Zu den sturen Schotten muss gesagt sein, dass engstirnige Tradition in allen Lebensbereichen nur schwer ausstirbt, und das gilt für keinen mehr als für das Erziehungswesen. Janetta Brown brauchte keine Kristallkugel oder eine Konsultation bei der lokalen Wahrsagerin Aileen Campbell, um vorherzusagen, dass der Gesetzgeber sich wenig um Erfahrungen scheren würde, wenn die neuen Schulgesetze in Kraft traten, und so verließ sie im Herbst 1903 Mull, um ein Zertifikat zu erlangen, das sie berechtigen würde, das zu tun, was sie in den vergangenen fünfzehn Jahren getan hatte: nämlich zu unterrichten.
Während ihrer Abwesenheit wurde eine gewisse Miss Somerville importiert, um Gillies zu helfen. Miss Somerville logierte im Pfarrhaus und brachte es fertig, sich während ihrer zehnmonatigen Dienstzeit jeden in Crove zum Feind zu machen. Selbst Gillies, ein Mann, der für gewalttätige Emotionen nicht anfällig war, war bereit gewesen, die diktatorische alte Jungfer zu erdrosseln und war überglücklich, als sie endlich davonmarschierte und Janetta in die Gemeinde zurückkehrte.
Ein Jahr auf dem Lehrerseminar in Dundee hatte Janettas Erziehungsmethode nicht verändert. Es änderte ihre Haltung jedoch auf andere Weise.
Sie verkehrte nicht mit ihren Mitstudentinnen oder erlag den Schmeicheleien eines oder zweier junger Gentlemen, die versuchten, ihr den Hof zu machen. Stattdessen freundete sie sich mit einer jungen Frau namens Belinda Struthers an, die in sie beinahe zu vernarrt war. Nachdem Netta nach Crove zurückgekehrt war, bombardierte Belinda sie mit Briefen, drohte, ihre eigene Karriere aufzugeben und zu ihr zu kommen, um auf Mull zu leben. Tatsächlich wurde sie so dramatisch und aufdringlich, dass Netta die Korrespondenz mit einem kurzen und herzlosen Brief abbrach, der, was Belinda natürlich nicht wusste, unter Tränen geschrieben worden war. Unter so vielen Tränen, dass Nettas Nase tagelang rot gewesen war und jeder angenommen hatte, dass sie eine Erkältung bekommen würde.
Einige Monate später hatte Janetta eine Nachricht von Belinda erhalten, die sie informierte, dass sie eine andere Freundin gefunden habe, nach Dorset gezogen sei, um dort mit ihrer Freundin zu leben und dass ihr klar geworden wäre, dass ihre Gefühle für Janetta nicht mehr als kindliche Schwärmerei gewesen seien.
Seit dieser traurigen Episode hatte Janetta vorsichtig alles das, was von ihrem Herzen übriggeblieben war, in Flanell eingewickelt in der untersten Schublade aufbewahrt, praktisch gemeinsam mit Belindas Briefen und dem kleinen Schattenriss, den sie, Belinda, ihr kurz vor diesem letzten grausamen Briefwechsel geschickt hatte.
Frances Hollander war jedoch so kultiviert und geschliffen, dass Janetta überrascht wurde und sich der wahren Natur der Gefühle, die Frances in ihrer magisterlichen Brust weckte, bis zu jenem warmen Maimittag nicht bewusst war, bis Robert Patrick Rattenbury in ihr Leben trat.
Dandy MacArthur und sein grauhaariger Sohn waren keine Hochseefischer oder Netzfischer, sondern fuhren mit einem kleinen Boot von einer Anlegestelle an der Mündung des Loch hinaus und brachten geangelte Seeforelle oder Makrele mit und dann und wann einen Kabeljau oder einen unerlaubt gefangenen Lachs, die sie in einem winzigen verräucherten Schuppen hinter ihrem Cottage am Ende der Hauptstraße verkauften. Es war später Nachmittag, als Janetta das Schulhaus verließ und sich auf den Weg machte, um Fisch zu kaufen. Fisch war billiger als Rind- oder Hammelfleisch oder das fade vorgekochte Fleisch, das Miss Fergusson verkaufte. An diesem Abend kaufte sie zwei Schollen und hatte sich gerade, ihren Einkauf in Zeitungen eingewickelt, auf den Rückweg über die Main Street gemacht, als sie den amerikanischen Buggy entdeckte, der vor dem McKinnon Arms stand.
Das Pferd war noch eingespannt. Lange Lederzügel waren um das Bein eines Holztisches geschlungen, den Mr. Patterson, der derzeitige Besitzer des Arms, in der vergeblichen Hoffnung, weibliche Gäste anzuziehen, nach draußen gestellt hatte.
Janetta blieb abrupt stehen.
Sie wechselte das Paket mit dem Fisch von der linken in die rechte Hand und blickte fast verstohlen die Straße hinauf und hinunter.
Nur wenige Leute waren zu sehen. Die Kinder waren drinnen und aßen zu Abend. Hühner pickten lustlos an den Blüten, die von dem Kirschbaum auf dem Gelände der United Free Church heruntergeweht waren. Der Schmied von Angus Bell kämpfte mit einer langen eisernen Stange, die ein Transportunternehmer an diesem Nachmittag geliefert hatte. Die Eingangstür des Arms stand weit offen und der Hefegeruch der Bar strömte in die Abendluft.
Janetta hatte niemals einen Fuß in das MacKinnon Arms gesetzt und hatte auch jetzt nicht die Absicht, das zu tun. Doch Neugier lockte sie, der Wunsch, herauszufinden, was Frances in einem so heruntergekommenen Wirtshaus machte.
Sie ließ das Päckchen mit dem Fisch in ihre Tasche gleiten, überquerte die Straße und spazierte in einem Halbkreis um den Buggy.
Das Pferd war keines der sanften Tiere von Angus, sondern ein prächtiger Hengst, der nicht zwischen Wagendeichseln zu gehören schien. Janetta zögerte und ging dann hoch zum Zaun der Freien Kirche, machte kehrt und kam über den schmalen Bürgersteig, der den Pub flankierte, zurück. Sie war so darauf bedacht, uninteressiert zu wirken, dass der Mann mit ihr zusammenstieß, bevor sie ihn bemerkte. Er hatte einen Öltuchumhang über seine Schulter geworfen und jene Art von Hut, die sie seit ihrer Zeit in Dundee nicht mehr gesehen hatte, weiches, gelocktes Haar, lange Wimpern und jene dunklen, blitzenden Augen, mit denen die Helden ihrer Nachtlektüre unrealistischerweise ausgestattet waren.
Er tauchte plötzlich hinter dem Buggy auf.
Er hatte eine schwere, wurstförmige Reisetasche unter einen Arm geklemmt und einen Aktenkoffer aus steifem Karton in einer Hand.
