An seinem Lebensabend zog sich Colonel Murray Wingard von den 93sten Sutherland Highlanders, der bei Orléans eine Musketenkugel in die Hüfte bekommen und eine Frau in Dublin gehabt hatte, in das Dorf Crove zurück, um dort bei seiner Tochter Rose zu leben. Rose’ Mann, William Gardiner, war alles andere als erfreut, den alten Haudegen in seinem Haus aufnehmen zu müssen, aber Colonel Wingard war inzwischen Witwer, in den Siebzigern, hatte keinen anderen Platz, an dem er bleiben konnte und seine Lebenserwartung war ohnehin nicht hoch.
Gardiner selbst war ein Neuankömmling. Er hatte Crove House und eine kleine Parzelle Land zu Beginn des Jahrhunderts erworben, und da er so eine Art Architekt und Ingenieur war, hatte er das zerfallende Bauernhaus zu einem soliden, mit Türmen und Zinnen besetzten Herrenhaus im schottischen freiherrlichen Stil umgebaut. Geduld war allerdings nicht William Gardiners starke Seite, und als der alte Wingard nach einigen harten, feuchten Wintern nicht verschied, begann er seinen Schwiegervater zu schikanieren, was natürlich genau die Art von Stimulans war, die der milzkranke Colonel brauchte, um alles daranzusetzen, am Leben zu bleiben.
Niemand in Crove mochte Gardiner. Jeder in Crove liebte den vom Whisky trunkenen alten Colonel. Die Gemeinde war bald durch die Fehde zwischen Wingard und Gardiner, die fast zwanzig Jahre währte und bis in die Zeit der Zwangsräumungen reichte, sowohl geteilt als auch unterhalten. Im Kampf gegen Enteignung bezog der Colonel die Position der Bauern. Die Tatsache ignorierend, dass die Hälfte der neuen landbesitzenden Schicht Schotten waren, tat er, was er konnte, um zu verhindern, dass sie durch »diese räuberischen englischen Lumpen« zu sehr litten. Im Hinterzimmer des McKinnon Arms leitete er Protestversammlungen, und als er schließlich 94-jährig starb, zehn Wochen nach seinem Schwiegersohn, vermachte er der Gemeinde so viel Geld, dass sie auf Croves letztem Stück Gemeindegrund eine Halle errichten konnte.
So entstand die Wingard-Gedächtnishalle. So entzog sich die jährliche Feier des Erntedankfestes der Kontrolle der Kirche und wurde stattdessen eine Gemeindeveranstaltung. Sitten ändern sich jedoch weniger subtil und erheblich schneller, als Folkloristen einen glauben machen wollen, und es dauerte nicht lange, bis das Erntedankfest eine eigene Reihe von Traditionen entwickelt hatte, die noch vor Ablauf eines Jahrzehnts so altehrwürdig waren wie alles andere im christlichen Kalender. Die Nominierung des Komitees, die Einberufung der Versammlung, die Wahl des Vorsitzenden, die Entlastung des Schatzmeisters wurden rasch Bestandteil des Gemeindelebens und Ersatz für viele der alten Bräuche, die für immer ausgelöscht wurden und mit denen die Vorväter von Crove den Höhepunkt des Jahres gewürdigt hatten.
Das wichtige Thema jetzt war nicht, wer die letzte Garbe Korn schneiden würde, sondern welche Band auf einem Bauernwagen heranrollen würde und welcher Pfeifer mit der Fähre von Coll oder Tiree kommen würde, um fröhliche Weisen zu spielen, nachdem Schweiß und Whisky die tränenreichen, herzzerreißenden Klagelieder ertränkt hatten.
»Haben Sie’s schon gehört?«, würde Molly Maclean atemlos fragen, wenn sie in den Laden am Ende der Hauptstraße stürzte. »Wird es McPherson sein oder Dunlop?«
»Weder noch, Mrs. Maclean«, würde die alte Miss Fergusson ihr sagen. »Ich habe gehört, dass es kein anderer als McFee persönlich sein wird.«
»Calum oder Alisdair?«
»Calum.«
»Dann ist er aus dem Gefängnis raus?«
»Aus dem Gefängnis, und seitdem läuft bei ihm alles bestens.«
»Und die Band? Wird es wieder Morrisons sein?«
»Nein, es wird nicht Morrisons sein. Nach dem letzten Jahr sagte Mr. Ewing, dass er für diesen betrunkenen Pöbel kein Quartier im Pfarrhaus zur Verfügung stellen würde, nicht wenn er wieder sein Kornett herausholen und selbst für uns spielen müsste.«
»Es müssen wohl die beiden jungen Damen gewesen sein, die man anschließend auf dem Friedhof hat liegen sehen, die sein Herz gegen Morrison verhärtet haben, denke ich«, würde Mrs. Maclean stirnrunzelnd sagen. »Wer wird’s dann sein? Ich hoffe nicht, die Fiedler aus dem Seamans Lodge?«
»Nein.« Die Stimme würde sich senken, die Schultern würden vorgezogen, die Hand gehoben, um den Mund zu verdecken, und der Kopf abgewendet werden, um durch das staubige Fenster auf die leere Straße zu schielen. »Die Kildonan Volunteers.«
»Die mit der Flöte?«
»Ja – und mit dem Dingsbums.«
»Oh, was für ein Vergnügen steht uns da bevor, Miss Fergusson.«
»Was für ein Vergnügen, in der Tat, Mrs. Maclean.«
Am Mittag war in der ganzen Gemeinde und bis aufs halbe Meer hinaus bekannt, welche Kapelle spielen würde, und an gewissen Plätzen und Stellen, so etwa in der Mädchenschule in Dervaig, kannte die Aufregung keine Grenzen. Die Kildonan Volunteers! Gott, sie waren auf ganz Mull berühmt, hatten in der Tat einen so guten Ruf, dass sie sogar nach Glasgow eingeladen worden waren, um auf dem Highlanders Ball zu spielen. Die Kildonan Volunteers kamen zum Erntedankfest nach Crove! Aber wer würde das bezahlen, wer würde diesen Teil der Rechnung begleichen?
»Nun, Mr. Ewing«, sagte Austin Baverstock, »mein Bruder und ich mögen zwar genau genommen nicht die Besitzer von Crove sein, aber ich denke, dass wir das sind, was Sie vielleicht als ›Gutsherren‹ bezeichnen würden, und dass wir unsere Verpflichtungen in dieser Hinsicht zu akzeptieren haben.«
»Das ist überaus großzügig von Ihnen«, murmelte Tom Ewing, den Mund voller Kümmelkuchen. »Ich bin sicher, die Gemeinde wird sehr dankbar sein.«
»Und Sie sagen, alle werden da sein?«
»Jeder Viehhüter, Pflüger und Schafhirte auf dieser Seite von Salen«, versicherte Tom ihm. »Nur diejenigen, die Tanzen für eine Erfindung des Teufels halten, werden die Vorgänge boykottieren. Was den Rest betrifft, so können nicht einmal wilde Pferde sie davon abhalten.«
»Natürlich wird auch getrunken?«
»Leichtes Ale«, sagte der Pfarrer. »Für die Kinder Fruchtliköre.«
»Nichts Stärkeres?«
»Leider ja«, sagte Tom schulterzuckend. »Ohne regelmäßige Trinkopfer von Whisky wäre es kein Erntedankfest. Offiziell jedoch sind in der Halle keine starken Drinks gestattet.«
»Wenn ich so sagen darf, Mr. Ewing, dann sind Sie für einen Geistlichen sehr liberal«, sagte Austin Baverstock zu ihm. »Ist das ein persönlicher Charakterzug oder ist es eine Qualität, die Sie sich haben aneignen müssen, als Sie nach Mull kamen?«
»Ein wenig von beidem, denke ich«, sagte Tom. »Obwohl meine Presbyter und einer oder zwei der älteren Gemeindemitglieder meine ›Laxheit‹ nicht ganz billigen, sind meine Schäfchen glücklich mit dem bisschen Freiheit, das ich ihnen zugestehe. Ich schätze mich glücklich, sagen zu können, dass der Erntedankgottesdienst am Sabbat fast ebenso gut besucht sein wird, wie der Tanz am Freitagabend. Ich werde die Garben segnen, die Käse und die Körbe mit Hering, ohne das Gefühl zu haben, ein Sakrileg zu begehen, weil ich wie die guten christlichen Leute ringsum wirklich glaube, dass der Herrgott ein treu sorgender Vater und Ernährer ist – auch wenn ich nicht der Theorie anhänge, dass Er tatsächlich ein Lewisman war und die Gälen aus anderem Ton geformt hat als Adam.«
Austin Baverstock kicherte. »Glauben sie das?«
»Das möchten sie gerne glauben«, sagte Tom. »Und ich gestehe, es gibt Zeiten, da ich an einem schönen Sommerabend auf dem Hügel stehe und zum Horizont schaue und ebenfalls versucht bin, zu glauben, dass dort ein Land direkt hinter den Hebriden ist, in dem ein Mann ewigen Frieden finden könnte.«
»Tir-Nan-Og, meinen Sie?«, fragte Austin Baverstock.
