Es schien Innis, als sei Michael genau derselbe, der er immer gewesen war, dass er sich seit jenem Nachmittag vor dreizehn Jahren kein Jota verändert hatte, als er den Moorweg hinter Pennypol heruntergezottelt gekommen war, im Kielwasser der ersten Herde der Baverstocks, dieser großen, weich aussehenden Cheviots, von denen niemand geglaubt hatte, dass sie das ungezügelte Klima überleben würden, die aber unter der Pflege, die Michael ihnen als Gegenleistung für seinen Lohn und andere Vergütungen zukommen ließ, gediehen waren und sich vermehrt hatten.
Mrs. Baverstock war eine großzügige Arbeitgeberin, nicht allein zu ihren Verwandten, sondern zu all ihren Pächtern und Bediensteten. Eine Tatsache, derer Michael sich wohl bewusst war.
Unabhängig davon, wie intim Biddy und er in der Vergangenheit gewesen waren, würde er nicht gestatten, dass sie ihn, wenn es ums Geld ging, gegenüber seinen Mitarbeitern bevorzugte. Er war jedoch nicht so stolz und stur, dass er kleine Extras ablehnte, die Biddy ihm oder besser Innis zukommen ließ: einen ausgedehnten Garten, einen Kartoffelacker, Reparaturen des Dachs des Cottages, zusätzliche Nebengebäude, eine beträchtliche Zuwendung an Torf und Kohle und andere kleine Hilfen, wie die kostenlose Benutzung eines Dogcart oder Trap, um die Familie einmal im Monat an einem Sonntag zur Kirche in Glenarray zu bringen.
Sparsam und fleißig, gottesfürchtig, enthaltsam und geschickt in der Schafzucht, war Michael Tarrant ein Mann, der sehr geachtet, aber nicht sehr geliebt wurde, da er sowohl auf dem Gut als auch außerhalb für sich alleine blieb und mit den Dorfbewohnern überhaupt nichts zu tun hatte. Er hatte schließlich eine Frau und Kinder, die ihn mit Gesellschaft versorgten, und was immer man sonst über ihn sagen mochte, so war nicht zu leugnen, dass er zuerst und vor allem ein Familienvater war.
An diesem Augustnachmittag kam er spät nach Hause, so spät, dass die ersten Anzeichen der Abenddämmerung in den Schluchten bemerkbar waren und die Sonne draußen auf der See in Schnüren von samtenen Wolken wie ein Kugelfisch schwebte, so träge wirkend, dass es schien, als würde sie nicht weiter sinken und vielleicht beschließen, überhaupt nicht unterzugehen.
Trotz allem, was Innis dachte, hatte Michael Tarrant sich verändert. Er war noch immer ordentlich und sauber geschrubbt, aber jetzt so hager, dass er fast ausgemergelt wirkte, als würde er von einer verzehrenden Krankheit aufgefressen, was natürlich nicht der Fall war. Dennoch war nichts an ihm, kein Quäntchen Fett an Rippen oder Bauch, nur Sehnen und Knochen und flache Muskeln. Seine Hände und Arme, Gesicht und Nacken und das unbehaarte V auf seiner Brust waren von Wind und Wetter tief gebräunt, doch der Rest von ihm war so blass, dass er, wenn er sich zum Waschen auszog, fast wie ein Schecke aussah, wie ein fremdartiges, halb getarntes Tier. Gavin war runder und glatter an Gliedmaßen und Bauch, seine Gesichtsfarbe rosig, wohingegen die seines Vaters braun war. Ansonsten war er eine exakte Kopie von Michael, nur dass sein schwarzes Haar keine kleinen silbernen Stellen über den Ohren hatte.
Vater und Sohn trafen gemeinsam ein. Sie waren immer zusammen, kommunizierten überwiegend nicht mit Worten oder Gesten, sondern durch ein unsichtbares Bindeglied, ähnlich den Unterseekabeln, die die Telegrafie möglich machten, sodass jeder genau zu wissen schien, was der andere dachte, ohne dass ein Ton gesagt worden war.
Schellfischpastete war im Ofen, ein Suppentopf blubberte auf dem eisernen Herd, und ein riesiger Kessel warmes Wasser dampfte an seinem Haken über dem Feuer in dem mit Ziegeln eingefassten Kamin. Die Küche war erstickend heiß, Innis und die Kinder hatten rote Gesichter.
Innis zog eine Zinnwanne aus der Ecke und stellte sie neben der offenen Tür auf Böcke. Sie hob den Kessel, löste ihn von seinem Haken, schleppte ihn zur Wanne und schüttete seinen Inhalt hinein. Sie legte ein Stück Seife und zwei Handtücher auf das Ende eines Bockes und ging dann hinaus in den offenen Hof hinter dem Cottage, um den Kessel wieder an der Pumpe zu füllen, die das Wasser aus der Klamm hochbrachte.
Als sie zur Küche zurückkehrte, trockneten Michael und Gavin sich ab, und die Mädchen, Becky und Rachel, hatten ihre üblichen Positionen bezogen, hockten auf dem steingefliesten Boden. Sie blickten voller Ehrfurcht, nicht Erwartung, zu den Mannsleuten auf, da sie wussten, dass sie keine Süßigkeiten oder einen farbigen Kiesel oder sonst irgendetwas bekommen würden, das Daddy für sie an diesem Nachmittag gefunden hatte. Sie warteten nur auf ein Wort des Erkennens, auf ein Zeichen, dass Daddy sie überhaupt bemerkt hatte.
Michael zog das saubere Flanellhemd an, das Innis für ihn bereitgelegt hatte, und steckte, den Rücken den Mädchen zugewandt, die Zipfel in seine Breeches, schlang den schmalen Ledergürtel um die Taille und zog ihn zu.
Dann sagte er: »Gavin erzählte mir, dass deine Schwester heute Nachmittag hier war?«
Die Mädchen hockten still, sehr still auf ihren Fersen, Rachel hatte einen Arm über Rebeccas Schulter gelegt. Ächzend verlagerte Innis das ganze Gewicht des Kessels auf einen Arm, schwenkte den geschwärzten Haken durch den geschwärzten Henkel und ließ den Kessel über dem Torffeuer los. Ein kleiner Topf mit Teewasser kochte bereits auf dem Eisenherd. Innis wischte ihre Hände an der Schürze ab, trat vom Kamin zum Herd und brühte sorgfältig den Tee in der irdenen Kanne auf. Sie war über Michaels reservierten Tonfall – den Lowlandakzent, in dem Fragen und Antworten und Feststellungen alle exakt gleich klangen – nicht verstimmt. Ihre einzige Konzession an Jahre der Verschlossenheit war, nicht sofort zu antworten, da sie wusste, dass nur wenige seiner Äußerungen jemals zu einem ausführlichen Gespräch führten.
»Ja, das war sie«, sagte Innis schließlich.
»Gavin erzählte mir, ihr seid nach Pennypol gegangen?«
»Ich habe etwas Brot hinübergebracht.«
»Ich habe die Butter gegessen, Daddy«, flüsterte Rachel, auf ihren nackten Fersen wippend. »Ich erzählte Gran, dass ich …«
»Gavin sagte, du hast Becky bei ihr gelassen«, fuhr Michael fort.
»Sie hat geschlafen. Becky, meine ich.«
Er nickte. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass ich es nicht gutheiße, dass deine Schwester mit den Kindern allein gelassen wird.«
»Ja«, sagte Innis, »aber du hast mir nie gesagt, warum.«
Michael zog einen Stuhl vor und setzte sich an den Tisch. Gavin folgte dem Beispiel seines Vaters, dann rappelten sich die Mädchen vom Boden auf und kletterten auf ihre Hocker, während Innis Suppe aus dem Kessel schöpfte, eine Schüssel vor jeden von ihnen stellte und, reglos am Tisch stehend, den Kopf senkte. Michael murmelte das Tischgebet. Sie alle, sogar Becky, sagten »Amen«. Innis setzte sich und hob ihren Löffel.
