Anscheinend war er bereits zwei oder drei Tage in Tobermory gewesen, bevor er seinen Schachzug machte. Tom Ewing hatte ihn zufällig auf dem Gehsteig nahe dem Hafen getroffen, doch Toms Sehkraft war nicht mehr so wie früher und er hatte den Mann, der ihm einst so vertraut war, nicht wiedererkannt.
Nur wenige andere bemerkten den Burschen überhaupt, der vor den Geschäften mit dem billigen Schmuck in einer Seitenstraße verweilte und mehrere Einkäufe tätigte, Armreife, Ringe und Broschen, und in einem Kurzwarengeschäft einen Ballen Tartanstoff, fein gewebt von den berühmten Kleinbauern in Salen, kaufte. Er war speziell während des Nachmittags nicht zu sehen, wenn Innis oder Biddy oder Maggie Naismith in der Stadt zu vermuten waren. Er logierte im Mishnish Hotel und spazierte wie jeder gewöhnliche Tourist pflichtschuldig hinaus nach Aros House, um sich die sickernden Wasserfälle anzusehen, und erstieg den Leuchtturm auf Ru-na-Gal, um die Panoramaaussicht zu genießen. Er buchte sogar einen Platz auf der großen Kutsche des Hotels für eine ›Rundfahrt‹ und bestaunte in Gesellschaft eines Dutzends anderer Besucher die Großartigkeit der Lochs und der Berge, als habe er sie nie zuvor gesehen.
Am Mittwochabend, nach einem frühen Abendessen, trat er aus dem Hotel, bekleidet mit einem maßgeschneiderten Straßenanzug und einem runden, kleinen Bowler, steckte eine Zigarre an und schlenderte gemächlich auf den Hügel zu, der in Richtung Glengorm steil aus der Stadt aufragte. Glengorm war jedoch nicht sein Ziel. An der ersten Kreuzung bog er links ab, an der nächsten nahm er die rechte Abzweigung, und schließlich ging er, seinen Schritt beschleunigend und den Zigarrenstummel fortwerfend, über den hinteren Weg in Richtung Fetternish.
Es war ein düsterer, schwüler Abend mit einer tief hängenden Wolkendecke. Mücken schwärmten über den torfigen Bächen und die Berge jenseits des Sound of Mull hatten die Farbe von altem Ruß. Er legte die sechs Meilen in etwas über einer Stunde zurück und schwitzte ein wenig in seinem Anzug. Die See war, als sie wieder in sein Blickfeld kam, regenverhangen und so flach wie ein Kuhfladen, so weit das Auge reichte. Er blieb auf der Kuppe der Anhöhe stehen, wo der Weg aus der Wildnis hinausführte, hakte seine Daumen in die Taschen seiner Weste und blickte volle fünf Minuten auf das Haus hinunter, bevor er sich auf den Weg zu der geschwungenen Zufahrt machte und, exakt um Viertel vor neun, vor Biddys großer Haustür eintraf.
Er zupfte an dem eisernen Klingelzug und wartete darauf, dass jemand an die Tür kam.
Zu seiner Überraschung öffnete Biddy selbst.
Er sagte: »Was ist denn mit Willy passiert? Ist er auch tot?«
»Mein Gott! Allmächtiger Gott!«, rief Biddy, schlug ihre Hand vor die Brust und wurde scharlachrot. »Es ist Michael Tarrant, er ist doch noch zurückgekommen.«
Biddy hätte es vorgezogen, allein mit dem Mann zu sein, der einst ihr Geliebter gewesen war, doch Quig war stur und weigerte sich, den Salon zu verlassen. Er überließ es Maggie, Gin und Gläser, Zitronenscheiben und einen Krug mit kaltem Wasser hochzubringen.
Maggie betrat das Wohnzimmer. Sie starrte den Mann an, den Fremden, der kein Fremder war, machte aber keinen Knicks vor ihm oder schenkte ihm auch nur ein Nicken. Sie stellte das Tablett klirrend auf den Tisch im Fenstererker und sagte, ihn noch immer anstarrend: »Waren Sie schon unten auf Pennymain, um Ihre Frau und Ihre Tochter zu besuchen?«
Michael schenkte ihr ein öliges Lächeln. »Gut, dass Sie wissen, dass ich es nicht war, Maggie, sonst hätten Sie’s vor allen anderen gehört.«
»Ich höre nicht alles, was hier vorgeht«, erwiderte Maggie.