»Die Insel der Seligen, das Land der ewigen Jugend«, sagte Tom, »wo es keine Armut gibt, kein Altern, keinen Schmerz und kein Leid – und keine Organisationskomitees. Was«, sagte er, »mich zu dem Zweck meines Besuches zurückbringt. Ich möchte Ihnen im Namen des Vorstandes der Wingard Hall für Ihre großzügige Spende danken.«
Die Erwähnung eines irdischen Paradieses hatte ein sehnsüchtiges Lächeln auf Austins Gesicht gebracht. Er hatte seinen Blick zum Fenster des Gesellschaftszimmers gerichtet, zu der wogenden graugrünen See, die an diesem Nachmittag unter einer Wolkendecke lag.
»Wird Miss Campbell dort sein?«, fragte er.
Für einen Sekundenbruchteil dachte Tom, Austin Baverstock träume vielleicht noch von den Inseln der Seligen. Er runzelte die Stirn, legte einen Finger an sein Kinn und sagte dann: »Ah, auf dem Fest, meinen Sie?«
»Ja, auf dem Fest.«
»Welche Miss Campbell?«
»Bridget.«
Tom räusperte sich und entfernte mit seiner Serviette einen Kümmelkuchenkrümel aus seinem Mundwinkel. »Biddy, ja, Biddy wird dort sein. Sind Sie – äh – an Miss Campbell interessiert, Mr. Baverstock?«
»Oh nein, nein, nein. Das würde ich nicht sagen«, erwiderte Austin. »Sie ist jedoch eine recht bemerkenswerte – eine eindrucksvolle junge Frau, wie Sie sicher auch finden werden.«
»Ohne Zweifel«, sagte Tom. »Sie sind nicht der erste Herr in dieser Gegend, der diese Beobachtung gemacht hat. Man müsste blind sein, um Biddy Campbell nicht zu bemerken.«
»Entschuldigen Sie. Ich will nicht beleidigend sein.«
»Beleidigend?«, sagte Tom. »Gütiger Himmel, Mr. Baverstock, ich bin nicht im Mindesten beleidigt. Es ist nicht so, als ob Biddy – nun ja, diese Art von Mädchen wäre.«
»Oh, gütiger Himmel, nein! Gewiss nicht. Sie scheint sehr bescheiden zu sein, sehr gut erzogen.«
Tom behielt seine Vorbehalte hinsichtlich dieser Angelegenheit für sich, da er spürte, dass er sich auf dünnes Eis zu begeben drohte, und er wollte die Baverstocks, die offensichtlich viel zum Wohle Croves beizutragen hatten, keinesfalls verärgern.
»Kennen Sie Biddy – die Familie schon lange?«, fragte Austin.
»Seit ich nach Crove kam. Acht Jahre ist das jetzt her«, antwortete Tom. »Schon damals war sie bildschön.«
»Ich frage mich – ich meine, es ist komisch, dass sie nicht geheiratet hat.«
»Sie hat ein hitziges Temperament, Mr. Baverstock«, sagte Tom, »was manche Männer unangenehm finden.«
»Sie ist nie – ich meine, nie verlobt gewesen?«
»Meines Wissens nicht.«
»Vielleicht ist der richtige Mann noch nicht gekommen«, meinte Austin.
»Das ist wahrscheinlich der Grund«, sagte Tom Ewing.
»Ein älterer Mann. Ausgeglichen.«
»Ja«, sagte Tom, »ich bin sicher, dass es das ist.«
Austin Baverstock nickte, erfreut über die taktvollen Versicherungen des Geistlichen, und er sah dem Freitagabend jetzt ebenso ungeduldig entgegen wie jeder andere Mann.
Anders als Morrisons Taugenichtse, die auf ihrem Weg durch die Schluchten jeden Pub besucht hatten, erschienen die Mitglieder der Kildonan Volunteers Band nüchtern und pünktlich; tatsächlich sogar so nüchtern und so pünktlich, dass sie es sich in der Wingard Hall bequem gemacht hatten und einspielten, bevor überhaupt jemand merkte, dass sie angekommen waren. Sie waren zu siebt: drei Fiedeln, ein Kornett, Flöte, Pikkoloflöte und ein »Dingsbums«, womit ein riesiger Kontrabass gemeint war. Sie waren mit ihrem eigenen Beförderungsmittel gereist, einem Wagen, der von zwei Pferden gezogen wurde, aber irgendwie wurden sie, rein äußerlich zumindest, ihrem großartigen Ruf nicht gerecht.
An ihnen war nichts militärisch außer ihrer Uniform, die aus Kilt, beschlagener Felltasche und gestärktem weißem Hemd bestand. Vierschrötig und stämmig und mittleren Alters, saßen sie ruhig auf ihren Stühlen auf dem Podium am Ende der Halle, eine bittere Enttäuschung für die Mädchen von den Höfen auf den Hügeln und ältere, jungfräuliche Damen eines gewissen Alters, für die alles in Kilts in der Regel unwiderstehlich war. Mehr noch, sie verwendeten Noten, die an großen Mahagoniständern befestigt waren, was eine Förmlichkeit mit sich brachte, die mehr zu einem orchestralen Konzert als zu einem Tanz in einer Dorfhalle passte.
Eine halbe Stunde lang nach ihrer Ankunft stimmten sie ihre Violinen, dudelten auf Kornett und Flöte, trällerten auf der Pikkoloflöte und sägten auf dem bootsförmigen Bass herum und fielen dann mit solcher Wucht und Lautstärke in zwölf oder sechzehn Takte von The Lincoln Ploughman oder Jenny Dang the Weaver, dass das Vieh auf dem Hügel davonlief, Schafe in Deckung eilten und all die Kleinbauernjungen und -mädchen, die bereits vor Erwartungsfreude ganz außer sich waren, »Beeilung, Beeilung« riefen und ihre Eltern zur Tür zerrten.
»Callous« Calum McFee, der Pfeifer, der von Coll gekommen war und im Hinterzimmer des Arms ruhig ein flüssiges Abendessen einnahm, hob beim Geräusch des Probens der Volunteers seinen Kopf, und während die Hahnenfeder an seiner Mütze bedrohlich wippte, schaute er finster drein und knurrte: »Bei Gott, wenn die nur Lärm haben wollen, dann werde ich denen mal zeigen, wer der Boss ist.«
Die Campbells trafen aus Pennypol ein. Vassie und die Mädchen kamen zu Fuß, hatten die Röcke hochgezogen und trugen weiße Strümpfe und Tanzschuhe in Beuteln über ihren Schultern. Donnie war mit dem Wagen losgefahren, um Muriel MacNiven abzuholen, wogegen Neil und Ronan schon früh zum McKinnon Arms gegangen waren, wo die meisten Männer von Crove sich versammelt hatten, um auf ihre ureigene, unnachahmliche Art die Geister des Kornes zu ehren.
Als Innis aus der Toilette im hinteren Teil des Gebäudes kam, nun bestrumpft und mit Ziegenlederslippern – ein Geschenk ihres Großvaters – an den Füßen, war die Halle mehr als halb voll. Sie war beschwingt durch den Anblick der Lampen, die in der Halle brannten, und durch die Laternen, die zwischen den Zweigen der beiden kleinen Stechpalmen hingen, die den Eingang flankierten. Selbst Croves düstere Hauptstraße hat etwas Weltoffenes, dachte sie, da jedermann so fein gekleidet war. An einem Abend wie diesem war sie immer erstaunt über die Menge von Leuten, die aus dem Nichts auftauchten. Pennypol und Fetternish schienen meistens so leer zu sein, das Land trostlos und verlassen, da kein anderer Mensch zu sehen war. Doch Messen und Märkte und Tanzveranstaltungen förderten eine ganze fröhliche Schar von Freunden und Bekannten zutage, einer großen, weitläufigen Familie gleich.