»Madam«, sagte er. »Entschuldigen Sie. Ich habe Sie nicht gesehen.«
»Ich auch nicht – ich Sie auch nicht, Sir.«
Sie hatte sich selten so verlegen gefühlt, nicht einmal als Belinda Struthers ihre Hand genommen hatte, als sie bei einem Tagesausflug nach Newport über den silbernen Strand spaziert waren. Das war eine Verlegenheit ganz anderer Art gewesen, weniger peinlich als vielmehr erschreckend.
»Ich sah – ich dachte – Mrs. Hollanders …«, begann Janetta.
»Buggy.«
»Ja, ich dachte, sie sei vielleicht hier.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was Mrs. Hollander in einem Wirtshaus tun sollte, am allerwenigsten in einem Wirtshaus wie diesem«, sagte der Mann. »Sind Sie eine Freundin der Hollanders?« Janetta verspürte den Drang, wie ein dummer Schuljunge davonzulaufen. »Warten Sie mal. Sind Sie zufällig Miss Brown?«
»Das bin ich. Kenne ich Sie, Sir?«
»Ich bin Patrick Rattenbury. Ich habe viel über Sie gehört.«
»Ich fürchte«, sagte Janetta, »ich habe wenig oder nichts über Sie gehört.«
»Das ist ja bestens«, freute sich Patrick Rattenbury.
»Ist es das?«
»Es bedeutet, dass Sie mich ohne Voreingenommenheit beurteilen können.«
»O, ich weiß, wer Sie sind oder, besser, was Sie repräsentieren.«
»Und das wäre?«
»Bäume«, antwortete Janetta töricht. »Sie sind der Baummann, nicht wahr?«
Er hatte kräftige weiße Zähne und einen langen, säulenförmigen Hals, der an seinem Kragenknopf vibrierte, als er lachte.
»Ich denke, das könnte man so ausdrücken.«
Sie hätte sich wohl entschuldigt und wäre weitergegangen, aber er hatte seine Tasche und den Aktenkoffer abgesetzt, und es war offensichtlich, dass er die Konversation fortzusetzen wünschte.
»Ist das«, fragte Patrick, »Fisch?«
Janetta zog ruckartig die Hand aus der Tasche.
Gelächter kam langsam über seine Lippen, und er erinnerte sie ein wenig an Quig, obwohl er nicht Quigs eher gemächliche Ernsthaftigkeit besaß. Er war gleichzeitig wach und entspannt. Sie war sich sicher, dass seine Intelligenz ihrer überlegen war. Sie zögerte, zog dann kläglich das in Zeitungspapier eingewickelte Päckchen aus ihrer Tasche und hielt es hoch.
»Abendessen«, gestand sie. »Scholle.«
»Gibt es einen Fischhändler im Dorf?«
»MacArthur’s, das zweitletzte Cottage auf der anderen Straßenseite.«
»Wird da auch frisches Fleisch verkauft?«
»Nein, frisches Fleisch kauft man am besten in Tobermory ein.« Sie stockte. »So wie’s klingt, Mr. Rattenbury, beabsichtigen Sie, eine Weile in Crove zu bleiben?«
»Mindestens für einen Monat, möglicherweise länger, aber um keinen Preis der Welt sehe ich, dass ich länger als eine oder zwei Nächte im McKinnon übernachte.«
»Können Sie nicht bei Frances wohnen – bei Mrs. Hollander?«
Die letzte Spur von Gelächter schwand. Für einen Augenblick wirkte er fast feindselig. Sie fragte sich, ob sie etwas Unanständiges gesagt hatte.
»Es wäre«, sagte Patrick, »nicht ratsam.«
»Ratsam?«
»Für einen Gentleman, in einem Haus mit so vielen Damen zu wohnen.«
»Ich verstehe«, sagte Janetta, obwohl sie das nicht tat, jedenfalls nicht wirklich. »Wir würden Sie ja im Schulhaus unterbringen, Sir, aber wir haben überhaupt keine freien Zimmer, fürchte ich. Aber da ist noch immer das Pfarrhaus. Vorübergehend genügt vielleicht das Pfarrhaus. Reverend Ewing hat schon früher Untermieter aufgenommen. Oder Fetternish House. Haben Sie die Quigleys schon kennen gelernt?«
»Tatsache ist«, sagte Patrick, »dass ich das habe.«
»Werden Sie an einem Projekt arbeiten?«
»Ja, an einem Projekt.«
»Biddy wäre sicher bereit, Sie aufzunehmen. In Fetternish House herrscht kein Mangel an Räumen.« Sie wusste, dass sie zu viel gesagt hatte, hatte sich wie eine Närrin geradezu überschlagen, nur um ihn zu beeindrucken. »Vielleicht wäre das für Ihre Arbeit nicht so praktisch.«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte er. »Für den Moment bin ich hier, und ich werde meine Zeit nutzen, um mich nach einem Quartier umzuschauen. Sie sind die Lehrerin, nicht wahr?«
»Mein Vater und ich unterrichten hier an der Schule, ja.«
»Frances hat eine sehr hohe Meinung von Ihnen.«
»Wirklich! O!« Mehr fiel Janetta dazu nicht ein.
»Ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen«, sagte Patrick.
»Nein, Frances, was …« Janetta verkniff sich die Frage. »Natürlich sind wir Freundinnen, und ich habe auch von ihr eine hohe Meinung. Eine sehr hohe.«
»Sie ist ganz gewiss lebhaft«, sagte Patrick. »Und ungewöhnlich.«
»Ungewöhnlich?«
»Ich meine, sie ist vielleicht nicht die Person, die man normalerweise in einer so ländlichen Gemeinde anzutreffen erwartet.«
»Ich verstehe.« Janetta steckte ihr Fischpäckchen wieder in die Tasche und fuhr sich mit den Fingern über den Saum ihres Übermantels. Sie würde den Mantel auslüften lassen müssen, bevor sie ihn wieder trug. Sie war gedankenlos gewesen und Gedankenlosigkeit ärgerte sie.
Sie fragte: »Kennen Sie Frances schon lange?«
»Sie ist mehr eine Bekannte als eine Freundin.«
»Und ihre Mutter? Kennen Sie ihre Mutter?«
»Fast überhaupt nicht.«
»Wir – ich habe ihre Mutter nie kennen gelernt.«
»Vielleicht werden Sie eines Tages das Vergnügen haben.«
Unten im Mietstall schlug McCaig, der Schmied, auf die lange Eisenstange, die er in die Esse gelegt hatte. Der Klang war klar, rhythmisch und hallte in der kühlen Nachtluft. Es ist jene Art von Geräusch, dachte Netta, die das Herz vielleicht macht, wenn es durch ein Kupferhorn verstärkt werden würde.