»Je, nun, wenn dies der Fall ist, haben die Zeiten sich doch in vielerlei Hinsicht geändert.«
»Haben Sie absichtlich gewartet, bis Sie wussten, dass sie nach Hause gegangen sein würde?«, sagte Maggie.
»Von wem reden Sie?«, sagte Michael Tarrant.
»Von Ihrer Tochter Becky.«
Als Antwort breitete er seine Hände in einer Geste aus, die weniger hilflos als gleichgültig war.
Sein Gesicht hatte jetzt keine Form mehr. Seine dunklen Augen mit den gesenkten Lidern waren unverschämt, nicht unergründlich. Michael war, wie Biddy realisierte, fetter als sie, so fett, dass sein Unterkiefer in einem Wulst rasierten rosa Fleisches verschwunden war und sein Kinn schlaff hinunterhing und mit seinem Hals verschmolz. Was einst stark an ihm gewesen war, wirkte jetzt schwach, und was gut ausgesehen hatte, war hässlich, und sein teurer, maßgeschneiderter Anzug konnte seinen Wanst nicht verbergen. Sie hatte ihn schlank, fast ausgemergelt in Erinnerung. Jetzt war sie mit einem wohlbeleibten Mann mittleren Alters konfrontiert, der weniger gut erhalten war als sie. Er schien sich seines Bauchumfanges nicht bewusst zu sein und war deshalb überhaupt nicht verlegen.
»Das reicht, Maggie«, sagte Biddy. »Quig, Liebster, würdest du bitte die Honneurs machen?«
»Die Honneurs?«, fragte Maggie. »Er kommt hierher, bevor er nach Hause geht, um seine Frau und seine Tochter zu sehen. Ich möchte gerne wissen, was daran ehrenwert ist?«
Michael schlug die Beine übereinander und legte seinen Bowler – niemand war auf den Gedanken gekommen, ihm diesen abzunehmen – neben seinen Stuhl auf den Boden.
»Ich werde sie morgen besuchen«, sagte er. »Leiten Sie das weiter, wenn Sie wollen, Maggie. Ich wäre Ihnen allerdings sehr verbunden, würden Sie Ihren Mann nicht aufwecken und ihn zu dieser späten Stunde stehenden Fußes nach Pennymain schicken.«
»Von Ihnen nehme ich keine Befehle entgegen, Michael Tarrant.«
»Biddy, wärst du so lieb und würdest deiner Hausgehilfin sagen …«
»Haushälterin«, platzte Maggie heraus. »Ich bin hier jetzt die Haushälterin.«
»Niemand wird dich verraten, Michael«, sagte Biddy. »Becky wird jedoch morgen früh als Erste hier sein, und ich kann nicht garantieren, dass sie nicht herausfinden wird, dass du mich besucht hast.«
»Ich hoffe«, sagte Michael, »dass ich hier sein werde, um sie selbst begrüßen zu können.«
»Was soll das heißen?«, sagte Biddy.
»Du wirst doch sicher nicht einen alten Freund abweisen, jetzt, wo es dunkel wird und es zu regnen beginnt?«
»Hast du kein Fahrzeug, keinen Zweisitzer oder ein Gig, um zurückzufahren nach … wohin?«
»Ins Mishnish«, sagte Michael. »Aber nein, ich bin von Tobermory hierher gelaufen.«
»Du bist gelaufen? Warum?«
»Nur um zu sehen, was du in meiner Abwesenheit aus dem Besitz gemacht hast.«
»Und was habe ich damit gemacht?«
»Herzlich wenig«, sagte Michael. »Wo sind die ganzen Schafe?«
»Die Schafe weiden auf Pennypol«, sagte Quig. »Barrett kümmert sich gut um sie.«
»Ich habe den jungen Barrett gut ausgebildet, nicht wahr?«, sagte Michael.
Maggie sagte: »Wenn Sie ein Bett für die Nacht suchen, Michael Tarrant, wäre es nicht passender, wenn Sie zu Ihrer Frau gingen und sich von ihr aufnehmen lassen würden? Oder befürchten Sie, sie könnte Sie abweisen?«
Quig wandte sich von dem Tisch ab, an dem er Gin und Wasser in zwei großen Gläsern gemixt hatte. Er reichte Biddy ein Glas und ein anderes Michael, ging dann weiter durch den Salon, fasste Maggie sanft beim Ellenbogen und führte sie zur Tür. Er blieb lange genug stehen, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, bevor er sie in die Halle hinausschob und dann die Tür hinter ihr schloss.
»Was haben Sie zu ihr gesagt?«, fragte Michael.