Unmittelbar hinter der Tür blieb sie stehen und spähte nervös in die Halle. Die Band war nicht auf dem Podium. Ihre Instrumente lagen auf den leeren Stühlen unter den Kornrädern und Farnbüscheln, die über dem Podium hingen. Im hinteren Raum stellten Frauen bereits Tabletts mit Pasteten und Sandwiches und den Pfannkuchen auf, die mit Marmelade bestrichen waren, die Müller Sloan spendiert hatte. Fässer mit leichtem Ale, Flaschen mit Ingwerbier und Schalen mit »Temperance Punch« waren auf einen langen Tisch gestellt und alle überzähligen Stühle und Bänke vom Boden weggeschoben und an die Seiten der Halle gebracht worden. Kinder huschten durch den leeren Raum, tummelten sich in dem Wasser, das verspritzt worden war, um den Staub zu binden, und die jungen Männer und Frauen, die bereits Paare waren, standen in einer Ecke verlegen beisammen und warteten darauf, dass die Musik ihnen eine Gelegenheit bot, sich in aller Öffentlichkeit zu umarmen.
Eine Hand legte sich um Innis’ Taille. Sie drehte sich um, und ihr Herz machte einen Satz bei dem Gedanken, dass es Michael sein und sie in die Ecke geführt würde, in der die Umworbenen standen und alle – Biddy eingeschlossen – sehen würden, wessen Mädchen sie war.
»Innis, wie geht es Ihnen heute Abend?«
»Oh, es geht mir gut, Mr. Ewing.«
Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Der Geistliche hatte sie ohne romantische Absicht angefasst. Er hatte sie nur aus dem Weg der Musiker geschoben, die sich unter den Bäumen erleichtert hatten und nun hinter ihrem Rücken in die Halle zurückkehrten.
Sie schaute in die Halle hinein. Dort war Nancy Pritchard mit Fraser Lamb. Sie trug seinen Ring und, so sagten einige, bereits sein Kind. Dort war Horace »Hovan« Watters, der vor langer Zeit Innis zu küssen versucht hatte. Sie war kaum älter als sieben Jahre gewesen und bei dessen unschuldiger Vertraulichkeit in Tränen ausgebrochen. Donnie und Muriel waren da und hielten, allem Anstand trotzend, in der Öffentlichkeit Händchen. Und unten an dem Podium standen Michael, Biddy und Mr. Austin Baverstock in einer Gruppe zusammen, die, so dachte zumindest Innis, sich nicht recht wohlzufühlen schien.
Die Band nahm steif Platz, und die Musikanten starrten über die erwartungsvollen Gesichter hinweg, während Mr. Ewing um Ruhe bat und ein Gebet sprach. Dann begrüßte Mr. Sloan, der derzeitige Vorsitzende des Hallenkomitees, alle zum Erntedankfest. Darauf hoben die Musiker ihre Instrumente und schmetterten in voller Lautstärke The Corn Rigs, um die Füße zum Stampfen und das Blut zum Kribbeln zu bringen. Doch bevor Innis vortreten konnte, sodass Michael sie sah, war Reverend Ewing neben ihr, um das erste Paar zu bilden, und führte sie mit einer Verbeugung zum Tanz.
Willy konnte die schüchterne Margaret gerade so lange allein lassen, wie es dauerte, um Ronan Campbell dem Mann aus Glasgow vorzustellen. Er war über die Aufmerksamkeit, die Maggie ihm schenkte, nicht bestürzt. Um die Wahrheit zu sagen, fühlte er sich dadurch sehr geschmeichelt, zumal sie in einem weißen Seidenkleid und scharlachrotem Schal ungewöhnlich hübsch aussah, und als er mit ihr tanzte, legte sie sich mit einer Begeisterung in seinen Arm, die alles andere als scheu war. Er wäre wahrhaft glücklich gewesen, jeden Tanz mit Miss Margaret Bell zu tanzen, hätte er nicht die Verabredung mit Jack Stockton getroffen.
Er hatte jedoch Stockton nach Crove eingeladen. Er hatte den Händler beschwatzt, den Komfort eines Hotels in Tobermory aufzugeben, eigens um die Vereinbarungen für den Kauf von Fergus Haggertys Whisky zu treffen.
Jack Stockton war ein großer, kräftig gebauter Mann in den Dreißigern mit einem vollen Schnurrbart und einem Zwinkern in den Augen, das wahrscheinlich, so dachte Willy, über seine wahre Natur hinwegtäuschte, da er noch nie einem Agenten begegnet war, der kein Herz aus Stein hatte. Er hatte Stockton im Marine Hotel in Oban aufgetrieben, wohin er von dem Wirt einer Kneipe in einer Nebenstraße verwiesen worden war. Willys Grund für den Aufenthalt auf dem Festland war vorgeblich die Überwachung des Versands einer Ladung Möbel, die die Baverstocks in Edinburgh bei einem Großhändler bestellt hatten, aber er hatte die Aufgabe sehr schnell erledigt und den Rest des Abends damit verbracht, einen Händler zu suchen.
Stockton war, so schien es, einer der Burschen, die einem zu einem angemessenen Preis alles von überall besorgen konnten. Kaufen und Verkaufen war sein Geschäft, und nachdem er festgestellt hatte, dass Willy vertrauenswürdig war, hatte er damit geprahlt, wie groß sein Lagerhaus in Glasgow sei und in welchem Umfang er unversteuert Geschäfte an der ganzen Westküste Schottlands tätige, mit Wolle, Rindfleisch, Schweinefleisch, sonst nicht zu bekommendem Wild ebenso wie mit Weinen, Bieren und Schnäpsen. Mull war ihm nicht fremd, und er behauptete, in Salen und Tobermory Stammkunden zu haben.
Auf die Bewohner von Crove wirkte Mr. Stockton freundlich und offen. Er unterhielt sich mit Mr. Thrale, Reverend Ewing und natürlich mit den Baverstock-Brüdern, denen er, wie er hoffte, eines Tages zu Diensten sein könnte. Er sprach auch einige Zeit mit Biddy. Er tanzte einen Eightsome mit Freda Thrale – wozu man ein wirklich mutiger Mann sein musste –, einen Strathspey mit Mrs. McQueen, und er hätte vielleicht Margaret in den Circassian Circle geführt, hätte Willy nicht Ronan Campbell entdeckt, der sich zum Nebeneingang begab, und Stockton, nachdem er ihn am Ärmel gezupft hatte, aus der Halle hinaus auf den grasigen Hof in die Nähe der Wasserklosetts geführt, wo Ronan, Flasche und Glas in der Hand, sie erwartete.
Stockton und Campbell schüttelten sich die Hände. Ronan schenkte ein Glas Whisky ein und reichte es Stockton, der, obwohl er das Produkt bereits geprüft hatte, einen Schluck nahm, damit kurz den Mund spülte und ihn dann zu Ronans Bestürzung aufs Gras spie.
»Er schmeckt Ihnen also nicht, Mr. Stockton?«
»Er schmeckt mir sehr. Wenn ich erst einmal mit ihm fertig bin, wird er ebenso gut schmecken wie alles, was aus Glenlivet kommt.«
»Wenn Sie erst einmal mit ihm fertig sind?«, fragte Ronan.
»Wenn er sechs Monate lang in Eichenfässern gereift ist.«
»Oh, das werden Sie damit machen?«, fragte Willy.
»Ist unwichtig, was ich damit machen werde«, sagte Jack Stockton. »Wie können Sie eine regelmäßige Lieferung sicherstellen? Wie viel können Sie herstellen, Willy?«
»Hundert normal starke Gallonen pro Monat.«
»Ich brauche mehr als das, wenn es sich lohnen soll.«
»Sehr gut. Hundertsechzig. Von Oktober bis Mai.«
»Schön.«
»Welchen Preis zahlen Sie dafür, Mr. Stockton?«, forschte Ronan.
»Das geht Sie nichts an«, sagte Willy scharf. »Sie sind hier, Ronan, um sich eine Beförderungsmethode auszudenken, die nicht die Aufmerksamkeit der Zollbeamten auf sich zieht.«
»Abzuliefern auf Buck’s Island«, sagte Stockton. »Wissen Sie, wo das ist?«
»An der Mündung des Loch Buie am Firth of Lorne«, sagte Ronan. »Werden Sie das Boot steuern?«
»Natürlich werde ich das Boot nicht steuern«, sagte Jack Stockton. »Sie werden nicht einmal dem Bootsführer begegnen. Was Sie tun werden, ist, die Fracht so schnell wie möglich auszuladen und dann zu verschwinden.«
»Die Förde kann im Winter sehr rau sein.«
»Wo haben Sie den aufgetrieben, Willy?«, fragte Jack Stockton.
»Ich kann das«, sagte Ronan hastig. »Ich fürchte mich nicht vor einer rauen See. Wie werden Sie erfahren, wann wir dort sein werden?«
»Telegraf, Jack?«, schlug Willy vor.
»Fein.«
»Ich verstehe nichts von Telegrafen«, sagte Ronan.
