10. Das höhere Wissen

Nachdem die Gefahr erst einmal vorbei war und klar wurde, dass Vassie die meisten Fähigkeiten wiedererlangen würde, brachte ihre Genesung eine gewisse Ruhe nach Fetternish.

Die Tage wurden durch die Bedürfnisse der Kranken bestimmt, und das stille Zimmer am Ende des Korridors in der ersten Etage wurde für Innis wie für Biddy zu einem Zufluchtsort vor der Flut von Veränderungen, die um sie zu steigen schien. Da der Jahreswechsel unmittelbar bevorstand, gab es in dem großen Haus ein Gefühl von Optimismus und eine Nähe zwischen den Schwestern, die nie zuvor existiert hatte. Es war eigenartig, dass diese kurze Gehirnblutung bei ihrer Mutter ihnen mit so schrecklicher Klarheit die Grenze zwischen Leben und Tod aufgezeigt hatte, zwischen Zukunft und Vergangenheit, und sie dazu bewegte, über sich und ihr Leben viel intensiver nachzudenken.

Anfangs war Vassie sich über den Ernst ihres Zustandes nicht bewusst. Sie lag ruhig und sauber in dem weißen Bett und lächelte ihre Töchter an, Donnie, Maggie und Willy, Mr. Ewing, jeden, der in das Zimmer kam, um eine Stunde bei ihr zu sitzen. Sie lächelte sogar Dr. Kirkhope an und zwinkerte ihm zu, wenn er ihren Blutdruck maß und ihre Pupillen untersuchte und sie nach einer Woche ermutigte, sich aufzusetzen und dann, wiewohl mit Hilfe, zu stehen und ihren Gleichgewichtssinn zu testen. Sie schlief sehr viel und friedlich, sprach jedoch nicht mit den Menschen, die sie besuchten, oder denen, die sie versorgten, und schien auch überhaupt keine Verbindung zu ihnen zu haben. Und wenn sie gefragt wurde, woran sie sich von »ihrem Unfall« erinnere, lächelte sie nur und schüttelte den Kopf.

Vassies Sanftmut war so unwirklich wie die Lücke, die ihre Krankheit im Hinblick auf alles, was Fetternish betraf, verursacht hatte. Es war, wie die Mädchen folgerten, einfach eine Form von Vergessen, ein totales, unbeabsichtigtes Abstreifen der Vergangenheit. Jede Erinnerung daran, wer sie war und was sie getan hatte, war durch den Druck des Blutes auf ihre Hirnzellen ausgelöscht worden, alle Bitterkeit, aller Hass, jedes Gefühl von Verantwortung ausradiert. Sie war endlich angenehm und fügsam geworden, durch ein kleines Stück gequetschten Gewebes befreit von dem Hass auf sich selbst, der ihren Charakter über all die Jahre verdorben und ihre Streitlust geschürt hatte.

Sie war nicht übersinnlich wie Aileen. Sie halluzinierte nicht wie Ronan. Obwohl sie nicht kommunizieren konnte, schien sie vage zu wissen, wer jeder war, und es hatte den Eindruck, als könnte sie, hätte sie es gewollt, die Frage stellen: »Wo ist Ronan? Wer kümmert sich um Ronan?« Aber sie stellte diese Frage nicht, sprach seinen Namen nicht aus und schien endlich alle Verantwortung für das Wohlergehen ihres Mannes abgelegt zu haben.

»Sollen wir es ihr nicht erzählen?«, fragte Innis.

»Ihr was erzählen?«, sagte Biddy.

»Dass mit Dada alles in Ordnung ist. Dass wir uns um ihn kümmern.«

»Wenn sie es wissen wollte, würde sie gefragt haben.«

»Sie hat nach nichts und niemandem gefragt«, sagte Innis.

»Vielleicht ist dies der Grund, warum sie ist, wie sie ist«, sagte Biddy.

»Was meinst du damit?«

»Glücklich«, sagte Biddy.

»Ist sie glücklich?«, fragte Innis.

»Natürlich ist sie das«, sagte Biddy. »Sie muss sich um nichts kümmern, außer darum wieder gesund zu werden. Sie weiß, dass ich … dass wir uns um sie kümmern werden. Ich denke sie hat sich dem Unausweichlichen gefügt und genießt das Gefühl.«

»Aber sie ist krank, Biddy.«

»Nein, sie gesundet.«

»Und wenn sie wieder gesund ist, wird dann alles zurückkommen?«, sagte Innis. »Ist das der Preis, den sie für eine völlige Genesung zu zahlen hat?«

»Nicht wenn ich es verhindern kann«, sagte Biddy.

»Und wie kannst du es verhindern?«

»Indem ich sie hier bei mir behalte.«

»Was, wenn sie das nicht will? Was, wenn sie zurückkehren will?«

»Zu was denn?«, sagte Biddy. »Wenn Mam soweit ist, dass sie überhaupt irgendwohin gehen kann, wird von ihrem alten Leben nichts mehr übrig geblieben sein.«

»Du kannst Pennypol ohne ihre Erlaubnis nicht verkaufen.«

»Nein, aber als Besitzerin des Pachtgrundstückes kann ich dafür sorgen, dass es angemessen verwaltet wird.«

»Quig?«, sagte Innis.

»Ja, Quig. Das war doch deine großartige Idee, oder?«

»Wird er das tun?«

»Er wäre ein Narr, wenn er’s nicht täte.«

»Und Dada?«

»Ja«, sagte Biddy. »Ja, Dada ist das einzige Haar in der Suppe. Wir können von Quig nicht erwarten, dass er sich auch um ihn kümmert.«

»Oder dass Aileen wieder im selben Hause mit ihm wohnt.«

»Das ist wahr«, sagte Biddy.

»Was sollen wir tun?«

»Ihn loswerden«, sagte Biddy. »Ihn ein für alle Male loswerden.«

Biddys Geheimnis blieb nicht lange ein Geheimnis. Obwohl sie darauf vertraute, dass Margaret den Mund halten würde, beschloss Biddy, ihrer Schwester den Grund für ihren Besuch in Edinburgh und sein überraschendes Ergebnis zu erzählen. Innis informierte natürlich pflichtschuldig Michael, und binnen eines oder zweier Tage hatte die Nachricht die Runde gemacht, dass Mrs. Baverstock von einem berühmten Arzt in Edinburgh untersucht worden war, der einst die Königin höchstpersönlich behandelt hatte.

Die Ehre, die den guten Leuten von Fetternish durch diese dünne königliche Verbindung erwiesen wurde, minderte das Interesse daran, weshalb eigentlich genau Biddy zur Konsultation zu dem hervorragenden Arzt gefahren war. Allgemein war man der Auffassung, und dies wurde verhalten, doch keineswegs ohne Mitgefühl gesagt, dass sie unter »einem Frauenproblem« litt, das mit ihrem Alter und ihrem Hang, mit Neuankömmlingen zu verkehren, zu tun hatte. Eine Vermutung, die näher an der Wahrheit lag, als selbst die leidenschaftlichsten Klatschmäuler für möglich gehalten hätten.

»Mir fehlt absolut nichts«, erzählte Biddy Innis drei oder vier Tage nach ihrer Rückkehr nach Fetternish und nachdem sich ihr Schock, ihre Mutter so krank vorzufinden, ein wenig gelegt hatte. »Dem besten Arzt des Landes zufolge bin ich ebenso gesund wie du, um Kinder zu bekommen.«

»Warum hat sie dann keine geboren?«, hatte Michael gefragt, als Innis die Information weitergab. »Vielleicht hat sie keinen Mann gefunden, der sie anständig bedienen kann. Gott weiß, dass sie sich in den letzten Jahren hart genug bemüht hat.«

»Michael!«

»Aber es ist doch wahr! Glaubst du vielleicht, sie hätte diese Fremden nur deshalb in ihrem Haus beherbergt, weil sie so wild aufs Jagen ist?«

»Michael, du solltest das nicht über meine Schwester sagen.«

»Jetzt, wo sie sich hat begrapschen und gründlich untersuchen lassen und ihr bestätigt worden ist, dass sie völlig gesund ist, wird deine Schwester einen Mann suchen, der bereits bewiesen hat, dass er Kinder zeugen kann.«

»Warum sagst du all diese Dinge, Michael?«

»Weil es eine klare Tatsache ist. Biddy weiß, dass ihre Fortpflanzungszeit bald vorüber sein wird und dass Fetternish auf einen Erben wartet. Sie wird nicht wollen, dass ihr kostbares Gut in andere Hände fällt.«

»Andere Hände?«

»Zum Beispiel an Gavin.«

»Wenn sie es irgendwem vermacht, dann wird es viel wahrscheinlicher Donnie sein.«

»Sieh dir doch an, was für ein Durcheinander dein Großvater mit seinem Testament angerichtet hat«, sagte Michael. »Nein, auf lange Sicht gesehen ist es besser, wenn Biddy einen Mann findet, der zu ihr passt.«

»Einen wie dich, meinst du?«

»Ja.« Er zögerte und grinste affektiert. »Ich sage dir, dass ich da wirklich gute Arbeit leisten könnte, wenn ich nicht anderweitig behindert wäre.«

»Behindert?«

»Ich habe bereits eine Familie, ich habe bereits eine Frau. Wir sprechen über deine Schwester, Innis, nicht über mich – was das betrifft.«

»Vielleicht hättest du Biddy heiraten sollen, als du die Gelegenheit hattest.«

»Biddy wollte mich nicht haben, weil ich Katholik bin. Aber du«, er grinste wieder affektiert, »warst weniger pingelig und viel entschlossener. Vor dir, Innis, gab es kein Entkommen mehr, als du mich in deinen Klauen hattest.«

Er hatte nie zuvor seine Enttäuschung so offen zum Ausdruck gebracht, obwohl sein leiser Vorwurf seit sechs oder acht Jahren zwischen ihnen stand, dass sie ihn irgendwie um die Möglichkeit betrogen hatte, sich zu verbessern. Sie wusste einfach nicht mehr, was Michael wollte, was er von ihr erwartete. Jahrelang hatte sie demütig alle Schuld für das Nachlassen ihrer Gefühle füreinander auf sich genommen, für den Verlust des Bandes, das sie zusammengebracht hatte, was immer dies auch sein mochte. Sie konnte jedoch vernünftigerweise nicht leugnen, dass sie sich in ihn verliebt und alles daran gesetzt hatte, ihn Biddy auszuspannen. Sie wusste, dass er Biddys erster Liebhaber gewesen war und dass sie sich, wie sehr sie sich auch bemühte, nie ganz von dem Verdacht lösen konnte, dass sie im Vergleich zu ihrer Schwester schlechter dastand und dass Michael, hätte er noch einmal die Gelegenheit, Biddy und nicht sie zur Frau nehmen würde.

Sie hatte jedoch durch diesen Egoismus gewonnen, hatte unglaublich viel durch ihren Übertritt in die römisch-katholische Kirche gewonnen, deren Gelübde und Sakramente ihr Leben auf eine Art bereicherten, die sich nicht einmal Michael vorstellen konnte. Und dies hatte irgendwie ihren anfänglichen Selbstbetrug gerechtfertigt, um Michael zu einer Ehe zu zwingen, zu glauben, dass er sie einmal so lieben würde, wie sie ihn liebte. In dieser Hinsicht hatte sie sich geirrt, war dumm gewesen, da weder Gebet noch Bestrafung eine Änderung im Herzen von Michael Tarrant bewirken konnten, der ihr, wie sie jetzt erkannte, ihre Liebe von Anfang an übelgenommen hatte.

Wenn er über Biddy, die er liebte und immer geliebt hatte, so gefühllos sprechen konnte, als sei sie ein Zuchtschaf, wie mochte er dann über sie denken, eine Frau, die ihn zur Ehe verleitet hatte und der er nichts als Verantwortung schuldig war? Liebevoll jedenfalls ganz sicher nicht.

»Willst du sie noch immer?«, fragte Innis ruhig.

