Ihr alter Dienstherr hatte jeden Morgen für die Feldarbeiter wie für die Dienerschaft Andachten gehalten. Er kam aus der Hintertür des Herrenhauses, sein Gebetsbuch in der Hand, und versammelte sie unter dem Baldachin am Ende des Rosengartens. Er las ihnen einen Abschnitt aus der Schrift vor und ließ sie das Vaterunser sprechen, und dann segnete er sie, die Hände erhoben, und die Quasten seines Gebetbuchs flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings. An regnerischen Tagen öffnete er die Waffenkammer am Fuße des Turms. Sie gingen hinein, um sich auf die Kisten zu hocken, während er eine kleine Predigt über Frömmigkeit und Fortschritt hielt, und dann gingen sie wieder, wenn nicht erbaut, so doch zumindest dem alten Knaben widerwillig dankbar dafür, dass er sie aus dem Regen geholt hatte.
Fay war zehn, als der alte Herr starb und der junge Sir Johnny das Gut geerbt hatte. Die Morgengebete waren über Bord gegangen, ohne ein erklärendes Wort eingestellt worden. Das Einzige an Frömmigkeit, was ihnen geblieben war – Josh, den Mussons und ihr –, waren die Sonntagsgottesdienste in der Kirche von Fream gewesen. Nachdem sie Gavin geheiratet hatte und zum Edge gezogen war, um dort zu leben, hatte es überhaupt keine Religion mehr gegeben. Als die Frauen der Schafhirten an einigen Sonntagmorgen zu ihr kamen, um sie abzuholen, bedachte Gavin sie mit blasphemischen Bemerkungen und schickte sie weiter. Nach etwa einem Monat derartiger Behandlung hatten sie Gavin und sie in Ruhe gelassen.
Auf Mull gab es keine Glocken, die sie zum Gottesdienst riefen, nur die Wogen am Ufer und das Heulen der Winde, die den Hügel über An h-Vaignich durchrüttelten, was, wie sie gelernt hatte, der gälische Name für die Schlucht hinter Pennymain war.
Innis hatte sich das Dogcart ausgeliehen und war zur Messe in der Gemeindehalle von Glenarray gefahren. Becky war zu dem großen Haus hinaufgegangen, denn, gleich ob Sonntag oder nicht, Maggie würde Hilfe für den Fall brauchen, dass Biddy und Quig den Pfarrer und seine Frau zum Lunch mitbrachten. Es schmerzte Fay ein wenig, dass Innis sie nicht eingeladen hatte, sie zur Kapelle zu begleiten. Sie hätte nichts dagegen gehabt, einen Gottesdienst mit Katholiken zu feiern, da dies besser war, als überhaupt kein Gottesdienst.
Aber der Gottesdienst war nicht alles, was Fay an diesem Sonntag im Sinn hatte. Sie hatte auf Pennypol alle Beete umgegraben und brauchte Dünger und Samen, bevor sie mit dem Pflanzen beginnen konnte. Notwendigkeit, nicht Einsamkeit, veranlasste sie, die Holzbrücke zu überqueren, die die Schlucht hinter dem Cottage überspannte und dem Weg nach Fetternish House folgte.
Sie nahm den Hund mit. Dann und wann sprang der Spaniel mit einem Niesen oder Schnaufen aus dem Farn, einen Ausdruck von Panik im Gesicht, bis Fay rief: »Lauf weiter, Junge, nur weiter.« Und dann rannte er über den Weg vor ihr her. Oben auf dem letzten Hügel aber wartete er auf Fay und blickte zu ihr auf, war verdutzt, terrassenförmig angelegte Rasenflächen und die großen Steinmauern des Hauses zu entdecken.
»Guter Hund.« Fay kraulte ihn hinter den Ohren. »Guter Hund. Bleib jetzt bei mir, ganz nahe.«
Der Hund klebte an ihren Fersen, als sie den Rand des Rasens zu der Tür in der Gartenmauer überquerten, und senkte seine Nase in ihre Handfläche, als sie stehen blieb.
Sie blickte zu dem Haus auf, das wuchtig und aufstrebend über ihr ragte. Niedrige, schmale Giebelfenster waren von gemeißelten Steinbalustraden gekrönt. Es gab eine Art Turm und Brustwehr und einen Fahnenmast ohne Fahne. Obwohl es mit allen Verzierungen einer Burg protzte, war etwas Unechtes an dem Haus, das nicht zur Befestigung, sondern zum Vorzeigen errichtet war und ein Stück Geschichte für sich beanspruchte, zu dem es nicht berechtigt war.
Fay umfasste die Kehle des Spaniel, damit er still blieb.
Sie entriegelte die Tür in der Mauer und trat in den Garten.
Ihre erste Reaktion war Enttäuschung.
Es gab keine Kieswege, keine Einfassungen aus Ziegeln, nur ein Netzwerk von begrasten Wegen, die alle matschig und ungepflegt aussahen, und sie hielt vergeblich nach Glasglocken und Frühbeeten Ausschau. Die Sträucher, die sich an die Südwand klammerten, waren ausgedorrt und verfault, und Ayrshire-Rosen wucherten ungezügelt in das weiche Laub einer Damaszenerpflaume, die schon vor Wochen hätte beschnitten werden müssen. Nicht zusammengerechte Blätter waren nass und ranzig geworden und Kohlköpfe und Rosenkohl verfaulten elend in dem sauren Boden. Das einzige Anzeichen von üppigem Wachstum war ein großes, feuchtes Rhabarberbeet.
»O, Gott!«, sagte Fay verhalten. »O, Gott! O, Gott!«
Sie ließ den Spaniel los und humpelte den Weg an der Mauer entlang, verärgert über den Anblick von so viel Vernachlässigung. Hätte es Werkzeuge gegeben – einen Spaten, einen Rechen oder auch nur einen Pflanzenheber –, sie hätte sich auf der Stelle daran gemacht, mit dem Ausbessern zu beginnen, aber Geräte waren nirgendwo zu sehen und auch kein Schuppen, in dem sich welche finden lassen könnten.
