Gelehrten werden würde. Obwohl Biddy die Mädchen innig liebte, gab es Zeiten, in denen sie sich einfach von ihnen entfremdet fühlte. Im katholischen Glauben erzogen, waren sie bereits mit den Ritualen vertraut, die man sie gelehrt hatte, als Götzendienst anzusehen, Rituale, die Innis eine Dimension gegeben zu haben schienen, nach der sie, Biddy, trotz all ihres Reichtums, niemals zu streben hoffte.

Von einem Schuldgefühl angerührt, das nie tief unter der Oberfläche saß, sagte Biddy: »Du weißt, dass ich Mam zu mir nehmen würde, um bei mir zu leben, wenn ich könnte.«

»Ich weiß es«, sagte Innis.

»Aber nicht ihn, nicht nach dem, was er uns angetan hat.«

»Ich weiß es«, sagte Innis wieder. »Du musst nicht denken, Biddy, dass ich dir Vorwürfe für das mache, was passiert ist.«

»Passiert? Was meinst du?«

»Mit Mam.«

»Was ist mit Michael? Macht er mir Vorwürfe?«

»Michael?«, sagte Innis überrascht. »Ich glaube nicht, dass er an diese Dinge auch nur denkt. Er hat niemals – niemals, dass ich es gehört hätte – ein Wort gegen dich gesagt.«

»Weil ich seinen Lohn zahle und er sich hüten wird.«

»Biddy«, sagte Innis mit dem feinen Beiklang von Zurechtweisung, den Biddy immer als herablassend empfunden hatte, »was ist in letzter Zeit los mit dir? Seit ungefähr einem halben Jahr bist du überhaupt nicht mehr du selbst.«

»Mir fehlt nichts«, sagte Biddy. »Ich fühle mich absolut gut.«

»Ja, mag sein, aber du wirkst nicht«, Innis zögerte, »zufrieden.«

»Ich bin so zufrieden, wie jeder Farmer nur sein kann«, sagte Biddy. »Ich wäre sogar noch zufriedener, wenn der Markt für Rindfleisch nicht so flau wäre und wenn die Händler in Oban nicht Zähne wie Haie hätten.«

»Ich dachte, du würdest jetzt, wo die Eisenbahnstrecke bis nach Oban ausgebaut worden ist, Hammelfleisch direkt nach Glasgow transportieren?«

Erleichtert darüber, dass das Gespräch von ihrer speziellen und offensichtlich merklichen Unruhe abschwenkte, sagte Biddy: »Hat Michael dir nicht erzählt, was es kostet, lebendes Fleisch mit der Bahn zu befördern?«

»Michael spricht selten mit mir über seine Arbeit.«

»Spricht er überhaupt mit dir?«

»Biddy!« Wieder ein weicher, scheltender Ausruf.

Biddy sagte: »Wenn er mit dir spricht, dann hast du Glück. Er sagt selten ein Wort zu mir. Stattdessen schickt er Barrett als seinen Abgesandten.«

»Nun ja …« Innis schaute zu dem Garten, in dem Becky sich ihrer Schwester angeschlossen hatte und, auf den staubigen Weg gehockt, die Nachmittagsernte von Kammmuschelschalen den Rand der Reihen entlang pflanzte.

»Nun ja was, Innis?«

Innis schüttelte den Kopf. »Ich versprach, dass ich überhaupt nichts zu dir sagen würde.«

»Über was? Über mich?«

»Es geht nicht um dich. Es geht …«

»Himmel noch mal, heraus damit.«

»Es geht um die Männer, die dich besuchen.«

»Ho!«, sagte Biddy, ihre Lippen schürzend. »Das ist es also. Ich werde verurteilt, nur weil ich Gentlemen in meinem Hause bewirte. Ist es das, was Michael dir gesagt hat? Was glaubt Michael eigentlich, wer er ist? Mein Aufpasser? Ich habe keine Rechenschaft vor deinem Mann – oder vor dir, was dies anbelangt – dafür abzulegen, dass ich Gäste auf Fetternish habe.«

»Das ist es nicht, überhaupt nicht.«

»Was ist es dann?«

»Es geht darum, wer sie sind.«

»Verdammt, Innis, es geht dich nichts an, wer meine Freunde sind.«

»Michael ist nicht der Einzige, der besorgt ist.«

»Ach, nein? Ich nehme an, sie brennen alle vor Neugier. Verdammt seien sie! Ich habe mich vor meinem Personal nicht zu erklären.«