»Ob ich sie will oder nicht ist unwichtig«, sagte Michael. »Ich kann sie nicht haben, und damit basta. Aber es gibt hier andere Männer, die sie haben wollen und die sie haben können, und ich sage nur, dass sie besser damit beraten wäre, einen von ihnen zu nehmen statt einen Fremden vom Festland, der die Kontrolle über Fetternish übernehmen würde, während Biddy damit beschäftigt ist, ihre Kinder zu stillen.«

»Wen«, sagte Innis, den Kopf über seine Gefühllosigkeit schüttelnd, »wen würdest du denn als Ersatz für dich geeignet finden? Tom Ewing?«

»Ha! Der Pfarrer würde ja nicht einmal wissen, was er mit Biddy anfangen sollte. Und außerdem ist er viel zu alt und verknöchert, um es mit ihr aufnehmen zu können.«

»Wer dann?«

»Wie wär’s mit dem Schulmeister?«, sagte Michael. »Wie wär’s mit dem berühmten Mr. Gillies Brown? Wäre er nicht ein idealer Ehemann für Biddy?«

»Wäre er das?«

»Ich bin sicher, dass er es gerne versuchen würde«, sagte Michael. »Ich bin sicher, dass er seine Vorteile sehen würde und die für seine Familie, wenn er eine Frau heiratete, die ein großes Haus besitzt und seine Zukunft sichern würde. Er würde weiter Schulmeister sein, und Biddy würde Fetternish genauso weiterführen, wie sie’s immer getan hat.«

»Und was hätte Biddy davon?«

»Sprösslinge, Kinder, Babys.« Michaels Stimme war wieder ausdruckslos geworden. In seinem Tonfall war nichts Neckendes mehr, keine Spur von Humor. Er stellte sie auf die Probe. »Ja, Brown ist ein recht kräftiger Widder, denke ich, und er würde wohl recht zuverlässig sein, wenn’s ums Decken geht. Er hat ja eine recht gewaltige Nachkommenschaft gezeugt, um das zu beweisen, oder? Gar nicht auszudenken, wie viele noch aus seinem Stängel gekommen wären, wäre seine arme Frau nicht zur ewigen Ruhe abberufen worden.«

»Aber … aber sie liebt ihn nicht«, sagte Innis und bedauerte das sofort.

»Liebe?«, sagte Michael. »Hat das noch etwas mit Liebe zu tun? Woher weißt du, dass sie ihn nicht liebt oder ihn nicht irgendwann lieben wird? Willst du, Innis, sagen, dass der berühmte Mr. Gillies Brown Biddy nicht liebt?«

»Ich … ich habe nicht …«

»Er müsste wirklich leicht verrückt sein, wenn er nicht mit ihr schlafen wollte.«

»Michael, bitte lass …«

»Es sei denn, es gäbe eine andere, mit der er lieber schlafen würde.«

»Ich weiß nicht, was Gillies will.«

»Das weißt du nicht?«, sagte Michael.

»Nein. Nein. Das weiß ich nicht.«

»Dann will er vielleicht Biddy? Vielleicht will er nichts anderes, als deine Schwester in seinem Bett zu haben und seine Familie behaglich in ihrem Haus unterzubringen.«

»So ein Mann ist das nicht.«

»Was meinst du damit?«

»Berechnend«, sagte Innis.

»Glaubst du, er würde keinen Plan haben, um zu bekommen, was er haben will?«, sagte Michael. »Was immer das auch sein mag. Ich meine, glaubst du, dass du durchschauen könntest, was er will, ein so kluger Mann? Ich meine, wenn er zum Beispiel dich wollte, denkst du, dass du imstande wärst, zu durchschauen, was er will, und dich dem widersetzen?«

»Ich dachte, wir würden über Biddys Zukunft reden und nicht über meine.«

»Du hast recht, Innis. Wie immer recht. Es ist Biddys Zukunft, über die wir uns Gedanken machen sollten, nicht deine. Deine Zukunft ist klar. Deine Zukunft ist hier bei mir, bei deinem Mann und den Kindern und dem Schicksal, das du dir selbst bereitet hast. Und«, er hob einen Zeigefinger und richtete ihn auf sie, »vergiss auch das nie. Vergiss nie, dass du nicht der Maßstab für deine Schwester bist und niemals gewesen bist.«

»Denkst du wirklich, dass ich so bin, Michael?«

»Es geht nicht um das, was ich denke.«

»Nein. Nein. Ich nehme nicht an, dass es darum geht«, sagte Innis und stand dann auf, um zu Bett zu gehen, weil er sie für einen Abend genug verletzt hatte.

Es war ein nasskalter, unwirtlicher Morgen kurz vor dem kürzesten Tag des Jahres. Allein die Kälte des Windes verhinderte, dass es regnete, die See tobte zornig, und die winterliche Gezeitenflut stieg hoch. An diesem Morgen schien die See unmittelbar vor seiner Tür zu liegen, sodass er sich fast auf eine Art vor ihr fürchtete, wie er sich nie zuvor vor ihr gefürchtet hatte.

Ihr Anblick machte ihn besorgt, und fliegende Gischt, vom heftigen Wind getragen, kam über den neuen Kuhstall gewirbelt und wandelte sich zu kleinen Salzklecksen, die die Erde des Kartoffelackers befleckten und die gucklochartigen Fenster des Cottages verdunkelten. Er urinierte eilig an der Giebelwand, verzog sich seitwärts gehend wieder ins Haus, schloss die rappelnde Tür mit einer Schulter und verriegelte sie.

Er sah sich hilflos in der Küche um. Zwei volle Flaschen Old Caledonia waren auf den Tisch gestellt worden, doch er hatte noch eine halbe Flasche vom vergangenen Abend übrig, und er würde die heutige Tagesration nicht anrühren müssen, bevor jemand kam, um ihm etwas zu essen zu bringen.

Der Mann, Innis’ Mann, war gestern Abend gekommen und hatte für ihn die Kohle aus dem Haufen geholt und Torf hereingebracht. Torf und Kohle waren an der Wand unter der Leiter, die zum Dachboden führte, geschichtet, und er brauchte nichts weiter zu tun, als die Hand danach auszustrecken. Ihm war so kalt gewesen, dass er das getan hatte, um das Feuer am Brennen zu halten. Der Mann hatte ihm einen Napf mit Eintopf gebracht, in dem drei oder vier Kartoffeln herumschwammen, hatte das Gericht in einen Topf geschüttet, es für ihn auf dem Feuer erhitzt, es in eine Schüssel gegeben und die Schüssel und einen Löffel auf den Tisch gestellt. Dann war er wieder gegangen. Er hatte sich dazu aufgerafft, etwas von dem Eintopf zu essen. Was er nicht gegessen hatte, war noch immer in der Schüssel, erkaltet unter einer Schicht Hammelfett. Er war hungrig. Sein Bauch und seine Eingeweide schmerzten. Falls innerhalb einer Stunde niemand kam, um ihm etwas zu essen zu bringen, würde er den Rest des alten Eintopfes essen.

Er stand in der Küche, dachte darüber nach, was er tun würde und in welcher Reihenfolge er es tun würde. Er konnte den Wind in dem leeren Dachboden kreischen hören und das Geheul der Hunde, die ebenfalls hungrig waren. Es waren nicht seine Hunde. Es waren Hütehunde, Vassies Hunde. Sie würden erst wieder Ruhe geben, wenn sie zurückkam, um sich um sie zu kümmern. Seine Füße und Beine waren kalt. Er nahm die halbleere Flasche vorsichtig aus dem Geschirrschrank, in dem er sie versteckt hatte. Er musste vorsichtig mit seinem Schnaps umgehen. Er konnte nicht sicher sein, dass jemand kommen würde, um ihn zu versorgen, und wenn er eine der Flaschen zerbrach oder verlor, würde er bei diesem schrecklichen Wetter hinausgehen und versuchen müssen, über den Kamm zu Innis’ Haus zu kommen oder zu Biddys Haus, wohin sie Vassie gebracht hatten.

Wenn er jedoch vorsichtig mit dem Whisky umging, würde er die nächsten zwei oder drei Tage nicht hinausgehen müssen, selbst wenn sie ihn vergaßen.

In dem großen Eimer war frisches Wasser, und er hatte ihm gestern Abend einen Tee aufgebrüht und etwas Whisky in den Tee gegeben, und dazu Zucker. Der Zucker würde ihm nicht ausgehen, nicht wenn er vorsichtig war. Der Tee war wärmend gewesen, sehr wärmend. Er hatte sogar ein bisschen geschwitzt, nachdem er ihn getrunken hatte. Und er hatte verschwitzt neben dem Kamin gelegen, den Kopf auf einem Arm, und wäre dort die ganze Nacht liegen geblieben, wären die Kerzen nicht ausgegangen.

Er mochte das Geräusch des Wintermorgens nicht, das Geräusch der winterlichen See. Er mochte nicht, dass Vassie fort war. Aber er war dennoch ein geduldiger Mann. Er war immer für seine Geduld bekannt gewesen. Er würde sich dahin legen, wo sie ihn untergebracht hatten, würde da bleiben, wo er sicher war, bis Vassie zurückkam, um sich um ihn zu kümmern. Vassie würde dafür sorgen, dass das Geräusch der See verschwand.

Er ließ die Flaschen auf dem Tisch stehen, wo er sie sehen konnte. Er lehnte sich an die Wand unter die Leiter zum Dachboden, wo er sich sicher fühlte. Er setzte sich und lehnte sich an den Torf. Den Geruch des Torfes mochte er noch immer. Er streckte die Füße dem Feuer zu, verschränkte die Hände über der Brust und wiegte sich unaufhörlich hin und her, versuchte, das Stechen in seinem Bauch und seinen Hunger zu mindern. Wenn er einen Schluck nahm, würde der Hunger weggehen. Wenn er jetzt einen Schluck nahm und niemand kam, um sich um ihn zu kümmern … Er konnte die See an der Tür rütteln, wie eine große, wütende Faust gegen die Tür schlagen hören.

»Roooooo-nan«, schien sie ihn anzubrüllen. »Rooooo-nan!«

»Geh weg!«, schrie er. Schreien machte ihn benommen. »Ich war es nicht. Ich habe dir nichts getan. Ich habe dir nichts weggenommen.«

»Roooo-nan. Roooo-nan. Roooo-nan. Bist du da drin?«

»Geh weg. Geh weg.«

»In Gottes Namen, Ronan. Machst du wohl endlich diese verdammte Tür auf?«

»Vassie wird zurückkommen. Lass dich lieber nicht von Vassie erwischen. Ich werde Vassie von dir erzählen, und dann wird sie sich dich vornehmen.« Er ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch auf allen Vieren an dem Herd vorbei, um sich unter dem Tisch zu verstecken. »Weißt du nicht, dass dies Vassie Campbells Haus ist? Sie wird wiederkommen, das sage ich dir. Sie wird wiederkommen. Sie – wird – wieder – kommen.«

Der Schmerz in seinem Bauch und seinen Eingeweiden wurde unerträglich. Sein Kopf schmerzte als Folge seines Geschreis. Als er versuchte, sich an der Wand aufzurichten, wollten ihm seine Beine nicht gehorchen. Es gelang ihm, sich hinzuknien, und er entleerte sich, auf die Knöchel einer Hand gestützt. Er konnte das nicht verhindern. Es war nicht seine Schuld. Alles war Vassies Schuld, weil sie nicht da war.

Er stieß einen langen Schrei aus, halb vor Schmerzen, halb vor Erleichterung.

Es rüttelte an der Tür.

Er sah einen Strich salzig-weißen Tageslichts. Im Türspalt sah er ein weißes Ding, einem Wurm ähnlich. Er hörte Stimmen, das Klicken des Riegels. Dann sprang die Tür auf. Er setzte sich auf den Schmutz, der seine Hose hinten ausbeulte, zurück und keuchte.

Da war ein Mann mit einem Wesen in den Armen. Hinter ihm eine Frau.

Er sah, dass der Mann mit dem Wesen in den Armen sich abwandte.

Die Frau kam näher. Sie sah gegen das Tageslicht dunkel aus, war eine Fremde, die nicht ganz eine Fremde war. Sie hatte einen Hut auf dem Kopf, und ihr Haar war verwirrt wie Aale in einem Netz. Sie trug Ohrringe aus feinem Golddraht und Ringe an den Fingern jeder Hand. Sie trug ein Seidenkleid und braune Stiefel und einen Schal, der mit Quasten verziert war, so bunt wie ein Pfauenschwanz. An ihrer Brust trug sie eine goldene Brosche, so groß wie eine Kammmuschelschale.

Sie stand hoch aufgerichtet über ihm und verzog angewidert ihre bemalten Lippen.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte sie. »Nein. Das nicht.«

»Geh mit Aileen hinaus, Mam. Ich werde das erledigen.«

»Nein, Quig«, sagte sie. »Ich habe sehr viel für dich getan. Aber das werde ich nicht tun.«

»Was meinst du damit, Mam?«

»Ich meine«, sagte Mairi Quigley, »dass dieses Vieh hier raus muss, bevor wir einziehen.«

»Mein Gott! Ich habe noch nie zuvor so viele Bücher in einem Raum gesehen.« Gillies ging um den Esszimmertisch herum und studierte die Bände, die Willy und Innis dort so ordentlich aufgestellt hatten. Er nahm einen schweren Band auf und schlug ihn vorsichtig auf. »Nun schau einer an. Goulds Vögel von Britannien. Diese wundervollen handkolorierten Tafeln.« Er blickte zu Innis. »Kommen die alle aus der Sammlung Ihres Großvaters?«

»Ja«, sagte Innis. »Und sieben große Körbe draußen in der Halle müssen noch ausgepackt werden. Quig hatte sie gestern mit der Fähre herübergebracht. Er wollte sie dem kleinen Segelboot nicht anvertrauen.«

»Das kann ich mir denken.« Gillies rümpfte die Nase bei der bloßen Idee, dass eine so kostbare Fracht durch Salzwasser beschädigt werden könnte. »Was ist denn das? McNair’s Reisen in Mexiko. Wie es aussieht, ist es die Erstausgabe.«

»Sie sind kostbar, nicht wahr?«, sagte Innis.