»Ich sagte ihr, sie solle dafür sorgen, dass Willy Ihnen die Überraschung nicht verdirbt.«
»Das ist verdammt anständig von Ihnen, Quigley, verdammt taktvoll«, sagte Michael, »aber Sie waren ja schließlich schon immer taktvoll, nicht wahr?« Er probierte den Gin und hob anerkennend eine Augenbraue. »Konig’s, Donnerwetter.«
»Es gibt nur das Beste in diesem Haushalt«, sagte Quig und kehrte zu Biddys Ärger zu seinem Platz im Fenstererker zurück.
Aileen lag zusammengerollt vor dem Kaminfeuer unten im Wohnzimmer, das Willy und Maggie während ihres ganzen Ehelebens miteinander geteilt hatten.
Willy döste. Die Times lag aufgeschlagen auf seinem Schoß und seine Brille rutschte Millimeter um Millimeter über seine lange Nase hinunter. Aileen studierte die winzigen blauen und gelben Flammen, die in den Torfscheiben des Kamins erblühten und verwelkten. Bei einem so schwülen Wetter gab es wirklich keine Notwendigkeit für ein derartiges Feuer, doch es war entzündet worden, um Willys alte Knochen zu wärmen. Aileen starrte in das Feuer, in jedes Feuer, stundenlang unaufhörlich, so wie sie die Bewegung der See studierte oder das Muster, das der Wind ins hohe Gras zeichnete, doch ihre Tagträume, so sie denn überhaupt träumte, waren zu beschränkt, um verständlich zu sein.
Sie erschrak, als Maggie in den Raum gestürzt kam. Und Willy, der nach seiner Brille und der Zeitung griff, richtete sich so abrupt auf, dass das Zimmer sich drehte und drehte und er seinen Kopf wieder zurück auf das Kissen sinken lassen musste, damit es sich beruhigte und er seine Frau scharf sah.
»Er ist zurückgekommen. Er ist zurückgekommen. Aber er ist noch nicht bei Innis gewesen. Er sitzt da oben und trinkt Quigs Gin und flirtet mit der Herrin, als ob er …«
»Warte, warte, warte, warte«, sagte Willy. »Beruhige dich, Frau, beruhige dich.«
»Michael Tarrant ist zurückgekommen. Er sitzt in diesem Augenblick oben im Salon und plaudert mit Biddy so unbekümmert, als sei er überhaupt nie fort gewesen.«
»Wo ist Quig?«, fragte Willy.
»Er ist auch dort.«
Willy nickte.
»Du scheinst nicht überrascht zu sein?«, stellte Maggie vorwurfsvoll fest.
»Ich hatte erwartet, dass irgendwann jemand kommen würde«, antwortete Willy.
»Michael, Daddy Michael, Daddy.« Aileen hatte ihren Blick wieder auf die Torfscheiben gerichtet, einen Augenblick, nachdem Maggie den Raum betreten hatte, und der feine, leise Singsang schien nur zu ihrem eigenen Vergnügen da zu sein. »Daddy, Michael Daddy, Dad, da, da, da …«
»Sei still, Aileen. Willy, sag du ihr, sie soll still sein.«
»Dad-de-de-da-da-de, dad-de-da-de …«
»Liebling«, sagte Willy, »das reicht jetzt.«
Aileen gab ein kleines Kichern von sich, gespielt schüchtern und auf gewisse Art boshaft, streckte sich dann der Länge nach auf dem Teppich aus und bedeckte ihr linkes Ohr mit einer Hand.
»Ich werde zu Innis gehen und es ihr sagen müssen«, sagte Maggie.
»Innis? Nein, nein. Morgen ist noch Zeit genug.«
»Er wird wegen des Mädchens gekommen sein«, sagte Maggie. »Dieser verdammte kleine Teufel Gavin konnte nicht einmal den Mut aufbringen, selbst zu kommen, um sie zu holen.«
»Bist du sicher, dass Tarrant wegen des Mädchens hier ist?«, fragte Willy.