»Das brauchen Sie auch nicht«, sagte Jack Stockton zu ihm. »Das Einzige, was Sie zu tun haben, ist, jede Sendung nach Buck’s Island zu bringen, sie auf dem braunen Strand an der Küste von Loch Buie zu landen und sie außer Sicht an den Felsen zu stapeln.«
»Vergraben?«
»Nein, Mann, Sie müssen sie nicht vergraben.«
»Wie werde ich bezahlt?«, sagte Ronan.
»Ich bezahle Sie nach jeder Fahrt«, erklärte Willy ihm. »So, gibt es sonst noch etwas, das Sie von Mr. Stockton wissen müssen, bevor wir wieder hineingehen?«
»Werde ich Sie nicht wiedersehen?«
»Nein«, sagte Jack Stockton. »Sie werden mich nicht wiedersehen«, und dann kehrte er kopfschüttelnd zu dem Tanz zurück und ließ den unangenehmen kleinen Fischer mit seiner Flasche draußen stehen.
Jedes Dorf hatte einen, und Crove machte da keine Ausnahme: Lachlan Gorum war sein Name. Er war der leicht schwachsinnige »Künstler«, dessen Gedichte und Lieder von denen, die es nicht besser wussten, als Werke eines Genies betrachtet wurden. Selbst in seiner besten Zeit war Lachlan nicht sehr einnehmend gewesen. Im mittleren Alter hatte er die Naivität verloren, die ihn ursprünglich erträglich gemacht hatte. Da die Gemeinde den Burschen jedoch in ihren Schoß aufgenommen hatte, konnte sie ihn schwerlich fallen lassen und musste bei jedem gesellschaftlichen Ereignis mehrere neue Vorträge des »Barden von Crove« ertragen.
Bei seinen Auftritten auf dem Podium trug Lachie ein großes, schmieriges Stück Tartantuch – sein »Plaidie«, wie er es nannte –, eine Felltasche, die ihr Haar verlor, und eine alte blaue Mütze. Er stolperte auf das Podium und stieß ein paar Notenständer beiseite, als wäre er berechtigt, den Tanz zu unterbrechen, wann immer ihm danach war. Die jüngeren Burschen pfiffen und jubelten, und die älteren Frauen, die vom gleichen Jahrgang wie Lachie waren, setzten sich und murmelten: »Ja, armer Junge, armer Junge. Er hat nichts in seinem Leben außer der Gabe, die Gott ihm geschenkt hat«, wogegen alle anderen bei der Aussicht, die Gabe, die Gott Lachie geschenkt hatte, über sich ergehen lassen zu müssen, mit den Zähnen knirschten.
Biddy gehörte ganz sicher nicht zu Lachie Gorums Bewunderern. Heimlich – wie Lachie es genannt haben würde – hätte sie sich mit einem Glas leichtem Ale und einem Schinkensandwich nach draußen geschlichen. Doch sie war durch Austin Baverstock gefangen, der an diesem Abend zum ersten Mal den Blick lange genug von ihr abwandte, um ungläubig blinzelnd die bardische Erscheinung anzustarren. Da Lachie ebenso Analphabet wie »Künstler« war, hatte er sein jüngstes Werk aus dem Gedächtnis geschaffen, und so konnte niemand sagen, ob es ein Couplet oder ein Vierzeiler sein würde oder ob es sich, wie es einmal auf der Messe in Lammas geschehen war, als ein Epos entpuppen würde, das eine halbe Stunde dauerte.
Lachie stieß die Fiedler zurück, begrapschte seine Felltasche auf eine Weise, für die jeder andere Mann wegen Anstößigkeit eingesperrt worden wäre, hob seine Arme hoch über den Kopf und begann mit dem verärgerten, theatralischen Tonfall, den er für Auftritte entwickelt hatte, seinen preisgekrönten Vortrag.
»Erst eure Hacken, dann eure Zöh’n …«
»Was?«
»So will ich oich schwöngen söh’n …«
»Schwöngen? Meint er ›Schweine‹?«
»Schwingen. Er meint ›Schwingen‹.«
»Ruhe!«, zischte Mr. Ewing.
»Dann die Zöh’n und Hacken viel …«
Noch während Lachie den Mund öffnete, um die poetische Auflösung zu artikulieren, sang jeder junge Mann und die Hälfte der Mädchen in der Halle unisono: »… so tanzt man den Rell.« Lachie stoppte, riss die Arme wie ein Ertrinkender hoch, grinste dann völlig überraschend und sagte in völlig normalem Tonfall: »Reels, ihr Narren. Reeells.«
»Reeellls, Lachie. Reeellls.«
Biddy hätte normalerweise mit den anderen gelacht. Aber in diesem Augenblick spürte sie, dass eine Hand ihren Schenkel streifte und aufreizend über den Stoff ihres Kleides fuhr.
Wäre Austin Baverstock nicht deutlich in ihrem Blickfeld gewesen, hätte sie womöglich vermutet, er habe vergessen, dass er ein Gentleman und sie eine Dame war. Sie bewegte ihre Hand zur Seite und spürte Finger an den ihren, wobei die Berührung durch die Falten ihres Rocks und die Körper, die sich um sie drängten, verborgen blieb. Sie drehte sich um und sofort wieder zu Lachie zurück. Michael Tarrant presste sich an sie. Sein Kinn berührte fast ihre Schulter, als er ihr ins Ohr flüsterte und drängend an ihren Fingern zog, als wollte er so eine Antwort aus ihr holen. Ohne sich umzudrehen, nickte Biddy.
»Ein Sprung und dann vorbei …«
»SO TANZT MAN DEN STRATHSPEY.«
»Springen vor und dann zurück …«
»SO TANZT MAN BEI UNS DEN JIG!«
Austin Baverstocks Augen wurden feucht angesichts der Begeisterung der rauen Insulaner und der pathetischen Unschuld des Barden von Crove. Dann lachte er schallend und klatschte, während Lachie, sehr hingerissen von dieser neuen Form von Beifall, umherstolzierte und hüpfte und seine Felltasche begrapschte, bis Mr. Sloan auf das Podium trat, um ihn zu beruhigen und um einen herzlichen Applaus für die arme, erfreute Seele bat.
»Wundervoll! Wundervoll, Bridget, finden Sie nicht?«, sagte Austin und schaute hinter sich, nur um zu entdecken, dass Biddy Campbell verschwunden war.
»Oh, da bist du ja«, sagte Innis. »Ich hatte überlegt, wo du dich versteckt haben könntest.«
»Ich habe mich nicht versteckt«, sagte Michael. »Ich bin rausgegangen, um frische Luft zu schnappen.«
»Ich habe nicht nach dir gesucht«, sagte Innis. »Ich habe nach meiner Schwester gesucht.«
»Nach welcher? Nach Aileen?«
»Nein, Aileen ist drinnen und isst alle Pfannkuchen, die sie erwischen kann.«
»Biddy habe ich nicht gesehen, falls du das meinst«, sagte Michael. »Dein Vater war hier, aber er ist zu dem Pub hinuntergegangen, um den Pfeifer zu holen.«
Innis lachte kurz auf. Es war ein unaufrichtiges Lachen. »Das ist so, als würde man den Fuchs losschicken, um ein Huhn nach Hause zu bringen, denke ich.«
Michael lächelte nicht. Er wirkte angespannt, fast verängstigt, so als ob dieser impulsive Kuss ein Fehltritt gewesen sei oder, was noch wahrscheinlicher war, ihn unausstehlich gemacht habe. Wankelmut hatte sie von Michael Tarrant nicht erwartet.
Er trug einen Anzug aus marineblauem Kammgarn, der bis zur Brustmitte zugeknöpft war. Sein Hemd hatte einen gestärkten Kragen und lange konische Manschetten, die über seine Handgelenke hinausragten. Er trat wie ein kleiner Bär von einem Fuß auf den anderen und hatte seine Hände in seine Jackentaschen gesteckt, als schämte er sich ihrer.
»Ich dachte«, sagte sie, »dass du vielleicht mit mir tanzen würdest.«
»Ich bin kein guter Tänzer«, sagte Michael.
»Ein Walzer oder eine Valetta sind ganz leicht.«
»Nein.«
»Willst du nicht mit mir tanzen, Michael?«
»Das ist es nicht«, sagte er, noch immer hin und her tretend. »Es ist nur so, dass … also, ich bin kein geselliger Mensch, Innis. Ich mag diesen Lärm und die überfüllte Halle nicht.«
»Einen Tanz?«
»Ich denke, ich gehe nach Hause. Ich muss früh mit den Schafen aufstehen.«
»Wir alle müssen früh aufstehen.« Innis bemühte sich, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. »Dennoch, wenn du das empfindest – ich dachte nur, dass, als du mich küsstest …«
»Das war ein Fehler«, sagte Michael.