»Ich bin kein Fachmann«, sagte Gillies, »aber ich denke, dass auf diesem Tisch Bücher stehen, für deren Besitz jeder Buchhändler in Edinburgh alles geben würde. Sie sollten sie auf eine Auktion geben.«

»Biddy will sie behalten.«

»Wozu?«

»Für Donnie.«

»Ist Biddy denn dazu berechtigt, sie zu behalten?«, sagte Gillies. »Ich hatte den Eindruck, dass Ihr Bruder in Glasgow seinen Anteil haben wollte.«

»Biddy sagt, dass das, was Neil nicht weiß, ihn nicht heiß machen wird.«

»Das scheint aber nicht fair zu sein.«

»Nun ja – einige Bücher sind durch Schimmel und Feuchtigkeit stockfleckig.«

»Schimmel kann man abbürsten, und wenn die Bände eine Weile in trockener Umgebung gelagert werden, wird den Seiten die Feuchtigkeit entzogen«, sagte Gillies. »Wenn ich Zeit hatte, schaute ich mich in den Buchhandlungen in Glasgow um. Hier und da kaufte ich dann einen interessanten Band, soweit es meine Geldbörse gestattete. Aber ich bin kein Antiquar.«

»Als Testamentsvollstrecker ist es Quigs Pflicht, den Anwälten über das gesamte Erbgut Rechenschaft zu geben, die Bücher eingeschlossen.«

»Weiß Quig, was sie wert sind?«

»Quig lässt sich nichts vormachen«, sagte Innis. »Er weiß, dass sie wertvoll sind.«

»Sie möchten sie auch behalten, nicht wahr?«

»Auf Pennymain ist nicht genug Platz, um sie unterzubringen.«

»Aber es würde Ihnen doch wohl niemand übel nehmen, wenn Sie Ihren Anteil davon nähmen?«

»Neil schon«, sagte Innis. »Natürlich will er seinen Viertelanteil vom Erlös des Viehverkaufs und allem anderen, was die Insel hergibt, haben, wenn wir einen Käufer dafür finden können. Aber Bücher«, sie legte eine Hand auf die Bücher, die auf dem Tisch lagen, die Finger nicht gierig, sondern zärtlich gespreizt, »sind irgendwie anders. Sie sind das, was mein Großvater war, wenn Sie verstehen, wie ich es meine. Mehr Teil von ihm als das Land, das er besaß. Klingt das töricht?«

»Nein, oh, überhaupt nicht töricht«, sagte Gillies. »Biddy will also die Bibliothek hier behalten, um Donnies Erziehung zu fördern?«

»Ich denke, sie will vor allem verhindern, dass mein Bruder sie in die Hände bekommt.«

»Ich bezweifle, dass die Anwälte dieses Argument akzeptieren werden.«

»Es gibt etwas, das mein Großvater nicht vorhersehen konnte, etwas, das er nicht wissen konnte, als er sein Testament aufsetzte.«

»Sie meinen die Krankheit Ihrer Mutter?«

»Nein, ich meine meinen Vater.«

»Ist er auch wieder krank?«

»Er ist ein Säufer, wie Sie wissen.«

»Ja, das weiß ich«, sagte Gillies.

Er war jetzt nahe zu ihr getreten, die großen, braunen, in Leder gebundenen Bände über mexikanische Reisen noch immer unter einen Arm geklemmt. Die Vorhänge des Esszimmers waren zugezogen, obwohl noch immer eine Spur von Tageslicht am Nachmittagshimmel war, aber es schien trotz Gillies’ Anwesenheit nicht Samstag zu sein. Es schien, wie Innis fand, zeitlos zu sein, ohne Zeit, die eine Uhr oder ein Kalender exakt aufzeigen könnte, wegen der Besonderheit so etwas wie schwebende Zeit, hier im Hause ihrer Schwester mit all den Büchern um sie herum und Gillies Brown neben sich.

Sie fühlte sich ihm wegen der Bücher verwandt, weil er verstand, was sie ihr bedeuteten, dass sie nicht Gegenstände waren, die man verkaufen konnte, sondern Teile der Geschichte, der Weg zu einem höheren Wissen. Das gleiche Gefühl von persönlicher Beziehung hatte sie wegen der Bücher zu Willy und auch zu dem jungen Donnie. Aber sie war nicht in Willy Naismith verliebt, und ihre Gefühle für Donnie unterschieden sich gänzlich von ihren Gefühlen für den Schulmeister aus Glasgow. Und sie war sicher bei ihm, sehr sicher, hier, im Hause ihrer Schwester, weit entfernt von der kalten Küste von Pennypol und dem dunklen, kleinen Tal in den Solitudes.

Er war ihr sehr nahe, berührte sie fast.

Sie neigte sich zu ihm, und ihre Schulter stieß leicht gegen seinen Arm.

»Wir reden nicht über diese Dinge«, sagte Innis. »Wir sind angehalten, sie für uns zu behalten. Familiengeheimnisse.«

»Jeder weiß, was Ihr Vater ist.«

»Aber nicht, was er getan hat.«

»Was hat er getan, Innis?«

»Abscheuliche Dinge, gottlose Dinge.«

Er fragte nicht, forschte nicht. Er sagte leise: »Ich verstehe.«

»Ich kann ihm nicht vergeben«, sagte Innis. »Ich versuche es. Ich versuche es wirklich. Aber ich kann in meinem Herzen kein Vergeben für ihn finden, selbst nicht, wenn ich bete.« Sie seufzte. »Man sagt, es sei eine Krankheit, dass er vom Trinken besessen ist. Man sagt, er könne ohne dies nicht leben. Aber ich glaube, es ist eine Schwäche, Teil der Schwäche, der mein Vater und Männer wie er nachgeben.« Sie neigte sich näher, presste sich fester an seine Schulter, als brauche sie seinen Halt, um überhaupt aufrecht stehen zu können. »Ich habe Sie nicht gebeten, herzukommen, nur um sich die Bücher meines Großvaters anzusehen, Gillies.«

»Nein«, sagte er. »Das weiß ich.«

»Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann, jemanden, der nicht zu mir sagt: ›Werd ihn los. Wirf ihn raus‹, nur weil man dadurch etwas gewinnen kann.«

Er setzte die Bücher ab und legte einen Arm um ihre Taille. In dieser Geste war keine Begehrlichkeit, nur Mitgefühl. Er führte sie von dem Tisch fort, zwischen den Stapeln von Büchern hindurch, die auf dem Teppich lagen, zu einem Sessel neben dem Kamin und wartete jetzt, als ob er mit ihr getanzt habe und der Tanz nun vorüber sei, bis sie sich gesetzt hatte, bevor er sich entfernte. Er lehnte sich an den hochlehnigen Sessel ihr gegenüber und blickte sie über den Rand seiner Brille hinweg auf eine Art an, die sie komisch gefunden hätte, wenn er es so beabsichtigt und gelächelt hätte.

»Dann reden Sie mit mir, Innis«, sagte Gillies. »Erzählen Sie, was Sie bedrückt.«

Sie seufzte wieder. Sie wünschte sich, er würde näher zu ihr kommen, würde – oder könnte – sie halten und ihr Trost spenden. Aber ihn überhaupt hierzuhaben war Segen genug. Sie sagte: »Sie wollen ihn fortschicken.«

»Wer sind ›sie‹?«, sagte Gillies.

»Meine Schwester, mein Mann, Quig und seine Mutter. Sie alle.«

»Wohin schicken?«

»An einen Ort namens Redwing, der in der Nähe von Perth liegt.«

»Ein Krankenhaus?«

»Doktor Kirkhope sagt, es sei ein Krankenhaus, ein Ort, an dem der Zustand meines Vaters richtig behandelt wird. Aber ich glaube, das ist nicht die Wahrheit.«

»Aber Andrew Kirkhope würde Sie doch sicher nicht belügen, Innis?«

»Ich glaube, es ist eine Irrenanstalt.«

»Selbst wenn es das ist«, sagte Gillies, »bedeutet das doch nicht, dass er dort nicht gut versorgt wird oder dass nicht die Möglichkeit besteht, dass er wieder herauskommt.«

Innis blickte auf den Teppich zu ihren Füßen. »Ich will nicht, dass er wieder rausgelassen wird. Ich will nicht, dass er geheilt wird und eines Tages schwadronierend zurück nach Mull kommt, wie er vor zehn oder fünfzehn Jahren war.« Sie stockte, schaute Gillies noch immer nicht an und fuhr dann fort: »Wenn mein Vater weg ist, wenn Quig Pennypol übernimmt, dann wird meine Mutter gezwungen sein, hier bei Biddy zu bleiben und wird nicht wieder arbeiten müssen. Sie wird Zeit haben, gesund zu werden, und sie wird glücklich sein, für den Rest ihrer Tage glücklicher sein denn je. Aber wenn mein Vater noch hier ist oder wenn er zurückkommt, wird er sie zurückfordern, und sie wird mit ihm gehen, und er wird sie mit seinen Forderungen umbringen.«

»Geht es Ihrer Mutter gut genug, um zu verstehen, was geschieht?«

»Nein, noch nicht. Die Entscheidung müssen wir treffen. Biddy – und ich.«

»Könnten Sie nicht warten …«

»Die letzten Rinder von Foss werden nächste Woche verkauft, und das Haus meines Großvaters wird leer sein. Anzeigen für den Verkauf der Insel werden kurz nach Neujahr erscheinen. Außerdem wird Quig auf Pennypol gebraucht, um sich um die Herde von Fetternish zu kümmern. Er wird nicht kommen, solange mein Vater da ist. Das kann er nicht. Er kann Aileen nicht zurück nach Pennypol bringen, solange mein Vater dort ist, und er wird sie nicht alleinlassen.«

»Und Sie können Ihren Vater nicht bei sich aufnehmen?«

»Ich habe zwei kleine Töchter.«

»Ich verstehe. Und Biddy will es nicht?«

»Nein, Biddy will es nicht. Um meiner Mutter willen will sie, dass er verschwindet.«

»Nur um Ihrer Mutter willen?«

»Nein«, sagte Innis. »Sie will ihn bestrafen.«

Er fragte noch immer nicht nach, drang nicht in sie. Er wartete, hatte seine Hände auf die Sessellehne gestützt und beobachtete sie. Nach einem Augenblick sagte er: »Und Sie, Innis? Möchten Sie ihn auch bestrafen?«

»Ja.«

»Für das, was er Ihrer Mutter angetan hat?«

»Für das, was er uns allen angetan hat.«

»Wer wird die Rechnungen für Redwing bezahlen?«

»Ich werde einen Teil von dem Geld bezahlen, das mir zufällt, wenn Großvaters Nachlass geregelt ist. Biddy wird den Rest bezahlen. Sie würde alles zahlen, aber ich finde, das wäre nicht fair.«

»Sie glauben, das ist falsch? Glauben Sie, es sei Blutgeld?« Gillies schüttelte den Kopf. »Mir scheint, dass das nicht mehr ist, als Ihr Vater verdient.«

»Obwohl ich ihm nicht vergeben kann«, sagte Innis, »habe ich nicht das Recht, ihn zu verurteilen oder zu sagen, was er verdient.«

»Sie können nicht immer auf der Seite der Guten stehen, Innis«, sagte Gillies. »Was wäre für Sie gerade jetzt das Beste? Was möchten Sie mit ihm tun?«

»Ihn fortschaffen.«

»Dann tun Sie es«, sagte der Schulmeister. »Keine Tränen, kein Klagen, Innis, lassen Sie ihn einfach fortschaffen.«

Natürlich fiel Willy die Aufgabe zu, die Vertreibung von Ronan Campbell aus dem schwarzen Haus an der Küste zu organisieren. Da er erheblich zynischer als Ronans erwachsene Töchter war, hatte er vorsorglich für Hilfe durch Michael Tarrant gesorgt, denn wie sehr das Trinken Ronans Kraft auch geraubt hatte, so vermutete Willy doch, dass der kleine Fischer nicht ohne Kampf gehen würde.

Innis hatte ihrem Vater erklärt, dass er für einen kurzen Urlaub in einem Hotel in Perth untergebracht werden würde, da eine Veränderung ihm gut täte. Natürlich hatte er schon über die bloße Idee gespottet, hatte sich geweigert, das auch nur in Betracht zu ziehen. »Vassie wird zu mir zurückkommen«, hatte er geschrien. »Sie wird jeden Tag zurückkommen. Ich muss das Haus für sie warm halten und hier sein, wenn sie ankommt.« Innis hatte ihren Vater gefragt, ob er wisse, wo Mam sei. Er hatte getobt, hatte sich aufgeblasen, hatte Whisky getrunken, um seine Geisteskräfte aufzufrischen, und hatte schließlich erklärt, da sein Gedächtnis so schwach und durcheinander war, er glaube, sie sei nach Foss gefahren, um bei Evander McIver zu bleiben.