Sie sagte: »Du hast mir nie erzählt, warum, Michael.«
»Ich brauche dir keinen Grund zu nennen.«
»Denkst du, dass sie sie stehlen will?«
Er zögerte. Dann sagte er: »Sie ist kein guter Einfluss.«
»Oh, das ist es?«, sagte Innis. »Und wann ist dir das offenbart worden?«
Er zögerte wieder. »Sie hat einen anderen – nein, den Gleichen –, der heute Nacht bei ihr bleibt.«
»Sie hat zu mir nichts von Besuchern gesagt«, sagte Innis.
»Zweifellos schämt sie sich zu sehr, um darüber zu reden.«
»Welcher ist es?«
»Carbery.«
»Befindet er sich nicht in Coilichan Lodge?«
»Ich sage dir, dass er in Fetternish ist.«
»Ist das der einzige Grund, warum du nicht möchtest, dass Biddy …« Innis warf einen Blick zu ihren Töchtern und biss sich auf die Lippe. »Das ist überhaupt kein Grund, Michael.«
»Er ist nicht ihr Ehemann.«
»Jedenfalls noch nicht«, pflichtete Innis bei. »Aber er ist ihr Freund, und es gibt keinen Grund, warum er nicht auf Fetternish wohnen sollte. Es ist das, was Leute wie Biddy gerne tun – sie teilen Gastfreundschaft mit anderen ihrer Art.«
»Ja, und was teilen sie noch, frage ich?«
Selbst wenn sie alleine waren, ohne dass Gavins kritischer Blick auf ihnen ruhte, knüpfte Michael selten so viele Worte aneinander. Sie wusste natürlich, was ihm Sorge bereitete. Es war nicht die alltägliche Tatsache von Highland-Gastfreundschaft, die ihn ärgerte. Biddy mochte jeden Mann, den sie haben wollte, auf Fetternish wohnen lassen – ein ganzes Bataillon davon. Vorausgesetzt, es waren keine Junggesellen, die zu haben waren. Innis verstand die Angst der Arbeiter von Fetternish nur zu gut, ihre Besorgnis, dass sie vielleicht bald einen Herrn und eine Herrin haben könnten und dass der neue Herr alle vor sich wegfegen könne, Biddy eingeschlossen, und dass sie am Ende deshalb arbeitslos sein würden. Wenn es noch einen anderen Grund für Michaels Verärgerung gab, etwas Dunkleres und weniger Unwichtiges, dann ignorierte Innis es und legte eine Unschuld an den Tag, zu der sie nicht ganz berechtigt war, eine Sanftmut, die nicht zu ihrer Intelligenz passte.
Sie sagte: »Ich verstehe noch immer nicht, was es mit unseren Kindern zu tun hat.«
Michael schob die leere Suppenschüssel zur Seite. »Biddy ist moralisch verdorben.«
Verblüfft über diese lächerliche Feststellung, sagte Innis: »Sind wir nicht alle in Gottes Augen moralisch verdorben?«
»Ich beginne nicht, mit dir über Religion zu diskutieren«, sagte Michael. »Gibt es nicht mehr als Suppe zum Abendessen?«
»Es gibt Fischpastete«, informierte Innis ihn. »Möchtest du sie jetzt?«
»Ja.«
Ihre Mutter hätte Michael für seine Übellaunigkeit zur Schnecke gemacht, wäre so ätzend und offensichtlich sarkastisch geworden, dass selbst Michael gezwungen gewesen wäre, das zur Kenntnis zu nehmen. Aber es mangelte Innis an der Bitterkeit ihrer Mutter, dem Groll, der seine Entladung in beißender Ironie fand. Selbst betrunken hatte ihr Vater unter Vassies Schimpfen vor Angst gezittert und, weit genug getrieben, alle Selbstbeherrschung aufgegeben und um sich geschlagen, nicht mit seiner Zunge, sondern mit den Fäusten. Zumindest hatte Michael sie niemals geschlagen, was – wie Innis glaubte – bedeutete, dass er sie noch mochte.
Rasch stellte sie die Pastete auf den Tisch und schob sie zum Teller ihres Mannes. Sie stellte eine Schüssel gekochter Kartoffeln dazu und sagte Gavin, er solle seinen Schwestern auftun, was er auch präzise tat.
Nachdem Innis wieder saß, sagte sie: »Woher weißt du, dass Mr. Carbery auf Fetternish ist?«
»Angus Bell ist mit der Trap weggefahren, um ihn am Pier in Tobermory abzuholen.«
»Glaubst du«, sagte Innis ein bisschen neckend, »dass Mr. Carbery ohne Vorankündigung gekommen sein könnte, weil er beabsichtigt, um Biddys Hand anzuhalten, und er hofft, sie überrumpeln zu können?«
Michael stieß ein gedämpftes Hu aus. »Er ist hinter Fetternish her, das ist alles.«
»Wie kannst du dir so sicher sein?«
Starr vor sich hin starrend, aß Michael in mürrischem Schweigen.
»Vielleicht liebt er sie«, meinte Innis.
»Er hat kein Geld.«
»Wer hat dir das erzählt?«
Wieder keine Antwort.
Innis sehnte sich danach, ihn zu dem Thema Moral zurückzuführen, ihn aufzufordern, genau zu definieren, was er mit »verdorben« meinte, und zu erklären, warum das Freien um ihre Schwester – denn Innis hatte sich entschieden, das so zu sehen – als etwas anderes betrachtet werden sollte als das Liebeswerben, das in den Hinterzimmern der Cottages vor sich ging, hinter Kuhställen oder im Heidekraut. Werbung war nun einmal der Weg der Welt und an sich keine Gottlosigkeit. Und wenn Michael sich noch immer schuldig wegen dem fühlte, was er vor all diesen Jahren mit Biddy getan hatte, dann hatte er das reichlich dadurch ausgeglichen, dass er ein treuer und liebevoller Familienvater geworden war.
»Michael, wer hat dir das erzählt?«
»Thrale.«
»Vielleicht ist es nicht Geld, wonach Biddy sucht.«
»Dessen bin ich sicher.«
»Warum bist du so ganz plötzlich gegen sie eingestellt? Machst du dir Sorgen, dass sie einen Mann nimmt, der die Art, wie das Gut geführt wird, ändern will?«
Michael drehte seinen Kopf und starrte Innis an, als sähe er sie an diesem Abend zum ersten Mal. Er sagte: »Wenn sie ein Kind hat …« Das war alles. Der Satz verlor sich und klang doch irgendwie vollständig, so als ob all seine Angst und Missbilligung in diesen fünf einfachen Worten enthalten waren.
Er legte seine Gabel und sein Messer nieder und erhob sich.
»Ich habe zu arbeiten«, sagte er. »In der Hütte.«
»Was ist mit deinem Tee?«
»Ich nehme ihn später.«
Als sein Vater sich zur Tür bewegte, schaufelte Gavin sein letztes Stück Pastete in den Mund und sprang auf. Mit den dicken Backen sah er zur Abwechslung nicht jungenhaft, sondern kindlich aus.
»Daddy«, murmelte das kleine Mädchen. »Ich hab das Brot gebacken, das wir Gran brachten.«
»Ja, Rachel«, sagte Michael. »Gavin hat’s mir erzählt.« Und dann, seinen Sohn unmittelbar an den Fersen, stieß er die Tür des Cottages auf und verschwand in der Dämmerung.
Die Sorgen, die Biddys Angestellte im Hinblick auf Iain Carberys Motive hatten, waren keineswegs unbegründet. Er war hinter Geld her, hinter einem sicheren Hafen, und er war zu dem Schluss gekommen, dass Fetternish ihm das geben würde.