»Oh!«
»Ich meine nicht ein Fehler. Ich meine …«
Die Tür eines der hohen hölzernen Klosetts öffnete sich knarrend. Innis und der Schafhirte drehten sich gleichzeitig nach dem Geräusch um. Er machte einen hastigen Schritt auf die Klosetts zu, als hoffte er, die Person, die herauskam, vor Innis Blicken verbergen zu können.
»Michael«, sagte Biddy. »Michael, ich bin bereit zu …«
Er schaute von Biddy zu Innis und wieder zurück und machte dann, ohne es zu wollen, eine Geste, die alles verriet. Er nahm eine Hand aus der Tasche und hob sie warnend, wollte ihr zu verstehen geben, dass sie, Biddy, nichts weiter sagen sollte.
Dies wirkte vor der Kulisse der Wasserklosetts, die aufrecht wie Särge standen und nach Urin und Desinfektionsmittel rochen, so lächerlich, dass Innis’ Schmerz gedämpft wurde. Sie empfand fast Bedauern mit ihnen, mit ihrer Heimlichkeit, mit der Tatsache, dass die arme Biddy auf Michael Tarrant reingefallen war, der nicht feinfühliger als alle anderen war, wenn es darum ging, zu bekommen, was er wirklich wollte.
Sie hätte wissen müssen, dass man einem Neuankömmling, einem Lowlander, einem Mann, der Schafe und nicht Vieh hütete, nicht vertrauen durfte.
»Innis …«, begann Michael, während Biddy ihre Röcke glatt strich und es nicht wagte, ihre Schwester anzusehen.
»Ist schon gut«, sagte Innis. »Wirklich, das ist es.« Und dann: »Mir ist egal, was ihr beide tut.« Danach schoss sie mit weniger Würde als beabsichtigt durch den Nebeneingang in die Halle.
»Innis«, rief Michael.
Aber Biddy hielt ihn zurück und sagte: »Lass sie gehen, Michael, lass sie einfach gehen.«
Zehn Minuten später kehrte Biddy allein in die Halle zurück. Um diese Zeit war Callous Calum McFee dazu überredet worden, das gemütliche McKinnon Arms zu verlassen und sich mit entfalteten Dudelsackpfeifen an der Tür der Wingard Hall zu postieren, von wo aus er auf ein Signal von Mr. Sloan hineinmarschieren würde und den Demeter’s March blasend, die Leute zum Erntedankabendessen hineinführen würde.
Als Calum den Dudelsack mit Luft gefüllt hatte, war sein Gesicht so rot wie Rote Bete. Sein Bauch wölbte sich unter dem breiten polierten Gürtel, der seinen Kilt hielt. Er sah jeden Zoll wie ein Pfeifer aus, als er zu blasen begann, und brachte, nachdem Mr. Sloan und Hector Thrale ihm die Türen geöffnet hatten, waschechten schottischen Geist, an dem es den Volunteers trotz aller Lautstärke mangelte, in die Wingard Hall. Als wollten sie ihre Niederlage eingestehen, erhoben sich alle Volunteers zugleich, verließen das Podium und marschierten durch die Seitentür hinaus, wo sie, wie rüde gesagt wurde, gemeinsam Wasser lassen würden, wahrscheinlich zu der Melodie von Lumps o’ Pudding oder womöglich The Sailor’s Hornpipe.
Das Abendessen wurde serviert. Der Abend war halb um, wenngleich für viele – Innis gehörte nicht dazu – das Beste noch kommen sollte.
Reverend Ewing legte ein Stück Hammelpastete auf ihren Teller, tauchte eine Kelle in das Punschfass, füllte ein Glas, reichte es Innis und sagte stirnrunzelnd: »Das sind doch keine Tränen, oder?«
»Nein, Mr. Ewing, nur – nur Schweiß.«
»Davon ist genug da, um einen Fluss zu füllen«, räumte Tom Ewing mit erhobener Stimme ein, um den Lärm der Pfeifen zu übertönen. »Aber Sie sehen nicht allzu glücklich aus, Innis, und ich lasse mich nicht anlügen.«
»Nein, nein, Herr Pfarrer, es geht mir gut. Wirklich.«
Er hatte am Ende des langen Bocktisches gestanden, von dem das Essen serviert wurde, entfernte sich aber jetzt mit ihr davon, nicht in Richtung auf den Pfeifer oder die Stühle zu, wo die hungrige Menge wie Picknicker von Tellern und aus Tassen und Gläsern aß und trank, sondern in eine stille Ecke an der unteren Seite der Tür. Sie wirkte so deprimiert, so verloren, dass er die Absicht hatte – der er sich natürlich widersetzte –, einen Arm um ihre Schulter zu legen. Sie blieb bei einem leeren Stuhl stehen und stellte Teller und Glas darauf.
»Essen Sie etwas«, riet Tom ihr.
Sie hob den Teller und hielt ihn vor ihre Brust, nahm die Pastete vom Teller und biss hinein. Gleich, welcher Kummer und welches Leid junge Menschen quält, dachte Tom, ihren Appetit scheinen sie nie zu verlieren.
»Mehr«, sagte er.
»Ich komme nicht aus dem Armenhaus, Mr. Ewing. Ich brauche nicht gemästet zu werden.«
»Ist es Ihr Vater?«
»Was ist mit meinem Vater?«
»Ist es dann der junge Bursche aus Fetternish, der Sie aus der Fassung gebracht hat?«
»Michael?« Sie schien von seinem Scharfsinn überrascht, ja vielleicht beunruhigt zu sein. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Mr. Ewing.«
»Oh, ich denke, das wissen Sie schon, Innis«, sagte Tom Ewing.
Hinter ihm war das Klappern von Tellern und das Klirren von Gläsern zu hören, das Stimmengewirr der Unterhaltung und über allem das Pfeifen des Dudelsacks, während Calum vor einem Kreis verständnisvoller junger Pfeifer sehr fröhlich weiterspielte.
Innis zögerte, dann sagte sie: »Er zieht Biddys Gesellschaft meiner vor.«
»Sind Sie sicher?«
»Er war draußen auf dem Hof mit ihr zusammen.«
»Vielleicht«, sagte Tom, »hatte er sie vor Mr. Baverstock gerettet.«
Sie schaute ihn rasch an. »Glauben Sie?«
»Es scheint mir, als könnte Mr. Baverstocks Aufmerksamkeit für den Geschmack Ihrer Schwester vielleicht ein bisschen, nun sagen wir, zu viel sein.«
»Sie hat bis jetzt nie Schwierigkeiten gehabt, mit unwillkommener Aufmerksamkeit fertig zu werden.«
»Das ist wahr.« Tom erinnerte sich, wie Biddy in der Vergangenheit mit Freiern umgegangen war. »Auf der anderen Seite hat sie bisher noch nie einen Gentleman wie Austin Baverstock gehabt, der ihr den Hof machte.«
»Tut er das denn?«
»Sie brauchen nur zu beobachten, wie er sie anschaut.«
Innis dachte über die Theorie des Geistlichen nach. Natürlich war ihr bewusst, dass er sie zu trösten versuchte, und sie hütete sich davor, sich allzu leicht einlullen zu lassen. Ihr kam nicht der Gedanke, dass es eine sehr eigenartige Unterhaltung war, die sie mit einem Geistlichen führte. »Vielleicht sind ihr seine Aufmerksamkeiten nicht unwillkommen«, fuhr Tom fort, »nur, wie ich sagte, zu viel.«
Sie schaute sich in der Halle um und entdeckte ihre Mutter neben dem Podium. Aileen hockte halb und lümmelte sich halb auf Vassies Knie. Die beiden tranken gemeinsam Schluck um Schluck ein Glas Ingwerbier. Biddy klebte an Mr. Baverstock, der ihr auf seine ruhige, fast elegante Art Häppchen von seinem Teller reichte. Von Michael war keine Spur zu sehen.
»Sehen Sie, was ich meine, Innis?«, sagte der Pfarrer.
»Ja. Aber …«
Intelligenz war keine Abwehrwaffe gegen den Schmerz unerwiderter Liebe, wie Tom nur allzu gut wusste. Er rieb sich seinen Nacken mit einer Hand, zögerte und sagte dann: »Innis, was wissen Sie von Mr. Tarrant?«
»Er ist ein guter Schafhirte.«
»Darüber hinaus«, sagte Tom. »Von seiner Vergangenheit, seiner Herkunft?«
»Sehr wenig. Warum?«
»Er ist nichts für Biddy«, sagte Tom Ewing. »Er ist nichts für Biddy, und er ist nichts für Sie, Innis. Nehmen Sie mein Wort darauf.«
»Er scheint …«
»Er ist nicht das, was er zu sein scheint.«
Das Pfeifen hatte aufgehört, sodass eine seltsame, murmelnde Stille in der Halle war, als ob die Dorfbewohner in Unterhaltungen vertieft gewesen wären, die jetzt, da es keine Geräuschkulisse mehr gab, peinlich geworden waren.