Sie fühlte sich unvoreingenommen, getrennt von dem verzauberten Kreis, von Maggie und Mairi, sah sich außer Stande, eine Suche nach Informationen fortzusetzen, die sie ihren Freundinnen weitergeben könnte. Sie würde nichts über ihre Begegnung mit Mr. Rattenbury sagen oder die wenigen kargen Brocken von Klatsch weitergeben, die ihr zu Ohren gekommen waren. Von jetzt an musste sie Frances gegenüber loyal sein – und Mr. Rattenbury. Sie war merkwürdigerweise erleichtert, dass es einen Mann in Frances’ Leben gab und dass sie ihn vor den anderen kennen gelernt hatte, ihn, wenngleich auch nur kurz, für sich alleine gehabt hatte.
»Ich will Sie nicht aufhalten«, sagte Janetta. »Sie werden viel zu tun haben.«
»Eigentlich nicht so viel«, erwiderte Patrick. »Jedoch bringe ich diesen Burschen wohl besser in den Stall, bevor er beginnt, ein Spektakel zu veranstalten. Er schätzt es nicht, als Maultier benutzt zu werden, das kann ich Ihnen sagen.«
»Dann ist das Ihr Pferd?«
»Das ist er in der Tat.«
»Sehr stattlich«, äußerte Janetta anerkennend.
»Aber nicht zu bändigen«, sagte Mr. Patrick Rattenbury, verabschiedete sich einen Augenblick später höflich und ließ Janetta – und die Schollen – nach Hause gehen.
Sie servierte die Filets mit einer Soße aus Limone und weißem Pfefferkorn und reichte dazu fein geschnittene eingemachte Rote Bete. Es war, wie ihr Vater erklärte, ein Gericht, das eines Königs würdig war. Er vertilgte es mit einem Glas milden Ale zum Runterspülen und machte kurzen Prozess mit dem Pudding aus Reis und Rosinen, der folgte.
Er hatte seine Jacke ausgezogen und die Hemdsärmel aufgerollt. Er hatte die Angewohnheit, die Tintenflecken und den Kreidestaub nach einem Tag im Klassenzimmer abzuwaschen. Das Haar auf seinen Unterarmen stand aufrecht und er duftete angenehm nach Seife.
Janetta konnte sich nicht erinnern, wie ihr Vater gewesen war, als er jung gewesen war. Sie betrachtete ihn als etwas ständig und unveränderlich Gegenwärtiges und es überraschte sie jedes Mal, wenn sie das verblichene alte Foto betrachtete, das er in einer Schachtel in der Kommodenschublade aufbewahrte. Ein Foto von Mutter und ihm in Gesellschaftskleidung, dazu im Hintergrund eine Topfpflanze. An die Frau auf dem Foto konnte sie sich überhaupt nicht erinnern, und selbst der Mann, der so jugendlich und gesund aussah, schien ein völlig Fremder zu sein. Manchmal fragte sie sich, ob sie sich zu ihm hingezogen gefühlt hätte, wenn sie vor fünfunddreißig oder vierzig Jahren eine junge Lehrerin in Glasgow gewesen wäre oder ob sie seine unbekümmerte Art lästig gefunden hätte.
»Ich habe einen Mann kennen gelernt«, erzählte sie.
»Ach wirklich?«, fragte Gillies. »Einfach so?«
»Ich meine, natürlich, einen besonderen Mann – einen Mr. Rattenbury.«
Gillies legte seinen Löffel ab und schob seinen leeren Puddingteller beiseite. Er stützte seine Ellenbogen auf den Tisch. »Rattenbury, diesen Baummann?«
»Er sucht in Crove nach einer Unterkunft.«
»Dann plant er also, eine Weile zu bleiben?«
»Es scheint so, ja.«
»Ich frage mich, ob Biddy einen Verkauf in Erwägung zieht.«
»Einen Verkauf? Worüber sprichst du, Himmel noch mal?«
»Rattenbury war den ganzen gestrigen Nachmittag auf Fetternish«, erklärte Gillies. »Quig hat ihn von The Ards rübergebracht. Offensichtlich war Biddy sehr ungehalten.«
»Woher weißt du das?«
»Becky hat’s mir erzählt.«
»Becky hat’s dir erzählt?«, sagte Janetta. »Wann?«
»Gestern Abend.«
»Hat Mr. Rattenbury die Nacht auf Fetternish verbracht?«
»Das glaube ich nicht.«
»Er muss irgendwo geschlafen haben.«
»Bei deiner Freundin, Mrs. Hollander, vielleicht?«, sagte Gillies. »Ich meine nicht … ich meinte, er wird die Nacht auf The Ards verbracht haben. Das Wichtige ist, dass er und Biddy anscheinend endlich damit begonnen haben, Verhandlungen zu führen.«
»Will Biddy das Anwesen wirklich verkaufen?«
»Das hat sie sicherlich vor, aber ich bezweifle, dass sie schon eine Entscheidung getroffen hat. Sehr viel wird von den Konditionen des Angebots abhängen, nehme ich an. Hat deine Freundin, Mrs. Hollander, dir nicht erzählt, was da geschehen ist?«
»Das ist Privatangelegenheit. Damen sprechen über solche Dinge nicht.«
»Hat sie nichts über Mr. Rattenbury erzählt?« Er bekam keine Antwort. »Er ist Grundstücksmakler, weißt du, und hier, um Land für die Bebauung mit Bäumen zu kaufen.«
»Was ist denn falsch daran, wenn man Bäume pflanzen will?«
Gillies war verblüfft über Nettas Unfähigkeit, die wirtschaftliche Tragweite der Situation zu begreifen, über ihren Mangel an Bereitschaft, zur Kenntnis zu nehmen, dass ihre Freundin Frances Hollander nicht so kapriziös war, wie zu sein sie vorgab.
Er hatte gestern Abend eingehend mit Becky gesprochen. In gewissem Maße hatte er die Entrüstung des Mädchens über die jüngste Entwicklung der Ereignisse geteilt, die er als Signal für das Ende eines Zyklus sah, denn bisher war der Fortschritt an den kleinen Landadligen des Nordviertels vorbeigegangen.
Holzwirtschaft war vielleicht die beste Lösung für das Problem des Verfalls. Wenn die Waldarbeiter kamen, würden sie ihre Frauen und Kinder mitbringen und in etwa zehn Jahren würden sie ein fester Bestandteil der Gemeinde sein.