Fetternish war jedoch kein Jagdrevier und würde es auch nie sein. In seinen Seen gab es kleine braune Forellen, und das Seeangeln von den Felsen an seinen verschiedenen Landzungen bot leichte Unterhaltung. Aber Fetternish hatte keine mächtigen Lachsströme, die es durchflossen, und seine Moorhügel waren vor langer Zeit schon von ursprünglichem Rotwild befreit und zuerst den Rindern und dann den Schafen übergeben worden, sodass Wild jeder Größe, jede Herausforderung selten war, verglichen mit dem, was man in dem Bergland um Ben More und in der schwarzen Spalte der Horsa finden konnte.
Das Haus und seine Bewohnerin glichen den Mangel an Wild mehr als aus, und Iain musste zugeben, dass mit Rindern, Schafen und Pferdezucht mehr Profit gemacht werden konnte als mit dem Verkauf von Abschussrechten, die zu kaufen überhaupt nicht lohnte. Dennoch hatte er Biddy dazu gebracht, einen Wildhüter einzustellen, Mr. McCallum, der gute Arbeit bei der Befreiung des Gutes von Raubzeug geleistet und begonnen hatte, Fasanen zu züchten und sich dem Wohlergehen der Moorhühner zu widmen, die ihre Futterstellen in der Heide hatten, wo das Moor sich in Richtung der Straße nach Dervaig erstreckte.
Iain hatte all dieses und außerdem eine Menge mehr im Kopf, als er sich von Lord Fennimore verabschiedete und Sutherland verließ, um nach Mull zu reisen. Da war ein Sog nach Mull, nach Fetternish, dem Iain schwer widerstehen konnte. Manchmal fragte er sich, ob Bridgets berüchtigte Schwester Aileen, die er nie kennengelernt hatte, einen speziellen Liebeszauber ausgesprochen hatte, um ihn zurück auf die Hebriden zu locken. Wie immer reiste er ohne Diener und traf auf Fetternish ein mit nicht mehr, als er auf seinen breiten Schultern tragen konnte: ein Anson-Gewehr, eine Greenhard-Angelrute, einen prallvollen Seesack aus Ölleinwand, zwei Fasane und zwei Flaschen Ferntosh-Whisky als Geschenk für Bridget Baverstock, dem Licht seines Lebens und seiner Hoffnung für die Zukunft.
»Bridget!«
»Iain!«
Sie umarmten sich auf der kiesbestreuten Zufahrt wie Liebende, die sich wiedergefunden hatten.
Angus Bell war Zeuge davon. Angus Bell war schockiert.
»Schrecklich war es, schrecklich«, erzählte er seinem Vater, einem Mann, der in seinen Ansichten so engstirnig war, dass Calvin im Vergleich dazu ein Wüstling zu sein schien. »Niemals habe ich eine solche Zurschaustellung von zügelloser Leidenschaft gesehen. Es ist schmerzlich für mich, dir das zu erzählen, Da.«
»Nein, Sohn, es ist besser, wenn du davon befreit bist, damit es nicht in deinem Gedächtnis gerinnt und dich in den Trunk treibt.«
»Trunk? Warum in den Trunk?«
»Mögest du dir niemals Gedanken darüber machen, warum der Trunk. Rede nur weiter, und erzähle mir, was sie mit ihm getan hat.«
»Sie küsste ihn.«
»Auf den Mund?«
»Mitten auf den Mund, Da.«
»Und öffnete sie ihre Lippen?«
»Ich will schwören, dass sie das tat.«
»Legte er seine Hände …«
»Ja, um ihren Rücken.«
»Tief auf ihren Rücken?«
»Sehr tief, Da, sehr, sehr tief.«
»Merke dir, irgendeines Tages wird ein Urteil über diese schamlose Frau gefällt werden. Ich verstehe nicht, wie unsere Maggie damit leben kann, da sie in ihrer Art doch so rein und sittsam ist. Was haben sie als Nächstes miteinander getan?«
»Er reichte ihr ein hübsches Paar Fasane. Sie legte einen Arm um seine Taille, und sie schlenderten durch die Vordertür ins Haus.«
»Willy, wo war Willy die ganze Zeit?«
»An der Tür. Er wartete darauf, das Gepäck übernehmen zu können.«
»Und was hielt Willy deiner Meinung nach davon?«
»Das kann ich nicht sagen, Da, aber er lächelte.«
In der Tat hatte Willy gelächelt.
Willy missbilligte Iain Carbery nicht gänzlich. Von allen Freiern, die den Ozean mutig überquerten, um ihre Knie vor seiner Herrin zu beugen, war Carbery wahrscheinlich derjenige, an dem am wenigsten zu beanstanden war. Natürlich war er ganz offensichtlich ein Schuft, aber viel zu unreif, um verschlagen zu sein. Tatsächlich hatte Willy Carbery als einen Mann erkannt, der nicht durch Strategie und Planung nehmen würde, was er wollte, sondern durch bloße Hartnäckigkeit. Aber, dachte Willy, bei einem Burschen wie Carbery weiß man zumindest, wo er steht oder, in Biddys Fall, wo er liegt.
Sie trafen sich. Sie küssten sich. Sie schlenderten Arm in Arm in die große Halle, und bevor Willy und Angus auch nur das Gepäck von dem Trap hatten nehmen können, waren sie nach oben gegangen, wahrscheinlich, um vorm Dinner ein wenig zu üben.
Biddy hatte überhaupt nicht gemerkt, wie sehr ihr das Liebemachen gefehlt hatte, einmal ganz abgesehen von der erfreulichen Konsequenz, die daraus resultieren mochte, bis Iain sie auf dem Bett hatte, seine Hose um die Knöchel hing und ihre Röcke hochgestreift waren.
An all dem war nichts Romantisches, überhaupt nichts Romantisches, doch seine Hast drückte eine sonderbare Art von Poesie aus, die Poesie von Gier, von unkultiviertem Verlangen, gepaart mit einem völligen Mangel an Verstellung. Es war, als sei er von purem Bedürfnis nach ihr getrieben durch halb Schottland gereist. Und Biddy, die auf alle Umschweife verzichtete, auf all das Getue und den fächerwedelnden Unfug affektierten und scheinheiligen Werbens, war ebenso begierig wie Iain, zur Sache zu kommen. Schließlich waren es ihr Haus und ihr Körper. Es stand ihr frei, damit zu tun, was sie wollte, wobei die Bediensteten – die nicht einmal flüsterten – eine neugierige Welt fernhielten.
»Biddy, Bridget, Biddy, Bridget … ah-hah, ah!«
Sie schlang ihre Arme und Knie um ihn und schloss ihn ein.
Er war in dieser Rolle nicht groß, aber er war stark. Wäre sie eine weniger befreite Frau gewesen, oder hätte es ihr an Erfahrung mit Männern gemangelt, hätte seine Inbrunst vielleicht erschreckend wirken können, gar brutal. Wenn sie sich allerdings an Austin erinnerte oder in jüngerer Zeit an den zimperlichen Captain Gailbraith, schwelgte sie darin und reagierte auf Iains Attacken ohne Furcht, dass er beleidigt sein könnte, weil sie selbst es ebenfalls genoss. Als es vorbei war und sie keuchend auf dem Rücken lag, empfand sie weder Abscheu noch Bedauern, nur Dankbarkeit und eine fast majestätische Verbindung mit dem Untier, das noch immer wie ein Nilpferd schnaufend auf ihr lag.