Innis hatte sich bekreuzigt und um Vergebung für ihre Lügen gebetet.

Dann hatte sie ihm gesagt, dass Vassie nicht auf Foss sei, sondern in einem Krankenhaus in Perth, und dass er dorthin gebracht werde, um sie zu besuchen, und dann wieder zurückgebracht würde.

Er hatte sie verschlagen angesehen und den Kopf geschüttelt. »Du versuchst, mich loszuwerden, Mädchen, was?«, hatte er gesagt und dieses gerissene, krächzende Lachen gelacht, bei dem sich ihr Nackenhaar sträubte. »Ich weiß, was du tust. Du bringst mich in dieses verfluchte, große Haus von Biddy, damit ich dort wie ein fauler Lord leben kann. Ich will nicht gehen. Ich werde nicht gehen.« Er hatte zugeschaut, wie sie seine verschmutzte Kleidung aussortiert und mitgenommen hatte. Er hatte zugeschaut, wie sie seine Kleidung gewaschen und gebügelt zurückgebracht hatte. Er hatte zugeschaut, wie sie seine Kleidung oder das, was davon übrig geblieben war, in einen kleinen Weidenkorb gepackt hatte, und da ihm jedes Zeitgefühl fehlte, hatte er über ihre Dummheit gekichert, dass sie glaube, sie könne ihn austricksen, und hatte sie – ausgestreckt auf dem Bett oder dem Boden liegend oder sich über den Tisch lümmelnd – ausgelacht und ihr immer wieder selbstsicher erklärt: »Ich gehe nirgendwohin. Mein Platz ist hier.«

Auf Willys Vorschlag hatte Innis ihren Vater mit jeweils einer einzigen Flasche Malt Whisky für jeden der neun Tage versorgt, die Dr. Kirkhope gebraucht hatte, um alle Vorbereitungen zu treffen. Sie hatte ihm jeden Morgen eine Flasche auf den Tisch gestellt und ihm gesagt, dass es mehr nicht gäbe. Er hatte sehr gut verstanden, was das für ihn rechnerisch bedeutete, und seine Ration verbissen gestreckt. Aber er hatte Innis auch angebrüllt, hatte sie grausam genannt, sie auch mit anderen Worten beschimpft, mit Worten, die so verletzend waren, dass Innis’ Herz sich gegen ihn hätte verhärten müssen. Doch das tat es seltsamerweise nicht. Je mehr er sie kränkte, desto mehr fühlte sie sich wie ein Judas und desto mehr fürchtete sie sich vor dem Tag, an dem der Beamte aus Redwing kommen würde, um Willy und ihren Vater aus Pennypol fort zu begleiten auf einer Reise, von der nur Willy zurückkehren würde.

In Biddys Haus hinter Olaf’s Ridge lag Vassie in einem weichen, weißen Bett, ihr sanftes Lächeln lächelnd, völlig ahnungslos, welche Entscheidungen ihre Töchter für sie getroffen hatten, und ohne zu wissen, welche Manöver nötig waren, um sie von ihrem Mann zu trennen und allen – allen außer natürlich Ronan – ein bisschen Frieden und Harmonie zu bringen.

Auf den Weiden um Pennymain rupften die Schafe weiter an dem kargen Wintergras, und auf den Feldern nahe Pennypol grasten die Rinder, wie sie es immer getan hatten. Morgens und abends molk Innis die vier Kühe und versorgte die Herbstkälber. Wenn sie die Milch zu den flachen Schalen in der Milchküche an der Rückseite des neuen Kuhstalles trug, dachte sie, wie wenig sich doch verändert hatte – und wie viel. Dann sah sie zu dem Cottage mit seinem zerfetzten Strohdach und spülte Eimer aus und fragte sich, wie lange es dauern würde, wie lange das alles noch dauern würde, und sehnte sich danach, gleich wie schlecht es auch gewesen sein mochte, dass alles wie früher wäre, damit sie – sie alle – noch einmal von vorne anfangen könnten.

Barrett kümmerte sich um die Rinder, Michael kümmerte sich um die Schafe, Biddy kümmerte sich um Vassie und Donnie. Willy versorgte wie immer Biddy und führte das große Haus auf der Landzunge mit einer Leichtigkeit, als würde er eine Uhr aufziehen. Sie, Innis Tarrant, kümmerte sich um ihre Töchter, ihren Sohn und ihren Mann. Doch in den verloren gegangenen Feldern hinter der Trockensteinmauer, die Vassie errichtet hatte, um Fremde fernzuhalten, suhlte sich ihr Vater, ungeliebt und unversorgt, in seinem eigenen Schmutz und murmelte vor sich hin und grinste blöd, als ob sich für ihn nichts geändert hätte und auch nie ändern könnte.

»Ich will nicht gehen«, schrie er. »Ich will nicht gehen. Was macht ihr denn mit mir? Wohin bringt ihr mich? Innis, oh, lieber Gott, Innis, Innis. Was geschieht mit mir? Warum lässt du sie mir das antun?«

Die Kinder waren in der Schule. Maggie hatte Becky abgeholt und nach Fetternish gebracht, wo sie ihre Großmutter besuchte. Doch alle anderen waren da, all diejenigen, die Ronan Campbell gekannt hatten, bevor der Alkohol von ihm Besitz ergriffen hatte, aus der Zeit, als er nicht nur halb lebendig war. Er war nicht gebadet, nicht rasiert worden. Tatsächlich hatten Willy und Michael allein eine halbe Stunde gebraucht, um ihm mit Gewalt saubere Kleidung anzuziehen, seinen Mantel, ihm einen Schal um den Hals zu wickeln und Handschuhe überzustreifen, wobei sie ihm gerade genug Whisky gaben, um ihn gefügig zu machen.

Inzwischen hatte er begriffen, dass etwas von dem, was Innis ihm erzählt hatte, die Wahrheit war oder der Wahrheit doch recht nahe kam oder dies alles an Wahrheit sein würde, was er erfahren würde, dass sie es ernst gemeint hatte, als sie davon gesprochen hatte, er würde weggebracht werden.

Es dämmerte ihm erst richtig, als er die Männer sah. Was es jedoch bedeutete, was diese große, heftige, einschneidende Veränderung für seine Faulenzerei für Folgen hatte, ging über sein Begriffsvermögen. Zunächst schwatzte er nur aus Ärger, gestört zu werden. Dann kam die Fetternish-Kutsche aus Tobermory, auf deren Kutschbock Hector Thrale, schwarz wie ein Leichenbestatter und alt, unbekümmert saß. Der Mann, der Fremde, saß hinter ihm, so aufrecht wie ein Zaunpfosten und riesig, größer als Evander McIver, größer als Neil. Es war ein ungemein breitschultriger Mann in einem braunen Sergeanzug, mit einem kleinen, braunen Filzhut auf dem Kopf und einem kleinen, adretten, braunen Lederkoffer, der auf seinen mächtigen Knien ruhte.

Ronan war wider seinen Willen für die Reise angekleidet. Sein Weidenkorb war verschnürt und stand neben der Tür bereit. Die Hunde waren gefüttert und wieder eingesperrt worden. Und die Möwen waren mit der steigenden Flut herangeflogen und kreischten über ihnen, und die Rinder, Vassies Rinder, brüllten unten am Ufer. Und der Mann, der Fremde mit dem braunen Sergeanzug und dem albernen, kleinen, braunen Filzhut auf dem Kopf, stand, ohne zu lächeln, im Türrahmen und sagte: »Dann kommen Sie, Mr. Campbell. Wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.«

Er kreischte: »Innis, Innis. Was geschieht mit mir? Warum lässt du sie mir das antun?« Und als Innis nicht antwortete, warf er sich rücklings auf den Boden und klammerte sich an die Steine des Kamins, an den Fuß der Leiter, an den Torfhaufen und an die Tischbeine, während zuerst Willy, dann Michael und schließlich der Fremde ihn zu überreden versuchten, aus freien Stücken aufzustehen, und als das misslang, ihn bei den Armen packten und ihn auf die Beine hoben.

»Verletzt ihn nicht«, rief Innis.

»Nein, Miss, er wird nicht verletzt werden«, sagte der Fremde.

Eine kleine Schar von Zuschauern hatte sich draußen versammelt, um Ronan noch einmal zu sehen. Biddy und Innis standen zusammen, Barrett ein wenig zurück, Hector Thrale neben der Kutsche und oben, auf dem Hügel, vorgebend, nicht neugierig zu sein, Mr. McCallum, Mr. Clark von den Ards und sechs oder acht Pächter und Feldarbeiter.

Das Ereignis hätte einen Dudelsackspieler vielleicht veranlasst, ein neues Klagelied zu ersinnen, wäre Ronans Weggang von Pennypol feierlicher und würdevoller erfolgt. Doch zwischen Michael Tarrant und dem Beamten aus Redwing hängend, die Arme wie Hühnerflügel zurückgedrückt, wurde er auf den Knien aus dem Cottage geschleift, und seine Stiefel pflügten zwei gewundene Furchen in die feuchte Erde. Er hatte nicht die Kraft zu kämpfen, und noch bevor der Pfad erreicht war, riss der Beamte ihn hoch, und die beiden hielten ihn zwischen sich, als wiege er nicht mehr als ein Kaninchenfell.

Willy folgte, gelassener als alle anderen, dahinter, Ronans kleinen Weidenkorb mitleiderregend mit einer Hand schwingend.

Innis wäre ihnen vielleicht gefolgt, wäre hügelaufwärts zum Weg gelaufen und der Kutsche wie ein verdutztes Kind auf dem Weg bis zur Kreuzung gefolgt, hätte ihr nachgerufen und gewunken, bis sie nicht mehr zu sehen war. Doch Biddy hielt sie fest und ließ sie erst los, als ihr Vater in die Kutsche verfrachtet war und Thrale mit einer Energie, einer Wonne, die seinem Alter spottete, die Peitsche über dem Kopf des Pferdes knallen ließ und die Kutsche losfuhr.

Die Schwestern sahen sie über den Kamm des Heidebodens rollen und dann sehr schnell verschwinden. Michael stand da, die Hände in die Hüften gestützt, und starrte ihr nach. Auf dem Hügel drehten die Zuschauer ihre Köpfe, um zu verfolgen, wie sie aus dem Blickfeld verschwand.

Biddy atmete tief und schwer ein.

»Den wären wir los!«, sagte sie.

Und Innis, wenngleich berührt, widersprach ihr nicht.

In der Zeit zwischen Mittag und dem Melken am frühen Abend war das Fischerboot aus dem Nichts aufgetaucht. Es folgte der Küste dicht unter Land kreuzend, und das mit gerefften Segeln. Das Boot, die Walrus, hatte kein Deck und war schwer beladen, und die See war lebhaft genug, um es in den Strömungen zum Schlingern zu bringen, die um die kleinen Inseln flossen und aus den Mündungen der langen Seelochs von Mull kamen.

Das Boot gehörte Quig und war bezahlt. Er wollte es nicht zurücklassen. Aber er war der Sohn eines Viehtreibers und verstand gerade so viel vom Umgang mit Ruderpinne und Segel, wie es sich für einen Insulaner gehörte. Da auflaufende Flut war und der Wind von der Küste wehte, steuerte er einen vorsichtigen Kurs um Caliach Point und folgte der Linie der Bucht, wobei der Bugspriet in die Wellen stieß, die vom Atlantik heranrollten. Bevor die Mole erreicht war, holte er alle Segel ein, setzte seine Mutter an die Riemen, sagte ihr, wann sie zu pullen und wann sie gegenzuhalten hatte, und steuerte das Boot, wobei Aileen im Bug kniete, ruhig auf den Stein zu.

Er sprang auf die Mole und machte das Boot vorn und achtern fest. Dann ging er wieder ins Boot, hob Aileen auf die Mole und beobachtete sie die ganze Zeit. Er fragte sich, ob sie überhaupt bemerkte, wie sehr sich hier alles verändert hatte, ob sie den großen, neuen Kuhstall in unmittelbarer Nähe sah, bemerkte, dass die Mole verlängert und mit Mörtel befestigt worden, das Land, das sich ins Herz von Fetternish erstreckte, eingezäunt und abgeerntet war. Das Haus indes war dasselbe, das Cottage, in dem sie geboren und aufgewachsen und aus dem sie vor über einem Dutzend Jahre ins Exil geschickt worden war.

Er beobachtete sie aufmerksam, während sie da über ihm auf der Mole stand. Ihren Augen konnte er nichts entnehmen, diesen kornblumenblauen Augen, deren schreckliche Leere jeden Gedanken und jedes Gefühl verschleierte. Er registrierte jedoch, wie sie sich bewegte, da er gelernt hatte, diese subtilen, kleinen Bewegungen ihres Körpers zu deuten. Die Art, wie sie den Kopf neigte oder einen Arm hob oder wie jetzt stocksteif dastand und leer zu den Gemüsebeeten hinaufschaute und dem mit Rasensoden gedeckten Cottage, das dunkel und verlassen unter dem Rand der Heide lag.