»Was meinen Sie, Mr. Ewing?«
»Michael Tarrant ist ein …«
In genau diesem Augenblick traten der Doktor und Mr. Sloan hinzu, um den Pfarrer wegen einer Krise hinsichtlich der Zuteilung der Pasteten zu konsultieren. Dann marschierten die Volunteers in einer perfekten Reihe wie eine Kette von Rebhühnern wieder herein. In etwa einer halben Stunde würde Miss Valerie Mair ein trauriges Lied singen, Callous Calum würde eine seiner eigenen Kompositionen spielen und ein Chor von Schwestern und Brüdern von einem Kleinbauernhof nahe Glengorm würde eine schnelle Version eines der alten Hebridenshantys vortragen und als Zugabe ein Wiegenlied vor den letzten Reels und Strathpeys.
Für Innis aber war der Abend verdorben. Sobald Mr. Ewing sie verließ, verdrängte sie alles, was er gesagt hatte, und aß, da Michael gegangen war, den Rest der Hammelpastete und einen ganzen Pfannkuchen, ganz allein in der Ecke bei der Tür sitzend, bis Aileen kam und sie widerwillig zurück ins Getümmel zog.
Willy Naismith ging der gereizten kleinen Auseinandersetzung, die eine Viertelstunde bevor Auld Lang Syne gesungen wurde, zwischen den Baverstock-Brüdern stattfand, aus dem Wege. Die Ursache des Streits war offensichtlich. Walter billigte die Gesellschaft seines Bruders mit der Rothaarigen nicht, die sich jetzt, da sie Austins Interesse gewonnen hatte, reservierter und arroganter denn je verhielt.
Wäre Biddy Campbell meine Tochter gewesen, sagte sich Willy, ich hätte ihr den Dünkel mit einer kräftigen Tracht Prügel genommen. Er hätte ihr auch gesagt, was Austin Baverstock wirklich wert war, hätte darauf verwiesen, dass sie auf dieser Insel oder irgendwo sonst nichts Besseres finden würde, und sie daran erinnert, dass gutes Aussehen nicht ewig währt. Doch Willy hatte genug mit Margaret Bell zu tun, deren rehäugige Bewunderung Erfüllung versprach, wenn er, das Objekt ihrer Verehrung, ein Opfer draußen in den Wäldern forderte, wenn der Tanz vorüber war.
Jack Stockton war zurück nach Tobermory geritten, und Ronan Campbell war in Begleitung des Pfeifers davongezogen, und als Willy sich Mr. Walter näherte und um Erlaubnis bat, Miss Bell nach Hause zu den Cottages bei den Ställen zu geleiten, funkelte Walter ihn nur an und sagte: »Hat sie keine Verwandten, die sie begleiten können?«
»Keine, Sir.«
»Wie weit ist es bis zu den Ställen?«
»Zwei oder drei Meilen, glaube ich.«
»Oh, gut dann«, willigte Walter ein.
Willy hatte sie beim Arm gefasst und war mit ihr aus der Wingard Hall und aus Crove hinaus, bevor ihn irgendwer, am wenigsten Margaret, die ihren Schuhbeutel über der Schulter trug, nach seinen Motiven fragen konnte.
Sie hatte einen Schal über ihre Schultern gelegt und ihre Sonntagsstiefel angezogen, aber das Seidenkleid war selbst in der Dunkelheit glatt und weiß, und als der Weg aus dem Wald herausführte, erfüllte ein Strahl des Mondlichts die scheue Maggie Bell so mit Zauber und Glanz, als wäre sie eine gläserne Laterne und er, Mr. William Naismith, Diener in bestem Hause, eine Wachskerze, die nur einen Funken brauchte, um entflammt zu werden. Sie legte einen Arm um seine Hüfte, um ihn zu führen, da Willy auf diesem Weg noch nie zuvor gegangen war, und in diesem Moment begann Willy sich zu fragen, ob Maggie wirklich so scheu war, wie die Leute glaubten.
»Es ist eine schöne Nacht«, sagte Willy.
»Das ist es wirklich, Mr. Naismith.«
»Nenn mich nicht Mr. Naismith. Nenn mich Willy – zumindest, wenn wir alleine sind. Ist dir warm genug in diesem dünnen Kleid?«
»Ja.«
»Möchtest du anhalten?«
»Weshalb?«
Oh!, dachte Willy. Wenn sie nicht weiß, was ein Mann mit »anhalten« meint, dann wird sie wohl schwerlich wissen, was ein Mann von einer Frau erwartet, wenn er um Mitternacht in der Mitte von nichts mit ihr alleine ist.
»Um auszuruhen – für den Fall, dass du außer Atem bist«, sagte er.
»Ich bin nicht außer Atem – Willy.«
»Ah–ha!«, sagte Willy.
Er empfand ein ungewohntes Schuldgefühl. Wie konnte er ihr sagen, dass er zahllose Mädchen nach Messen und Tänzen nach Hause geleitet und sein Ziel immer erreicht hatte.
»Wenn du außer Atem bist, Willy, werde ich bei dir warten.«
Ja, ich bin außer Atem. Warum ruhen wir uns nicht hier neben dem Weg aus? Warum legst du deinen Schal nicht auf den Boden und setzt dich neben mich? Was ich tue? Ich tue nur, was die Natur mir zu tun befiehlt, Margaret. Du bist unwiderstehlich.
»Brauchst du wirklich eine Pause?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Willy. »Ich denke, wir werden weitergehen.«
Die Strategie der Verführung geriet ins Wanken. Er war ihr Vorgesetzter, ihr Beschützer. Ihre Zuneigung zu ihm basierte – unglücklicherweise – auf Vertrauen.
Als ob Margaret seine Meinung bestätigen wollte, sagte sie: »Es ist schön, einen Freund zu haben.«
»Ist es das, was – ich meine, ja.«
»Ich habe nie zuvor einen richtigen Freund gehabt«, sagte sie. »Einen Mann, der mich sicher nach Hause bringt.«
»Ah-ha«, sagte Willy.
Es blieb noch immer Zeit, um die Situation zu nutzen. Er hatte vorher nie gezögert. Die Stallungen von Fetternish, in denen die Pferde und Ponys des Gutes eingestellt waren, boten im Überfluss abgeschiedene Plätze, wo er sie hinunterziehen oder sie an sich ziehen und nach Herzenslust küssen konnte.
»Bist du – bist du jetzt mein Freund – Willy?«
»Ja, ich denke, man könnte sagen, dass ich das bin.«
Der Weg bog am Ende des Kammes um einen Felsen. Fünfzig Meter darunter hoben sich Häuser, Nebengebäude und umzäunte Koppeln aus der Dunkelheit. Er hörte ein Pferd wiehern, sah das Tier sich erheben und zu dem hölzernen Zaun trotten. Lampenlicht im Fenster des Erdgeschosses des zweistöckigen Hauses ließ darauf schließen, dass ihre Eltern noch auf waren. Margaret nahm ihren Arm von seiner Hüfte und seine Hand in ihre. Sie drückte sie.
»Du wirst doch mit hineinkommen, Willy, nicht wahr?«
»Was?«
»Um eine Tasse Tee zu trinken, bevor du heimgehst.«
»Ich – ich – wie weit ist es denn von hier bis Fetternish House?«
»Überhaupt nicht weit«, sagte Margaret. »Man kann den Turm sehen.«
Willy hatte oft mit Stubenmädchen in ihren eigenen Betten geschlafen, unter den Decken gekauert, wobei das Mädchen alle fünf Sekunden »Psst, psst!« sagte und seine Leidenschaft aus Furcht vor Entdeckung erstickte.
»Da du mein besonderer Freund bist, Willy, kannst du hineinkommen, wenn du magst.« Margaret hielt seine Hand in einem Griff, der so fest wie ein Schraubstock war, streckte einen schlanken Arm aus und zog den Riegel der Haustür zurück. »Du wirst bei mir sicher sein«, flüsterte sie, »du brauchst keine Angst zu haben«, und zog ihn ins Haus.
Sie waren zu fünft: zwei Männer, zwei Frauen und jemand, dessen Geschlecht unbestimmbar war, um es vorsichtig auszudrücken.