»Gott«, sagte Iain heiser. »Gott, aber das war …«
»Gut?«
»Exzellent«, sagte Iain »Ich meine – höchst exzellent.«
Er rollte sich auf einen Ellenbogen und blickte auf sie hinab. Er trug noch immer seine gefütterte Tweedweste und das Flanellhemd, dessen Kragen hinter seinem Ohr hervorragte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und er roch, wie Biddy fand, leicht fischig, so als sei er auf der Dalriada den Kisten mit den Räucherheringen zu nahe gewesen. Es störte sie nicht, überhaupt nicht, denn unter dem fischigen Geruch, fand sie, war der kräftige Geruch von Schießpulver und dieser andere undefinierbare Duft, der mit Männlichkeit zu tun hatte, mit Begabung.
Sie richtete sich auf und streifte ihre Röcke nach unten. Ihre Strümpfe waren an den Knien zerknittert, aber sie sorgte sich nur kurz darum. Sie würde jedoch vorm Dinner nicht baden, da Iain sie später in der Nacht wieder nehmen würde, und wie Eva und Adam würden sie nackt sein, und keiner von ihnen würde sich einen Deut darum scheren, wie sie rochen, während ihre Säfte sich vermischten und vermengten.
Iain atmete tief ein und manövrierte, seine Hüfte drehend, seine wertvollen Teile zurück hinter den Schutz seiner Wollkombination.
Er legte eine Hand um Bridgets Taille und fragte ernst: »Was denkst du, Liebste?«
»Ich denke, wir müssen abwarten und sehen.«
»Und es wieder versuchen?«
»Natürlich«, sagte Biddy, ohne rot zu werden. »Und es wieder versuchen.«
Der kommerzielle Verkehr zwischen schottischen Grenzstädten und den amerikanischen Märkten war durch die Verhängung von Handelszöllen schwer getroffen, und die Profite der Firma Baverstock, Baverstock & Paul, die Tweed herstellte, waren in den letzten Jahren beträchtlich gesunken. Da die Franzosen ebenfalls drohten, Schutzzölle zu erheben, fürchtete Willy Naismith, dass seine alten Herren, die Baverstocks, und seine derzeitige Herrin, Biddy, bald auf dem Trockenen sitzen würden.
Willy war in alle finanziellen Geheimnisse Biddys eingeweiht. Er hatte ihr sogar beigebracht, wie man eine Bilanz zu lesen hatte und wie man das Auf und Ab des internationalen Handels anhand der in The Times veröffentlichten Aktienkurse interpretieren konnte. Willy war mit den Baverstocks groß geworden und wusste einiges über Investment. Während seiner Dienstjahre in Edinburgh war er sogar in den Ausschuss einflussreicher Hausdiener aufgenommen worden, die vertrauliche Informationen über Geld und Märkte austauschten, und einige von ihnen – Willy bedauerlicherweise nicht – hatten ergiebige eigene Portfolios aufbauen können.
Bereits seit einiger Zeit hatte Willy vermutet, dass die Quelle des Kapitals, das Biddy nutzte, um ihr Inselkönigreich zu verbessern, in Gefahr war auszutrocknen. Er hatte heimlich an seine älteste Tochter in Sangster geschrieben, um zu erfahren, was, wenn überhaupt, Walter Baverstock und Agnes Paul gegen diesen plötzlichen Geschäftsrückgang zu tun planten, denn wenn die Auslandsmärkte den Bach runtergingen, würde die Nachfrage nach Schurwolle ebenso fallen und die goldenen Jahre würden, so wie sie waren, vorbei sein.
Für einen Außenstehenden indes schien auf Fetternish alles bestens zu sein. Willy bezweifelte, dass Mr. Carbery eine Ahnung hatte, auf was er sich vielleicht einließ, wenn er der Witwe von Fetternish nachsetzte, und was von ihm, abgesehen von der Zeugung von Söhnen, verlangt werden würde, falls und wenn es ihm gelang, Biddy vor den Altar zu schleppen. Es war allerdings keine Abneigung gegen Carbery oder auch nur ernste Zweifel an seinen Intentionen, die Willy zu der gottlosen Zeit von halb sieben an einem nebeligen Augustmorgen mit den Hunden Odin und Thor hinausbrachten, die auf dem Pfad vor ihm schnüffelten. Die See war ruhig wie ein Teich, und es war kein Geräusch zu hören, außer dem kuriosen Möwengeschrei und Carberys gedämpftem Gejodel, während er sich nach einem frühmorgendlichen Bad heftig abtrocknete.
Carbery hatte sich zur Abwechslung einmal nicht entschlossen, in einem nassen Badeanzug zurück zum Hause zu trotten, und Willy stieß völlig unbeabsichtigt auf ihn, als er sich aus dem eng anliegenden, wollenen Kleidungsstück schälte.
»Ah, Naismith! Dachte doch, ich hätte Hunde gehört.« Iain massierte sein Haar mit einem nassen Handtuch. »Ist dies Ihre gewöhnliche?«
»Gewöhnliche?«, fragte Willy.
»Runde, Zeit – für einen Spaziergang, meine ich.«
»Ja«, sagte Willy, um Erklärungen zu vermeiden. »Wie war das Wasser, Sir? Kalt?«
»Nicht im Mindesten. Sehr angenehm, sehr erfrischend. Sie gehen nicht …«
»Nein, ich nicht«, sagte Willy, dessen Antipathie gegen Salzwasser legendär war.
Er schaute zu, wie der Gentleman sich ahnungslos zur Schau stellte, sich hierher drehte und dorthin, während er das Handtuch zwischen seinen Beinen durchzog und über seine Waden. Willy spürte nicht den leisesten Anreiz beim Anblick eines nackten männlichen Körpers, aber es befriedigte ihn nichtsdestoweniger zu sehen, dass die sonderbar ausgeprägt muskulösen Rundungen von Carberys Hinterbacken keine Entsprechung in irgendetwas Außergewöhnlichem auf der Vorderseite hatten. Odin, der mutigere der beiden alternden Hunde, kam, um den Fremden zu beschnüffeln, und Carbery, noch immer nackt, hockte sich hin, packte das Tier bei den Ohren und herzte und drückte es einen Augenblick, während Odin gähnte und sich ihm ohne ein protestierendes Knurren ergab.
Nach etwa einer Minute des Spielens richtete Carbery sich auf, ergriff sein Hemd und streifte es über den Kopf. »Ich gehe recht in der Annahme, dass Mrs. Baverstock noch schläft?«
»Das tut sie«, sagte Willy. »Zumindest hat sie sich noch nicht gezeigt. Es ist ein kleines bisschen früh für die Mistress.« Er zögerte. »Darf ich fragen, Mr. Carbery, wie lange Sie dieses Mal bei uns bleiben werden?«
»Das hängt davon ab.«
»Von etwas Besonderem?«
»Ist es für Sie wichtig, William, wie lange ich bleibe?«
»Nicht im Mindesten, Sir.«
»Erwarten Sie – ich meine, erwartet Mrs. Baverstock andere Gäste?«
»Keine, von denen ich wüsste«, sagte Willy.
Er hatte bis jetzt keine direkten Konfrontationen mit Iain Carbery gehabt. Obwohl er wusste, wie er Carbery einzuschätzen hatte, war er sich überhaupt nicht sicher, ob Carbery sich die Mühe gemacht hatte, ihn einzuschätzen. Um dieses Versäumnis zu korrigieren, hatte Willy den Mann aufgesucht.