»Guten Morgen, Mrs. Tarrant.«
Sie wirbelte herum. »Was? Was sagten Sie?«
»Kein Grund zum Schreien, Mädchen«, erklärte Willy Naismith. »Ich mag zwar alt sein, aber ich bin nicht taub.« Er warf einen Blick auf die Frau, die neben ihm auf der Bank saß. »Und Aileen hat so scharfe Ohren, dass sie die Seehunde draußen auf Trenish bellen hören kann. Ist das nicht so, Aileen?«
»Ja, Willy«, sagte die Frau und kicherte.
Die Bank versteckte sich unter einem Sims, der von der Wand dicht bis zu einer brusthohen Pforte ragte, abgeschirmt von ein wenig Immergrün, das in den Küchenhof führte. Der alte Mann, die Frau und die Bank schienen aus einem Stück zu sein. Sie hatten ein sonniges Plätzchen gefunden oder herbeibeschworen. Das braune, makellose Gesicht der Frau war nach oben gerichtet. Ihr Blick fixierte die Lichtquelle.
Fay begriff, dass dies Aileen sein musste, die Jüngste von Ronan Campbells Töchtern, die Tante, die nicht ganz richtig im Kopf war. Aber Aileen Campbell zeigte nichts von der Mitleid erregenden Unschuld des blöden Jungen oder des armen, nickenden Mädchens, die jeden September mit den Kartoffelerntehelfern nach Fream gekommen waren, und noch bevor sie ihren Mund öffnen konnte, spürte Fay, dass sie gefährlich tief in ihrem Zustand steckte und unerklärlicherweise stolz darauf war.
»Erinnerst du dich nicht an mich?«, fragte Willy.
»Doch, Sir. Sie sind Mr. Naismith. Sie waren einmal der Majordomus dieses Hauses.«
»Das bin ich noch«, sagte Willy, »jedenfalls nominell. Diese Dame ist Aileen Campbell.« Er tätschelte mit knorriger Hand das Knie der Frau. »Willst du nicht Guten Tag sagen? Das ist Mrs. Tar …«
»Ich bin jetzt Fay Ludlow, Sir.«
»Ja, natürlich bist du das. Ich habe die Geschichten gehört, die darüber erzählt werden. Einige davon sind recht originell.«
»Mrs. Tarrant scheint sie für nötig zu halten.«
»Ich bin ganz ihrer Meinung«, sagte Willy. »Er war ein mürrischer Junge, dein Mann. Er hat auf Quig geschossen, weißt du, und hätte ihn beinahe umgebracht.«
»Ich habe die ganze Geschichte noch immer nicht gehört«, sagte Fay.
»Keine Geschichte. Es ist die traurige Wahrheit«, sagte Willy. »Hätte ihn beinahe mit einem Schuss aus einem Gewehr getötet. Es war Donnie, Aileens Sohn, hinter dem Gavin her war, aber glücklicherweise gelang es Quig, dazwischen zu gehen. Glaub bloß nicht, dass dies ein Unfall war. Gavin stahl das Gewehr und pirschte sich so vorsätzlich an seinen Cousin heran, wie er sich vielleicht an einen Hirsch herangepirscht hätte.«
Aileen, die ihr Gesicht noch immer himmelwärts gewandt hatte, schien an dem Gespräch nicht interessiert zu sein.
»Willst du mich nicht fragen, warum?«, fügte Willy hinzu.
Fay zuckte die Schultern. »Groll?«
»Nenn es Groll, wenn du willst«, sagte Willy. »Wut wäre vielleicht treffender. Aber wenn du mich fragst, dann ist er ganz einfach schon schlecht geboren worden. Wohlgemerkt, hättest du je seinen Großvater kennen gelernt, den alten Ronan, hättest du nicht lange nach einem Grund suchen müssen. Du verstehst eine Menge von Gärten, nicht wahr, Mädchen?«
»Ein bisschen«, sagte Fay und fügte dann hinzu, »mehr als ein bisschen.«
Sie fühlte sich durch seine Fragen nicht bedrängt, denn wenn Willy Naismith auch alt sein mochte, so vermittelte er noch immer einen gewissen herben maskulinen Charme.
»Was brauchst du?«, sagte er. »Was hast du hier zu finden gehofft?«
»Saatgut«, sagte Fay. »Und Dünger.«
Er nahm eine Hand von dem Spazierstock und kratzte seine Nasenspitze leicht. »Hast du die Absicht, Pennypol wieder grün zu machen?«
»Ich wüsste nicht, warum nicht, Mr. Naismith. Es ist guter und fruchtbarer Boden.«
»Das mag sein«, sagte Willy. »Die Frage ist, wessen Boden ist es?«
»Wie bitte?«
»Also weißt du, Mädchen, Boden hat immer einen Besitzer. Pennypol macht da keine Ausnahme.«
»Mrs. Tarrant – Innis ist die Besitzerin?«
»Hat Gavin dir das erzählt?«
»Gavin hat mir nie erzählt, wer was besaß.« Sie gab ein leises, überraschtes Lachen von sich. »Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann redete er so, als gehöre Fetternish ihm.«
Willy rutschte auf der Bank herum.
Aileen öffnete ein Auge und warf ihm einen Blick zu.
»Michael Tarrant war immer auf Land scharf«, sagte Willy. »Es ärgerte ihn, dass er, selbst nachdem er Innis geheiratet hatte, keine Möglichkeit finden konnte, ein Stück von Fetternish für sich zu bekommen.«
»Und Pennypol?«
»Ist jetzt Teil von Fetternish.«
»O!«
Die Frau behielt das eine Auge offen, so als habe sie die Erwähnung von Pennypol aus ihrer Traumwelt zurückgeholt. Das unverwandt blickende Auge in dem wettergegerbten Gesicht wirkte unheilverkündend und wissend. Für einen Moment fürchtete sich Fay vor Aileen Campbell fast so, wie sie sich vor Gavin gefürchtet hatte.