»Was sollte ihn sonst veranlassen, nach so vielen Jahren zurückzukommen?«
Willy sagte: »Wo ist er jetzt?«
»Ich sagte es dir doch. Oben im Salon. Da trinkt er unseren besten Gin.«
»Dann«, sagte Willy, »will er dort sein.«
»Was meinst du damit, Willy?«, fragte Maggie. »Wenn er nicht hierher gekommen ist, um das Mädchen zu seinem Sohn zurückzuholen, welchen anderen Grund könnte er …« Sie hielt die Luft an und erstarrte. »Du denkst doch wohl nicht, er sei wegen Biddy gekommen?«
»Ich denke nichts«, entgegnete Willy. »Ich rate dir, dasselbe zu tun.«
Auf dem Teppich zu Willys Füßen murmelte die Mädchen-Frau leise: »Da-da-da, dada.«
Wäre es sein Haus gewesen, er hätte Anweisung gegeben, die Lampen anzuzünden und die Vorhänge zu schließen, um das Dunkel auszusperren. Er hatte die See nie geliebt und die Aussicht aus den Fenstern des riesigen Vorderzimmers in Fetternish House hatte ihm immer das Gefühl vermittelt, klein zu sein. Er mochte das Haus noch viel weniger als er seine Situation mochte: ein eindrucksvoller Grundbesitz in der Mitte von zweitausend Acres Land, das er, und er allein, für erstklassig hielt. Er wäre nicht abgeneigt gewesen, das Haus sicherheitshalber draufzugeben, wenn es in seiner Macht gestanden hätte, ihr das ganze Anwesen zu entreißen, nicht abgeneigt, Biddy in den Topf geworfen zu bekommen, sogar jetzt noch.
Sie war älter, als er sie in Erinnerung hatte, wirkte ein wenig heruntergekommen, war aber noch immer elegant und feudal, vermittelte noch immer jene hitzige, verworrene Art von Fruchtbarkeit, die ihn einst so verrückt gemacht hatte und die er auf seine grobe, verworrene Art genossen hatte. Es war jedoch kein reines Vergnügen gewesen. Biddy war der Riegel an der Tür von Pennypol gewesen, und als er darin gescheitert war, dieses Stück Besitz seiner Frau zu nehmen oder, richtiger, der zänkischen alter Mutter seiner Frau, hatte er sich anderen Aspekten des Begehrens hingegeben, hatte eines mit dem anderen vermischt, sodass Biddy und erstklassiges Weideland ein und dasselbe wurden.
Im Nachhinein war ihm bewusst geworden, dass er zu schweigsam gewesen war. Das Leben mit Ada hatte ihn zum Besseren verändert. Dank Ada und ihrer Töchter hatte er gelernt, für sich zu sprechen.
Insgesamt war er zufrieden mit dem Mann, der er geworden war, und weil er diesen Mann testen wollte, hatte er sich freiwillig bereit erklärt, nach Mull zurückzukehren, um das Durcheinander, das Gavin aus seiner Ehe gemacht hatte, in Ordnung zu bringen. Und natürlich, um Biddy wiederzusehen. Er erinnerte sich ihrer Affäre wie an eine goldene Kommunion und war bereit, es jetzt wieder mit ihr aufzunehmen, auch wenn ihr Mann schmollend in einer Ecke saß.
Quig sagte: »Ich nehme an, dass Sie diesen Besuch wegen Gavin machen?«
»So ist es«, antwortete Michael. »Er hatte vor, selbst hierher zu kommen, konnte um diese Jahreszeit aber seine Herde nicht verlassen. Er hat Verantwortung für eine große Herde und Yeates ist ein strenger Vorgesetzter und unversöhnlich.«
»Unversöhnlich?«, fragte Quig. »Wobei?«
Michael konnte Quig nicht deutlich sehen. Er schien so düster wie der Raum selbst zu sein und verschmolz mit dem Dunkel wie ein ungestrichenes Möbelstück.
Quig fuhr fort: »Leben Sie auch in diesem Teil der Welt, Michael? Sind Sie nahe bei Ihrem Jungen?«
»Nein, das bin ich nicht. Tatsache ist, dass ich Yeates überhaupt nicht kenne. Ich habe allerdings durch Gavin von ihm gehört. Ich kann mir vorstellen, was für eine Art von Mann das ist.«
»Dann«, Biddy räusperte sich, »arbeitest du nicht in Fream?«
»Ich sehe, sie hat also über mich erzählt, dieses Mädchen«, sagte Michael. »Nein, ich arbeite nicht in Fream. Ich arbeite in der Nähe der Gegend, in der ich geboren wurde, im Ettrick Pen.«
»Lebst du noch immer bei deiner Mutter?«, sagte Biddy.
»Sie ist vor Jahren gestorben. Ich bin jetzt Hofverwalter. Ich habe die Verantwortung für viertausend Acres, zweitausend Zuchtschafe und vier Schafhirten.«
»Wem gehört diese Farm?«
»Mrs. Ada Reese.«
»Die, wie ich annehme, eine Witwe ist?«
»Ja, eine Witwe«, sagte Michael.