»In diesem Fall«, sagte Iain Carbery, seine Hose zuknöpfend, »werde ich so lange hier sein, wie Mrs. Baverstock mich aufnehmen möchte.«
Odin hatte sich zu Thor gesellt, und das Paar war damit beschäftigt, die Wurzeln eines Stechginsterstrauches zu erforschen. Die Kaninchen, die McCallum bisher noch nicht geschossen oder gefangen hatte, waren weit fort und hatten außer bleibenden Gerüchen und gelegentlicher Losung nichts hinterlassen, um die Hunde neugierig zu machen. Willy warf einen Blick auf den feinen Nebel, aus dem die kleinen Felseninseln wie Klumpen von Pferdehaar aufzutauchen schienen. So zwanglos wie möglich sagte er: »Ich nehme an, Mr. Carbery, dass Sie sich wohl bewusst sind, was Mrs. Baverstock von einem Mann fordert, der vielleicht Ambitionen hat, ihr Ehemann zu werden?«
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, denn …«
Willy unterbrach ihn. »Die Wahrheit ist, dass ich das bin, was Mrs. Baverstock statt eines Wächters hat.«
»Wollen Sie mir vielleicht drohen?«
»Es steht mir nicht an, den Gästen der Mistress zu drohen.«
»Was dann? Eine Warnung?«
»Rat, Mr. Carbery, das ist es, was ich hoffe, Ihnen anbieten zu können.«
»Ich brauche keinen Rat von einem … einem Haushälter.«
»In diesem Fall«, sagte Willy, »möchte ich mich dafür entschuldigen, Ihre Waschung gestört zu haben, und mache mich auf den Weg.«
»Warten Sie.« Iain Carbery legte das Handtuch um seinen Hals und spreizte seine bloßen Füße wie ein Boxer. »Sagen Sie mir, Naismith, hat Mrs. Baverstock Sie hierher geschickt, um mich zu suchen? Gibt es etwas, das sie mir durch Sie mitzuteilen wünscht, weil sie zu sittsam ist, es mir ins Gesicht zu sagen?«
Der Gedanke, dass seine Herrin sittsam sei, brachte ein Lächeln auf Willys Lippen. Er war versucht zu sagen: »Nein, Mr. Carbery, ich bin kein weißhaariger Cupido.« Stattdessen verbarg er seine Belustigung, indem er seinen Bart strich und antwortete: »Mrs. Baverstock weiß weder, dass ich hier bin, noch hat sie mich geschickt. Lassen Sie mich Ihnen jedoch versichern, dass sie nicht übermäßig beunruhigt wäre, würde sie erfahren, dass wir ein Gespräch geführt haben.«
Carbery führte einen kleinen Tanz auf und wackelte ungeduldig mit seinem Hinterteil.
»Kommen Sie bitte zur Sache, Naismith.«
»Die Sache, Mr. Carbery, ist, dass Fetternish keine Goldgrube ist.«
Iain Carberys Brauen hoben sich, und der Büffelhornschnurrbart, der von Salzwasser glänzte, zuckte. »Ah! Ah-ha!«
»Der Wollmarkt …«
»Erzählen Sie mir nichts vom Zustand des Wollmarkts«, platzte Iain Carbery heraus. »Ich habe unter dem Rauf und Runter des Handels mehr als jeder andere gelitten, besonders was den Handel mit den verdammten Amerikanern und ihrer Manie für Zoll dem Wert entsprechend betrifft. Protektionismus? Ich wünsche diesem verdammten Protektionismus der Yankees die Pest an den Hals, wenn Sie mich fragen.«
Willy zögerte und sagte dann: »Darf ich das so verstehen, Mr. Carbery, dass Sie Investor in Wollwaren sind?«
»Natürlich bin ich das.«
»Darf ich fragen, Sir, in welche Waren speziell?«
»Wo immer Geld zu machen ist oder, sollte ich wohl sagen, Geld zu machen war. Stoffe für Damenmoden, zum Beispiel, hatten im vergangenen Jahr einen Umsatz von zwanzigtausend gemacht. In diesem Jahr bisher zweitausend. Oh, erstklassige amerikanische Schneider werden noch immer den Preis für eine bezaubernde Neuheit bezahlen, aber damit kann niemand überleben.«
»Weiß Mrs. Baverstock, was Sie tun?«
»Nun kommen Sie, Naismith, ein Gentleman diskutiert sein Geschäft nicht mit einer wunderschönen Frau – oder mit irgendeiner Frau, wenn ich darüber nachdenke.«
Irgendwie hatte Willy angenommen, Carbery sei ein Schwachkopf, dessen Konversationsvokabular auf gelegentliche Ausrufe von »Schieß, Junge, schieß« beschränkt sei. Er hatte auch vermutet, dass Carbery irgendeine Art von Privateinkünften habe, hatte aber geglaubt, dass diese die Form elterlicher Überweisungen hätten. Die Erwähnung von Wolle veranlasste Willys Ohren, sich zu spitzen, denn wenngleich er absolut nichts vom Scheren der Schafe verstehen mochte, so wusste er doch sehr viel darüber, wie man einen Wollerzeuger schröpft.
Er blickte wieder auf die See und entschied sich, dem Gast eine einzige Frage zu stellen, die in seinem Kopf laut schrie.
»Waren Sie je in Sangster, Mr. Carbery?«, fragte er.
»Sangster?«, sagte Carbery schnell. »Wo ist das?«
»Im Borderland«, sagte Willy.
»Ah, ja. Ich glaube, ich habe davon gehört«, sagte Iain Carbery. »Habe allerdings nie einen Fuß in das Haus gesetzt. Sorry.« Und Willy dachte: Du verdammter Lügner! Und fragte sich, warum die Baverstocks, Walter und Agnes, einen solch durchschaubaren Idioten ausgesucht hatten, um für sie die Dreckarbeit zu machen.
Innis hatte ihren Sohn und ihre Töchter in einem gesunden Respekt vor dem Glauben erzogen, der sie gefordert hatte. Sie hatte sie gelehrt, dass sie anders waren, aber nicht unbedingt besser als andere kleine Jungen und Mädchen, denn Innis zweifelte nicht daran, dass ihre Kinder bald mit Voreingenommenheit konfrontiert werden würden. Es gab zu viele Beweise dafür, wenn nicht im Großen so doch im Kleinen, um die Meinung zu rechtfertigen, dass die Menschen von Mull in Glaubensangelegenheiten tolerant seien. Die Handvoll Katholiken auf der Insel lebte weit verstreut, und sie kamen selten zusammen. Selbst die höchsten Feste wurden in kleinen Grüppchen zelebriert, wobei Pater Gunnion von einer Messe zur anderen trabte, bevor er im Hinterzimmer der heruntergewirtschafteten Pension der Inglis-Schwestern an dem Weg hinter dem Mishnish Hotel in Tobermory auf dem Bett zusammenbrach.
Innis beschloss, die Fahrt über das Land nach Glenarray zu machen, um die Messe in der abgeschiedenen Dorfhalle zu besuchen, in der sie ihre erste Unterweisung erhalten und in deren Wänden sie Michael geheiratet hatte. An einem Sonntag im Monat setzte sie ihre Kinder in den Wagen, den Biddy ihnen lieh, und fuhr mit ihnen durch die Hügel, manchmal mit, aber weit häufiger ohne Michael an ihrer Seite.
Innis empfand eine herzliche Zuneigung zu Pater Gunnion, und umgekehrt hatte Pater Gunnion eine besondere Zuneigung zu Innis Tarrant und ihren Kindern. Sie war seine einzige Konvertierte auf der Insel und nach seiner Meinung – die er natürlich für sich behielt – die bessere Hälfte des Ehepaares, da sie alle Gelübde erfüllt hatte, die der Ritus von ihr forderte, und ihre Liebe zu Gott im Laufe der Jahre immer größer geworden war. Bei Innis’ Ehemann war der Priester sich weniger sicher. Tarrant war eine mürrische Seele, zurückhaltend und verdrossen, der sein seltenes Erscheinen bei der Messe so gestaltete, als erweise er der Kirche damit einen Gefallen.