Und die Schule würde überleben.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte Janetta. »Er ist nicht ihr Schatz. Er weigert sich, auf The Ards zu wohnen, weil er das nicht für ratsam hält.«
»Nicht für ratsam? Worüber redest du, zum Teufel?«
»Über Mr. Rattenbury.«
»Hast du mir eigentlich nicht zugehört?«, fragte Gillies. »Also wirklich! Kannst du nur an diesen Weiberklatsch denken? Was hier auf dem Spiel steht, meine liebe Tochter, ist ein bisschen mehr als ein guter Ruf oder zwei. Deine Mrs. Hollander ist hier, um sich zu schnappen, was sie bekommen kann. Ist dir das noch nicht klar geworden? Sie ist ein Ellenbogenmensch, eine Karrierefrau …«
»Was soll das heißen?«
»Frag deine Freundin – oder frag Rattenbury. Zweifellos werden sie nur allzu bereit sein, dich mit dem Kommerzjargon vertraut zu machen und dich auf den neuesten Stand der Planung des ruchlosen Kapitalismus bringen.«
»Becky hat dir offensichtlich mit ihrem Nachgeplapper den Kopf verdreht«, sagte Janetta steif. »Ruchloser Kapitalismus! So einen Quatsch habe ich noch nie gehört. Frances ist nicht im Geringsten daran interessiert, Land zu erwerben, und ganz besonders nicht Ödland wie Fetternish. Gütiger Himmel, Daddy, erinnerst du dich nicht, wie schwer es war, die Brombeersträucher und den Farn daran zu hindern, das Cottage zu überwuchern, als wir in An Fhearann Cáirdeil wohnten?«
»Natürlich erinnere ich mich.« Gillies war verärgert. Ein Abend, der angenehm begonnen hatte, entwickelte sich wieder zu einem Hickhack. Er genoss Diskussionen und liebte Debatten, aber es fiel ihm schwer, damit umzugehen, dass Janetta so auf Mrs. Frances Hollander fixiert war, auf eine Frau, die er überhaupt nicht mochte. »Gott weiß, dass ich genug schwere Arbeit mit Sichel und Schere verbracht habe, um den verdammten Dschungel zurückzuhalten.«
»Ich frage mich, wie’s jetzt wohl aussehen mag«, sagte Janetta.
»Etwa wie’s war«, sagte Gillies. »Womit ich sagen will, dass die Cottages noch nicht eingestürzt sind oder vom Unterholz überwuchert. Mach einen Spaziergang dorthin. Sieh’s dir selbst an.«
»Ich habe mit meiner Zeit Besseres zu tun, danke.«
Gillies machte eine Pause. Dann sagte er: »Dieser Baummensch hat dich offensichtlich beeindruckt.«
»Wieso sagst du das?«
»Du hast nicht einmal gefragt, was er hier tut, oder?«
»Er – er bewertet.«
»Bewertet was?«
»Hör auf, mich zu löchern, Daddy.«
»Was bewertet er? Erzähl’s mir.
»Ich – ich weiß es nicht.«
»Dann sag doch, was du vermutest, was du glaubst, zieh einfach ein paar Rückschlüsse …«
»Na schön, na schön!«, rief Janetta aus. »Es muss um Fetternish gehen, weil er andernfalls nicht mit Biddy verhandeln würde.«
»Korrekt«, sagte Gillies. »Und ich frage mich, wie deine Freundin Frances Hollander in dieses Rätsel passt?«
»Ich bin sicher, dass sie nichts davon weiß.«
»Ach, nun hör aber auf, Netta.«
Sie beugte sich nicht, hatte sich durch seine Klugheit nicht unterkriegen lassen.
Sie saß aufrecht am Tisch, größer denn je, schlanker denn je in dem milchigen Licht, das durch das Fenster fiel. Der gesunde Menschenverstand hatte sie bereits den Sieg gekostet. Sie hatte die Auseinandersetzung verloren und würde jeden Augenblick gezwungen sein, ihre Ängste zu artikulieren.
»Also gut, Frances ist vielleicht seine Auftraggeberin. Vielleicht, sage ich, vielleicht.« Daddy gab kein Wort von sich, lächelte nicht, rieb ihr das nicht unter die Nase. Sie reckte sich. »Und wenn sie’s ist? Ich meine wirklich, was denn, wenn sie’s ist? Was macht das schon? Es geht uns doch nichts an, was aus Fetternish wird. Ich hatte erwartet, dass du natürlich Vieles, was Änderungen in dieser gottverlassenen Gegend bewirkt, missbilligen würdest, Veränderungen, die Verbesserungen bedeuten, egal, wer sie auslöst, wie vernünftig sie sein mögen oder wie gut sie finanziert sind.«
Zu ihrer Überraschung zuckte ihr Vater nur die Schultern. »Im Gegenteil.«
»Du meinst, du billigst das?«
»Ich missbillige es nicht notwendigerweise.«
»O, um Himmels willen, Daddy, was meinst du denn?«
»Ich meine, Liebes, dass Bäume pflanzen Arbeit bringen wird und Arbeit Arbeiter und dass die Kinder haben werden.«
»Die Schule«, sagte Janetta. »Denkst du nur an die Schule?«
»Natürlich tue ich das. Mich geht das natürlich nichts mehr an. Ich werde tot und begraben sein oder zumindest im Ruhestand leben, aber du …«
»Ich?«
»Du hast noch dreißig oder vierzig gute Unterrichtsjahre vor dir.«
»Gute Unterrichtsjahre? Hier? In Crove?«
»Wenn es eine starke Gemeinde gibt, wird die Schule bleiben«, sagte Gillies. »Wenn also Bäume notwendig sind, um eine starke Gemeinde zu erhalten, gut, dann sollen es eben Bäume sein.«
»Dreißig oder vierzig Jahre …«
»Was ist denn so falsch daran? Willst du keine Stabilität?«
Sie stand auf, erhob sich so, als hätten sich ihre Gliedmaßen in Holz verwandelt.
»Ich muss an deine Zukunft denken, Netta«, sagte Gillies, »da du keinen Mann haben wirst, der für dich sorgt.«
»Gütiger Gott!«, brüllte Janetta. »O, gütiger Gott!«
Und sie stelzte aus dem Zimmer und schlug die Tür zu, während Gillies, überhaupt nicht gekränkt oder überrascht, ruhig nach dem Rest des Reispuddings griff.
Es gab eine klare Trennungslinie zwischen Formlosigkeit und Intimität, eine Grenze, die Frances nie überschritt. Sie hatte die Mädchen, Florence und Valerie, eingestellt, weil es verwandte Geister waren, nicht, weil sie sie attraktiv fand. Sie hatten einander und sehnten sich deshalb nicht nach den strahlenden Lichtern Londons. Sie waren sehr tüchtig, nahmen bereitwillig Befehle an und nahmen im Allgemeinen von Frances’ Schultern die Last, so tun zu müssen, als sei sie eine Haushälterin.