»Stör dich nicht an ihr«, sagte Willy. »Sie kann nichts dafür. Außerdem hast du mit der armen kleinen Aileen mehr gemeinsam als du weißt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Campbell-Männer«, sagte Willy, »sind Bestien, zumindest einige von ihnen. Es war nicht Gavin, sondern sein Großvater, der Aileen ruinierte. Ich meine nicht, sie verdarb. Ich meine, sie ruinierte. Er zerstörte ihren Verstand mit seiner Grausamkeit.« Er zuckte mit den Schultern, die unter einem losen Ulster-Umhang so schmal wie Weidengerten waren. »Aber du wirst nicht hergekommen sein, um an den Wurzeln des Stammbaums der Familie zu graben. Stattdessen werden wir über Pennypol sprechen und darüber, wie du Geld finden kannst, um zu kaufen, was du brauchst.«
»Für irgendwen wäre es eine kluge Investition. Ich weiß einfach nur nicht, wer das sein könnte.« Sie verlagerte ihr Gewicht auf ihr Knie und spürte, dass ein stechender Schmerz in die Enden ihrer Knochen schoss, eine Erinnerung daran, wer sie war und was sie hierher gebracht hatte. Sie schaute sich um, während der Spaniel herbeigetrottet kam und Wasser in die Blätter eines riesigen Ginsters ließ, der in einer Ecke nahe der Bank Wurzeln geschlagen hatte. »Ich will nichts für mich selbst«, fuhr sie fort. »Ich brauche ein Dach, ein Bett und Essen, aber ich bin nicht darauf aus, Gewinn zu machen.«
»Gewinn?«, fragte Willy.
»Aus dem Verkauf der Ernte.«
»Wo willst du die Ernte verkaufen?«
»Auf dem Markt.«
»Auf welchem Markt?«
»In Crove.«
»In Crove gibt es keinen Markt.«
»Aber in – in Dervaig, oder?«
»Auch in Dervaig gibt es keinen Markt.«
»Ja, dann, in Tobermory …«
»Du verkaufst keinen Fisch«, sagte Willy. »Einen Sack Kartoffeln oder eine Kiste mit Blumenkohl kannst du nicht einfach auf den Pier stellen und dann zu rufen beginnen, um deine Waren anzupreisen. Für Gemüse interessiert sich niemand. Die meisten Leute bauen entweder selbst an, was sie brauchen, oder sie tauschen mit ihren Nachbarn. Du darfst nicht vergessen, dass dies nicht das Zentrum von England ist. Wir füllen unsere Körbe und unsere Bäuche von den Feldern, nicht aus den Gärten, aus dem Meer und nicht aus dem Obstgarten. Es gibt hier für nichts einen Markt.«
»Was ist mit Oban?«
»Möglich, aber die Preise für die Fähre sind sehr hoch, selbst für kleine Fracht.«
Fay schürzte ihre Lippen. Der alte Mann hatte Recht. Sie war unvorbereitet gekommen. Sie hätte aufmerksamer zuhören sollen, als Josh und Mr. Musson und Sir Johnny über Verkauf von Gemüse sprachen. Sie mochte sehr viel über Pflanzen, Saatgut und Erde wissen, aber sie wusste nichts über den Umgang mit Geld.
»Zweifel, Miss Ludlow?«, sagte Willy.
»Ich habe die Beete umgegraben. Sie sind zur Aussaat bereit.«
»Das habe ich gehört«, sagte Willy.
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Meine Frau.«
»Ich kenne Ihre Frau nicht.«
»Nein, aber sie kennt dich«, sagte Willy. »Zumindest weiß sie so viel wie jeder andere von uns über dich. Becky erzählt ihr alles.«
»Ich hatte den Eindruck, dass Becky nicht an mir interessiert ist.«
»O, Becky ist an dir sehr interessiert. Wir alle sind an dir interessiert. Du bist eine schöne Ablenkung an einem Ort, an dem nichts passiert.« Willy kratzte sich wieder an der Nasenspitze. »Du darfst uns unsere Neugier nicht übelnehmen. Sie kann dir zum Vorteil gereichen.« Er beugte sich vor. »Hör gut zu, Mädchen: Pennypol gehört durch einen Pachtvertrag von Innis, die von einem Einkommen aus kleinen Mieten und Investitionen lebt, zu Fetternish. Biddy hingegen hat all ihre Gewinne wieder in Fetternish investiert. Man sollte das nicht glauben, wenn man es sieht, aber Biddy hat im Lauf der Jahre ein Vermögen für Landverbesserungen ausgegeben.«
»Warum ist es dann so abgewirtschaftet?«
»Die Märkte«, sagte Willy. »Der schlechte Preis für die Wollernte, ausländische Importe und natürlich diese verdammte Insel an sich.« Als er unter dem losen Umhang seine Schultern hob, fand Fay, dass er wie ein großer, ziemlich hässlicher Vogel aussah. »Mull wird dich verschlingen, wenn du nicht aufpasst. Es hat kein Herz, kennt keine Dankbarkeit. Es nimmt, was ihm gegeben wird, aber es gibt dafür wenig zurück.«
Fay hob eine Augenbraue. »Was meinen Sie damit?«
Willy machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich rede Unsinn. Hör zu, du bist hier, um Saatgut zu beschaffen, oder nicht?«
»Das bin ich.«
»Schön, Quig ist dein Mann. Quig ist derjenige, mit dem du sprechen musst. Du bist zumindest nicht so ein verdammter Spekulant, der die Insel mit Fichten überziehen will.« Er erhob sich mühsam, wobei er sich auf den Stock stützte. Aileen erhob sich ebenfalls, als sei sie durch ein Scharnier mit ihm verbunden. »Rede mit Quig. Er hat die Tage, an denen noch etwas Atem auf diesen Inseln war, nicht völlig vergessen.«
Der Spaniel lag, sein Kinn auf den Pfoten, zu Fays Füßen, als ob die ungewohnten Düfte des Gartens ihn schließlich überwältigt hätten. Durch den Moder konnte sie wilde Zwiebeln riechen und Lavendel. Lavendel um diese Jahreszeit?
»Wo ist Mr. Quigley?«, fragte sie.
»Mit den anderen in der Kirche.«
»Wann wird er zurück sein?«
»Gegen ein Uhr oder halb zwei.«
»Dann werde ich mich mit ihm verabreden«, sagte Fay.