»Sie machen sich Sorgen, falls du die falsche Sorte Mann heiratest.«

»Was?«, schrie Biddy, laut genug, um ihre Nichten zu erschrecken. »Wie können sie es wagen!? Wie können sie es wagen, mir zu sagen, wen ich heiraten kann und wen nicht?! Ich nehme an, sie werden auch wollen, dass ich um ihre Erlaubnis bitte, bevor ich jemand zum Bleiben einlade?«

»Biddy, die Kinder …«

Biddy bremste sich gerade noch rechtzeitig. Als sie jünger gewesen war, war ihr Temperament ihr Untergang gewesen. Ein heftiger roter Nebel hatte ihren gesunden Menschenverstand erstickt und ihre Vernunft fast ausgelöscht. Sie hatte geglaubt, dass sie jetzt, da sie erwachsen war, Wutanfälle hinter sich oder sie zumindest auf eine notwendige Entschlossenheit reduziert hatte. Es war Jahre her – gut, Monate –, seit sie jemanden vom Hauspersonal angeschrien hatte, obwohl sie erst letzte Woche gezwungen gewesen war, Angus Bell eine Standpauke zu halten, weil er unachtsamerweise eines der Zuchtpferde verkrüppelt hatte.

Bei Innis hingegen war das anders. Innis hatte sie oft genug in Rage gesehen, um zu wissen, was zu erwarten war. Dennoch holte sie tief Luft, gewann wieder die Kontrolle über sich und sagte: »Glaubst du, dass ich, wenn ich heiraten würde – aber bisher hat mich noch niemand gefragt –, die Leitung über Fetternish aufgeben würde?«

»Aber vielleicht die Schafe?«, meinte Innis.

Biddy schüttelte den Kopf. »Wenn du meinst, ich wäre versucht, Fetternish zu einem Jagdrevier wie Tormont zu machen – niemals.«

»Ist es nicht das, was dein Mr. Carbery von dir möchte?«

»Er ist nicht mein Mr. Carbery«, sagte Biddy kalt. »Selbst wenn er es wäre, wäre ich nicht geneigt, mir von einem Ehemann sagen zu lassen, wie ich meinen Besitz zu führen habe. Nein, Innis, du kannst deinem Mann versichern, dass seine Stellung sicher ist, zumindest so lange ich noch atme – was, so Gott will, noch eine ganze Weile sein wird.«

Innis sagte: »Ich wollte dich nicht beleidigen.«

»Ich bin nicht beleidigt«, log Biddy. »Ich verstehe Michaels Besorgnis. Erinnerst du dich, wie Mam sich jedes Mal zu ärgern pflegte, wenn in Fetternish Personal gewechselt wurde? Es ist etwas ganz Natürliches bei uns, dass wir uns Sorgen über jede noch so kleine Änderung der Windrichtung machen.«

»Aber Mr. Carbery …!«

»Ist ein Freund. Ich jage mit ihm. Das ist alles.«

»Und Captain Galbraith?«

»Das Gleiche«, sagte Biddy. »Und Mr. Parker. Und Mr. Poole.«

»Du scheinst eine schreckliche Menge Gentlemen als Freunde zu haben.«

»Wär’s dir lieber, dass ich überhaupt keine Freunde habe?« Biddy lag daran, sich schnellstens auf den Weg zu machen. Was als eine ganz freundliche Unterhaltung begonnen hatte, war irgendwie zu einer Auseinandersetzung geworden. »Ich muss jetzt gehen. Ich habe sehr viel zu tun.«

In dem Wissen, dass sie ihre Schwester verärgert hatte, begleitete Innis sie durch das Tor und hinaus zu dem Rasen hinter dem Haus, der in die düstere Spalte der Klamm abfiel. Es schien überhaupt keine Brise zu gehen, doch die vielen Sträucher, die sich an die Wand der Schlucht klammerten, bewegten sich, als würden sie nicht von oben, sondern von unten geschüttelt. In der Stille des Nachmittags konnten die Schwestern das Krächzen von Saatkrähen hören, das Geschrei von Seemöwen, das Blöken von Mutterschafen auf den Weiden, das Schlagen der See wie ein ferner Puls, und sie blieben stehen, Innis’ Hand auf Biddys Ärmel, die Gesichter der Schlucht zugewandt, die alle Geräusche in sich hineinzusaugen schien.