Valerie brachte Dorotheas speziell zubereitete Mahlzeiten nach oben. Valerie legte das große Leinenlätzchen um den Hals der Frau, schnitt ihr das Fleisch, entkernte ihre Äpfel und schälte die süßen kleinen Orangen, in die sie so vernarrt war. Orangen, die direkt aus London in mit Stroh gepolsterten Kisten geliefert wurden, zusammen mit Trauben, Datteln, Marzipan und speziellen Kaffeesendungen und, zwei oder drei Mal im Jahr, ein Korb gefüllt mit Walnüssen, Pekannüssen und Mandeln, durchweg Leckerbissen, die zu schätzen Mrs. Lafferty auf ihren Reisen gelernt hatte, und das brachte Erinnerungen an glücklichere Tage zurück und erlaubte ihr, die langen Stunden ihrer selbstauferlegten Gefangenschaft mit Knabbern, Kauen und Schlürfen zu verbringen.
Bei all ihrer Gier war Mrs. Lafferty nicht böse oder knauserig. Sie liebte es, ihre Leckerbissen mit dem Personal zu teilen und hatte Freude daran, die Mädchen zu verwöhnen.
Sie behielt Valerie stundenlang bei sich, nicht lesend, sondern essend, als ob die Erziehung des Mädchens in oraler Befriedigung ein persönlicher Kreuzzug geworden sei. Sie redete eine halbe Stunde oder länger über feine Geschmacksunterschiede von Trauben, die in einem Gewächshaus gezogen worden waren und solchen, die von Rebstöcken, zum Beispiel in der Médoc, gesammelt worden waren. Sie drängte das Mädchen, eine Traube mit der anderen zu vergleichen und schaute zu, wie die weißen Zähne des Mädchens sich auf der Frucht schlossen, sah den Saft laufen, seitlich an ihren Lippen heruntertropfen und sagte: »Merkst du’s? Merkst du den Unterschied, Kind?«
Worauf Valerie mehr diplomatisch als feinschmeckerisch zu antworten pflegte: »Hmm, ja, Ma’am, ja, den merke ich. Wirklich und wahrhaftig.« Und das schien die alte Frau irgendwie immer zu befriedigen.
Es gab Tage, an denen der Schmerz unerklärlicherweise seinen Griff lockerte und Madam Lafferty es fertigbrachte, mit einem großen Silberlöffel und einem großen silbernen ›Schieber‹ allein zu essen. Es gab sogar Tage, an denen sie ein Steakmesser mit Horngriff fassen und an einer Scheibe Roastbeef oder einem kleinen zarten Rumpsteak schneiden konnte und Valerie selbstgefällig anschaute und vielleicht auch zuzwinkerte und, auf das Lätzchen tropfend, ihren Mund mit dem demolierten Fleisch vollstopfte und kaute und kaute und kaute, bis diesem der letzte Tropfen von Nährstoff entzogen war.
Es war keiner von Dorotheas besseren Tagen, als Frances der alten Frau in dem geräumigen Apartment oben Gesellschaft beim Lunchen leistete.
Für Frances bedeutete Lunch eine Schüssel Consommé und eine Scheibe braunes Brot sans Butter. Sie konnte einen Tee mit Sahne dazu trinken, hatte aber Skrupel, sich bei jeder Mahlzeit voll zu stopfen, da sie das Völlegefühl nicht mochte, das auf eine Periode von Schwelgerei folgte, und da sie von Dorothea nicht nur vom Essen, sondern auch bei der Kleidung abhängig war, wollte sie nicht so fett werden, dass ihre Garderobe ersetzt werden oder auch nur passend gemacht werden musste. Außerdem konnte Frances es nicht ausstehen, zuzuschauen, wie die alte Frau sich abmühte und sabberte. Sie fand das Alter ekelhaft und betete, dass sie sterben würde, so lange sie noch jung genug war, um mehr wegen ihres Aussehens als wegen ihres Erbes betrauert zu werden.
Valerie saß auf dem Fußschemel neben Madam Laffertys Stuhl. Der Tisch war in den Fenstererker gesetzt worden und Frances hatte Platz auf einem der Stühle mit der zerfetzten Rückenlehne genommen, die von dem letzten Haus in Boston hierher transportiert worden waren.
Sie hielt eine Porzellansuppenschale in ihrer linken Hand und tauchte ihren Löffel mit der rechten hinein, sodass ihre einzige Verbindung mit Dorothea der Brotteller war, den die alte Frau bisher nicht angefasst hatte.
Dorothea verzehrte ein ganzes gebratenes Huhn, das Florence perfekt zubereitet und Valerie sorgfältig zerlegt hatte. Valerie waren die Keulen zugewiesen worden, und sie schnitt und knabberte zwischendurch daran, während sie Bruststücke auf die Gabel der alten Frau gab.
»Also, das wäre wirklich ein prachtvoller Mann für dich.« Dorothea kaute angestrengt. »Er würde dir das Herz brechen, dieser alte Hase, wenn du ihm eine Chance gäbst.«
»Nicht mein Herz, Mama«, sagte Frances.
»Nein, nicht dein Herz. Wir alle wissen über dein Herz Bescheid.«
»Erinnert er dich an Macklin? Magst du ihn deshalb?«, fragte Frances.
»Macklin! Ho!«
»Dann an Iain?«
Frances war provokativ. Es gab keine bessere Art, die Zeit herumzubekommen, als provokativ zu sein, weil sie und die alte Frau sich zumindest darin ebenbürtig waren. Sie sah, dass die Bewegung der Kiefer langsamer wurde und sich dann wie bei einer defekten Maschine wieder beschleunigte. Valerie spießte ein Stück weißes Fleisch auf die Zinken der Gabel und legte die Gabel an den Rand des Tellers ihrer Herrin. Die fette Hand tastete nach der Gabel, schloss sich um sie und führte sie zum Mund.
»Was hältst du von Quigley?«, sagte Dorothea.
»Willst du meine Frage nicht beantworten?«
»Sie verdient keine Antwort«, sagte Dorothea. »Quigley – wie findest du ihn? Den Mann, nicht die Frau.«
»Die Frau, ich kenne die Frau kaum.«
»Du bist mit ihrer Haushälterin besser befreundet, nicht wahr?«
»Das ist meine Art, Kontakt zu halten.«
»Findest du sie attraktiv?«, sagte Dorothea.
»Maggie Naismith? Bitte, Mama!«
»Dann die Lehrerin: Brown?«
»Frag viel und du wirst die richtige Antwort bekommen.«
»Larrys Vater pflegte das zu sagen.«
»Dann muss ich es von Larry aufgeschnappt haben«, sagte Frances. »Willst du meine Meinung über Quigley oder über Netta Brown?«
»Quigley.«
»Er ist kein glücklicher Mann. Nein, das ist Mr. Quig nicht.«
»Was führt dich zu diesem Schluss?«, fragte Dorothea.