»Nein«, sagte Willy. »Morgen wird Zeit genug sein. Du wirst ihn gegen halb neun im Verwalterbüro an der Rückseite des Hauses finden.«
»Im Verwalterbüro?«, sagte Fay. »Dann soll das geschäftlich sein?«
»Rein geschäftlich«, sagte Willy. »Bist du dafür bereit?«
»Ich bin dafür bereit«, sagte Fay und humpelte dann über den Rasenweg davon, den verschlafenen kleinen Spaniel an ihren Fersen.
An der Tür in der Mauer drehte sie sich um, um Mr. Naismith für seinen Rat zu danken, doch er und die finstere Schwester waren verschwunden, als wären sie überhaupt nicht dort gewesen.
Beckys Kenntnis um nationale Angelegenheiten stammte überwiegend aus den Seiten des Manchester Guardian. Die Kosten des Zeitungsabonnements verschlangen einen beträchtlichen Teil des kärglichen Lohns, den Tante Biddy ihr zahlte, aber sie gab wenig für Kleidung aus und war im Umgang mit Nadel und Faden so geschickt, dass Nähen und Flicken mehr ein Hobby als eine Notwendigkeit war. Aber Becky fand, dass der Guardian dieses Opfer sehr wohl wert sei: Seine Artikel und Kommentare nährten ihr Gefühl für Ungerechtigkeit. Wenn sie von einem Leben auf dem Festland träumte, dann nicht von einem als Haushälterin oder Gattin eines wohlhabenden Geschäftsmanns, sondern als hungernde Fabrikarbeiterin mit abgehärmten Gesichtszügen und abgebissenen Fingernägeln, eine der unterdrückten Massen, die sich eines Tages vielleicht erheben und die Regierung stürzen würden.
Willy las nicht den Guardian. Willy las The Times. Sie traf früher auf Mull ein als die Zeitung aus Manchester, nur zwei Tage nach Erscheinen, und es gelang ihm normalerweise, das Exemplar des Haushalts zu stiebitzen, bevor Biddy es an sich nehmen konnte. Deshalb war Willy vorbereitet und bereit, die junge Köchin zu necken, während sie Kartoffeln schälte, ein hartes Stück Fleisch weich klopfte oder aus einem Kabeljau mit hauchdünner Messerklinge die Gräten entfernte. Mehr als einmal hatte die hauchdünne Messerklinge wütend vor Willys Gesicht gewippt, denn Becky war zwar klug, aber nicht klug genug um zu merken, dass das, was der spitzbübische alte Tory in ihr weckte, keine Leidenschaft des Intellekts, sondern der Einbildung war.
Im Grunde war Becky an der Notlage der armen Landbevölkerung oder dem Schicksal Schottlands als Nation nicht interessiert. Sie war durch die Fantastereien über Armut geblendet und glaubte, dass die Armut wirklich nur in den von Ruß verschmierten Midland-Städten zu finden sei oder in den düsteren Slums im Norden Englands. Da sie Entbehrung aus eigenem Erleben nicht kannte, konnte sie daraus machen, was sie wollte, und nichts von dem, was Willy sagte, erschütterte ihren Glauben an die Realitäten kapitalistischer Unterdrückung.
Was Becky im Monat März jedoch am meisten ärgerte, war nicht Willy Naismith’ Widerstand gegen die beabsichtigte Sozialreform oder seine Meinung, dass militante Suffragetten wenig besser als Rüpel mit schlechtem Benehmen seien, sondern Maggies hartnäckige Fragen nach »der Neuangekommenen«.
Die Neuangekommene, die Neuangekommene: Maggie erkundigte sich stets und ständig nach der Neuangekommenen, gerade so, als ob Fay Ludlow in einem Korb auf der Türschwelle aufgetaucht oder im Schilf am Ufer des Loch Frisa gefunden worden sei. Das fortwährende unaufhörliche Bohren und Schwatzen von Maggie war mehr, als Becky ertragen konnte, und Maggie konnte von Glück sagen, dass mit dem dünnklingigen Messer nicht auch vor ihrem Gesicht herumgefuchtelt wurde – eine Reaktion, die Becky ihre Stelle gekostet hätte, da Maggie eine Säule des Haushaltes war, anders als Willy, der jetzt ein bisschen als Clown betrachtet wurde und als Rundumärgernis. Maggies hartnäckiges Fragen verdeutlichte, wie beschränkt und provinziell das Leben in Crove sein konnte und machte Becky bewusst, dass dieses Haus, diese Insel viel zu klein waren, um ein Mädchen mit Fantasie und erwachendem Gewissen noch viel länger zu halten, auch wenn ihre Mutter umsorgt werden musste, was sie aber langsam zu bezweifeln begann.
Biddy und Quig waren nicht mehr wohlhabend. Die Trennungslinien zwischen Dienstboten und Herren hatten nachgegeben und sich gelockert. Es war nicht ungewöhnlich, dass Quig sein Abendessen am Küchentisch einnahm oder dass Biddy mit einem Staubwedel durch die Halle ging oder Maggie beim Wenden der Matratzen und Bettenmachen half. Becky vermutete, dass das Leben in Fetternish House jetzt nicht mehr war als eine Version von Cottage-Leben im Großformat. Und es erschreckte sie, wenn sie mit Überbleibseln des Stils konfrontiert wurde, den Tante Biddy einst erstrebt hatte und den sie als Kind als völlig normal akzeptiert hatte: eine seltene offizielle Dinnerparty zum Beispiel, wobei Biddy eines ihrer Abendkleider anzog und die wenigen Schmuckstücke trug, die in ihrer Schatulle verblieben waren, und Quig sich in einen Frack und glänzende Lackschuhe zwängte und anschließend in der Bibliothek eine ganze Zigarre rauchte, während Maggie und sie ohne Hilfe unten in der Küche das Essgeschirr abwuschen.