Innis sagte leise: »Ist es wahr, Biddy?«

»Ist was wahr?«

»Dass niemand dich gebeten hat, ihn zu heiraten?«

Biddy schnaufte. »Niemand, den ich geschenkt haben möchte.«

»Es … es tut mir leid.«

»Weshalb? Meinetwegen?« Biddy schüttelte sich – es war fast wie ein Schauder – und zog schnell ihren Arm fort. »Ich brauche dein Mitleid nicht, Innis. Es gibt mehr Dinge, die man mit seinem Leben zu tun hat, als es an den einen oder anderen Mann wegzuwerfen.«

»Und Kinder?«

»Kinder?«

»Willst du keine Kinder, Biddy, eigene Kinder?«

»Was hat dich denn auf die Idee gebracht?«

»Ich habe gesehen, wie sehr du die Mädchen liebst. Ich dachte nur …«

Das Einzige, was Biddy tun konnte, war, sich zu beherrschen, Innis nicht sehen zu lassen, wie akkurat die Beobachtung gewesen war und wie sehr es sie geschmerzt hatte. Sie konnte die Krähen in den Bäumen der Schlucht spotten und den kleinen Spaniel im Garten kläffen hören. Sie fasste sich wieder, atmete noch einmal tief und beherrscht ein und sagte: »Ich wäre dir verbunden, wenn du deine Nase nicht in meine Angelegenheit stecken würdest, Innis, du, aber auch dein Mann. Falls und wenn ich mich entschließe zu heiraten, werde ich das nicht tun, um meine Bediensteten und Angestellten zu erfreuen – nicht einmal dich.«

»Es tut mir leid, Biddy«, sagte Innis wieder. »Ich wollte dich nicht beleidigen.«

»Ich bin nicht beleidigt«, sagte Biddy. »Ich habe zu tun. Und nun – Lebwohl.«

»Lebwohl, Liebe«, sagte Innis auf diese gönnerhafte Art, die Biddy dazu veranlasste, mit Wut im Herzen, Wut und Verärgerung und, aus einem Grunde, den sie nicht erklären konnte, Bedauern, zu gehen. »Werden wir dich morgen sehen?«

»Ha!«, rief Biddy und eilte, ohne sich umzudrehen, auf die schmale Holzbrücke zu, die unter den Bäumen verborgen lag.

Wie gewöhnlich wartete Willy auf sie. Er begleitete Biddy selten, wenn sie ihre Verwandten besuchte. Er war vernarrt in Innis und die Kinder und ging alleine dort hinunter, in seiner Tasche Zuckerwerk versteckt, das Queenie, die Köchin, gemacht hatte, oder eine Orange oder Banane, die er aus der Obstschale stibitzt hatte. Etwas ein wenig Ungewöhnliches, das Kinder mochten, sodass Innis Tarrants Sprösslinge, selbst der grimmig dreinschauende Gavin, sich freuten, wenn er auftauchte und ihn auf eine Art willkommen hießen, die er sonst nicht verdiente. Wenn jedoch Biddy zu der südwestlichen Wohnstatt ging, blieb Willy daheim, da ein Besuch ihrer Verwandten etwas war, das seine Herrin allein zu tun vorzog.

Zudem ging Michael Tarrant ihm verdammt auf den Wecker, und Willy konnte es nicht ertragen zu sehen, wie Biddy den Schafhirten ansah, nicht mit Liebe, sondern mit einer kalten Art von Verlangen, als ob sie gleichzeitig hasste und begehrte. Ebenso wenig begleitete er sie bei ihren seltenen Besuchen von Pennypol, weil der Anblick des baufälligen Cottages und das whiskydurchtränkte Wrack, das einst Ronan Campbell gewesen war – bei dessen Niedergang er, Willy, eine kleine, aber bedeutende Rolle gespielt hatte –, ihm ein Schuldgefühl vermittelten und ihn verärgerten.