»Aileen«, sagte er ziemlich scharf. »Aileen.«

»Ha?« Sie drehte sich um, wobei ihre Arme an den Seiten herunterhingen. »Dada?«

»Nimm die Kisten, die ich dir hochreichen werde, und stell sie sicher hinter dich, weg vom Wasser. Verstehst du mich?«

Er sah, dass ihre Lippen sich bewegten, dünne Lippen, blasser als es in dem angespannten, wettergegerbten, kleinen Gesicht natürlich schien. Ihre Lider bewegten sich. Sie schaute von ihm wieder weg auf das Haus.

»Aileen! Hörst du, was ich sage?«

»Ja«, antwortete sie in einem Tonfall, der weder Verstehen noch Nichtverstehen erkennen ließ, mit dieser süßen, schwachen, feinen Stimme, die aus ihrem Mund kam, wenn Vergangenheit und Gegenwart, Tatsache und Fantasie in ihrem beschädigten Gehirn in einem Tohuwabohu herumwirbelten. »Ja, Quig, ja.«

Das Boot rollte unter ihm. Er brachte sich mit gespreizten Beinen ins Gleichgewicht, bevor er eine der Holzkisten hochhob und auf die Mole schob. Aileen schaute darauf und hob sie dann mit einer ruckartigen Bewegung, die Gehorsam erkennen ließ, drehte sich um und setzte sie ab. Inzwischen hatte Quig die nächste dorthin gestellt, und Aileen, der Wiederholung angenehm war, tat dasselbe. Er war immer wieder von ihrer Stärke überrascht. Sie wirkte zierlich, fast zerbrechlich, als sei sie aus demselben Material wie eine Muschelschale gefertigt. Sie würde jetzt arbeiten, bis alles aus dem Boot geräumt war, alles außer Ruder und Segeln und Mast. Er würde sie nicht auffordern, ihm beim Transport all ihrer Habe und Vorräte von der Mole ins Cottage zu helfen. Er würde eine Schubkarre suchen oder einen kleinen Wagen und es selbst tun, während seine Mutter und Aileen sich an das Haus gewöhnten.

Er hatte etwa drei Stunden, bis es völlig dunkel war. Donnie würde am Ende seines Schultages kommen, und es würde gerade noch hell genug sein, um ihm zu helfen, das Boot aufs Ufer zu ziehen. Er wollte es nicht an der Mole liegen lassen, da er wusste, was eine Sturmbö anrichten konnte, wenn das Holz an die Steine krachte, und er würde sich sicherer fühlen, wenn die Walrus hoch und trocken lag. Er würde das Boot vor dem Sommer nicht wieder brauchen, und vielleicht nicht einmal dann.

Er lud weitere Kisten aus. Er beobachtete, wie Aileen und nun auch seine Mutter sich bückten und umdrehten. Er arbeitete schneller, im gleichen Rhythmus wie das Heben und Senken der See. Niemand schien ihre Ankunft bemerkt zu haben. Niemand war da, um sie zu begrüßen. Nur die Rinder, kräftige, auf Foss gezüchtete Tiere. Er fand Trost bei ihrem Anblick, wie sie neugierig am Ufer entlang auf den Kuhstall zutrotteten, als wollten sie ihn begrüßen. Er würde froh sein, Donnie wiederzusehen, ihn wieder ganz in seiner Nähe zu haben. Aber er würde Donnie nicht im Cottage wohnen lassen. Natürlich würde er Biddy Baverstock informieren, dass er den Jungen bei sich haben wollte, dass es richtig sei, dass er bei seiner Mutter war. Biddy würde protestieren, würde vorschlagen, dass er Donnie doch die Annehmlichkeiten des großen Hauses genießen lassen solle, und er würde im letzten Augenblick widerwillig zustimmen. Er wollte, dass Donnie in dem großen Haus blieb. Er brauchte Donnie, um Biddy im Griff zu haben.

»Ist das die Letzte?«, fragte seine Mutter.

»Ja«, sagte Quig und kletterte auf die Mole.

»Bist du sicher, dass er weg ist?«, sagte Mairi.

»Hörst du die Hunde nicht?«

»Hündchen«, sagte Aileen. »Fingal ist hier.«

»Nein, Fingal ist weg. Es sind jetzt andere Hunde.« Quig ergriff ihre Hand. »Wenn etwas mit den Vorbereitungen falsch gelaufen wäre, Mutter, wären die Hunde nicht eingesperrt. Jemand wird noch vor Einbruch der Nacht herkommen, um sie zu füttern und sich ums Melken kümmern. Wenn du sicher sein willst, dass Campbell hier nicht mehr wohnt, werden wir jetzt zum Cottage laufen, und ich werde die Sachen später hineinbringen.«

»Ich brauche meine eigenen Kochtöpfe«, sagte Mairi Quigley. »Ich koche in nichts von dem, was er zurückgelassen hat.«

»Du wirst deine Töpfe und auch dein eigenes Geschirr haben«, sagte Quig. »Ich bringe diese Sachen zuerst hoch. Dann kannst du uns etwas zum Abendessen machen. Bis dahin werden wir fertig sein.«

»Ich bin jetzt so weit.« Seine Mutter nahm seinen Arm, und sie machten sich auf den Weg zum Cottage. Aileen hing an seiner anderen Hand. »Ich mag diesen traurigen Ort nicht, Sohn. Ich hoffe, wir müssen hier nicht zu lange bleiben.«

»Nein, keine Minute länger als nötig«, sagte Quig. »Ich verspreche dir, Mutter, unser nächster Schritt wird uns in der Welt voranbringen.«

»In welche Richtung, Quig?«

»In diese Richtung«, sagte Robert Quigley, löste seine Hand von der Aileens und deutete nordwärts, auf Fetternish.

Michael sagte: »Quigley hat sich also in Pennypol niedergelassen, ja? Das hat nicht lange gedauert. Er muss angekommen sein, noch bevor dein Vater aus Tobermory heraus war.«

»Für Quig gibt’s auf Foss nichts mehr zu tun, jetzt, wo die letzten Bullen verkauft sind«, sagte Innis.

»Wer hat sie gekauft, und welchen Preis hat er dafür bekommen?«

»Sie sind an den Herzog von Montrose gegangen, glaube ich, für vierhundert Guineas.«

»Und das Mastvieh?«

»Schon vor Wochen verkauft.«

»Dann besteht also die Chance, dass wir unser Geld bald sehen?«

»Schecks und Wechsel sind bei den Anwälten in Perth auf einem Sonderkonto deponiert worden«, sagte Innis. »Du scheinst ja sehr scharf darauf zu sein, dieses Geld zu bekommen.«

»Selbst wenn sich für Foss kein Käufer findet, ist es eine beträchtliche Summe und könnte uns gute Zinsen bringen.«

Innis sagte: »Es wird ein schöner Spargroschen für Gavin und die Mädchen sein.«

»Die Mädchen?«, sagte Michael. »Wozu brauchen die Mädchen Geld?«

»Damit wird ihre Erziehung bezahlt.«

»Wird dein Mr. Brown ihnen nicht alles an Unterricht geben, was sie brauchen?«

»Sie werden vielleicht nicht auf Mull bleiben wollen«, sagte Innis. »Vielleicht wollen sie auf dem Festland auf eine Universität gehen, und jetzt werden wir es uns leisten können, sie dorthin zu schicken. Aber wenn sie das nicht wollen, dann wird das Geld ihre Mitgift sein, falls und wenn sie beschließen, zu heiraten.«

»Ich sehe, du hast schon alles fix und fertig überlegt«, sagte Michael. »Was, wenn ich eigene Pläne dafür habe, wie das Geld verwendet werden sollte? Ist es nicht ebenso mein Geld wie deines?«

»Natürlich ist es das«, sagte Innis.

»Na gut«, sagte Michael, »dann könnten wir uns ein Stück Land kaufen und fünfzig Mutterschafe zum Anfang und uns selbstständig machen. Dann wären wir von deiner Schwester unabhängig.«

»Ich fühle mich von Biddy nicht abhängig.«

»Nein? Ich aber schon«, sagte Michael.

»Und wo wolltest du nach diesem Stück Land suchen?«

»Wo immer ich es finden kann.«

»In den Borders?«, fragte Innis.

»Nicht unbedingt.«

»Ich würde Mull jetzt nicht verlassen wollen«, sagte Innis, »da meine Mutter krank ist und – und so viele andere Dinge geschehen.«

»Andere Dinge?«, sagte Michael.

»Veränderungen«, sagte Innis.

»Wenn alles richtig läuft, dann müssen wir vielleicht nicht einmal Fetternish verlassen«, sagte Michael. »Ich meine, es gibt hier rundum ja reichlich Land.«

»Das ist alles Biddys Besitz.«

»Nicht alles«, sagte Michael. »Pennypol gehört Biddy nicht.«

»Was?«, sagte Innis. »Möchtest du, dass wir in diesem grässlichen Haus wohnen?«

»Ich würde in jedem Haus wohnen, das mir gehört«, sagte Michael. »Das Haus zählt nicht, sondern das Weideland. Pennypol hat gutes Gras, und wenn die Rinder weg sind und Schafe darauf weiden, könnte ich eine Herde züchten, mit der wir verdienen und nicht deine Schwester.«

»Aber Quig …«

»Quig ist nur ein Arbeiter, ein Angestellter wie wir anderen auch. Biddy wird jemand anderes für ihn finden«, sagte Michael. »Wirst du mit deiner Mutter reden, wenn sie sich besser fühlt? Ich meine, was kann sie mit dem Hof jetzt noch machen, wo sie viel zu schwach ist, um ihn zu bewirtschaften, und sie sich endlich nicht mehr um deinen Vater kümmern muss?«

»Sie bekommt Pacht für das Weideland«, sagte Innis. »Das ist ihr Einkommen.«

»Ein schönes Einkommen!«, sagte Michael. »Jedenfalls wird sie eine ganz schöne Summe investieren müssen, wenn sie noch immer etwas verdienen will, obwohl ich die Notwendigkeit jetzt, wo sie ihre Füße unter Biddys Tisch gestellt hat, nicht erkennen kann. Biddy wird sie nicht hinauswerfen.«

»Nein, aber Biddy würde für die Verbesserungen bezahlt werden müssen.«

»Was? Für einen neuen Kuhstall, eine Mole und ein paar alberne Zäune?«

»Ich wusste nicht, dass du etwas Eigenes haben wolltest.«

»Das will ich aber«, sagte Michael. »Ich will etwas, an das ich mich halten kann, gleich, ob es nun ein Haus oder eine Herde oder eine Frau ist. Etwas, das ich Gavin vermachen kann, nicht nur eine Stelle auf dem Gut seiner Tante. Sprichst du mit deiner Mutter? Sie kann schließlich nicht ewig leben. Früher oder später wirst du einige ihrer Uferweiden erben, und die kannst du ebenso gut auch jetzt haben, solange noch etwas davon da ist. Wenn sie den Hof an irgendwen verkauft, dann wird sie ihn an dich verkaufen.«

»Ich will dort nicht leben, Michael. Ich will nicht in das Haus meines Vaters zurückkehren und wieder ganz von vorne anfangen.«

»Möchtest du lieber, dass wir Mull verlassen?«, sagte Michael. »Möchtest du lieber, dass ich auf dem Festland einen kleinen Hof pachte, weg von deiner Schwester, deiner Mutter und all deinen sogenannten Freunden?«

»Nein.«

»Dann rede mit ihr«, sagte er. »Finde raus, was sie dafür haben will.«

»Und was, wenn Mam nicht verkaufen will?«

»Überrede sie«, sagte Michael.

»Ich bezweifle, dass Biddy einwilligen wird.«

»Wenn es soweit ist«, sagte Michael ominös, »hat Biddy vielleicht keine andere Wahl.«

Er kam durch den Nebeneingang aus den Gärten herein, schlüpfte so still wie eine Maus in den Korridor. Er legte seinen Mantel und seinen Hut ab, hängte sie an den Garderobenhaken und stellte seine kleine Tasche so zur Seite, dass niemand darüber stolpern konnte. Er ging wortlos in die Küche, setzte sich auf den Stuhl an den Kiefernholztisch und stützte den Kopf mit einer Hand, als ob sein Kiefer schmerzte.

Die Küche war nur vorübergehend, nicht für immer verlassen. Gemüse war geputzt und gehackt und in farbigen kleinen Haufen arrangiert worden, bereit, in den Topf zu wandern, und eine große, knusprige Fleischpastete, die Mrs. McQueen früher am Nachmittag gemacht hatte, backte im Ofen. Ein Tablett mit Haferbrot kühlte auf dem Regal neben der Speisekammer ab, und ein milchig-rosa Pudding zitterte auf einem floralen Teller auf der Anrichte und wartete darauf, mit kleinen Angelikawurzelspitzen oder Blümchen aus kandiertem Ingwer garniert zu werden. Es war alles sehr gepflegt, alles in tadelloser Ordnung, und Willy hätte erleichtert sein sollen, wieder zu Hause zu sein, sicher vor den Gefahren der Reise mit Zug und Boot in der Düsterkeit des Mittwinternachmittages.