Die Zeiten hatten sich so radikal geändert, dass Becky nicht recht wusste, wer oder was sie sein sollte, ob sie mehr Bedienstete als Verwandte oder umgekehrt war. Rachel hingegen hatte schon in sehr frühem Alter gewusst, dass sie Fetternish eines Tages verlassen und sich auf dem Festland niederlassen würde. »Komm mit mir«, hatte Rachel gedrängt. »Lass dich als Krankenschwester ausbilden. Es ist ein gutes Leben für eine junge Frau und es wird ganz gut bezahlt, weißt du.« Doch bei allem Idealismus war die Vorstellung, Krankenschwester in einem Hospital in Glasgow zu sein, eine Dimension von Wirklichkeit, die Becky nicht erfassen konnte
Fay Ludlows Auftauchen indes rückte alles in ein anderes Licht.
Fay Ludlow schlief auf dem Boden der Küche, aß mit den Fingern, wusch sich ohne Seife und humpelte vor Anbruch der Dämmerung hinaus, um den Himmel zu studieren, als verstehe sie etwas, das sie, Becky, noch nicht erfasst hätte, etwas, das nichts mit Verstand oder Geist zu tun hatte, sondern unendlich viel tiefer lag – in der Seele.
Becky beneidete Fay Ludlow um ihr fröhliches Naturell und hatte einen Widerwillen gegen ihre Gelassenheit, gegen ihre Zielstrebigkeit und, dies vor allem, ihre Geheimnisse, die, wie Becky spürte, Schwindel waren. Angeregt durch Maggies Fragen, beschloss sie an einem Sonntagabend, als Fay und sie allein waren, zu prüfen, ob ihre Theorie zutraf.
»Wo ist meine Mutter?«, begann Becky. »Ist sie noch nicht zurückgekommen?«
»Noch nicht«, antwortete Fay. »Sie sagte, sie müsse vielleicht Vater O’Donnell nach Tobermory fahren. Er hat dort noch eine Messe am Abend und …«
»Ja, ja«, sagte Becky. »Ich weiß über alles Bescheid, was Vater O’Donnell macht.«
»Das Pferd muss ruhen.«
»Welches Pferd? O, dieses Pferd. Ja, ich weiß auch alles über das Pferd.«
»Ich habe Tee gemacht. Er ist frisch in der Kanne«, sagte Fay. »Ich hätte auch Abendessen gemacht, aber ich war mir nicht sicher, was du willst.«
»Ich werde auf Mutter warten, danke.«
»Was, wenn sie Mr. Brown besucht?«
»Was dann?«, fragte Becky.
»Ich dachte nur, du wärst vielleicht hungrig.«
»Nun, das bin ich nicht.«
Becky legte ihren Mantel ab und hängte ihn ordentlich in die Nische rechts neben der Tür. Fays Mantel hing ebenfalls dort, schlaff und billig und so schief wie das Mädchen selbst. Sie hatte das Verlangen, ihn herunterzureißen, ihm dem Mädchen zuzuwerfen und ihr zu befehlen, das Haus zu verlassen, nach Derbyshire zurückzukehren. Fay schien sich durch ihren scheltenden Ton nicht verärgern zu lassen und allein das war ein Affront gegen sie. Das Mädchen war zu unterwürfig, zu schmeichlerisch und kriecherisch, um ehrlich zu sein. Becky beschloss plötzlich, ihren Tonfall zu ändern, und als Fay ihr die Teetasse anbot, nahm sie sie mit einem Lächeln und sagte: »Auf wen sollen wir trinken, Fay? Auf wen sollen wir anstoßen?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Sollen wir auf meinen Bruder trinken?«, sagte Becky.
»Deinen Bruder?«
»Gavin – meinen Bruder, deinen Mann.«
»O!«
»Sollen wir?«
»Wenn’s dir nichts ausmacht, lieber nicht«, sagte Fay. »Wer hat dir das erzählt?«
»Ich hab’s vermutet.«
»Ich wollte es dir erzählen, aber deine Tante bestand darauf, es geheim zu halten.«
»Ha!«, machte Becky. »Ja, Familienstolz und all das. Du bist nie vergewaltigt worden, oder?«
»Vergewaltigt?«, sagte Fay. »Nein.«
»Wer hat sich diese widerliche Geschichte ausgedacht?«, fragte Becky. »Ich meine, mal ehrlich, was glaubst du, wie lange ich dir diese jämmerliche Geschichte abkaufen würde?«
»Ich glaube, deine Mutter hatte die Absicht, es dir sehr bald zu sagen.«
Der Spaniel hatte in seinem Korb in dem steinernen Schuppen neben der Küche gedöst, war jetzt aber wach, stand in dem dunklen Eingang und starrte sie an. Becky starrte zurück und forderte ihn zum Bellen heraus, und nach einem Augenblick tappte er über den Boden und legte sich fromm vor das Feuer.
Becky sagte: »Wie lange warst du mit meinem Bruder verheiratet?«
»Sechsundzwanzig Monate.«
»Hast du ihn geliebt?«
»Zuerst ja, aber ich glaube nicht, dass er mich je geliebt hat.«
»Warum hat er dich dann geheiratet?«
»Er brauchte eine Frau, um eine Stellung zu bekommen.«
»Schäfer?«
»Ja.«
»Erzähl mir von meinem Vater.«
»Das kann ich nicht«, sagte Fay. »Ich bin ihm nie begegnet und Gavin sagte wenig über ihn.«
»Seltsam«, sagte Becky. »Ich dachte immer, sie stünden sich nahe.«
»Vielleicht hatten sie eine Auseinandersetzung.«
»Deinetwegen?«
»O, nein, nein«, sagte Fay und wiederholte: »Ich bin ihm nie begegnet.«
»Wie ist er?«
»Gavin? Er ist – er ist …«
»Es braucht dir nicht peinlich zu sein. Ich kann mich kaum an ihn erinnern. Ich werde dir nicht widersprechen, selbst wenn du mir erzählst, dass er ein Monster ist.«
»Kein Monster, nein«, sagte Fay. »Aber er ist jähzornig.«
Becky sagte: »Mein Dada war auch jähzornig. Doch ich erinnere mich nicht sehr gut an ihn, nur daran, dass er uns oft angeschrien hat. Wo habt ihr gelebt?«
Fay erzählte ihrer Schwägerin von dem abgelegenen Cottage unter der Kalksteinklippe. Sie wählte ihre Worte sorgfältig. Die Art wie Becky am Tisch saß, ihr Kinn auf die Knöchel gestützt, ähnelte der von Gavin unheimlich.