Wenn Biddy jedoch von ihren Verwandtenbesuchen zurückkehrte, wartete Willy immer an der Tür auf sie, um sie zu begrüßen, und bediente sie so höflich, wie er es auch bei Austin und Walter Baverstock getan hatte. Er behandelte Biddy genauso, wie er all seine Herren in den Jahren zuvor behandelt hatte. Empfing sie an der vorderen Tür, nahm ihren Hut und reichte ihr ein sauberes Leinentuch, um damit den Schweiß von der Stirn zu wischen oder, wenn das Wetter unfreundlich war, Regentropfen. Führte sie zu der Bank in der vorderen Veranda und zog ihr die Stiefel aus, keine steifen, unförmigen Reitstiefel, sondern leichte, geschnürte Dinger, die sich angenehm um die Knöchel einer Dame schmiegten. Er erfasste Biddys Wade, setzte den Halbstiefel auf seinen Schoß, öffnete die Schuhschnüre und zog ihren Fuß so behutsam heraus, wie er eine Auster aus ihrer Schale gleiten lassen würde.

Es war nicht die Art von Aufmerksamkeit, die Diener gewöhnlich ihren Herrinnen zukommen ließen, und es gab in der Tat nur wenige von ihnen, die solche Vertrautheit billigen würden. Doch das Band zwischen Mrs. Bridget Baverstock und Mr. William Naismith war ungewöhnlich eng, denn niemand, nicht einmal ihre Schwester, verstand Biddy so gut wie er.

Mit einundsechzig war er mit Leichtigkeit alt genug, um ihr Vater zu sein. Sein gestutzter Bart und sein volles, gelocktes Haar waren jetzt schneeweiß, aber in seinen Augen war noch immer ein Glimmen und, wie Biddy vermutete, genug Glut in den Kohlen seines Herzens, um seine Frau, Maggie, zu befriedigen, die dritte im Hause wohnende Bedienstete.

Die »scheue Margaret«, als die sie einst bekannt gewesen war, war nicht mehr scheu. Jede, die Willy Naismith’ Bett ein Dutzend Jahre lang geteilt hatte, konnte unmöglich gehemmt bleiben. Es war nicht so, dass Willy grob oder wild war. Ganz im Gegenteil. Er war ein Musterbeispiel für Höflichkeit und Diskretion, außer wenn eine gewisse taktvolle Formlosigkeit gewünscht wurde. Dann konnte er noch immer einen Schimmer des wilden, schwärmenden Piraten zeigen, der er in seinen jüngeren Tagen in Sangster gewesen war, als er mit allen und jeder geschlafen hatte, eingeschlossen Agnes Baverstock Paul, und er hatte zig Kinder gezeugt, ehelich und unehelich, die er aber alle versorgt hatte, bevor er mit seinen Herren nach Edinburgh gezogen war und später nach Mull.

Kein anderer Mann würde es wagen, der eigensinnigen Biddy so viel Rat zu erteilen. Er war ihr Beschützer, ihr Großwesir, ihr Kämpe. Sie vertraute ihm nicht nur, weil er seinen Platz kannte, sondern auch ihren Platz und sie auf diesem hielt, indem er dafür sorgte, dass ihr Ungestüm in Schach gehalten würde und ihr Temperament sie nicht in Schwierigkeiten brachte. Sie war sich auch wohl bewusst, dass Willy sie als Frau bewunderte, doch unglücklicherweise hatten Alter und eine glückliche Ehe ihn für sie unerreichbar gemacht, ebenso wie ihre Position als die Gutsherrin von Fetternish sie für ihn unerreichbar gemacht hatte.

Willy sagte: »Haben Sie Ihre Schwester Innis besucht?«

»Ja.«

»Geht’s ihr gut?«

»Es geht ihr selten anders.«

»Ja, Sie sind zähe Exemplare einer zähen Rasse, Mrs. Baverstock.«

»Verspottest du mich, William?«

»Gewiss nicht«, sagte Willy. »Ich wünschte nur, ich hätte solche Füße wie Sie.«

Er spürte ihre Niedergeschlagenheit. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie aufgewühlt und niedergeschlagen von Pennymain zurückkam. Er umfasste ihre Ferse mit seiner linken Hand und strich mit der Rechten über ihre Zehen.

Sie gab ein leises Stöhnen von sich, als ihre Anspannung nachließ, und sagte, nicht scharf: »Und was ist mit meinen Füßen nicht in Ordnung, bitte?«

»Es ist alles in Ordnung, Madam«, antworte Willy, ohne aufzublicken. »Sie sind perfekt, obwohl sie eine Wäsche gebrauchen könnten.«

Sie lachte. »Es ist ein warmer Tag.«

»Das ist es in der Tat.«

»Lass Maggie für mich ein Bad einfüllen.«

»Bereits geschehen.«

»Ich werde mich natürlich zum Dinner umziehen. Hat Maggie …«

»Das hellgraue Seidene, glaube ich.«

»Gut.«

Er streifte ihr die Ziegenlederslipper über und bot ihr, obwohl sie jung und elastisch war, seinen Arm. Sie nahm ihn, weil das ihre Pflicht war, zog sich daran hoch und schwebte durch die offene Tür der Halle.