Aber das war er nicht. Er war gedämpfter Stimmung, so ungewöhnlich grau und still, dass er nicht einmal, als Margaret in die Küche geeilt kam, aufstand, um sie mit einem Kuss und einer Umarmung und einem fröhlichen Wort zu begrüßen, sondern sitzen blieb, wo er war, und sie beobachtete. Sie bemerkte ihn erst nach einem Augenblick und trat überrascht zurück, als sei er ein unwillkommener Eindringling.

»Willy!«, rief sie aus. »Was machst denn du hier? Ich habe dich nicht hereinkommen hören.«

Er zwang sich zu einem schwachen Lächeln und streckte, seine Position verändernd, eine Hand aus. Sie runzelte die Stirn, zögerte, ging dann zu ihm und ergriff seine Hand. Sie lehnte sich an den Tisch und musterte ihn eingehend. »Was ist denn, Lieber? Was fehlt dir? War es eine stürmische Überfahrt?«

»Nein, nein, die Überfahrt war gut.«

»Dir ist nicht schlecht geworden?«

»Nein.«

»Aber du siehst sehr blass aus. Ist dir kalt?«

»Es geht mir gut.« Er seufzte, schaute sie an und drückte ihre Hand fester. »Es war ein Fehler«, sagte er. »Sie hätten ihn nicht dorthin schicken sollen. Ja, ich weiß: Er ist nichts Besseres als ein egoistischer, alter Säufer, der selbst in einem leeren Haus Ärger machen kann – aber …« Er schüttelte den Kopf. »Nicht das. Nicht dorthin.«

Sie kniete sich neben ihn. »Oh, Willy, war es so schrecklich?«

»Ich wusste ja nicht …«

»Du bist jetzt daheim, bei uns.«

»Ja, aber er nicht. Für den Rest seines Lebens sitzt er dort fest. Ronan Campbell wird nicht wieder heimkommen.«

»Ich dachte, du magst den Mann nicht?«

»Das tue ich auch nicht. Ich verabscheue ihn. Aber das hindert mich nicht daran … Gott, Maggie, du hättest sehen sollen, wie diese hilflosen, alten Männer durch die Korridore wankten und taumelten, zusammenstießen und ihre Fäuste hoben, als wollten sie Geister abwehren. Andere wie Campbell waren in gepolsterten Zellen eingesperrt. Sauber, ja, ordentlich, ja, aber nicht – nicht mehr lebendig, einfach nur außer Sicht verstaut, als hätten sie nie einen Wert gehabt.«

»Willy, Willy. Oh, es tut mir so leid, dass du das sehen musstest.«

Er zog sie an sich, presste seine Nase in ihr Haar und inhalierte dessen Duft. Es war kein ausgefallenes Parfüm, sondern der zarte, weibliche Duft der Frau, die er liebte und die – wie er hoffte – ihn liebte. »Bitte, Maggie«, murmelte er. »Bitte, versprich mir, was auch geschehen mag, was immer mir widerfährt, was immer das Alter am Ende aus mir machen wird, bitte, schieb mich nicht so ab.«

Sie stieß ein Schluchzen aus und zog ihn an sich, legte beide Hände um seine Taille, als könne sie ihn vor der Bedrohung durch die Schatten beschützen, die ihn verfolgten und deren er sich bewusst geworden war. Durch ihn konnte sie die Schrecklichkeit des Ortes spüren, an den Ronan Campbell gebracht worden war, die Grausamkeit, die in der Betreuung lag, die Lieblosigkeit. Diese Einrichtung für schmachvolle Geheimnisse, in der Männer durch Vernachlässigung oder Maßlosigkeit oder sogar ohne eigene Schuld zur bloßen Belastung geworden und deshalb beiseite geschoben worden waren.

»Nein, nein, Willy.« Sie streichelte sein weißes Haar. »Das wird mit dir nicht geschehen. Niemals, das schwöre ich. Das werde ich nicht zulassen.«

»Wie willst du das verhindern, Maggie?«

»Das kann ich. Ich werde nicht zulassen, dass man dich …«

»Nein«, sagte er. »Das Altern, meine ich.«

»Ah, William, du bist zurück, wie ich sehe.«

»Ja, Ma’am.«

»Wie war die Fahrt?«

»Recht angenehm, danke.«

»Hat er dir auf der Fähre Ärger gemacht?«

»Überhaupt nicht.«

»Erzähl mir von Redwing«, sagte Biddy. »Ich denke, ich hätte es mir vorher ansehen sollen, aber – tja – ich war in letzter Zeit sehr beschäftigt. Ist es für einen Mann im Zustand meines Vaters geeignet?«

»Es ist genau so, wie Doktor Kirkhope es gesagt hat.«

»Ich darf annehmen, dass er dort gut versorgt wird?«

»Ich bin sicher, ihm wird die beste Pflege zuteil«, sagte Willy steif.

»Das will ich hoffen«, sagte Biddy, »wenn ich bedenke, was das kostet.«

»Ich höre, dass Quigley Pennypol bereits übernommen hat.«

»Oh ja«, sagte Biddy. »Da war diese Vereinbarung, und es gab zum Glück keine Probleme. Ich gebe zu, dass ich noch froh sein werde, jemanden zu haben, der sich verantwortlich um das Vieh kümmert.«

»Und um Donnie auch?«, sagte Willy.

»Donnie?«

»Ich nehme an, dass Donnie nach Hause gegangen ist, um bei seiner Mutter zu sein?«

»Hier ist jetzt Donnies Zuhause«, sagte Biddy.

»Was hat denn Donnie, von seiner Mutter einmal völlig abgesehen, dazu zu sagen?«, sagte Willy, der nicht in der Stimmung war, versöhnlich zu sein.

»Derzeit ist Donnie im Esszimmer und sortiert die Bücher aus der Bibliothek meines Großvaters. Er scheint sehr glücklich darüber zu sein, bleiben zu können, wo er ist.«

»Und welche Entscheidung haben sie wegen der Bücher getroffen?«, fragte Willy. »Werden sie die auch wegschicken?«

»Nein. Mein Großvater hat seine Bibliothek geliebt, und Bücher sind in einem Haus dieser Größe ein solcher Gewinn. Ich werde die lange Wand im Salon mit Regalen versehen lassen und natürlich meinem Bruder Neil eine angemessene Summe für seinen Anteil bezahlen.«

»Wer schätzt das?«, sagte Willy.

Biddy richtete sich, von seinem Tonfall irritiert, auf. »Was ist los mit dir, Willy?«

»Alles scheint nach Ihren Wünschen zu gehen.«

»Nach meinen Wünschen?«, sagte Biddy. »Nichts dergleichen, verdammt. Und sei bitte nicht impertinent. Ich habe nicht darum gebeten, dass etwas von all dem geschieht, dass mein Großvater stirbt und dass meine Mutter krank wird und dass …«

»Nein, aber dann sind Sie wählerisch, oder?«

»Was soll das denn nun heißen?«

»Mama behalten. Donnie behalten. Behalten, was immer Ihnen gefällt. Den ganzen Rest wegwerfen, all die hässlichen Dinge, für die Sie keine Verantwortung übernehmen wollen.«

»Zum Beispiel?«

»Aileen. Ihren Vater …«

»Darf ich dich daran erinnern, Willy, dass du ebenfalls der Meinung warst, dass mein Vater besser in einer Anstalt untergebracht wäre?«

»Ja«, sagte Willy. »Das war ich.«

»Und es geht dich verdammt noch mal nichts an, was ich tue.«

»Wenn Sie meine Kündigung wünschen …«

»Um Himmels willen, Willy! Deine Kündigung? Wohin willst du gehen? Was willst du tun? Du wirst nie eine andere Stellung wie diese hier finden, nicht in deinem Alter.«

»Darf ich das so verstehen«, sagte Willy, »dass ich nicht für völlig nutzlos gehalten werde, selbst wenn ich dem Grabe zuwanke?«

Biddy wusste nicht genau, warum ihre starke rechte Hand plötzlich ein Zittern entwickelte, wenngleich sie wegen des Zeitpunktes den vagen Verdacht hegte, dass es mit der Fahrt nach Redwing zu tun haben könnte. Sie war mit sich zufrieden gewesen, über ihre Aussichten, über die Art, wie sie mit allen Familienkrisen fertiggeworden war, und alles – fast alles – zu aller Zufriedenheit geregelt hatte. Sie hatte nicht erwartet, dass sie mit der schlechten Laune ihres treuen Verwalters konfrontiert werden würde.

Sie erhob sich und stellte sich vor ihn hin.

Willy war einer von nur einer Handvoll Männer, die sie kannte, die größer als sie waren und zu denen sie aufschauen musste. Das störte sie nicht. Tatsächlich freute sie das. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, die Hände in die Seiten gestemmt, und schaute ihm in die Augen.

»Du wirst nicht kündigen, Willy, weil Margaret das nicht zulassen wird«, sagte sie. »Du bist hier ein Gefangener, alter Knabe, für den Fall, dass dir das nicht bewusst ist. Dies ist der Preis, den du dafür zu zahlen hast, dass du dich für viel zu viele Menschen unersetzlich gemacht hast, vor allem für Frauen. Wenn du jetzt freundlicherweise nach unten gehst, die Köchin aus ihrem Schlaf weckst und den Tisch fürs Dinner decken lässt – ein Dinner für zwei.«

»Was ist denn dagegen einzuwenden, hier zu essen?«, fragte Willy missmutig. »Das Esszimmer ist doch ohnehin von Ihrer neu erworbenen Bibliothek belegt. Donnie wird nichts dagegen haben, sein Abendessen vor dem Kamin einzunehmen.«

»Donnie wird sein Abendessen in der Küche mit euch einnehmen, bevor er nach oben geht, um sich eine Stunde zu meiner Mutter zu setzen.«

»Und was werden Sie machen?«

»Einen Gast bewirten, Willy.«

»Einen Gast?« Willy runzelte die Stirn. »Ihren Cousin Quig?«

»Nein«, sagte Biddy mit einem unvermeidlichen Krausen der Stirn. »Gillies Brown, wenn du’s wissen möchtest. Ein Tête-à-tête im Esszimmer.«

»Tête-à-tête?«, sagte Willy schrill.

»Hmm«, sagte Biddy. »Im Esszimmer.«

Weihnachten war Tom Ewings liebste Jahreszeit. In dieser Zeit befand er sich in Crove in einer gefährlichen Situation, weil Weihnachtsfeiern mit Krippen, Liedern und Kränzen aus Stechpalmenzweigen als Dinge angesehen wurden, die für die dickschädeligen Presbyterianer dem katholischen Götzendienst zu nahe waren. Tatsächlich aber wurde in der »anderen Kirche« von Crove der Geburtstag des Herrn kaum zur Kenntnis genommen, und Barclay Boag, der Geistliche dieser Kirche, und Tom Ewing hatten seit Jahren kein höfliches Wort miteinander gewechselt. Das ging natürlich nicht von Tom aus, wirklich nicht. Er hätte es vorgezogen, über Differenzen mit seinem Kollegen zu sprechen, wusste aber aus Erfahrung, dass eine vernünftige Diskussion unmöglich war. Selbst der heilige Petrus hätte es schwer gehabt, Mr. Boag davon zu überzeugen, dass er würdig war, durch das eiserne Tor am Ende der Hauptstraße gelassen zu werden – einmal gänzlich abgesehen davon, dass Weihnachten eine Zeit der Freude war oder sein sollte.

Toms Kirchenälteste, darunter auch Hector Thrale, waren kaum geneigter, all den verrückten Ideen freien Lauf zu lassen, die sich in südlicheren Regionen wie Tobermory um Weihnachten rankten, wo, wie sie glaubten, ein Zustrom von Neuankömmlingen bereits strenge Jahrhunderte der Tradition untergrub.

Sie, die Kirchenältesten, waren jedoch großzügige Männer. Sie gewährten ihrem weichherzigen Pfarrer einen gewissen Spielraum, wenn es um die Auswahl der Lieder und Texte für den Weihnachtsgottesdienst ging, zogen aber eine klare Grenze, was den Austausch von Geschenken oder Karten mit ihm betraf. Solche Zeichen von Freundschaft und Wertschätzung waren dem Neujahrstag vorbehalten, der in dem wunderlichen, unveränderten Kalender protestantischer Inseln noch immer als die beste Zeit für sentimentale Befriedigung galt.

Dennoch lagen eindeutig Veränderungen in der Luft. Sie wurden nicht aus einem offensichtlichen Zentrum der Verdorbenheit wie Tobermory herangeweht, sondern von Fetternish, wo Mrs. Bridget Baverstock angekündigt hatte, dass sie eine große Weihnachtsfeier für all ihre Arbeiter und Pächter, die Kinder eingeschlossen, geben werde, und dass sie niemandem, der eine Einladung ablehnte, wohlgesonnen sein würde.