»Warum schaust du mich so an?«
»Wie was?«, sagte Fay.
»Als bedauertest du mich?«
»Mir war nicht bewusst – ich meine, ich hatte nicht die Absicht …«
»Du bist diejenige, die auf dem Boden schläft«, sagte Becky.
»Was hat das mit dem anderen zu tun?«
»Ich habe nie auf dem Boden schlafen müssen.«
»Mir stört’s nicht, auf dem Boden zu schlafen.«
»Aber es ist erniedrigend. Findest du nicht, dass es erniedrigend ist? Wir werden ein passendes Bett für dich finden müssen. Ich meine, ich kann nicht zulassen, dass meine Schwägerin auf dem Boden schläft.«
Trotz der süßen, versöhnlichen Worte des Mädchens hatte deren Hand auf dem Tisch sich zur Faust geballt. Fay war erfahren darin, solche kleinen Zeichen zu lesen, da das Leben mit Gavin sie viel gelehrt hatte. Sie wollte nicht mit Becky streiten. Es gefiel ihr, auf Pennymain zu leben, und sie hatte nichts dagegen, auf einer Matratze auf dem Küchenboden zu schlafen. Wenn jedoch Erntezeit war, würde sie ein Kind haben, an das sie zu denken hatte, und sie hatte Angst, dass die Ankunft des Babys Becky noch feindseliger machen würde, als sie jetzt schon war.
»Quig wird irgendwo noch ein Reservebett haben«, sagte Becky. »Ich werde ihn bitten, es hervorzusuchen und hierher zu bringen.«
»Danke«, sagte Fay, »aber …«
Becky sprang auf, erfüllt von der seltsamen, unerklärlichen Energie, die Fay bei Gavin beobachtet hatte, einer erschreckenden, zielstrebigen Energie, die sie nicht an ein Tier erinnerte, sondern an ein mechanisches Gerät oder Instrument, dessen Funktionsweise sie nicht verstand. »Darum gibt es kein ›aber‹«, sagte Becky. »Ich werde gleich morgen früh mit Quig darüber reden.«
Es lag Fay auf der Zunge, ihre Schwägerin zu informieren, dass sie morgen früh selbst mit Robert Quigley sprechen würde, aber sie besann sich eines Besseren.
»Quig weiß alles über dich, ja?«, sagte Becky.
Fay nickte. »Ja, Mr. Quigley weiß, wer ich bin.«
»Das ist gut«, sagte Becky. »Das wird mir eine Menge langatmiger Erklärungen ersparen.« Und sie machte sich, Fay den Rücken zuwendend, daran, das Abendessen zuzubereiten, als hinge ihr Leben davon ab.
»Wie ich höre«, sagte Quig, »suchen Sie ein Bett?«
»Hat Becky Ihnen das erzählt?«
»Ja. Sie scheint sehr angetan davon zu sein, eine Schwägerin zu haben.«
»Dessen bin ich mir nicht so sicher, Sir.«
Obwohl das holzgetäfelte Büro düster war, fühlte Fay sich dort wohl. Säcke mit Saat waren in den Ecken gestapelt. Kalender und Tabellen waren an die Wände geheftet, und der Schreibtisch war mit Papieren und Katalogen übersät. Der Geruch beruhigte sie wirklich: Quigs Büro roch genauso wie das Kämmerchen, in dem Mr. Musson seine Bücher aufbewahrt und das Pflanzjahr im Voraus geplant hatte. Sie war lediglich ein wenig durch die Sammlung ausgestopfter Tiere irritiert, die auf den oberen Regalböden vermoderten, und die Reihe von Hirschköpfen und Geweihen, die aus der Täfelung ragten.
»Meine Frau war früher Jägerin«, sagte Quig. »Eine sehr gute. Aber keine dieser Trophäen ist von ihr. Sie gehörten zum Haus, denke ich, und wahrscheinlich wurden sie auf einer Auktion gekauft. Sie sehen aus, als seien sie schon sehr lange tot, nicht wahr?«
»Das tun sie, Sir, das tun sie.«
Das einzige Licht kam aus einem rechteckigen Fenster hoch oben in der Außenmauer. Wäre der Raum wärmer gewesen, wäre er ein perfekter Platz für die Keimung, dachte Fay. Aus den Säcken mit Saatgut konnte sie einen malzigen Duft riechen: Hafer oder eine Grasmischung oder vielleicht Gerste. Auf einem schmutzigen Stück Persenning auf dem Boden lagen vier oder fünf Torfscheiben, aus denen jeweils ein farnartiger grüner Spross ragte.
Mr. Quigley betrachtete sie aufmerksam. Er war dunkelhaarig, dunkeläugig und aus seiner dunkelbraunen Gesichtsfarbe war zu schließen, dass er ein Mann war, der wenig Zeit im Hause verbrachte. Er trug ein gestreiftes Flanellhemd und eine wattierte Weste, die bessere Tage gesehen hatte. Seine Hände sahen selbst im Halbdunkel schlank und empfindlich aus. Er ist ein vorsichtiger Mensch, dachte Fay, aber jemand, der zuhört.
»Sind das junge Bäume?«, fragte sie.
»Ja, Sämlinge. Norwegische Fichte.«
»Wollen Sie auf Fetternish Bäume anpflanzen?«
»Vielleicht.«
»Es dauert lange, um mit Baumpflanzungen Gewinn zu erzielen.«
»Verstehen Sie viel von Bäumen, Miss Ludlow?«
»Sehr wenig«, sagte Fay. »Von Obstplantagen, ja, von Obstgärten, aber nicht von Wäldern.«
Er nickte. Für die Bewegung schien er beträchtliche Zeit zu brauchen. Sie konnte sehr gut verstehen, warum Biddy diesen Mann zu ihrem zweiten Ehemann erwählt hatte. Er erinnerte Fay ein wenig an Josh. Für einen Augenblick verspürte sie ein Gefühl von Heimweh nach Fream, wo sie so sorgenfrei und beschützt gewesen war. Als sie aber zu Robert Quigley aufblickte, wandelte ihr Heimweh sich zu einem Gefühl leisen Verlangens.