Willy folgte ihr.

Die Halle war kühl, an drückenden Sommernachmittagen der kühlste Platz des Hauses – mit Ausnahme der Speisekammern – und im Winter der wärmste. Keine großen Fenster, nur zwei kleine quadratische »Spione« flankierten die Eingangstür. Von der kiesbestreuten Zufahrt draußen sah das Erdgeschoss von Fetternish House weniger prachtvoll als unerschütterlich aus, so als sei es nicht gegen plündernde Wikinger befestigt, sondern gegen Horden unzufriedener Pächter, die von Crove heranmarschiert kamen. Niemand konnte recht sagen, was die Frontseite des Hauses und was seine Rückseite war. Die ganze elegante und großartige Architektur war auf die seewärtige Seite konzentriert, wo die riesigen Fenster der Salons und Esszimmer Ausblick über gestufte Rasenterrassen zu den fernen Inseln und Halbinseln und der sich ewig verändernden See gewährten. Willy, ein autodidaktischer Gelehrter, fand die Aussicht homerisch. Doch selbst er musste zugeben, dass während der Stürme zur Tag- und Nachtgleiche, wenn das Haus erzitterte und bebte, die einzigen Plätze, wo man sich aufhalten konnte, am Herd in der Küche oder eben hier die große, behaglich eingerichtete Halle waren.

An diesem Nachmittag war in dem riesigen Kamin jedoch nicht mehr als ein Hauch von Rauch, die Türen zu Salon und Esszimmern standen offen, und die Oberteile der Fenster waren gesenkt, sodass die träge Brise, die von der See kam, ihren Weg in und durch das große Haus finden und die Stickigkeit mit sich nehmen konnte. Wasser lief oben im Badezimmer, ein erfreulich rieselndes Geräusch, begleitet von einem Klopfen in den Kupferrohren, da der Druck überhaupt nicht so war, wie er sein sollte, und es gab auf Mull keine Installateure, die derart fortschrittliche Exemplare von Sanitäreinrichtungen im Hause reparieren konnten.

Biddy schlüpfte aus ihrer Jacke und reichte sie Willy, der sie sorgfältig über seinem Arm zusammenlegte, bevor er an den Eichentisch trat und ihr ein Glas Gin und Wasser aus dem dort stehenden Krug einschenkte. Er frischte es mit Zitronensaft, einem Zweig Minze und einer Handvoll zerstoßenem Eis auf, das der Höllenmaschine im Keller abgeschwatzt worden war, und reichte ihr das Glas.

Biddy trank durstig, während sie die Briefe und Päckchen durchging, die Willy auf dem länglichen Tisch ausgebreitet hatte.

»Wann ist die Post gekommen?«, fragte Biddy.

»Etwa vor einer halben Stunde. Barrett hat sie aus dem Dorf hochgebracht.«

Rechnungen von Saatguthändlern, Kataloge von Pferdegeschirren und erstklassigen Kultivatoren, eine einen Tag alte Ausgabe des Scotsman, ein Exemplar eines protzigen Jagdmagazins, das Biddy abonniert hatte. Briefe: einer von ihrem Bruder Neil in Glasgow, ein anderer von Captain Galbraith, einem jungen militärischen Gentleman, der sie zu lieben glaubte, und der letzte von Iain Carbery, der seltsamerweise einen Poststempel von Oban trug.

Biddy presste den Rand des Glases an ihre Unterlippe und knabberte an dem Minzezweig, bewegte ihn mit ihren kräftigen, weißen Zähnen von einer Seite zur anderen.

Willy beobachtete seine Herrin aufmerksam aus den Augenwinkeln.

Iain Carbery neigte sehr zur Protzigkeit und verschickte seine Korrespondenz in riesigen elfenbeinfarbenen Umschlägen, die fast so dick wie Karton waren. Geprägte Insignien zierten Vorder- und Rückseite, und die Adresse war mit schwarzer Tusche mit langen, schneidenden Strichen geschrieben, als ob der Schreiber einem Säbel vor einer Feder den Vorzug gegeben hätte.