»Man braucht ihn sich nur anzusehen. Wenn jemand je jämmerlich war, dann er.«
»Denkst du, er sei ein Pantoffelheld?«
Frances aß ihre Consommé auf, leckte den Löffel ab und reichte Schüssel und Löffel Valerie, die beides auf ein Tablett auf dem Boden neben dem Fußschemel stellte.
»Er ist Insulaner«, sagte Frances. »Ich verstehe Insulaner nicht.«
»Du verstehst Männer nicht, gleich ob sie Insulaner sind oder nicht«, sagte Dorothea. »Aber erzähl mir trotzdem von Quigley.«
»Er könnte nützlich sein.«
»Er hat Patrick Rattenbury ohne Protest umhergeführt, nicht wahr?«
»Sofort«, sagte Frances, »ohne große Diskussion und Wenn und Aber.«
»Ich höre schon wieder Larrys Vater«, sagte Dorothea.
»Bettgeflüster bleibt hängen«, sagte Frances.
»Bettgeflüster? Wie oft hat’s das zwischen euch gegeben? Herzlich wenig!«
»Mehr als du vielleicht denkst, Mama.«
»Ich will nicht über Larry reden – oder deine Eigenarten.«
»Sollen wir dann über Iain reden?«
Die alte Frau fasste sich an ihre Zähne und entfernte mit einem Fingernagel geschäftig ein Stück Hühnerfleisch von einem Schneidezahn. »Über Iain gibt es nichts zu sagen. Er hätte das so gewollt.«
»Das bezweifle ich«, sagte Frances.
»Du hast ihn nicht so gekannt wie ich.«
»Das will ich in der Tat nicht hoffen«, sagte Frances. »Aber ich begreife noch immer nicht, warum du all diese Mühe und Kosten auf dich nimmst, um das Andenken eines Mannes zu ehren, der dich nicht liebte.«
»O, er hat mich geliebt«, sagte Dorothea. »Und außerdem, was soll ich sonst mit meiner Zeit anfangen? Wo hätte ich es so bequem wie hier? Im Hôtel de Ville? Im Ritz oder im Savoy? Ich habe nicht den Wunsch, von rotznäsigen jungen Hotelpagen ausgelacht zu werden. Ich bin lieber hier.« Sie machte eine Pause und zwang ihre Finger, sich um den Stiel der Gabel zu schließen, nachdem sie diese mit der Handfläche ergriffen hatte. »Hier fühle ich mich ihm näher.«
»Das«, meinte Frances, »ist doch albern.«
»Larry …«
»Ich wusste, dass es auf Larry hinauslaufen würde.«
»Es wird Larry hier gefallen.«
»Falls er sich je entschließen sollte, hier aufzutauchen«, sagte Frances.
»Er hat dir doch versprochen, dass er diesen Sommer kommen würde, oder?«
»Ja, aber du weißt, wie viel Larrys Versprechen wert sind.«
»Warum gibst du ihm nicht, was er möchte?«
»Ein Scheidung?«, fragte Frances.
»Kinder.«
»Ich kann keine Kinder haben.«
»Du meinst, du willst keine Kinder haben.«
»Das ist das Gleiche, Mama«, sagte Frances. »Wie auch immer, ausgerechnet du musst über Kinderkriegen sprechen. Trotz all der Zuwendungen von Gentlemen, die du hattest, hast du’s nur geschafft, Larry zu erzeugen. Larry! Ich bitte dich!«
»Er hätte dich nie heiraten sollen.«
»Er brannte ja darauf, mich zu heiraten.«
»Wusste er, was du warst?«
»Ja, das wusste er. Er weigerte sich nur, das zu akzeptieren.«
Frances beobachtete, wie der Brocken weißen Fleisches sich auf den Mund ihrer Schwiegermutter zubewegte und verschwand.
Die Hand senkte sich wieder und Valerie entfernte eifrig die Gabel aus den schwachen Fingern. Dorothea begann auf dem Bissen mit derselben leidenschaftlichen Entschlossenheit zu kauen, wie sie alles andere in ihrem Leben klein machte.
Frances war sich sehr wohl bewusst, dass das Nordviertel von Mull der letzte Platz auf Erden war, an dem Larry Hollander sich jemals niederzulassen wünschte. Er genoss das Leben draußen, aber liebte das Abenteuer noch mehr. An dieser grauen Küste konnte man keine Abenteuer finden, und die Geister, die Dorothea auszutreiben oder zu beschwören versuchte, unterschieden sich gänzlich von denen, welche die Quigleys in ihren Bann gezogen hatten, die vertrackten Traditionen von Leiden und Ertragen, vor denen ein Neuankömmling sich besser hütete.
Mit einem Gefühl von Ekel beobachtete sie, wie die alte Frau seiberte und Valerie den Speichel von der ungesund aussehenden Wange wischte.
Frances erhob sich.
Das Lunch war noch nicht vorbei. Lunch war erst vorbei, wenn der letzte Bissen Huhn verzehrt war. Sie durfte erst dann gehen, wenn ihre Schwiegermutter die Erlaubnis dazu erteilte, aber sie würde es auch nicht vorher versuchen. Unten hatte sie nichts zu tun. Es gab niemand, den zu besuchen ihr lag, bis die Schule aus war und Janetta Brown frei hatte, um mit ihr am Flussufer oder am Loch entlangzuspazieren.
»Wohin gehst du?«, wollte Madam Lafferty wissen.
»Absolut nirgendwohin«, antwortete Frances. »Ich schaue nur aus deinem Fenster, wenn du nichts dagegen hast.«
»Wonach schaust du?«
»Er macht etwas mit den Schafen.«
Dorothea wälzte und krümmte sich, aber der Sessel war zu schmal und ihr Rückgrat zu steif, als dass sie sich von allein und aus freien Stücken hätte umdrehen können. Endlich einmal schien Valerie nicht willens, den Fütterprozess zu unterbrechen, um den Sessel in eine günstigere Position zu schieben.
»Wer?«, wollte die Frau wissen. »Wer ist es?«
»Barrett, glaube ich.«
»Er treibt sie auf ein grüneres Stück Land, Ma’am«, sagte Valerie. »Die Lämmer sind jetzt groß genug, um zu weiden und brauchen mehr Gras.«
»Wir alle brauchen mehr Gras«, sagte Frances. »Ich frage mich, ob Barrett grünere Weiden für mich finden kann. Was meinst du, Mama? Soll ich den guten Schafhirten fragen, ob er mich auch weitertreiben kann?«
»Ja«, sagte die alte Frau. »Wenn du bereit bist, von Gras und frischer Luft zu leben und dich von einem Widder zur rechten Jahreszeit richtig besteigen zu lassen.«
Frances lachte. »Ich glaube nicht«, sagte sie. »Nein, Mama, ich glaube wirklich, ich ziehe vor zu bleiben, wo ich bin, und auf Larrys Ankunft zu warten.« Sie blickte auf ihre Schwiegermutter. »Darauf warten wir doch, nicht wahr?«
»Natürlich«, sagte Madam Lafferty und signalisierte, ihre Körperfülle in die Grenzen des Sessels drückend, Valerie, ihre Gabel wieder zu bestücken.