Im Pennymain Cottage gab es nur wenige Hinweise auf die religiöse Überzeugung des Haushaltes. Ein kleines, recht schlichtes Kruzifix stand auf dem Regal neben Innis’ Bett, ein mit Ebenholz gerahmtes Bild der Heiligen Mutter auf einem Brett über den Betten der Kinder. Und das war alles. Dann und wann, wenn sie das Cottage für sich allein hatte, entzündete Innis eine Kerze vor dem Bild der Heiligen Mutter und sprach einige besondere Gebete für die, die sie liebte, und sie gedachte immer dieses Wintertages vor einem Dutzend Jahren, an dem ihr Bruder Donald in der Bucht von Arkle ertrunken war.
Sie übertrieb das Beten nicht und betete selten für sich selbst. Durch gründliches Lesen der Heiligen Schrift wusste sie, dass sie keine Sünderin war, und dass das, was sie im Katholizismus gefunden hatte, mehr eine Quelle der Gnade war. Sie ging nicht aus Furcht zum Gottesdienst, sondern aus Dankbarkeit für all die Geschenke, die ihr zuteil geworden waren. Nur zu gern hätte sie geglaubt, dass Michael diese Veränderungen bewirkt hatte, dass er die Quelle ihrer Zufriedenheit war, aber sie wusste, dass dem nicht so war, und sie wollte sich nicht belügen, nicht einmal ein wenig.
So führte sie dieses Gefühl des Wohlergehens mit sich wie den Rosenkranz, der zusammengerollt in ihrer Tasche steckte, und erwartete nicht länger etwas von Michael, was er nicht geben konnte. Sie erwartete nicht mehr, dass er sie so willfährig liebte wie sie ihn, da sie jetzt wusste, dass er durch ein Gefühl von Verantwortung an sie gebunden war. Zumindest dafür achtete sie ihn und hielt bereitwillig ihren Teil des Eheversprechens ein.
Das heißt bis zu einem gewissen Sonntag im August im Jahre 1891.
Man hätte fürwahr ein mutiger Mann sein müssen, um Reverend Thomas Ewing zu sagen, dass er begann auszusehen wie das, was er war – ein typischer Geistlicher der Kirche von Schottland.
Zuerst würde er über die Andeutung, dass sein Äußeres zum Gesprächsthema geworden war, ärgerlich werden, dann aber würde er, da er einen forschenden Geist und eine analytische Wesensart hatte, eine präzise Definition des Wortes »typisch« verlangen, da es nach seiner Welterfahrung so etwas wie »typisch« nicht gab. Wahrscheinlich würde er beginnen zu erläutern, was für eine Torheit es sei, Menschen wegen dem, was sie waren oder taten, Etiketten auf die Stirn zu kleben, und vielleicht sogar hätte er sich in eine ausgereifte flammende Rede gegen pseudowissenschaftliche Systeme der Kategorisierung und der Gefahren der Anwendung solch gewagter Prinzipien auf jedweden individuellen Organismus, sei dieser nun Fisch, Huhn oder Geistlicher, hineingesteigert. Inzwischen wäre der unglückselige Ignorant, der diese Bemerkung von sich gegeben hatte, schleunigst die Main Street hinunter enteilt oder täte sein Bestes, um knallrot wie eine Tomate über die Mauer auf den Kirchhof zu gleiten.
Doch wie traurig es auch sein mochte, die Tatsache blieb, dass Reverend Tom Ewing, der jetzt auf die Fünfzig zuging, genau so aussah, wie jedermann sich einen Geistlichen der Kirche von Schottland vorstellt – vorausgesetzt natürlich, dass jedermanns Vorstellung eines Geistlichen der Kirche von Schottland durch einen halb vergessenen Blick auf ein Bild oder einen Kupferstich von John Knox geprägt wurde, jenen Göttlichen des 16. Jahrhunderts, der gegen die Tudors und die ungeheuerliche Herrschaft der Frauen gewettert und die arme, süße, tragische Maria Stuart halb zu Tode verhört hatte, alles im Namen der Reformation. Tom indes hätte sich beeilt, darauf zu verweisen, dass Knox auch eine exzellente Abhandlung über Vorherbestimmung verfasst hatte und ebenso das berühmte First Book of Discipline, das seitdem die ganze Richtung schottischer Erziehungstheorie beeinflusst hatte und noch immer ein Ideal präsentierte, das zu erstreben lohnt.
Wenn es indes ums Äußere ging, hatte Tom keine Chance. Sein mittleres Alter hatte ihn hager gemacht, er war ziemlich heruntergekommen, und wenn er feierlich gekleidet war, wirkte er fanatisch, so als ob all die Milch menschlicher Freundlichkeit, die einst durch seine Adern geflossen war, durch zu viele Enttäuschungen, als dass sie erwähnt werden könnten, geronnen war. Er ging jetzt nicht – er stelzte. Er predigte nicht – er eiferte. Tatsächlich schien er zum absoluten Inbegriff des schwermütigen Junggesellen geworden zu sein, der je ein Pfarrhaus auf dem Lande bewohnt hat oder mit eiserner Rute eine unbußfertige Highland-Gemeinde lenkte.
Die Wahrheit war, dass Toms Schäbigkeit weniger ein Zeichen von Selbstvernachlässigung war als von Abgearbeitetsein, was sich in ausfallendem Haar, abblätternder Haut, abgebrochenen Zähnen und Augenlicht manifestierte, das durch zu vieles Lesen ruiniert war. Mit anderen Worten: durch Altwerden. Seine Kritiker neigten auch dazu, zu vergessen, dass das Gehalt des Geistlichen der Gemeinde Crove kaum höher war als das Armengeld und die meisten Stücke im Kleiderschrank des Geistlichen, so wie der arme Bursche selbst, kurz davor waren, irreparabel zu sein. Und als ob all dieses Leiden, all dieses Elend noch nicht genug für ein Menschenleben wäre, so war Tom Ewing auch unglücklich verliebt gewesen, nicht einmal, sondern zweimal. Er hatte beide Campbell-Mädchen geliebt, obwohl sein Verlangen nach Biddy weniger durch das Herz, als durch einen anderen Teil seiner Anatomie ausgelöst worden war, und er hatte von Anfang an gewusst, dass er keine Chance hatte, sich die Witwe von Fetternish zu angeln. Aber das hatte ihn nicht daran gehindert, zu träumen.
Bevor er sich in Biddy vernarrt hatte, war er in Innis verliebt gewesen. Aber das war eine Liebe ganz anderer Art, etwas Zärtliches, Behutsames und Aufrichtiges. Er hatte nur deshalb darauf verzichtet, ihr einen Antrag zu machen, weil sie so viel jünger war als er, weshalb er das Gefühl hatte, er könne von ihr nicht mehr erwarten, als dass sie ihn als einen Freund betrachte. So hatte er Innis an einen mürrischen Neuankömmling verloren. Und dazu an die römisch-katholische Kirche, eine Konvertierung, durch die sie für ihn für immer unerreichbar war. Er sah Innis weiter von Zeit zu Zeit, aber nicht oft. Er hatte jetzt keinen Grund, Pennymain zu besuchen, und Ausflüge nach Fetternish fanden gewöhnlich auf Biddys Veranlassung statt, da sie beide Säulen der Gemeinde und verpflichtet waren, harmonisch zusammenzuarbeiten, trotz der Tatsache, dass er sich vor acht Jahren zum kompletten Idioten gemacht hatte, als er sie gebeten hatte, ihn zu heiraten.
An einem düsteren Novemberabend hatte sie bei Kerzenlicht auf dem Piano gespielt, ein kleines Wiegenlied von Brahms, Musik vom Blatt, das auf dem Brett ruhte. Feuerschein flackerte in dem großen, warmen Salon. Er hatte neben ihr gestanden und die Seiten gewendet, seinen üblichen Hurrikan von Verlangen reduziert auf eine rein ästhetische Würdigung ihrer Schönheit, so ruhig, so passend, so anständig, dass er sich plötzlich sagen hörte: »Bridget, wollen Sie mich heiraten?«
Einen oder zwei Momente lang hatte sie weitergespielt, dann aber stützte sie mit einem ziemlich heftigen, kleinen Plink einen Ellenbogen auf die Tasten, und es wurde kurz totenstill. »Was haben Sie gesagt?«
Er war so schockiert von seinem unüberlegten Heiratsantrag gewesen, dass er unfähig gewesen war, seinen Mund zu öffnen, ganz davon zu schweigen, die Frage zu wiederholen.