»Ah!«, sagte Biddy.

»Hmm?«

»Ich glaube, Mr. Carbery hat Zeit gefunden, mir zu schreiben.«

Sie setzte das Glas ab, nahm den elfenbeinfarbenen Umschlag auf und tippte damit nachdenklich an ihre Lippen. Er roch nicht nach Veilchen oder Lavendel, sondern, wenngleich nur schwach, nach Schießpulver, als ob Iain ihn auf dem Schießstand geschrieben hätte, was durchaus im Rahmen des Möglichen war.

»Wollen Sie ihn nicht öffnen?«, fragte Willy.

»Ich werde ihn später lesen, mit Muße.«

Willy zögerte. »Vielleicht sollte Madam ihn jetzt öffnen.«

»Warum?«

»Für den Fall, dass Madam es nicht bemerkt haben sollte«, sagte Willy, »ich glaube, die Briefmarke ist in Oban abgestempelt.«

»Wirklich?« Biddy musterte den Umschlag. »Tatsächlich.«

»Ich hatte den Eindruck, dass Mr. Carbery in Sutherland sei?«

»Das war er«, sagte Biddy stirnrunzelnd. »Zumindest glaubte ich das.«

Willy nahm einen Messingbrieföffner aus einer geöffneten Schublade und schob ihn über die Holzplatte. Biddy ergriff den Dolch, schlitzte den Umschlag auf, entfaltete den Brief und überflog ihn hastig.

»Er kommt her«, sagte Biddy.

»Ich dachte, dass dies der Fall sein würde«, sagte Willy. »Wann trifft er ein?«

»Heute Abend.«

»Heute Abend?«

»Mit dem Abendschiff. Werden wir ihn in Tobermory abholen?«

»Ich werde Angus mit dem Dogcart hinschicken – oder möchten Sie lieber persönlich dorthin fahren?«

»Nein, Angus genügt. Würdest du inzwischen …«

»Das Gästezimmer vorbereiten?«

»Ja – und haben wir Rindfleisch, gutes Rindfleisch in der Speisekammer?«

Biddy war erregt, aber nicht nervös.

Es gab keinen offensichtlichen Grund für Iain Carbery, Fetternish zu Beginn der Moorhuhnjagdsaison zu besuchen. Er war ein offensichtlich wohlhabender Jäger, dessen Reiseroute durch alles bestimmt war, was zu jagen war. Zwischendurch frönte er dem Lachsfischen oder ritt eine der Fuchsjagden im Borderland mit. Biddy hatte nicht erwartet, ihn vor Anfang September zu sehen.

»Ja, wir haben eine ganze Rinderhälfte in der Speisekammer«, antwortete Willy.

»Er wird um sechs hier sein. Ich muss mich beeilen.«

»Wenn ich mich erkundigen darf, Madam«, sagte Willy in dem trockenen Tonfall, dessen er sich bediente, wenn er vorgab, ein richtiger Butler zu sein, »warum besucht uns Mr. Carbery so kurzfristig?«

»Ich habe keine Ahnung, William«, sagte Biddy.

»Steht nichts in dem Brief, was andeutet, welchen Zweck das hat?«

»Nichts.«

»Wenn Sie mich fragen, so ist er auf etwas aus.«

»Auf etwas? Auf was?«

Willy öffnete seinen Mund, um herauszuplatzen: »Sie« – überlegte es sich dann aber anders.

Ernst sagte er: »Dinner dann um acht, Mrs. Baverstock?«

»Ja, William, Dinner um acht«, antwortete Biddy, drehte sich um und begab sich zur großen Treppe, in einer Gangart, die einem Galopp nahekam.

Das Wasser in der großen, eingelassenen Badewanne war torfbraun, und manche Besucher hielten es für schmutzig. Besonders nach heftigen Regenfällen nahm es die Farbe von Rinderbrühe an, und sie beharrten darauf, dass es mit mehreren Hand voll Sodakristallen »gereinigt« wurde, doch Biddy – und glücklicherweise auch Mr. Carbery – hatten solche Neigungen nicht.