Die Grenze war mit nagelneuen Pfosten und dickem Draht abgezäunt. Eine gut gemachte Arbeit, wie Quig vermutete, nicht von einheimischen Handwerkern ausgeführt, sondern von Waldarbeitern aus Dervaig.
Die Pflanzung der Hollanders, die jetzt drei Jahre alt war, lag westlich der Küste, verborgen hinter dem begrasten Kamm, der The Ards vom höher gelegenen Fetternish trennte. Von keinem Aussichtspunkt aus war etwas davon zu sehen, aber Quig wusste sehr wohl, dass die buschigen kleinen Nadelbäume an den Stellen sprossen, auf denen einst die Schafe der Clarks geweidet hatten.
Er hatte nichts dagegen, für die Hollanders zu arbeiten. Es gab sehr wenig zu tun. Er hatte Winterfutter und Stroh für das Betten der Lämmer geliefert, falls der April überaus nass oder kalt werden würde, doch das Stroh lag ungenutzt in der offenen Scheune hinter The Ards, und Barrett war mit dem Lammen mehr oder weniger alleine fertig geworden.
Quig wartete am Ende der alten Wiese am Ausläufer des Tales, das zwischen dem Ufer des Meeresarms und den Hügeln lag, die steil nach Dervaig abfielen.
Nesseln sprossen, der Ginster war leuchtend gelb und in der sanften Wärme des frühen Nachmittags konnte er das Knistern des Seetangs hören, der auf den Steinen des Ufers trocknete. Er schaute zu, wie Mutterschafe und Lämmer langsam über den steinigen Boden oben an der Senke liefen, der Hund tief geduckt hinter ihnen.
Das Haus der Hollanders lag auf einem Sattel über dem Tal. Wer immer dieses Haus entworfen hatte, hatte ein feines Gespür für Perspektive gehabt, denn das Haus wirkte, umrahmt von Hügeln und Himmel, weit größer und vornehmer, als es tatsächlich war, und hatte nichts von den protzigen Türmen und Türmchen Fetternishs, die seine Linien hätten verderben können. Es war dunkelrosa und schneeweiß gestrichen und die Rahmen von Fenstern und Türen waren glänzend schwarz. Kein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hatte, würde es gewagt haben, mit einem Pinsel an den rauen Granit von Fetternish zu gehen.
Barrett hatte seine Jacke ausgezogen und die Ärmel hochgekrempelt. Er trug eine alte Tweedmütze, die er aus seiner Stirn zurückgeschoben hatte, und die Pfeife in seinem Mund gab kleine Rauchwolken von sich, ähnlich dem Schornstein einer Dampflokomotive. Er trug einen langen Hirtenstab, Kennzeichen seines Berufs, und klopfte und stieß gegen die Hufe der Lämmer, die in den vergangenen Wochen so gewachsen waren, dass sie sowohl flink wie neugierig waren. Ein leichter Lärm hob sich über die zottige Herde, aber es gab weder ein Auseinanderlaufen noch Panik. Die Schafe würden noch einen oder zwei Tage auf dem, was von der heimischen Weide übrig geblieben war, bleiben, bevor sie auf den Hügel getrieben wurden. Von der Weide war weniger da, als vor der Bepflanzung vorhanden gewesen war, doch es würde genug Gras geben, um die Lämmer der Hollanders vor den Herbstverkäufen dick zu bekommen.
In zwei oder drei Wochen würden Barrett und er die Lämmer zum Kupieren und Kastrieren zusammentreiben, aber diese wilden Jagden würde es nicht mehr geben, die in den alten Tagen üblich gewesen waren, als die Herden von Mull weit über von Heide bewachsene Hügel und Täler verstreut und die Mutterschafe schlau und listig gewesen waren. Es würde auch weniger unerklärliche Verluste geben, weniger zerfetzte Kadaver, um die Bussarde zu füttern, die darüber kreisten, oder die gierigen Krähen oder die einherstolzierenden Dohlen, die der Spur von Wollbüscheln und glänzendem Kot folgten.
Fortschritt, das wusste Quig, hatte auch seine Vorteile.
Der Hund kam zu ihm, schaute ihn an, ließ seine Zunge grüßend heraushängen und setzte sein unauffälliges Geschäft fort. Er trieb die letzten Mutterschafe durch das neue Tor in dem neuen Zaun. Barrett schloss es hinter ihnen. Mutterschafe und Lämmer verstreuten sich auf der Weide oder hüpften Richtung Bach und begannen, noch während Quig zuschaute, friedlich zu grasen.
Barrett nahm die Pfeife aus dem Mund und spuckte aus. Er wischte sich das Kinn mit einem nackten braunen Unterarm ab. Obwohl er noch keine vierzig war, waren sein Haar und seine Brauen grau durchsetzt und er sah älter aus als er war. Die Tage, in denen er als Boy Barrett bekannt gewesen war, waren längst vorbei.
Ein Sohn sollte eigentlich bei mir sein, dachte Quig. Ein Ebenbild von Barrett wie er als junger Mann gewesen war, aber die älteren Jungen arbeiteten auf den Werften in Glasgow, und er bezweifelte, dass sie je zurückkommen würden, um Schafe zu hüten.
»Du siehst heute Nachmittag sehr verdrießlich aus, Quig«, stellte Barrett fest. »Ist irgendwas mit Mrs. Hollanders Schafen, das ich nicht bemerkt habe?«
»Was würdest du nicht bemerken?« Quig hatte vage an andere Dinge als an Schafe gedacht. »Insgesamt sehen sie besser aus als noch vor einem Jahr.«
»Sie brauchten Futter«, antwortete Barrett. »Das ist alles.«
»Sie wird dafür sein, sie zu verkaufen, weißt du.«
»Na gut. Sie wird für sie den besten Preis bekommen. Wann?«
»Zum Jahresende. Fette Lämmer nach Dalmally, vielleicht nach Glasgow.«
»Sie könnte hier eine Herde haben, weißt du«, sagte Barrett. »Es wird genug Gras für drei- oder vierhundert Schafe geben, sogar wenn ringsum Bäume sind.«
»Ja, aber es werden noch mehr Bäume kommen«, sagte Quig.