»Sagen Sie das noch einmal, Thomas.«
»Ich … ich möchte das lieber nicht.«
»Sagen Sie es noch einmal.«
»Es war ein Fehler, ein unüberlegter …«
»Möchten Sie mich küssen?«
»Nein.«
»Möchten Sie mich ins Bett nehmen?«
»Nein, ich …«
»Möchten Sie Ihre Kanzel aufgeben und Ihre Tage damit verbringen, mir zu helfen, Fetternish zu führen?«
»Bridget – Biddy, es tut mir leid. Ich weiß nicht, was über mich gekommen war.«
»Haben Sie es nicht ernst gemeint?«
»Ich denke … nun, ja, ich denke wohl. Aber nicht … nicht ernsthaft.«
»Gut«, hatte Biddy gesagt. »Denn wenn Sie es ernsthaft gemeint hätten, dann hätte ich mich verpflichtet gefühlt, über Ihren Heiratsantrag ernsthaft nachzudenken.«
»Wirklich?«
»Natürlich.« Sie hatte ihre Finger auf die Tasten gelegt, die Stelle im Stück wiedergefunden, an der sie abgebrochen hatte, und leise ein paar Takte der Melodie gespielt. »Ich habe immer die größte Achtung vor Ihnen gehabt, Thomas. Und es ist kein Geheimnis, dass ich einer Wiederverheiratung nicht abgeneigt bin – mit dem richtigen Mann.«
»Aber ich bin nicht der richtige Mann?«
»Vielleicht ist es etwas, das mehr mit mir zu tun hat, dass ich nicht die richtige Frau bin.« Sie hatte aufgehört, weiterzuspielen und sich umgedreht und ihm ihre Hand gereicht. Er hatte sie genommen und gehalten. »Ich bin ebenso wenig dazu geschaffen, die Frau eines Geistlichen zu sein, wie Sie dazu geschaffen sind, an meinen Mantelschößen über die Schafweiden zu ziehen.«
»Ich denke, das ist wahr.«
»Und überdies«, war Biddy fortgefahren, »haben Sie sich immer mehr zu meiner Schwester hingezogen gefühlt als zu mir.« Sie hatte seine Hand gedrückt. »Leugnen Sie es nicht, Tom. Es war offensichtlich, dass Sie in Innis verliebt waren und für sie alles getan hätten. Sogar in dem Maße«, wieder ein Druck, »dass Sie sie haben davonlaufen und einen Papisten heiraten lassen, ohne einen Finger zu heben, um das zu verhindern.«
»Ich bezweifle, dass ich das hätte verhindern können.«
»Warum haben Sie es nicht versucht?«
»Sie war zu jung, Biddy.«
»Unsinn! Innis ist nur ein oder zwei Jahre jünger als ich. Aber sei es, wie es sei, selbst wenn Sie nicht in Innis verliebt wären, könnte ich Sie nicht heiraten, Tom, aus dem einfachen Grunde, weil wir nicht zueinander passen. Nein: Das ist nicht das, was ich meine. Ich meine, dass Sie zu viel über mich wissen.«
»Oh, ich kenne Sie kaum.«
»Möchten Sie dann nicht mein Bett mit mir teilen?«
Von irgendwo, Gott weiß woher, hatte Tom plötzlich den Einfall bekommen, wie er sich aus der lächerlichen Situation ziehen konnte, in die er sich gebracht hatte. »Ganz gewiss würde ich gerne Ihr Bett teilen. Welcher Mann würde das nicht?«
»Sehen Sie?« Sie hatte geseufzt. »Das ist die Last, die ich zu tragen habe, begehrt, ohne geliebt zu werden.«
Die Unterströmung des Begehrens und die Würdigung ihrer Schönheit waren in ihm noch immer gegenwärtig, doch der Groll war verschwunden. Er hatte sich auf die Klavierbank gesetzt und ihre Hände ergriffen.
»Wollen Sie damit sagen, Biddy, dass Sie niemandem mehr vertrauen?«
»Das ist genau das, was ich sage.«
»Weil Austin in Ihren Armen gestorben ist? Weil Sie glauben, er habe Sie im Stich gelassen?«
»Nein, nein, nein. Weil ich zu viel Geld habe.«
Tom konnte ihre Verwirrung gut verstehen, weil ihr Wert als Frau reduziert war auf den Besitz von Land. Sie war ohne eigenen Fehler oder Wunsch mächtig geworden – und isoliert. Selbst er war unfähig gewesen, das, was er von ihr wollte, von dem zu trennen, was sie von ihm vielleicht benötigt hätte.
»Nun«, hatte er gesagt, »Sie können mir vertrauen.«
»Kann ich das?«
»Immer.«
»Und die Frage, die Sie mir gestellt haben?«
»Ist taktvoll zurückgezogen.«
Er hatte Biddy Baverstock die Frage nie wieder gestellt. Doch als Gerüchte über ihre Promiskuität zu kursieren begannen, beeilte er sich, sie zu verteidigen und ein Ideal von Weiblichkeit zu beschützen, das überhaupt kein Ideal war. Er verlangte dafür keine Gegenleistung außer ihrer Freundschaft und was immer sie sonst durch ihn der Kirche und der Gemeinde zu geben bereit war. Er blieb ebenso ein bisschen in Biddy verliebt, wie er in Innis verliebt blieb, und hatte nie eine andere Frau kennengelernt, die mit Vassie Campbells Töchtern vergleichbar war. So wurde er älter und lebte allein in dem Pfarrhaus am unteren Ende der Main Street und hatte nur Mrs. McCorkindale, die jeden Tag vorbeikam, um sich um seine Bedürfnisse zu kümmern. Er hatte nicht viel, worauf er sich freuen konnte, außer an dem Tag, als irgendein Ignorant auf der Straße zu ihm kam und ihm erzählte, dass er wie ein typischer Geistlicher aussähe und so schlagartig bloße Verschrobenheit zu Streitsucht wurde.
Dann, an einem Sabbatnachmittag Mitte August im Jahre 1891, zwischen dem Ende der Sonntagsschule und der Vorbereitung des Abendgottesdienstes, blickte Tom von dem Buch auf, das er auf einer Bank im Garten des Pfarrhauses las, und sah Innis Tarrant am Tor und hinter ihr, auf dem Dogcart von Fetternish wie eine kleine Affentruppe gestapelt, fünf oder sechs Kinder und in ihrer Mitte einen Fremden, dessen Ankunft ihrer aller Leben für immer verändern sollte.
Wäre Michael bei ihr gewesen, wäre es nie passiert. Er würde sofort geahnt haben, was sie im Sinn hatte. Er würde die Zügel übernommen haben und das Pferd – ein kräftiges Tier, eines von Biddys besten – an den zerlumpten Kerlen, die hintereinander am Wegesrand liefen, vorbeigetrieben haben.
»Zu viele«, würde Michael gesagt haben. »Zu viele, als dass Biddys Pferd sie ziehen könnte«, und er hätte die kleine Kolonne mühsam durch die schwüle Hitze weiterstapfen lassen, ohne ihnen auch nur zuzuwinken oder ihnen grüßend zuzunicken.
Natürlich waren es Fremde, ganz offensichtlich Fremde, und Michael hätte mit Fremden nichts zu tun haben wollen. Aber Michael war nicht bei ihr, und die Mädchen, wenn auch nicht Gavin, schienen ihr Bedürfnis, mildtätig zu sein, zu verstehen.