Tom hatte nicht die Absicht, Biddys Einladung abzulehnen. Er hatte bereits seine Dezemberreise nach Dundee gemacht, um seine alte Mutter zu besuchen und auf dem Markt der Stadt Spielzeug und wertlosen Tand zu kaufen, und dazu ein paar Karten mit Papierspitzen, die er aufgeklärteren Freunden schicken wollte. In letzter Zeit hatte er von den Campbell-Schwestern wenig gesehen. Sie waren sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt gewesen. Er hatte Vassie besucht, um Gebete für eine schnelle Genesung zu sprechen, und hatte von Biddy gehört, dass Ronan zu seinem eigenen Besten zu vorläufiger Betreuung auf das Festland geschickt würde. Auch dass Robert Quigley von Foss geholt würde, um sich um die Herde auf Pennypol zu kümmern. All diese Informationen – insbesondere die Neuigkeiten über Quig – verdrängten irgendwie die Wolke der Schwermut, die sich in den vergangenen Jahren auf Reverend Ewing gesenkt hatte, obwohl er einfach nicht feststellen konnte, wann er begonnen hatte, sich besser zu fühlen, oder was der Grund dafür war.

Ganz sicher hätte er geleugnet, dass dies mit diesem Nachmittag im Laden von Miss Fergusson zusammenhing, an dem Robert Quigleys Mutter wie eine warme, würzig duftende Brise aus Arabien in sein Leben getrieben war. Er würde vielleicht sogar geleugnet haben, dass sich der Fortschritt seiner Gesundung mit seinem Herzschlag beschleunigte, als er beim Betreten der Kanzel am Sonntagmorgen, dem 20. Dezember, die komplette Schar der Browns aus An Fhearann Cáirdeil zusammen mit Biddy, Donnie und Margaret Naismith hereinkommen sah – und dort, in der dritten Reihe von vorn, die puppengleiche Gestalt von Aileen Campbell zusammen mit Mairi, Robert Quigleys Mutter, saß.

Tom konnte sich kaum dazu aufraffen, die Nummer des Eröffnungspsalmes zu verkünden, da er zu ihr schaute, und als sie seinen Blick wahrnahm, was sie ohne Schwierigkeit tat, und ihre behandschuhte Hand hob und ihm ein winziges Winken mit ihren Fingern schenkte, fühlte er sich plötzlich so leicht und unbeschwert wie eine Blase in einem Glas Gin. Und wenn dies noch nicht genug gewesen wäre, um die Mauern von Jericho zum Einsturz zu bringen, dann waren es ganz sicher die Ereignisse am späten Sonntagnachmittag.

Er saß in seinem Sessel in der Bibliothek im hinteren Teil des Pfarrhauses, hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und ein Schinkensandwich mit englischem Senf in der Faust, als der Türklopfer an der vorderen Tür einen fröhlichen kleinen Wirbel schlug. Er hatte über Weihnachten, Biddys Feier und Mairi Quigley nachgedacht, all dieses in einem seligen Nebel, der sicher nichts mit den drei Gläsern Sherry zu tun hatte, die den Weg für Schinken und Senf geglättet hatten. Zum ersten Mal sprang der Geistliche nicht schuldbewusst auf, stopfte den Leckerbissen in seine Schublade und versteckte Glas und Karaffe hinter seinen Konkordanzen. Er schwang seine Füße auf den Teppich und murmelte nicht verärgert, sondern sein Gesicht verziehend: »Wer, zum Teufel …« Dann stapfte er mit einem Schulterzucken durch das leere Haus, um an die Vordertür zu gehen.

Er erwartete einen Kirchenältesten, der eine Beschwerde hatte, oder einen Sonntagsschullehrer mit einer Frage – was um diese Jahreszeit durchaus üblich war – über die rassische Herkunft der drei Weisen oder einen aufgebrachten Mr. Sapsfort, seinen Küster, der gekommen war, um ihm die drei irischen Pennys zu zeigen, die jemand in den Kollektenbeutel geworfen hatte. Was er nicht erwartete, nicht einmal in dieser mildesten Stimmung, war Mairi Quigley, die mit einem großen Weidenkorb zu ihren Füßen auf seiner Türschwelle herumzappelte.

»Madam«, sagte Tom, »was, zum Teufel, tun Sie hier?«

»Ich suche«, sagte sie, »nach einer Toilette. Haben Sie eine?«

»Aber natürlich.«

»Drinnen?«

»Biegen Sie hinter dem Korridor links ab und dann wieder links.«

»Gott sei Dank!«, sagte sie. »Stört es Sie?«

»Nein, ich …«

»Das ist übrigens Ihrer. Ich meine den Korb.«

Sie war an ihm vorbei, bevor er es verhindern konnte, im Innern des Pfarrhauses und eilte über den dunklen Korridor dem WC zu, das die Gemeinde im letzten Frühjahr erst hatte installieren lassen und das Tom, verlegen über einen solchen Luxus, nicht einmal von Mrs. McCorkindale, seiner Haushälterin, betreten, geschweige denn säubern ließ. Er starrte ungläubig Mairi Quigley nach. Starrte auf ihre flatternden Röcke, auf das Wippen ihrer Feder an dem Hut im Stil von Gainsborough, auf ihre Absätze, die auf die Dielenbretter trommelten, die solcher Geschwindigkeit und Leichtigkeit seit drei Jahrzehnten nicht ausgesetzt gewesen waren.

Nicht die Spur durch den spanischen Wein getrieben, trat Tom auf den Weg hinaus. Er schaute auf die Hauptstraße, hinüber auf die Kirche, über den Friedhof und die dahinter liegenden, feuchten, kritiklosen Felder. Dann bückte er sich und hob den Weidenkorb auf, hielt inne und schaute sich noch einmal um.

»Was ist denn?«, sagte er laut. »Also, was ist los?«, und da er keine Antwort erhielt, trat er schnell wieder ins Pfarrhaus zurück und schloss die Tür mit seiner Ferse.

Biddy stupste ihre Schwester in den Lichtkreis um das Bett.

»Weißt du, wer das ist, Mam?«, fragte sie.

Vassie lehnte an zwei festen Kissen. Ihr Haar war an diesem Morgen gewaschen worden und bildete eine federige kleine Korona über ihrer Stirn, die sie überraschend munter aussehen ließ. Ihre Haut war nicht mehr so gebräunt wie früher, aber sie war nicht besonders blass oder ungesund, wirkte nur zerbrechlich. Doch das Glitzern war wieder in ihren Augen, und wie Biddy vermutete, war der Widerwille ihrer Mutter, zu kommunizieren, überhaupt nicht auf einen Hirnschaden zurückzuführen, sondern auf eine grundlegende Veränderung tief in ihr, auf ein fast böswilliges Bedürfnis, ihre Lage einzuschätzen und abzuwägen, während sie körperliche Kraft sammelte.

Sie trug ein teures Baumwollnachthemd, eine zitronengelbe Bettjacke mit kleinen Bändern und Schleifen und eine winzige Baumwollnachtmütze, die wie ein Golfball auf einem Büschel Gras auf ihrem flaumigen, grauen Haar saß. Das hängende Lid hatte wieder Kraft entwickelt, aber sie schien noch keine Kontrolle darüber zu haben, und blinzelte und zwinkerte in völlig ungeeigneten Augenblicken, wobei sich ihre Lippen nur ein wenig in völliger Konzentration spitzten.

Sie starrte Aileen an, die mit dem bekleidet war, was auf Foss als Sonntagsstaat galt, aber was den Stil betraf keine Konkurrenz für ihre älteste Schwester war. In dem großen Schlafzimmer wirkte Aileen wie eine Puppe, die entweder zu sehr geliebt oder zu lange vernachlässigt worden war. Sie war sehr still und umklammerte Donnies Hand und sah, wie Biddy fand, weniger wie die Mutter des Jungen, sondern mehr wie eine jüngere Schwester aus, die von einer bösen Krankheit befallen war. Donnies Sanftheit und Sorge um sie ließen ihn reifer wirken, als er war, und in diesem letzten Monat oder den vergangenen beiden hatte er begonnen, so in die Höhe zu schießen, dass er jetzt einen ganzen Kopf größer als die Kindfrau war, die ruhig mit ihm neben dem großen Bett stand.

»Es ist deine Tochter, Gran«, sagte Donnie in dem eigenartig eintönigen Tonfall, den er hatte, wenn er der Kranken laut vorlas. »Es ist Aileen, meine Mutter, die gekommen ist, um zu sehen, wie es dir geht.«

Biddy beobachtete die Augen, sah, wie sie sich bewegten, wie sie jeden von ihnen nacheinander abschätzten und dann plötzlich von ihr zu Donnie und Aileen wanderten und dann wieder zurück zu ihr. Sie wartete auf eine Reaktion. Zuvor hatte es aus dem Mund ihrer Mutter Worte gegeben, höfliche Worte wie dann und wann »Bitte« und ein »Dankeschön«, keines undeutlich. Aber es hatte wenig anderes gegeben, keine Proteste, keine Klagen und keine Fragen. Jetzt schürzte Vassie die Lippen. Ihr Augenlid zuckte und flatterte, öffnete sich dann sehr weit, sodass die Pupille so wirkte, als stecke sie hinter einem Vergrößerungsglas.

»Wo ist – wo ist er?«

»Was?«, sagte Biddy.

»Wo ist er?«, sagte Vassie mit glockenklarer Stimme.

Sie lag völlig still im Bett, die Arme, dünn wie Stroh, auf dem Deckbett ausgestreckt, der Kopf noch immer auf dem spitzenbesetzten Kissen, die kleine Mütze nur ein wenig verrutscht.

»Aileen ist gekommen, um dich …«

»Ronan? Mein Ronan?«

»Also, Mutter. Das ist aber nicht sehr höflich.« Biddy beugte sich vor, um die Mütze gerade zu rücken. Der Arm bewegte sich, die Hand öffnete sich und schlug nach den Fingern ihrer Tochter. Biddy zuckte zusammen, wich aber nicht zurück. »Aileen ist einen weiten Weg gekommen, um …«

»Wo ist mein Ronan?«

Donnie zog seine Mutter an sich, legte die Hände auf ihre knochigen Schultern und hielt sie, als sollte ein Foto von ihr gemacht werden. Aileen lächelte jetzt und zeigte ihre Zähne.

Donnie sagte: »Großvater kann dich nicht besuchen kommen, weil er betrunken und das Wetter zu schlecht ist, um ihn von Pennypol abzuholen.«

Und Vassie grinste ebenfalls wie ein Spiegelbild ihrer Jüngsten, zeigte ihre Zähne und die Zungenspitze, die von Medizin gerötet war. »Er ist tot, ja?«

»Natürlich ist er nicht tot, Mutter«, sagte Biddy, die wieder versuchte, die Mütze zurechtzurücken. »Es ist genau so, wie Donnie gesagt hat. Er ist zu betrunken, um …«

»Ihr steckt alle unter einer Decke«, unterbrach Vassie. »Alle.«

Biddy warf ihrem Neffen einen scharfen Blick zu. »Was hast du ihr erzählt?«

Überhaupt nicht eingeschüchtert, antwortete Donnie mit einem Kopfschütteln.

Aileen hob die Hände und streichelte das Handgelenk ihres Sohnes, als wolle sie zeigen, wie erfreut sie über seine Rechtschaffenheit sei.

Biddy sagte: »Willst du denn nichts zu Aileen sagen, jetzt, wo du deine Stimme wiedergefunden hast, Mam?«

»Ha!«, sagte Vassie. »Sag dem Jungen, er soll mich nicht belügen.«

»Er belügt dich nicht«, sagte Biddy. »Möchtest du jetzt aufstehen?«

»Nein.«

»Möchtest du, dass wir gehen?«

»Ja.«

»Ohne ein Wort zu der armen Aileen zu sagen?«

»Wiedersehen«, sagte Vassie und schloss zu Biddys Erstaunen plötzlich beide Augen und begann ostentativ zu schnarchen.

»Aaach, Mammy schläft wieder«, sagte Aileen.

»Oh, nein. Tut sie nicht«, sagte Vassie.

Quig sagte: »Wer sitzt bei deiner Mutter?«

»Niemand«, antwortete Biddy. »Es wird ihr nicht schaden, ein oder zwei Stunden allein zu sein.«

»Ich nehme an, dass sie wusste, wer Aileen ist?«

»Natürlich wusste sie es«, sagte Biddy. »Ich bin mir nur nicht so sicher, dass Aileen wirklich wusste, wer Mam ist. Aber sei es, wie es sei. Ich habe dich heute Nachmittag nicht hergebeten, um über die Gesundheit meiner Mutter zu reden.«

»Hast du mich deshalb ins Büro geführt?«, sagte Quig.

»Ich denke schon«, sagte Biddy. »Ja, das ist der Grund.«

Sie trug noch immer ihr Sonntagskleid und war jeden Zoll eine Dame. Doch Seide und Satin und Haarbänder schienen nicht zu den alten Holzwänden des Gutsbüros zu passen, zu dem Geruch von Kornsäcken und Saatproben oder den Haufen nicht abgelegter Rechnungen und Händlerkataloge, die überall gestapelt waren.