Sie hockten in einem Halbkreis auf geradlehnigen Stühlen, als wären sie mitten in einer Seance gestört worden. Hinter ihnen stand ein ovaler Tisch, auf dem ein Musselintuch lag, das so zerknüllt war, dass eine kleine Leiche unter seinen Falten verborgen sein könnte, dachte Willy. Eine schwache Lampe, deren Docht heruntergedreht war, und ein kümmerliches kleines Feuer im Kamin deuteten auf Sparsamkeit hin, gemischt mit einer Frömmigkeit, die Willy fast erstickte. Wäre er weniger mannhaft gewesen, hätte er vielleicht kehrtgemacht und wäre geflohen. Stattdessen stand er wie ein Narr da und ließ die forschenden Blicke der Bells über sich ergehen.
An den Hosen der Männer klebte Pferdehaar, ihre Hände waren von heißem Eisen und glühender Kohle vernarbt. Die Frauen waren wie Dämonen in schwarzbraune Schals und Tücher gehüllt. Die androgyne Kreatur hatte den eckigen Kiefer und die breiten Wangenknochen eines Mannes und die zierlichen Hände und Füße eines Mädchens. Sie – denn es stellte sich heraus, dass es eine Frau war – war die Matriarchin. Margarets Urgroßmutter, eine Macleod, die die Reihe ihrer Ahnen bis zu den Baronen von Lewis zurückverfolgen konnte und die, so wurde Willy voller Stolz informiert, am kommenden Martinstag hundertunddrei Jahre alt werden würde.
Willy war danach zu schreien: Einhundertunddrei? Und nicht älter?
»Mutter, dies ist Mr. Naismith, der mein Freund ist.«
Eine der Frauen nickte. Die Falte ihres Schals rutschte ein paar Zentimeter zurück. Willy erhaschte einen Blick auf ein Gesicht, das ebenso breit und maskulin wie das der Matriarchin war und, wie er fand, kaum viel jünger wirkte.
»Sie sind also der von Maggie, ja?«, knurrte die Frau.
»Ich – ich bin …«
»Setzen Sie sich.«
Der Hocker stand bereits in Position an der Grundlinie des Halbkreises, als wäre die Stelle mit geometrischen Instrumenten gemessen worden. Willy zog das winzige Ding mit der Binsensitzfläche unter sein Hinterteil und war so befangen wie seit seiner Schulzeit nicht mehr. Er versuchte, sich ins Bewusstsein zu rufen, woher er kam und wie überlegen er diesen verdrossenen Bauern mit ihren ausdruckslosen Gesichtern war. Aber es nützte nichts. Er war von der Tochter des Hauses »heimgebracht« worden, hineingeschleppt wie ein kleines Beutetier aus dem Dschungel, der hinter dem Hügel lag, und wenn er nur zappeln würde, von dem Versuch zu fliehen einmal ganz abgesehen, würden sie ihn zerfetzen und alle Gliedmaßen einzeln ausreißen.
»Sie trinken eine Tasse Tee, Mr. Naismith?«
»Nun, es ist spät. Ich – ich sollte wirklich …«
»Nein, Mr. Naismith, Sie werden eine Tee Tasse trinken.«
Hinter ihm streifte die schüchterne Margaret seine Nackenbeuge mit ihren Fingerspitzen und sagte für alle hörbar in einem Tonfall, der Willys Blut erstarren ließ: »Mein Mann, mein Mann.«
Von dem Augenblick an, als sie ihm auf den Hof draußen hinter der Wingard Hall gefolgt war und er seine Hände auf ihre Brüste gelegt und sie geküsst hatte, hatte sie gewusst, dass er ihr Liebhaber sein und sie sich ihm willig hingeben würde. Die Lügen, die sie Innis erzählt hatte, die Lügen, die Innis ihr erzählt hatte, hatten nichts damit zu tun. Sie brauchte sich nicht einzureden, dass Michael Tarrant in sie verliebt war oder dass sie heftig in ihn verliebt war.
Sie verlangte so heftig und egoistisch nach Michael Tarrant, wie Männer nach ihr verlangten. Als sie aus dem Bett schlüpfte, die Leiter hinunterstieg und aus dem Cottage ging, war sie ohne Furcht. Ihr war es gleich, ob ihr Vater sie schlug und ihre Mutter schrie und Innis sich weigern würde, je wieder mit ihr zu reden, wenn sie entdeckt werden würde. Wenn das erst einmal geschehen war, gab es kein Zurück mehr, und die Vorwürfe der Familie würden bedeutungslos sein, da sie zu etwas Neuem, anderem geworden war, wie ein Schmetterling aus einer Raupe.
Sie rannte barfuß auf den schwachen Schimmer der Laterne in dem Farn hinter dem Kälberpferch zu. Ihre Brustwarzen wurden durch den kalten Wind von der See steif. Sie trug nur das Hängekleid, in dem sie sich schlafend gestellt hatte. Der Wind presste das Kleid an ihren Körper. Sie konnte ihre Brüste spüren, die sich unter dem Stoff spannten, ihren Bauch und die Schenkel, die von kalter Luft gestreift wurden. Sie stolperte, fing sich, rannte auf dem Pfad weiter, der dem niedrigen Ufer folgte, der neuen Mauer zu ihrer Rechten, der See zu ihrer Linken, die von Wellen geriffelt war, die aus der Dunkelheit auf den von Mondlicht erhellten Sand brachen.
Sie rannte, so schnell sie nur konnte, auf die Laterne zu, die Michael angezündet hatte, um sie zu leiten. Sie sah ihn, bevor sie ihn erreichen konnte. Er lehnte an der Mauer am Fuß von Olaf’s Hill, die Beine gespreizt, als ob der Hügel ihn in ihre Richtung drücken würde.
»Biddy«, rief er leise. »Hier.«
Als sie ihn erreichte, sah sie, dass er bereit war. Sie fiel ihm in die Arme. Er wankte, fing sich und zog sie an sich. Er hatte seine Jacke ausgezogen. Sein Hemd war bis zu seinem Bauch hinunter offen, so wie er es am ersten Tag getragen hatte. Sie legte ihre Hände unter dem Hemd um seine Taille und hielt ihn fest. Er schob sich hoch und höher, in und gegen sie, und fragte, während er das tat, mit klangloser, ausdrucksloser Stimme: »Ist dir kalt, Biddy?«
»Nein.«
»Ich habe eine Decke.«
Er schob sie auf die Mauer zu. Er konnte sich nicht überwinden, sie loszulassen. Während sie versuchte, die Lücke in der Mauer zu finden, um hindurchzusteigen, ohne sich zu verletzen, presste er sich wieder gegen sie. Die Laterne unter ihr im Farn ließ die Farnwedel braun und bronzen aussehen. Die Decke lag zusammengeknüllt zwischen den Halmen. So etwa mussten geächtete Clan-Angehörige früher, in der Zeit lange vor ihrer Geburt, geschlafen haben. Als Michael ihre Brüste mit seinen Händen umfasste und sie mit seinen Hüften festhielt, hatte sie das Gefühl, von ihm gefangen zu sein. Dass sie ebenso seine Gefangene wie seine Geliebte sein würde. Dass das, was immer jetzt mit ihr geschehen würde, nicht ihre Schuld war.
Sie streckte einen Arm aus, um Halt zu finden, während er sie liebkoste und in ihr Haar murmelte: »Gott, mein Gott, bist du wunderschön, Biddy Campbell.« Dann löste er sich von ihr. Eine Welle von Panik durchfuhr sie, weil sie glaubte, er wollte vielleicht nichts mit ihr zu tun haben. Dann gab er ihr wieder einen Schubs. Sie trat über die Steine hinweg in den Farn. Ihre bloßen Füße rutschten auf feuchtem Gras. Er fing sie auf, drückte seine Hände in ihr Kreuz, hatte seine Beine gespreizt.
»Hast du es schon mal getan?«, flüsterte er.
»Nein. Aber ich …«
»Leg dich hin.«
»Wie?«
»Auf deinen Rücken.«
»Auf die Decke.«
»Ja.«
Sie legte sich hin, ganz hin, stützte sich dann wieder auf ihre Ellenbogen, um ihm zuzuschauen, wie er seine Kleidung abstreifte, alles bis auf sein Hemd. Sie hatte Bullen und Hammel oft genug erregt gesehen und wusste, was sie zu erwarten hatte. Sie fürchtete sich nicht vor ihm, und sie war auch nicht enttäuscht.