Er war nicht so dickhäutig, wie er sich eingebildet hatte. Biddy hatte bereits eine schwache Stelle gefunden. Er konnte nicht sagen, warum die Frage ihn kränkte, aber es war so. Er würde nichts über Ada Reese sagen, über die Ehe, die in jeder Hinsicht eine Ehe war, vom Namen abgesehen.
»Und hat Mrs. Reese die Absicht, zu expandieren?«, sagte Biddy.
»Expandieren?«
»In eine fortschrittlichere Form von Landwirtschaft, zum Beispiel?«
»Was?«
»Ich nehme an«, fuhr Biddy fort, »dass Mrs. Reese Geld hat.«
»Ich bin nicht hier, um zu leihen, falls du das denkst.«
»Ich dachte«, warf Quigley ein, »Sie seien hier, um Gavins Frau zu überzeugen, dass ihr Platz an der Seite ihres Mannes sei.«
»Ich bin dem Mädchen noch nie begegnet«, sagte Michael.
»Natürlich wissen Sie«, sagte Quigley, »warum sie ihn verlassen hat?«
»Sie war flatterhaft. Sie hatte einen anderen Mann, der sie aufhetzte.«
»Hat Gavin Ihnen das erzählt?«, fragte Quig.
»Ich habe Gavin seit sieben Jahren nicht gesehen.«
Er führte sein Glas an die Lippen und hätte wohl einen Schluck genommen, hätte er in diesem Augenblick nicht Biddys Blick gesehen. Er nippte und beobachtete sie, wie sie ihn beobachtete – wachsam. Er hatte geglaubt, sie zu überraschen und mit seiner Sicherheit zu beeindrucken, stellte aber fest, dass er sich bereits in der Defensive befand.
»Jetzt auch nicht?«, sagte Quigley. »Warum das, frage ich mich?«
»Er zog es vor, seinen eigenen Weg zu gehen.«
»Du hast es nicht sehr bedauert, ihn von hinten zu sehen, oder, Michael?«, sagte Biddy.
»Ich weiß, was ihr alle von ihm denkt, aber er ist jetzt anders.«
»Er ist jetzt Schafhirte, glaube ich«, sagte Biddy.
»Ein Schafhirte, ja.«
»Ist kein Platz für ihn auf dem Hof, den Sie verwalten?«, sagte Quig. »Ich meine, ist Gavin kein guter Schafhirte?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Würde Mrs. Reese ihn nicht einstellen?«, sagte Quigley.
»Wenn du sie nett bittest?«, fügte Biddy hinzu.
»Was hat das damit zu tun, warum ich diese lange und beschwerliche Reise gemacht habe? Es geht nicht allein um Yeates, der mitten in der Saison ist, wo das Scheren und Dippen getan werden muss. Denkt ihr, es ist leicht für mich, meinen Posten zu verlassen? Vielleicht werden die Dinge hier noch immer so schlampig gemacht, wie sie immer getan wurden, als …«
»Als du Schafhirte warst?«, sagte Biddy mild.
»Ich bin hier, um das Mädchen zu sprechen. Das ist alles.«
»Für Gavin?«, sagte Quigley.
»Ja, verdammt, für Gavin.«
»Weißt du, wo du sie findest?«, sagte Biddy.
»Sie ist auf Pennymain, nicht wahr?«
»Sie wohnt bei deiner Frau«, sagte Biddy.
Obwohl der Bowler zu seinen Füßen lag, spürte Michael einen Druck an seiner Stirn, als habe er den Hut noch immer auf dem Kopf. Er fuhr mit einer Hand über sein volles, graues Haar und wischte seine Handfläche am Rockaufschlag ab.
Nichts lief so, wie er es erhofft hatte. Die Situation war viel komplizierter, als er erwartet hatte. Er hatte an Schub verloren, an Schwung. Er war nicht auf die Idee gekommen, dass Biddy sich ebenfalls verändert haben könnte und nicht mehr so impulsiv war, wie er sie in Erinnerung hatte. Er hatte von Ada und ihren Töchtern eine Menge über Frauen gelernt. Nachdem er erst einmal Gavin losgeworden war und sich bei Ada Reese niedergelassen hatte, hatte alles, was auf Mull geschehen war, eine neue Perspektive bekommen.
»Wer hat Ihnen gesagt, dass Fay hier ist?«, fragte Quigley.