»Wie finden Sie Mull?«, sagte Quig. »Es muss sich sehr von John Yeates’ Gartenbaubetrieb in Derbyshire unterscheiden.«
»Das ja, aber ich denke, ich werde mich mit der Zeit daran gewöhnen.«
»Daran gewöhnen, allein zu sein?«
»Ich bin nicht allein, Sir.«
»Aber Sie haben doch allein gearbeitet, oder?«
»O, das!«, sagte Fay. »Hat Becky Ihnen das auch erzählt?«
Er gab ein Hüsteln von sich, das ein Lachen hätte sein können.
»Becky würde schwerlich bemerken, wenn Sie Baumwolle von hier bis Gometra pflanzen würden«, sagte er. »Willy Naismith erzählte mir, dass Sie Gemüse in Handelsmengen anbauen wollen. Ist das die Wahrheit?«
»Ja, Sir.«
»Pennypol wird nicht die beste Ernte erbringen.«
»Es hat vorher Ernte erbracht, wurde mir gesagt.«
»Vassie hatte dort einen Küchengarten«, sagte Quig. »Vor allem Kartoffeln und Zwiebeln. Ich bin sicher, dass Sie Ehrgeizigeres im Sinn haben.«
»Es wäre ebenso gut, ganz einfach anzufangen.«
»Was würden Sie brauchen«, fragte Quigley, »um einfach anzufangen?«
Er saß in einem Sessel mit Holzlehnen und geschwungenem Lederrücken, der an einigen Stellen fast durchgescheuert war. Er knarrte, als er sich dagegen lehnte.
»Mittleren Dünger«, sagte Fay, »davon aber recht viel.«
»Was halten Sie von unserem Garten hier beim Haus?«
Sie zögerte und sagte dann: »Damit könnte mehr gemacht werden.«
»Ja, erheblich mehr«, sagte Quig. »Was sagt Ihnen das über die Lage auf Fetternish?«
»Dass Sie zu wenig Leute haben.«
»Das ist es, kurz und bündig gesagt«, sagte Quig. »Vor einem oder zwei Jahren noch hatten wir Arbeit für jeden, der welche wollte, aber die neuen Handelsgesetze gelten ebenso für Landarbeiter wie für Fabrikarbeiter. Wir können noch immer billige Arbeitskräfte finden, wenn die Kesselflicker kommen, aber die Kesselflicker kommen jetzt nicht mehr nach Fetternish.«
»Warum nicht?«
»Weil sie die Arbeit mit Schafen nie sehr gemocht haben und heutzutage anderswo besser verdienen können.«
Obwohl Quig langsam sprach, war er ebenso scharfsinnig wie Willy Naismith, und Fay war sich nicht sicher, ob sie ihm folgen konnte.
»Verstehen Sie«, fuhr Quig fort, »mein Problem? Ich kann ein paar Pfund auftreiben, um Pflanzen und alles andere zu beschaffen, was Sie benötigen, um auf Pennypol einen Garten zu machen. Aber das wird nicht genug sein, nicht wahr? Es gibt einen Garten hier und Boden bei An Fhearann Cáirdeil, der kultiviert werden könnte. Aber wir sind hier alle Arbeiter, keine Dilettanten, und die Arbeit muss getan werden.«
»Ich hoffe, Sie halten mich nicht für eine Dilettantin, Mr. Quigley.«
»Ich weiß nicht, was Sie sind«, sagte er. »Ich bin vielleicht bereit, ein wenig Bargeld zu geben, um das herauszufinden, aber ich kann Ihnen keine Hilfe geben.«
»Was ist mit Billy?«
»Billy Barrett? Was ist mit ihm?«
»Könnte er nicht helfen?«, sagte Fay. »Im Sommer wird er doch freie Zeit haben.«
»Billy ist Schafhirte.«
»Das sagt er aber nicht.«
Quig zögerte. »Sie haben also schon Freunde gefunden?«
»Billy kam zu mir«, sagte Fay. »Ich habe ihn nicht aufgesucht.«
»Sie sind ein Mädchen«, sagte Quig, »eine attraktive junge Frau, und Billy – tja, er erreicht dieses Alter, in dem … Nein, Billy wird beim Lammen gebraucht.«
»Und nach dem Lammen?«
»Schule, drei Quartale auf der Schule in Oban im nächsten Jahr.«
»Und was wird er dann tun?«
»Was immer er kann.«
»Hier auf Mull?«
»Sie werden Fetternish nicht durch den Anbau von Gemüse retten, wissen Sie.«
»Sind Kohlköpfe nicht besser als Bäume?«
Er lachte laut. »Bei Gott, nun erzählen Sie mir nicht, Sie seien auch so eine Reformerin wie Ihre Schwägerin. Ich dachte, Sie seien hergekommen, um mich um Hilfe zu bitten?«
Fay lachte ebenfalls. »Das tat ich, Mr. Quigley. Das tat ich. Es ist nur so, dass – also in Fream gehen die Jungen erst fort, wenn sie heiraten und manchmal nicht einmal dann. Ich finde, es ist traurig, dass sie auf Mull über das Meer gehen müssen, nur um Arbeit zu finden.«
»Das liegt nun einmal im Wesen der Highland-Ökonomie und ist eine gewisse Denkweise, die Sie nicht verstehen werden. Wir wollen unter uns bleiben, aber wir wollen auch finanziell unterstützt werden, damit wir in Ruhe gelassen werden.« Er hob warnend einen Finger. »Wiederholen Sie Becky gegenüber nicht, was ich gerade gesagt habe, weil sie mir sonst mit politischen Theorien in den Ohren liegen und mich für alles Elend auf Mull verantwortlich machen wird. Meine Sorge gilt allein Fetternish, das ich als lohnendes Geschäft zusammenhalten will, damit meine Kinder etwas erben können. Für Dauerhaftigkeit, für das Haften an Tradition ist jedoch ein Preis zu zahlen, und dieser Preis ist Angst. Möchten Sie, dass ich die Pflanzen für Sie erwerbe?«