»Hast du«, sagte sie, »es schon mal getan?«
»Ja.«
Er sank auf seine Knie, schob seine Finger unter ihr Kleid, hob das Kleidungsstück hoch und rollte es über ihren Bauch. Sie spürte, wie der Stoff sich an ihren Brüsten fing, und das seltsam angenehme Zupfen, als er ihn wegstreifte. Sie musterte ihren Körper fast neugierig, während Michael sich darauf hockte und ihre Brüste küsste. Sie konnte die Kerze der Laterne dicht neben ihrem Kopf riechen und ihre halbmondförmige Aura sehen.
»Mit wem?«, sagte Biddy.
»Bridget«, sagte er, »sei still.«
Hände in ihrem Haar. Ziehend. Hände an ihren Knien. Streckend. Als er sich auf sie senkte, fühlte sie sich so schwach, dass sie unter ihm zurücksank. Sie starrte zum Himmel hoch, der über den Farnwedeln schwarz wie ein Fluss war. Sein Gesicht kam nach unten. Stirnrunzelnd schaute er in ihre Augen. Sie spürte, dass er sich stark und dick an ihr rieb. Sie wölbte ihr Rückgrat, spannte ihre Muskeln an. Hielt den Atem an. Er sagte: »Tu ich dir weh? Sag mir, wenn ich dir wehtue.« Sie konnte nur ihren Kopf schütteln. Und dann war er plötzlich in ihr, und eine kleine Welle von Schmerz durchfuhr sie.
Es war nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte, nicht schnell und schlimm und plötzlich. Sie wusste nicht, ob das an Michael lag. Sie konnte nicht einmal beginnen zu denken, was das Gefühl bedeutete. Zuerst schien es unerträglich zu sein. Dann, gerade als sie im Begriff war, laut aufzuschreien, staute es sich und schmolz in ihr, und sie wurde nicht von außen, sondern aus sich selbst heraus heftig erregt und wusste in diesem Augenblick, dass sie, ob mit oder ohne Liebe, endlich Erfüllung gefunden hatte.
Kälte kam mit dem Tageslicht, nicht die Kühle von Sommerregen oder klarem Herbstmorgen, sondern frostige und schneidende Kälte. Innis konnte das an ihrer Nase und an ihren Ohrspitzen spüren, als sie erwachte; auch in sich, als ob sie in dieser dunklen grauen Stunde, in der die Finsternis widerwillig dem Tageslicht weicht, in sie gedrungen wäre. Sie wusste, noch bevor sie die Tür geöffnet oder aus dem Fenster geschaut hatte, dass dicke Wolken am Horizont sein würden und die See vor Wellen strotzte, die schärfer als gewetzter Stahl waren.
Aileen kniete auf den Decken, hatte den Kopf geneigt und dieses feine, wissende Lächeln auf den Lippen, das Innis so hasste. Unter dem größten Teil der Decken zusammengerollt, schlief Biddy wie eine Tote. Außer einer Strähne roten Haares und den Knöcheln einer Hand am Rand der Decke war von Biddy nichts zu sehen, aber ihr Körper schien anders zu sein, nicht gestreckt, sondern zusammengezogen. Sie hatte ihre Knie an den Bauch gedrückt. Als Aileen auf die Leiter zukroch, fasste sie sie beim Handgelenk und legte einen Zeigefinger auf ihre Lippen, um ihr zu bedeuten, leise zu sein.
Als Folge des Tanzes würde es in Fetternish viele schmerzende Köpfe geben, und viele Männer würden schwören, nie wieder einen starken Drink anzurühren oder stundenlang draußen vor einer Scheune oder einem Kuhstall zu stehen und eine widerwillige Geliebte zu umwerben. Andere, wie ihr Vater, würden spät aufwachen, nach der Flasche unter dem Bett greifen, auf die Toilette verschwinden und zurückkommen, murmeln, dass Arbeit ein Fluch sei und wie schön es wäre, wenn man einen Diener hätte, der für einen die Arbeit erledigte, und dann, beim Frühstück, befinden, dass die See zu rau oder das Wetter zu windig sei, um mit dem Boot hinauszufahren, und dass das Brotverdienen verschoben werden müsse.
Innis fühlte sich ein wenig benommen, weil sie kaum geschlafen hatte, aber ansonsten recht gut. Sie machte nicht Biddy für das verantwortlich, was geschehen war, denn, so sagte sie sich: Ich habe nichts gesehen, was darauf hindeutete, dass Michael und meine Schwester etwas angestellt haben. Überdies war Michael früh gegangen, und Biddy war mit dem Rest der Familie nach Hause zurückgekehrt. Vielleicht wäre sie böse gewesen, wenn sie Biddy mehr ähnelte. Aber sie war nie wie Biddy gewesen. Der Zwischenfall hatte ihr einfach bewiesen, dass das, was sie für Michael Tarrant zu fühlen geglaubt hatte, eine unbegründete Emotion gewesen war.
Warum hatte er sie geküsst? Diese Frage musste unbeantwortet bleiben.
Sie erledigte in Eile all ihre Haushaltspflichten und ging dann, gut gegen den scharfen Wind eingemummt, hinaus, um die Kühe zu melken, während sie Aileen das Feuer entfachen ließ. Nachdem das getan war, würde sie einen Behälter mit frischer Milch über den Hügel zu Michaels Cottage bringen.
Das Licht auf der See war marmorgrün, der Wind schneidend. Ein Nordwind war zu jeder Jahreszeit heftig und gefährlich, aber dass einer so grimmig nach Mull kam, und das vor Ende Oktober, schien nicht richtig zu sein. Es machte die Rinder unruhig, und selbst die Kühe waren irritiert und wollten zuerst nicht in den Schutz der Mauer kommen. Dennoch verflog ihre Müdigkeit, während sie mit Hocker und Eimer arbeitete und der Wind wie eine offene Hand gegen ihren Rücken drückte und ihr trotz der fünf Lagen Wollkleidung kalt war.
Es war noch früh, als sie den Deckel auf die Milchkanne setzte und sich auf den Weg über den Hügel durch den schwankenden Farn machte. Das Geräusch des Windes kam leise und tief aus den Solitudes. Die Schafe von Fetternish hatten Zuflucht unter der Leeseite der Felsen gesucht oder unten in den Erdspalten, die den Rand der Weide zernarbten, und starrten sie entrüstet an, als sie durch das Heidekraut auf Michael Tarrants Cottage zusteuerte. Aus dem Kamin stieg kein Rauch, und es war kein Lebenszeichen festzustellen. Dann hörte sie den Collie hinter der Tür des Schuppens scharren. Das Kratzen seiner Krallen an dem Holz und sein dünnes, unsicheres Winseln folgten ihr zur Cottagetür. Sie lauschte einen Augenblick, drückte dann die Klinke hinunter und trat in die Küche.
Flaschen lagen neben Tellern, Tassen und Gläsern auf dem Tisch verstreut. Ein schwarz gebrannter Kessel war auf einen Haufen Bettzeug geworfen worden und eine Decke, an der Farnhalme hafteten, lag zusammengeknüllt vor dem Tisch. Eine Fährte von Kleidungsstücken führte dorthin, wo Michael unter einer Decke lag, das Gesicht in einem Kissen vergraben.
Er rührte sich nicht, als Innis den Raum betrat.
Sie stellte die Kanne vorsichtig auf die Tischplatte. Sie warf einen Blick auf die Überreste einer Mahlzeit: Speckschwarte, Eierschalen, ein Kanten Brot, Whisky in einem Glas, Teeblätter in einer Tasse. Sie widerstand der Versuchung, das Geschirr in dem Waschbottich abzuwaschen, und trat leise an das Bett. Er schlief fest, und sie konnte wenig von ihm sehen, nichts außer einer nackten Schulter und einer Strähne dunklen Haares. Das Kissen war so fest an sein Gesicht gepresst, dass sie einen Augenblick in Panik geriet, weil sie dachte, er könnte tot sein.
Sie streckte ihre Hand aus, um ihn zu berühren, hielt dann aber inne. Sie konnte Venen an seinem Hals sehen, das Pulsieren von Blut, eine Bewegung des Lakens, die erkennen ließ, dass er noch atmete. Und während sie ihn beobachtete, seufzte er und öffnete die Finger einer Hand in einer Geste, die so instinktiv war wie die eines Kindes, das nach der Brustwarze tastet.
Zwischen seinen Fingern rann eine feine Silberkette, an der ein Edelstein oder ein Schmuckstück befestigt war, das in seiner Handfläche verborgen blieb. Innis beugte sich näher zu ihm. Es verlangte sie danach, die Decke zurückzuschlagen und neben ihn zu schlüpfen, damit er, wenn er seine Augen öffnete, ihr Gesicht sehen würde und nur ihr Gesicht.
Stattdessen zog sie sich zurück und eilte davon und nahm die Kanne mit der frischen Milch mit sich über den Hügel nach Pennypol.