»Gavin erzählte es mir.«
»Wie hat er das herausgefunden?«, sagte Quigley. »Sie ist gegangen, ohne ein Wort zu sagen. Sie kam zu uns, weil sie nicht wusste, wohin sie sich sonst wenden könnte und weil sie dachte, dass Gavin hier nie nach ihr suchen würde. Es scheint aber, als habe sie jemand verraten.«
»Vielleicht hat dieser andere Mann, dieser Liebhaber, es Gavin erzählt.«
»Josh hätte sie nicht verraten, egal, was Gavin ihm angetan hätte«, sagte Quig.
»Sie scheinen ja gut über Dinge informiert zu sein, von denen Sie angeblich nichts wissen.«
»Wie du, Michael«, sagte Biddy. »Wie du.«
»Es ist eine Angelegenheit von Gavin und seiner Frau, das sage ich damit.«
»Warum spricht Gavin dann nicht selbst für sich?«, sagte Biddy.
»Ich habe mich bereit erklärt, das für ihn zu tun.«
»Was für ihn zu tun?«, bohrte Biddy weiter.
»Für ihn zu verhandeln.«
»Wenn ich so darüber nachdenke, Michael, warst du immer so ein bisschen der Unterhändler.«
Biddys Ironie entging ihm. Seine dicken Schultern zuckend sagte er: »Ich habe die Pflicht, das zu tun, was für meinen Sohn das Beste ist.«
»Dessen bin ich mir sicher«, sagte Quigley. »Aber was das Beste für Gavin ist, ist möglicherweise nicht das Beste für seine Frau. Er hat sie geschlagen. Wussten Sie das?«
»Einen oder zwei Schläge, um ihr zu zeigen, wo ihr Platz ist. Was ist daran schon schlimm?«
Biddy hob eine Hand, überlegte es sich dann aber anders. »Du wirst Innis überzeugen müssen. Du musst mit Innis verhandeln. Das Mädchen hat mit uns nichts zu tun. Nicht wahr, Quig?«
»Nein«, sagte Quig, aus der dichter werdenden Dunkelheit. »Nichts mit uns zu tun.«
Die Gewohnheit, früh aufzustehen, war ihm geblieben, obwohl er manchmal in den Wintermonaten eine halbe Stunde länger liegen blieb, unter dem Federbett an Adas Flanken geschmiegt und in sie schlüpfte, wenn sie wach war und es wollte, um sie für den Tag zu versorgen.
Zumeist jedoch war er um fünf auf und gegen halb sechs auf dem Hügel, um die Schafhirten auf Trab zu halten und beim Lammen und Scheren zu helfen, nur um diese unkultivierten Border-Burschen daran zu erinnern, dass er mehr als nur ein Liebhaber war. Er überwachte das Dippen, das Ausschneiden, das Sammeln und natürlich das Treiben. Er kümmerte sich um alle Verkäufe und erzielte Spitzenpreise für die Wolle oder überbot, die Taschen voller Banknoten, die einheimischen Züchter, um einen erstklassigen Widder oder eine kleine Herde kräftiger junger Mutterschafe zu erwerben.
Das Tageslicht weckte ihn. Er hatte schließlich doch ein Bett bekommen, ein Bett, das so hoch oben im Hause lag, dass Möwen auf dem Fenstersims hockten und er sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um unten die Terrasse und den Rasen zu sehen.
Die Sonne erreichte die Vorderseite des Hauses. Er fand das sonderbar, ebenso wie er die Sonnenuntergänge im Ettrick Pen zuerst sonderbar gefunden hatte, als er dorthin zurückgekehrt war: die Sonne, die über seinem Kopf stand, und Schatten, die aus der falschen Richtung auf ihn fielen. Jetzt jedoch war er wieder im Westen, und als er sich an dem Becken auf dem Tisch vor dem Dachfenster wusch und rasierte, verspürte er ein Gefühl von Besorgnis bei der Erkenntnis, dass er bald seiner Frau und der Tochter gegenübertreten müsse, die er vor all diesen Jahren verlassen hatte.
Er zog das Hemd an, das er gestern getragen hatte, den Tweedanzug, den Bowler und ging die Hintertreppe hinunter in die Küche, um nach einem Stück Brot und Butter und vielleicht einem Glas Ale zu suchen, das ihn kräftigte. Er bezweifelte, dass ihn in Innis’ Haus ein Frühstück erwarten würde, weder Frühstück noch eine Begrüßungszigarre.
Er trat leise in die Küche.
Quigley saß am Tisch und frühstückte.