»Ich wäre Ihnen sehr verpflichtet, Mr. Quigley.«
»Machen Sie eine Liste von dem, was Sie brauchen.«
»Auch von Dünger?«
»Von allem.«
»Für Pennypol oder für Fetternish?«
»Sie können nicht mit beidem fertig werden.«
»Ich denke schon, dass ich das kann, Sir.«
»Ich hoffe« – er runzelte die Stirn, bevor er fortfuhr – »ich hoffe, dass Sie nicht so von uns davonlaufen werden, wie Sie von Gavin Tarrant davongelaufen sind?«
»Ich wurde fortgetrieben, Sir.«
»Weil Sie Ihren Willen nicht bekamen?«
»Weil meine Ehe keine Zukunft hatte und ich – ich Angst hatte.«
»Falls Sie Kinder hätten?«
»Ja«, sagte Fay ruhig. »Wenn ich Kinder hätte …«
»Gavin hätte Sie nie gehen lassen, nicht wahr?«
»Ich wollte nicht, dass sie für meinen Fehler bestraft werden würden.«
Quig schwieg einen Moment und blickte zu dem Sonnenlicht im Fenster hinauf, als habe er das dringende Bedürfnis, draußen zu sein. Schließlich sagte er: »Willy findet, dass es mutig von Ihnen war, ihn zu verlassen.«
»Was glauben Sie, Mr. Quigley?«
»Bedenke ich, dass noch immer mehrere alte Schrotkugeln in meiner Brust stecken«, sagte Quig, »bin ich mehr als geneigt, Willy beizupflichten.«
Er erhob sich aus dem Sessel. Er war, wie sie jetzt sah, jünger als Biddy. Und sie verspürte wieder ein unerklärliches Verlangen, ihm Freude zu machen. Sie versuchte, nicht zu erröten, als sie sich ebenfalls erhob und ihren dunklen Rock schüttelte. Ihr Auge hatte trotz der Tropfen, die der Arzt ihr gegeben hatte, wieder zu laufen begonnen, und sie rieb mit ihrem Handgelenk daran und dann mit ihrem Taschentuch, was nur bewirkte, dass es noch stärker lief.
»Hat Gavin Ihnen das wirklich angetan?«, fragte Quig.
»Ja.«
»Und Schlimmeres?«
»Ja, Sir, und Schlimmeres.«
»Wissen Sie, Fay, ich wünsche fast, er würde hierher zurückkommen – Gavin, meine ich –, er würde herkommen, um Sie zu finden.«
»Bitte, sagen Sie das nicht, Mr. Quigley.«
»Ich würde ihm gerne wieder begegnen. O ja, das würde ich.« Er schien im Begriff, mehr sagen zu wollen, senkte dann aber mit einem leichten Knurren seinen Kopf, zog einen Stoß Kataloge von Saatguthändlern aus den Papieren auf seinem Schreibtisch und reichte sie ihr. »Suchen Sie aus, was Sie brauchen. Wir arbeiten mit Dobbie’s in Glasgow, die sehr zuverlässig sind, und mit Carfinlayson’s in Perth. Bei Connel Ferry gibt’s eine Gärtnerei, die einen ganz guten Ruf hat, und wenn’s zum Schlimmsten kommt, können wir Sie dorthin schicken, damit Sie sich selbst umschauen können.« Er blickte wieder zu dem Fenster auf, zu dem Sonnenlicht, das in dem rechteckigen Himmel wirbelte. »Ich denke, Sie wissen, dass Pennypol an Mrs. Quigley verpachtet und somit Teil von Fetternish ist?«
»Ja, Sir. Das habe ich gehört.«
»Sie wissen, dass ich Ihnen keinen Lohn zahlen kann.«
»Das weiß ich auch, Mr. Quigley.«
»Wir werden für alle Erzeugnisse bezahlen, die wir fürs Haus nehmen«, sagte er, »aber alles, was auf kommerzielle Weise verkauft wird, wird als unser Gewinn betrachtet. Ich bezweifle, dass Innis Ihnen Kost und Logis berechnen wird. Falls sie das aber doch tun will, werden wir diese Kosten entweder übernehmen oder aber eine andere Bleibe für Sie finden. Das ist das beste Angebot, das ich Ihnen machen kann, Fay, bis wir sehen, wie die Ernte ausfällt. Was Billy Barrett anbelangt, dann habe ich keine Einwände, wenn er Ihnen helfen möchte und sein Vater ihn entbehren kann. Aber seien Sie gewarnt, Sie werden ihn erst nach dem Lammen sehen.«
»Ich verstehe, Mr. Quigley.«
Er kam um den Schreibtisch herum, barsch jetzt, aber nicht grimmig. Er legte eine Hand auf ihren Arm und führte sie zur Tür.
»Tragen Sie die Mengen ein, die Sie Ihrer Rechnung nach brauchen, und dann geben Sie mir die Listen zurück oder geben Sie sie Becky mit. Ich werde die Bestellung für Sie erledigen.«
»Wird es lange dauern?«
»Nein, nicht lange.«
Er führte sie über einen gefliesten Korridor weg von der Halle, die im Zentrum des Hauses lag. Er öffnete eine Tür und geleitete sie hinaus ins Sonnenlicht. Er berührte sie weiterhin leicht, wobei seine Handfläche auf ihrem Schulterblatt ruhte.
Sie blieben auf der niedrigen Stufe stehen und betrachteten gemeinsam den Himmel.
»Wie wird es werden, Mr. Quigley?«, fragte Fay.
»Werden?«
»Das Wetter, meine ich.«
»O, das wird gut werden«, sagte er. »Ein schöner Tag liegt vor uns.«
»Das hoffe ich, Sir«, sagte Fay, und dann verließ sie ihn mit heftig pochendem Herzen, um nach Pennymain zu eilen und Innis die guten Neuigkeiten zu überbringen.