»Schau, Mammy, schau.«
Der Weg nach Glenarray war weiß von Staub. Er schlängelte sich wie verschüttete Milch durch Heide und Farn vorbei an den großen, grauen Formen eiszeitlicher Felsen bis zu dem Fries von Kiefern, der vor einem Himmel aufragte, der die Farbe roher Baumwolle hatte. Die Luft pochte unter dem Summen von Insekten. Die schwarzen Rinder und die Blackface-Schafe, die auf den offenen Hängen weideten, schienen durch die drückende Hitze dem Erdboden gleichgemacht zu sein, und nichts schien sich zu bewegen, außer den drei oder vier Bussarden, die träge hoch über dem Sattel des Passes kreisten.
»Wer sind die, Mammy?«
Die Mädchen standen an dem Brett auf Innis’ Seite und hielten sich an dem eisernen Handlauf fest. Gavin war hinter ihnen, stand ebenfalls, hatte seine Hände ausgestreckt, um sich zu halten, während der Wagen über den unebenen Boden hoppelte.
»Kesselflicker«, sagte Gavin. »Einfach Kesselflicker. Beachte sie nicht.«
Aber Innis zügelte bereits das Pferd, nahm sein Tempo zurück vom Trab zum Schritt, zu weniger als Schritt.
Die Kesselflicker traten nacheinander zurück in den Straßengraben oder auf den Hügel hinter dem Straßengraben und beobachteten aufmerksam das Nahen des Wagens.
Es waren fünf: drei Kinder, eine junge Frau und ein Mann. Jeder von ihnen trug ein wurstförmiges Bündel auf den Rücken gebunden, selbst die Kleinste, die nicht viel älter als Rachel sein konnte. Sie war ein kleines, rundgesichtiges Geschöpf, fast verborgen unter einem Männerhut, einem weichen, breitkrempigen Filz, der zerrissen und durchlöchert und unter ihrem Kinn mit einer Schnur befestigt war. Sie führte ein Hündchen an einer Leine, einen kurzbeinigen, dicklichen Bastard, der beim Nahen des Wagens winselte und, noch zu jung oder zu schwach, um behände zu sein, sich drehte und zappelte, um Schutz hinter dem Rocksaum des kleinen Mädchens zu finden.
Dann der Junge. Sieben oder acht Jahre alt, nur mit einer Weste und Tweedhosen bekleidet, die an den Knien abgeschnitten waren. Ein schmächtiger, blasshäutiger Junge, der Innis an ihren Cousin Quig erinnerte, nur war dieses Kind mager, und seine Augen und sein Lächeln waren fiebrig und gierig. Dann ein Mädchen, um die zehn, in einem verschossenen Baumwollkleid, die zerknitterte Strohhaube hübsch mit wilden Blumen geschmückt, und ihr langes, blondes Haar fiel wie eine Kaskade von Sand über ihre schmalen Schultern. Dann die junge Frau, älter als die anderen, aber nicht viel, rappeldürr, barhäuptig und barfüßig, eine Schulter unbeholfen hochgezogen, um das Gewicht ihres Bündels zu balancieren. Und dann der Mann.
Er trug einen schäbigen, schwarzen Anzug und hatte die Jacke über eine Schulter gehängt. Sein kragenloses Hemd klebte durchgeschwitzt an seinen Rippen. Er war barfüßig wie die anderen. Eine kleine, hautscherenförmige Brille saß bedenklich unsicher auf seiner Nase, und er tippte von Zeit zu Zeit dagegen, um sie am Runterrutschen zu hindern, tippte mit seinem Unterarm, nicht mit dem Finger, da er zwei Bündel trug, nicht auf seinem Rücken, wie ein Lastenträger, sondern eines in jeder Hand wie eine Waschfrau. Wie der Junge lächelte er Innis an, als der Wagen auf seiner Höhe war, aber sein Lächeln war nicht fiebrig, nicht darauf aus, zu gefallen, einfach nur offen und freundlich und nichts verlangend.
Innis zog die Zügel an und hielt.
»Mutter!«, zischte Gavin in ihr Ohr.
Innis ignorierte ihn. Rachel und Rebecca drängten sich an sie und starrten mit unverhohlenem Interesse auf die Fremden.
»Guten Tag, Ma’am«, sagte der Mann. »Ein wirklich heißer Tag, nicht wahr?«
»So ist es«, sagte Innis. »Haben Sie es weit, Sie und Ihre Familie?«
Sie redete ihn auf Englisch an, da sie annahm, dass der Fremde mit Gälisch nicht vertraut war. Aber sie stieg nicht vom Kutschbock. Sie hatte Geschichten von plündernden Banden gehört und von Gewalttaten, die an Reisenden verübt worden waren. Dann dachte sie nach. Auf Mull? Ein erwachsener Mann und Kinder? Und weil ihre Ängste so offensichtlich blöde waren, lächelte sie.
»Ja, noch ein recht weites Stück«, antwortete der Mann. »Aber wir haben genug zu essen, und das Wetter scheint sich noch für ein oder zwei Tage zu halten, weshalb es für uns keine Härte bedeuten wird, die Nacht draußen zu verbringen.«
Innis bemerkte, dass sie sich nicht um den Mann geschart hatten, sondern hintereinander längs dem Wegesrand wie ein kleines Bataillon der Miliz blieben, das sich noch nicht ganz formiert hatte, aber bereit war, jeden Augenblick loszumarschieren. Selbst das kurzbeinige Hündchen schien bereit, noch eine oder zwei Meilen vor Anbruch der Dämmerung zu schaffen, stand aufrecht neben den Beinen des kleinen Mädchens und schmiegte sich an sie, nicht winselnd, sondern leise aus tiefer Kehle knurrend.
»Wir fahren nach Dervaig, falls dies Ihre Richtung ist?«, sagte Innis.
Gavin presste sich an die Schultern seiner Mutter, steckte sein Gesicht zwischen die Köpfe seiner Schwestern und flüsterte: »Nein.«
»Ist es, ist es«, sagte der Mann.
»Ich kann nicht alle auf den Wagen nehmen«, sagte Innis, »da das Pferd den langen Weg hoch zum Pass nicht schaffen wird. Aber ich kann das Gepäck nehmen, wenn es nicht zu schwer ist, und die Kleinen. Mein Sohn …«
»Nein!«, zischte Gavin.
»… mein Sohn, Gavin, wird mit Ihnen laufen.«
»Wie weit ist es bis Dervaig?«
»Etwa sechs Meilen.«
»Ich habe nicht die Absicht, aufdringlich zu sein, aber … ja, es wäre wirklich eine große Hilfe für uns, wenn Sie bereit wären, das Gepäck und die kleinen Kinder mitzunehmen. Der Junge«, er nickte mit dem Kopf zu ihm, »ist im Laufen nicht so sicher wie wir anderen, und wie Sie sehen können, hat mein kleines Mädchen – Evie – nicht sehr kräftige Beine.«
»Und Sie, sind Sie nicht erschöpft?«
»Ich nicht. Wenn ich vom Gepäck befreit bin, bin ich für den Rest des Tages noch gut.«
»Mutter«, sagte Gavin wieder mit verhaltener Stimme, »was machst du denn?«
»Eine Freundlichkeit«, erklärte Rachel ihm. »Ist das nicht richtig, Mammy?«
»Das ist richtig, Liebes«, sagte Innis. Dann, zu dem Kesselflicker: »Laden Sie das Gepäck und so viele Kinder wie Sie können auf, und dann machen wir uns auf den Weg. Gavin.«
»Ja.« Erkennend, dass Einwände vergebens waren, sprang Gavin über die Haltestange und trottete verdrossen über den Weg weiter, während die Kinder des Kesselflickers eifrig auf den Wagen von Fetternish stiegen.