Tatsächlich hielt Iain Carbery nicht viel vom horizontalen Baden. Er zog es vor, in seinem kastanienbraun und schwarz gestreiften Badeanzug zur See hinunterzulaufen und sich geradewegs ins Salzwasser zu stürzen. Wenn die See in der Nähe seines gegenwärtigen Aufenthaltsortes nicht zur Verfügung stand, watete er fröhlich in einen See oder einen Fluss oder, war auch dies nicht da, stand auf dem Rasen von irgendjemandem, mit nichts weiter als einem Handtuch bekleidet, dieweil Knechte und Diener eine Kette bildeten und Eimer kalten Wassers über ihn schütteten, als sei er in unmittelbarer Gefahr, wie ein alter Heureiter in Flammen aufzugehen.

Wenn Biddy an Iain Carbery dachte – was sie recht häufig tat –, war es dieses Bild von ihm, das sie vor Augen hatte, und schwerlich ein Porträt für ein Medaillon. Gewiss eines, das Iain selbst nicht gewählt hätte, da etwas Komisches an seinen lauten, erschauernden Freudenschreien war, seinem herzhaften Abtrocknen, dem bonbonfarben gestreiften Wollbadeanzug, der tropfnass an seinen nicht unerheblichen Geschlechtsteilen klebte.

Da war auch eine gewisse Kasteiung in Carberys Demonstrationen, als ob er seinen Rücken als Strafe für nicht spezifizierte Sünden peitschte. Bei jedem Wetter draußen zu baden war jedoch auch Teil eines mehr generellen Geltungsbedürfnisses, da Iain immer der Letzte war, der aus dem Sattel glitt, der Letzte, der vom Fluss zurückkehrte, der Letzte, der vom Hügel herunterkam. Und wenn irgendein Mann es wagte, sein Recht, der Letzte zu sein, herauszufordern, dann, bei Gott, würde er auch ihn überdauern, mochte da Hölle oder Hochwasser kommen. Was Iain natürlich beweisen wollte, war eine Fähigkeit, alle anderen Männer überall zu übertrumpfen, und jeder Frau, die einverstanden war, sich mit ihm zu paaren, zu illustrieren, dass sie nicht nur das Behältnis lang andauernder Freude werden würde, sondern einer Substanz, die so stark und kräftig war, dass ihre Babys schwirrend wie aufgescheuchte Moorhühner aus ihrem Leib kommen oder wie junge Lachse herausspringen würden.

Biddy musste zugeben, dass sie diesen Aspekt von Iain Carbery attraktiv fand. Seine Größe ebenfalls. Er war fast so groß und breitschultrig wie ihr Großvater Evander McIver, und er strahlte zweifellos Potenz aus, einen Strom, eine wahre Flut von Vitalität, die die verwöhnten Damen in Edinburgh zum Erzittern bringen mochte, vielleicht sogar dazu, ohnmächtig zu werden, aber nichts weiter als die Bewunderung der viel trinkenden, viel reitenden Männer und Frauen brachte, mit denen er üblicherweise zusammen war. Was nun den Anblick von ihr anbelangte, den er schätzte, so war es wahrscheinlich nicht eine Biddy Baverstock, die ausgestreckt auf dem Tartanplaid in der Heide über dem Coilichan lag oder gar, wie sie jetzt war, sich auf und ab bewegend, glänzend wie ein Seehund – ja, er war hier gewesen und hatte auch das gesehen –, sondern im Kindbett stöhnend, da Biddy vermutete, dass Iain Carbery sie nicht als eine seiner Eroberungen ansah, sondern als eine seiner Niederlagen.

Sieben Mal hatten sie sich zu unerlaubtem Miteinander vereint. Sieben Mal hatte Iain Carbery sein Bestes gegeben. Sieben Mal hatte die Witwe von Fetternish reagiert, wie nur eine Frau von ihrer leidenschaftlichen Natur reagieren konnte, nämlich wahrhaftig mit einem Enthusiasmus, der Mr. Carbery keuchend und erschöpft zurückließ. Und dennoch war nichts dabei herausgekommen, kein Hinweis oder Anzeichen darauf, dass eine einzige gepanzerte Kaulquappe von Carbery ihren Weg stromaufwärts gefunden hatte, um das schlummernde Ovum zu überraschen, das in Biddys Innerem nistete.

Während sie im Bad lag und ihre Gliedmaßen durch das hellbraune Wasser betrachtete, hatte Biddy keinen Zweifel daran, warum Mr. Carbery die Moorhühner von Sutherland verlassen und südwärts und westwärts nach Oban und anschließend weiter mit einem von MacBraynes Dampfern über den Firth of Lorne geeilt war.