Der Holzstuhl war unbequem, aber Quig ließ sich nicht anmerken, dass er bestürzt darüber war, mehr wie ein Angestellter als ein Freund der Familie behandelt zu werden. Er zog seine Kordhose etwas hoch, schlug die Beine übereinander und betrachtete Biddy durch den rauchigen Halo einer alten Öllampe.

Biddy nahm hinter dem eckigen Tisch Platz, der als Schreibtisch diente. Sie ordnete ihre Röcke, zupfte an ihren Ärmeln und pflanzte ihre Ellenbogen zwischen einer mit Knochenmehl gefüllten Steingutschüssel und einem chemischen Feuerlöscher auf den Tisch.

»Du kannst ihn nicht haben, Quig«, sagte sie.

»Wen?«

»Donnie.«

»Dann sind wir also hier, um über Donnie zu reden?«

»Ich weiß, welches Spiel du spielst«, sagte Biddy ohne Zorn. »Du willst versuchen, meine Zuneigung zu Donald zu benutzen, mich dazu zu bringen, ihn hier im Hause zu behalten.«

»Der Platz des Jungen ist bei seiner Mutter«, sagte Quig.

»Oh, das also soll deine Ouvertüre sein, ja?«, sagte Biddy. »Als Nächstes wirst du mir erzählen, dass Aileen ohne die Gesellschaft ihres Sohnes nicht auskommen kann. Unsinn! Sie ist jahrelang sehr gut ohne ihn ausgekommen. Du hast ihn großgezogen, Quig, du und mein Großvater. Ihr beide. Herzergreifende Geschichten über Mutterschaft werden jetzt bei mir überhaupt nichts bewirken. Außerdem willst du das Beste für Donnie, und du weißt, dass ich ihm das bieten kann.«

»Ja«, sagte Quig, »aber wir wollen doch nicht, dass er ein Müßiggänger wird, nicht wahr?«

»Die Gefahr besteht nicht«, sagte Biddy.

»Ich werde ihn brauchen, damit er mir bei den Rindern hilft.«

»Dann kannst du ihn als Hilfe bei den Rindern haben.«

»In diesem Fall wäre es besser, wenn er auf Pennypol leben würde.«

»Quig, Quig«, sagte Biddy. »Er ist ein gesunder, junger Mann und kann in einer Viertelstunde nach Pennypol spazieren – oder rennen. Seine Schule muss Vorrang haben. Falls du immer noch vorhast, ihn auf eine Universität zu schicken.«

»Landwirtschaftsschule«, sagte Quig.

Biddy schenkte ihm ein Lächeln. Sie hatte keine Grübchen – ihr Gesicht hatte diese Form nicht –, konnte aber dennoch geradezu schicksalhaft süß aussehen, wenn sie es wollte.

Sie sagte: »Universität.«

Bis zu diesem Augenblick war Quig über ihre Schärfe belustigt, aber nicht erschreckt gewesen. Im Lauf der Jahre hatte er Biddy Campbell Baverstock nur selten gesehen. Foss war ein großes Stück von Fetternish entfernt, nicht nur in Meilen, und ihre Wege hatten sich kaum gekreuzt. Die Tatsache, dass er der Hüter ihrer jungen Schwester war, spielte keine Rolle. Sie hatte seine Manöver durchschaut und vereitelt. Das störte ihn nicht. Tatsächlich bewunderte er das sogar. Aber diese andere Sache, dieses Spiel mit Worten, ärgerte ihn ein wenig.

Er sagte: »Donnie möchte Landwirtschaft studieren.«

»Nein, das will er nicht«, sagte Biddy. »Er will nicht sein ganzes Leben Farmer sein. Er möchte Geschichte studieren und vielleicht Lehrer werden.«

»Hat Donnie dir das selbst erzählt?«

»Das hat er in der Tat.«

»Hast du ihm das in den Kopf gesetzt?«

»Nein, der Wunsch war schon immer da«, sagte Biddy. »Was bisher gefehlt hat, war die Gelegenheit.«

»Aber du hast ihn ermutigt?«

»Natürlich habe ich ihn ermutigt.«

»Das war falsch von dir«, sagte Quig.

»War es das? Warum?«

»Weil er sich so über seinen Stand erhebt.«

»Seinen Stand! Seinen Stand!«, rief Biddy aus.

Sie legte jetzt die Hände auf den Tisch, hatte die Finger gespreizt und die Ellenbogen angewinkelt, als habe sie die Absicht, jeden Augenblick aufzuspringen.

Vor Quigs erstauntem Blick schien sie anzuschwellen, noch fraulicher und zugleich noch maskuliner zu werden. Das war wirklich nichts Außergewöhnliches. Jeder auf oder um Fetternish würde diese Pose als Biddys Darstellung von Autorität erkannt haben. Doch Quigs Betrachtungsweise seiner »Cousine« war sowohl romantisch wie opportunistisch gewesen, zu eng und befangen, um zuzugeben, dass sie Charakterqualitäten haben könnte, die sie berechtigten, eine erfolgreiche Landbesitzerin zu sein, und dass Glück und gutes Aussehen zweitrangig waren. Seine Schlauheit war die des Viehhändlers, die des Insulaners, eine beschränkte, ziemlich arrogante Eigenschaft, die nur von seinesgleichen herausgefordert worden war, nie von seinen Vorgesetzten und schon gar nicht von einer Frau.

Er fühlte sich durch die Wucht ihres Ausbruchs ein wenig erschüttert.

Biddy ließ sich wieder auf den Holzstuhl sinken und tat, als wolle sie sich beherrschen. Jetzt hatte sie den armen kleinen Burschen ganz in der Hand. Sie brauchte nicht zu schmollen oder ihn zu ermuntern oder gar ihre Stellung ausspielen. Und ganz gewiss brauchte sie nicht mit ihm zu flirten. Sie hatte sich zuvor auf Quigs schlauen Angriff auf das, was er für ihre Schwäche hielt, vorbereitet. Er hatte sie – wie er jetzt wohl erkennen musste – falsch eingeschätzt.

»Sein Stand ist der eines Campbells«, sagte Biddy. »Er ist, wenn ich dich daran erinnern darf, mein Neffe und kein gewöhnlicher Kesselflicker, der zufällig wie ein Stück Strandgut nach Foss getrieben worden ist. Mein Großvater würde genau verstehen, welche Ambitionen Donnie hat.«

»Donnie ist zu jung, um zu wissen, was das Beste für ihn ist.«

Noch während Quig sprach, wusste er, wie lahm das klang. Er suchte verzweifelt nach einem anderen, besseren Argument, doch wieder war Biddy ihm voraus.

Sie sagte: »Du hast ihn in die Schule geschickt. Du hast ihn der Strenge der Erziehung ausgesetzt. Wenn Donnie lernt, für sich selbst zu denken, kannst du nur dir dafür einen Vorwurf machen. Ja, und für sich selbst zu sprechen. Wenn du ihn fragst, wird er dir erzählen, was er tun möchte. Und wenn du Mr. Brown fragst, den Schulmeister, wird er dir erzählen, was möglich ist. Tatsächlich ist alles möglich, wenn man in Donnies Alter ist. Er brennt darauf, auf die Universität zu gehen, ein richtiger Lehrer zu werden. Was ist schlimm daran?«

»Das Schlimme ist«, sagte Quig, »dass er nicht nach Mull zurückkehren wird.«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Biddy.

»Und du würdest ihn gehen lassen?«

»Absolut«, sagte Biddy.

»Ich dachte … du liebst ihn?«

»Das tue ich. Das gebe ich zu«, sagte Biddy. »Ich empfinde eine ungeheure Zuneigung zu Donald. Er ist mein Blutsverwandter und bedeutet mir fast so viel wie ein Sohn. Aber das ist kein Grund, ihn zu halten. Ich dachte, du wolltest für ihn auch nur das Beste.«

»Das tue ich. Das habe ich.«

»Das hast du?«

»Ich glaubte nicht, dass er uns verlassen würde.«

»Wie alt bist du, Quig?«

»Noch nicht dreißig.«

»Wenn du in meinem Alter bist«, sagte Biddy, um deren Lippen jetzt wieder dieses schicksalhafte, feine Lächeln spielte, »wird dir klar sein, dass du Menschen nicht auf diese Weise benutzen kannst, nicht einmal, wenn du glaubst, es sei zu ihrem eigenen Besten.«

»Ihn benutzen? Das verstehe ich nicht.«

»Sprich mit Mr. Brown. Ich habe es getan. Sprich mit Donnie. Ich habe es getan«, sagte Biddy. »Schau doch mal zu den Hügeln hinauf, Robert Quigley, dorthin, woher die Zukunft kommt.«

Quig schüttelte den Kopf. »Oh, oh, Mrs. Baverstock, Sie sind ja eine größere Träumerin als Ihre Schwester Innis. Ich dachte immer, sie sei diejenige mit der poetischen Ader und den lyrischen Formulierungen.«

»Tatsächlich?«, sagte Biddy. »Dann denk doch einmal über diese lyrische Formulierung nach – Gutsverwalter. Gutsverwalter, Quig. Ist das nicht die Position, die du haben wolltest?«

Dies war der Augenblick bei dem Hin und Her und dem Feilschen um den Preis eines Ochsen oder einer Färse, in dem das Grinsen zu einer Grimasse wurde und in dem die Faust sich ballen und wieder öffnen würde, man sich in die Hand spuckte und die Hände schüttelte und ein Geschäft ohne Groll auf beiden Seiten abschloss. Das Feilschen war vorbei, und Biddy Baverstock hatte gewonnen. Sie hatte seinen ganzen Plan vereitelt, den Plan, den er und seine Mutter in den langen feuchten Winternächten auf der Insel geschmiedet hatten, als es nichts anderes zu tun gab und sich keine Zukunft nach dem Kalben im Frühling bot.

»Nun, Mr. Quigley, ist es so?«, sagte Biddy. »Ist es das, was du für Donnie erhofft hattest? Dass er hierher zurückkommen würde, nicht nur nach Mull, sondern nach Fetternish, und dass ich ihn nehmen würde, um Hector Thrale zu ersetzen, der nicht mehr lange arbeiten kann und in jedem Fall längst in dem Alter ist, in dem er im Ruhestand sein sollte.«

»Verwalter?«, sagte Quig. »Verwalter von Fetternish? Daran habe ich nie gedacht.«

»Oh, nun komm aber!«, sagte Biddy. »Daran musst du gedacht haben. Wenn du nicht daran gedacht und nicht die Vorteile errechnet hast, die dir dies bringen würde, dann bist du nicht der Mann, der du angeblich bist, und bist ganz sicher nicht fähig, Fetternish für mich zu verwalten.«

»Ich?«

»Also ich werde sicher keinen Lehrer dafür einstellen, oder?«, sagte Biddy. »Ist es nicht das, was du willst? Der Verwalter eines gut laufenden Hochlandgutes zu sein?«

»Ich weiß nicht, ob ich fähig bin …«

»Du wirst drei Jahre haben, vielleicht vier, um alles zu lernen, was du wissen musst. Danach werde ich Thrale mit einer kleinen Pension bedenken und ihm und seiner Frau kostenlose Nutzung ihres Cottages zugestehen, so lange noch einer von ihnen lebt.«

»Das ist großzügig.«

»Aber ich bin großzügig«, sagte Biddy. »Hast du das nicht gemerkt, als du mich eingeschätzt hast? Manchmal bin ich so großzügig, dass es mir schadet.«

»Und was, wenn ich Donnie nicht gehen lassen will?«

»Du kannst ihn nicht halten.«

»Kannst du das?«

»Möglich«, sagte Biddy. »Aber ich würde es nicht wagen.«

»Was wird aus Aileen, wenn Donnie fort ist?«, sagte Quig.

»Wird für sie nicht immer Platz in deinem Haus sein?«

»Doch, das wird es.«

»Und wenn es keinen mehr gibt«, sagte Biddy, »werde ich für sie sorgen.«

»Wie du für alles und jeden sorgst«, sagte Quig.

»Ich tue mein Bestes.«

»Aber wer wird sich um Sie kümmern, Mrs. Baverstock?«, sagte Quig. »Oder ist das eine Frage, die du mir noch nicht beantworten kannst?«

»Es ist eine Frage, die du nicht einmal stellen solltest«, sagte Biddy. »Aber die Antwort sollte klar sein: Ich kann auf mich selbst aufpassen.«

»Das hatte ich mir gedacht.«

Quig musterte sie einen Moment ruhig, nicht im Mindesten gekränkt durch die Tatsache, dass sie ihn besiegt hatte. Dann erhob er sich, öffnete seine Hand, spuckte leicht darauf und streckte sie über den Tisch.

»Abgemacht, Mrs. Baverstock?«, sagte er.

»Abgemacht, Mr. Quigley«, sagte Biddy und drückte ihre feuchte Hand in seine.