»Ich dachte, dass Sie früh aufbrechen würden«, meinte Quig. »Ich werde mit Ihnen hinuntergehen, falls Sie nichts dagegen haben.«
»Ich habe etwas dagegen«, erwiderte Michael. »Ich würde lieber alleine mit ihr sprechen.«
»Sprechen mit wem?« Quig schenkte Biddys Gast eine frische Tasse Tee ein. »Innis oder Fay, oder brennen Sie darauf, ein Wort mit Rebecca zu reden?«
»Was ist los mit Ihnen, Quigley?«, sagte Michael. »Es geht hierbei um meine Familie, und Sie gehören nicht zu meiner Familie.«
»Ich könnte sagen, dass ich für sie mehr Familie bin als Sie, bedenkt man, wie oft Sie sich in den vergangenen sechzehn Jahren haben sehen lassen«, sagte Quig in dem weichen, singenden Tonfall, der seine Feindseligkeit verdeckte. »Das werde ich jedoch nicht tun, da Sie schon Schwierigkeiten genug haben, auch ohne dass ich Sie verspotte.«
»Gavin hatte nicht die Absicht, Sie zu erschießen.«
Auf dem Teller war Ei, ein hellgelber Klecks von Dotter. Quig brach ein Stück braunes Brot, wischte damit das Dotter auf und steckte es in den Mund. Er ist einfach von Natur aus selbstgefällig, dachte Michael, so wie alle Insulaner selbstgefällig waren, als ob sie meinten, mit unvergleichlichem Charme ausgestattet zu sein, und einer tiefen Erkenntnis, die Menschen vom Festland verwehrt blieb.
Quig kaute und schluckte höflich, bevor er wieder sprach.
»Gavin hätte an diesem Nachmittag auf jeden von uns geschossen«, sagte Quig. »Er hätte sogar den Abzug gegen Sie durchgezogen, wenn Sie töricht genug gewesen wären, sich ihm in den Weg zu stellen.« Er schob den Teller beiseite und nahm seine Teetasse. »Wenn Sie frühstücken wollen, Michael, dann tun Sie das jetzt. Da ist Brot und Butter und Käse und der Tee ist frisch. Wenn Sie hungrig sind, werde ich Ihnen ein Ei und Schinken braten.«
»Brot genügt.« Michael setzte sich an den Tisch. Er schien es nicht für nötig zu halten, seinen Hut abzunehmen. Er sagte: »Biddy sieht gut aus. Wie geht es den Kindern?«
»Gut, es geht ihnen gut.«
»Auf der Schule?«
»Ja, in Edinburgh.«
»An einem sicheren Ort«, sagte Michael.
»Das habe nicht ich veranlasst.«
»Das habe ich auch nicht gesagt«, sagte Michael, »aber wenn Sie oder Ihre Frau mich zu Unrecht bezichtigen, Gavin fortgeschafft zu haben, täten Sie gut daran zu überlegen, was Sie Ihren Kindern angetan haben.«
Quig beobachtete, wie Biddys Gast eine zweite Scheibe Brot butterte und zusammenklappte.
»Wer hat sie verraten, Michael?«
»Was meinen Sie?«
»Ich war es nicht und ich glaube nicht, dass es Biddy war.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie quatschen.«
»Ich weiß, dass es Becky war. Ich glaube, sie ist auf das Mädchen eifersüchtig.«
»Frauen«, sagte Michael, »kommen auf komische Ideen.«
»Biddy glaubt, Sie seien hier, um uns aufzukaufen.«
»Ach, wirklich? Woher sollte ich denn das Geld dafür haben?«
»Von Ihrer neuen Frau.«
»Sie ist nicht meine Frau. Wie kann sie meine Frau sein?«, sagte Michael. »Ich bin aus keinem anderen Grunde hier, als um die Differenzen zwischen meinem Sohn und diesem Mädchen, das er geheiratet hat, beizulegen.«
»Der Sie nie begegnet sind?«
»Das ist die Wahrheit«, sagte Michael. »Ich erzählte ja, dass ich Gavin fortgeschickt habe, damit er selbstständig arbeitet, aber ich sagte nicht, dass ich keine Verbindung mit ihm hätte. Er wollte seine Unabhängigkeit.« Er stockte und fuhr dann fort: »Da steckte ein wenig mehr dahinter. Er war an einer von Ada Reeses Töchtern interessiert.«
»Was hat er ihr angetan?«
»Nichts. Sie mochte ihn nicht, das ist alles.«
»Sie haben ihn fortgeschickt, bevor er Ihnen einen Strich durch die Rechnung machen konnte.«
»Er ist von selbst gegangen«, sagte Michael. »Hätte ich ihn fortgeschickt, würden Sie mir das zum Vorwurf machen?«
»Nein, ich würde Ihnen das nicht vorwerfen.«
»Sie sind ein Problem und eine Last, unsere Kinder, nicht wahr?«
Quig antwortete darauf nicht.