Da seine Arbeit beendet war, wartete der Hund auf dieser Seite der Weide nahe dem Farn, hatte die Ohren gespitzt, um auf einen weiteren Befehl zu warten. Barrett starrte einen Augenblick auf die See hinaus, nahm dann die Pfeife aus dem Mund, steckte zwei schmutzige Finger zwischen seine Zähne und stieß ein hohes, zirpendes Pfeifen aus, woraufhin der Hund zu ihm gerannt kam.
»Bald werden überall Bäume sein, denke ich«, sagte Barrett. »Wird es auf Fetternish auch Bäume geben, Quig, das ist die Frage, die wir alle uns stellen?«
»Wenn das so ist«, sagte Quig vorsichtig, »wird dies Beschäftigung für Billy und seinesgleichen für viele kommende Jahre bedeuten.«
»Und für mich?«
»Es wird immer Platz für Schafe geben.«
»Ich meine mich zu erinnern, dass mein Vater das auch über Rinder sagte.«
Quig wusste nur allzu gut, was Barrett meinte: Einst waren es die Rinder gewesen, dann waren es Schafe gewesen, bald würde es vielleicht nichts als Bäume geben, so weit das Auge reichte. Es war nicht aufzuhalten. Es machte keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken. Er würde nicht mehr lange genug leben, um den nächsten Zyklus in der Wirtschaft der Insel zu sehen, obwohl das bei Robbie vielleicht der Fall war – bei Robbie und Christina und Billy Barrett, auch bei Fay Ludlow, wenn sie blieb.
Er steckte eine Hand in die Tasche und holte einen braunen Umschlag heraus.
Er reichte ihn Barrett.
»Was ist das? Ich bin für diesen Monat bereits bezahlt worden.«
»Es ist ein Extra, ein Bonus.«
»Von ihr, von Mrs. Hollander?«
»Nein, es ist von mir«, sagte Quig. »Ich bekomme ein Honorar für dieses bisschen zusätzliche Arbeit, weshalb es nur fair ist, dass ich es mit dir teile, weil du die zusätzliche Mühe hattest. Nimm es.«
»Ich hatte nicht erwartet, dafür bezahlt zu werden.«
»Willst du jetzt gutes Geld ablehnen, George?«
»Ich lehne dergleichen nicht ab.« Barrett nahm den Umschlag, faltete und steckte ihn weg, steckte ihn ungeöffnet in die Gesäßtasche seiner Hose. Er klopfte sich auf die Hüfte und nickte. »Muriel wird etwas finden, um es auszugeben, da bin ich mir sicher.«
»Wenn Lady Hollander mehr Boden verkauft«, sagte Quig, »und ich bin sicher, dass sie das tun wird, dann werden wir bald die letzten Schafe in dieser Gegend gesehen haben. Wenn hier die richtige Art von Entwässerung erfolgt und dazu Umzäunung und ein wenig Schutz vor den Winden geschaffen wird, dann gibt es keinen Grund, warum die alten Weideflächen in vierzig Jahren nicht Fichte oder Lärche oder Kiefer tragen sollten.«
»In vierzig Jahren!«, sagte Barrett leise. »Gott! Was für ein Gedanke.«
»Vierzig Jahre dauerhafter Arbeit für Jungen in Billys Alter.«
»Wir sind keine Förster. Wir sind hier Schafbauern.«
»Wir können uns ändern, oder etwa nicht?«
»Dann verkauft sie auch, ja?«
»Biddy?« Quig schüttelte den Kopf. »Sie wird Fetternish nie weggeben. Niemals ganz.«
»Wie viel davon?«
»Es ist viel zu früh, das zu sagen.«
»Aber sie hat sich mit dem Mann getroffen, mit diesem Rattenbury, der aufkauft?«
»Du weißt also, dass sie das hat«, sagte Quig.
»Es war nicht meine Absicht, zu spionieren«, beteuerte Barrett.
»Ach, schön, du hast jedes Recht, neugierig zu sein«, räumte Quig ein. »Es ist nicht einfach nur der Landbesitzer, der von Veränderung profitiert, und ich möchte nicht erleben, wie der Grund völlig verwahrlost, nur weil nicht investiert werden kann.«
»Wie hat sie – wie hat Mrs. Quigley sich gegenüber dem Mann verhalten?«
»Recht gut. Er ist überzeugend, ohne zu drängen.«
»Wie ein Schuhverkäufer«, sagte Barrett.
»Ja, genau wie ein Schuhverkäufer«, pflichtete ihm Quig bei.
»Würden sich dann einheimische Arbeiter um die Pflanzungen kümmern?«
»Zuerst würden Waldarbeiter hergebracht werden, aber das Graben und Buddeln würde von unseren Männern besorgt werden.«
»Weil sie billiger sind?«
»Genau das ist der Grund«, antwortete Quig. »Dennoch würde der Lohn höher sein, mehr als ein Handwerker verdienen kann oder ein Schäfer.«
Barrett starrte wieder auf die See hinaus, hob dann seine Schultern und ließ sie in einer Geste der Resignation sacken. »Tja«, sagte er, »als ich das Mädchen auf Pennypol sah, dachte ich, dass endlich etwas zu uns zurückgekommen wäre.«
»Was meinst du damit, George?«
»Dass etwas beginnt.« Barrett zuckte wieder die Schultern. »Ich hätte in die andere Richtung schauen sollen, oder nicht?«
»Du müsstest Augen in deinem Hinterkopf haben, um zu sehen, woher die Zukunft kommt.« Quig legte eine Hand auf die Schulter des Schafhirten. »Würdest du wollen, dass es wieder so ist, wie es einmal war, George?«
»Tja, würde ich das jetzt nicht?«, antwortete Barrett. »Und wie!«
»Ich auch«, sagte Quig. »Ich würde alles darum geben, nach Foss zurückzukehren.«
Barrett senkte die Spitze seines Hirtenstabes, neigte sein Handgelenk und beschrieb einen großen flachen Kreis in der Luft.
»In hundert Jahren wird dies alles vielleicht fort sein«, meinte er.
»Nein, wir sind es, die fort sein werden«, widersprach Quig. »Das Land wird noch hier sein.«
»Tja, irgendwie ist das ein Trost, denke ich, obwohl ich verdammt sein möchte, wenn ich verstünde, wieso.« Barrett ließ die Spitze des Hirtenstabes sinken und lachte verhalten. »Gott, Quig, es wäre eine schöne Sache, ewig jung zu sein, oder nicht?«
»Eine schöne Sache«, pflichtete Quig ihm bei. Dann sagte er, den Stand der Sonne betrachtend: »Zeit, dass ich mich auf den Heimweg mache, George. Höchste Zeit.« Und er ließ den Schafhirten und den Hund hinter sich und machte sich über die Küstenstraße auf den langen Weg nach Pennypol, wo, wie er wusste, Fay warten würde, um ihn mit weit offenen Armen zu begrüßen.