Es war für die Hirschjagd noch zu früh in der Saison. Was ihn bewog herzukommen, musste demnach ein Wild anderer Art sein. Nämlich ganz schamlos sie. Offenkundig stellte sie für Iains Jagdinstinkte eine weit lohnendere Herausforderung dar als irgendeines der Geschöpfe in Moor oder Gebirge. Offensichtlich war er außerstande gewesen, sich der Aussicht zu widersetzen, dass sie, da der August schwand, erst spät in der Saison kommen und da sein würde, um genommen zu werden.

Gewiss war sie da, um genommen zu werden. In diesen Tagen war sie immer da, um genommen zu werden. In dieser Hinsicht zumindest traf der Klatsch zu. Iain Carbery war nicht ihr erster oder einziger Liebhaber. In den letzten sechs Jahren hatte sie mehrere flüchtige Affären gehabt, Verhältnisse, die ihr Freuden geschenkt, aber bedauerlicherweise nicht zu Umwerbung und Heirat geführt hatten, und dies, obwohl die Gentlemen durchweg geeignete Junggesellen gewesen waren und erklärt hatten, wahnsinnig in sie verliebt und bereit zu sein, alles aufzugeben, um ihr zu helfen, Fetternish zu verwalten. Sie brauchte jedoch keinen Gutsverwalter – Hector Thrale erfüllte diese Funktion noch immer sehr gut –, sondern nur jemanden, der ihr Kind zeugte und sie, wenn dieses bedeutsame Ereignis bestätigt war, blitzschnell zum Altar führen würde, um dem Kind, ihrem Kind, einen Namen zu geben.

Als Gegenleistung für diesen Dienst, dafür, könnte man sagen, dass er bereit war, den Karren vor das Pferd zu spannen, würde der glückliche Bursche einen angemessenen Anteil an allem haben, was Fetternish zu bieten hatte. Einen Tisch, unter den er seine Füße stellen konnte, ein Kissen, auf dem er sein Haupt betten konnte, ein Bett, um darin zu schlafen, und eine gut aussehende Frau, die ihn in kalten Winternächten warm hielt.

Dies bedenkend, achtete Biddy sorgsam darauf, nur solche Männer einzuladen, die zur Heirat verfügbar waren und mit denen sie glaubte, eine Art freundlicher Beziehung zusammenschustern zu können. Doch als der Sommer ihres dreißigsten Jahres verging und nichts passierte, nicht einmal mit dem potenten Mr. Carbery, nahm ihre Verzweiflung bis zu dem Punkt zu, dass sie zu glauben begann, ihre Unfähigkeit zu empfangen könnte eine Art göttlicher Strafe sein, und sie sei schließlich genötigt, sich einen Ehemann zu nehmen und auf Gott, Schicksal, Glück – oder welcher Faktor auch immer solche Dinge steuern mochte – zu vertrauen, um sicherzustellen, dass mit ihr im Ehestand das geschähe, was ohne ihn nicht geschehen konnte: nämlich ein Kind zu empfangen und zu tragen.

Sie seifte ihre Brüste ein, ließ warmes Wasser auf ihren Bauch rieseln, hob ein langes, glattes, muskulöses Bein und betrachtete es. Sie wackelte mit den Zehen. Jeder sichtbare Teil von ihr schien perfekt zu funktionieren, bereit für den Kampf, bereit für und begierig darauf, befruchtet zu werden.

Sie seufzte und lehnte sich zurück, ihr Haar auf ein nasses Handtuch legend, und dachte an Iain Carbery, der nun sein Gleichgewicht auf dem Deck der Dalriada hielt, die vorbei an Duart Point und Fishnish Bay das Wasser durchpflügte, an Salen vorbei und um Calve Island herum, sein buschiges Haar in der salzigen Seebrise flatternd, seinen großen, buschigen, büffelhornförmigen Schnurrbart zwirbelnd, während er den Wind in sich aufsog, sie vielleicht über all die Meilen von Moor und Küste roch und das dachte, was sie dachte: Jetzt ist die Zeit. Heute Nacht, heute Nacht. Jetzt ist die Zeit. Heute Nacht.

Biddy erhob sich abrupt aus dem torfbraunen Wasser.

»Maggie«, rief sie. »Ich komme heraus.«