Jedoch war etwas in seinen Augen, in der Form seines Mundes, aus dem Michael schloss, dass bei Quigley nicht alles gut lief. Er fragte sich, was der Junge, Robbie, in Edinburgh anstellen mochte, und dachte kläglich daran, welches Leid ein junger Mann, der von Haus aus etwas Geld hatte, seinen Eltern bereiten und welchen Spaß er selbst haben könnte. Er gab sich der Vorstellung hin, dass der wilde junge Windhund Biddy mit seinen Launen quälte – wie der Vater so vielleicht der Sohn –, und hätte weiter darüber nachgedacht, hätte Quigley ihn nicht daran gehindert.
Quig sagte: »Sie wird nicht in eine Scheidung einwilligen, Michael.«
»Was sagten Sie?«
»Innis. Sie wird niemals in eine Scheidung einwilligen. Sie werden Ihre Zeit vergeuden, wenn Sie sie fragen.«
»Denken Sie, ich sei deshalb hier?«
»Ich bin sicher, dass Sie nicht um des Jungen willen hier sind, nicht allein um des Jungen willen.«
»Das zeigt, was für eine Art von Vater Sie sind.«
Er brauste jetzt auf. Quigley hatte ihn durchschaut. Er hätte es von Naismith erwarten müssen. Willy Naismith hatte Verbindungen in die Borders gehabt. Aber er hatte nicht erwartet, dass Quigley ihn so leicht durchschauen würde. Natürlich hatte Quig Recht. Es war aussichtslos, aber er wusste, dass er versuchen musste, Innis zu überreden, sich von ihm scheiden zu lassen, denn wenn er Ada Reese nicht legal heiratete, würde er nichts von dem bekommen, was ihm in Form von zweitausend Acres bestem Border-Land zustand.
»Sind Sie nicht auch katholisch?«, fragte Quigley.
»Ich bin nichts.«
»Sie sind doch als Katholik getraut worden, oder?«
»Ist sie – ist Innis noch immer so fromm?«
»Noch mehr«, sagte Quig. »Hat Becky Ihnen das nicht erzählt?«
»Der Lehrer, Gillies Brown, ging ihr doch an den Rock, bevor ich fortging. Hat er einen Rückzieher gemacht? Hat er kalte Füße bekommen? Ich hatte gehofft …« Michael hielt sich noch gerade rechtzeitig zurück. »Ich dachte, er wäre noch immer scharf darauf, sie zu bekommen.«
»Zwischen ihnen ist nichts als Freundschaft.«
»Ha!«, sagte Michael. »Ha! Dieses Lied habe ich schon früher einmal gehört und es war damals genauso falsch wie jetzt. Gott, Quigley, wollen Sie mir erzählen, Innis Campbell habe all diese Jahre ohne einen Mann im Bett überlebt?«
»Genau das erzähle ich Ihnen.«
»Das ist schwer zu glauben, wenn man weiß, wie hitzig sie bei mir war.«
»Vielleicht«, sagte Quigley, »haben Sie sie für andere Männer verdorben.«
»Vielleicht habe ich das, wenn ich darüber nachdenke.« Michael Tarrant brüstete sich für einen Moment. »Ja, vielleicht haben Sie damit Recht.«
»Besteht diese Frau, die Sie da gefunden haben, auf Heirat?«, sagte Quig. »Haben Sie ihr nichts von Innis erzählt?«
»Ada weiß von Innis. Ich habe ihr nichts vorgemacht.«
»Sie muss vernarrt in Sie sein.«
»Das ist sie. Sie betet mich an.«
»Das kenne ich auch ein bisschen«, sagte Quig.
»Und sehen Sie, was es Ihnen eingebracht hat«, sagte Michael.
»Ja«, sagte Quigley. »Ich sehe, was es mir gebracht hat.« Er stand auf. »Wenn Sie jetzt aufbrechen, werden Sie alle zu Hause finden, da Becky erst um acht zu arbeiten beginnt. Ich werde Ihnen überlassen zu tun, was Sie tun müssen, da das in Ihrer Verantwortung liegt. Aber ich werde mit Ihnen hinunter bis zur Abzweigung nach Pennymain gehen, da ich ohnehin in diese Richtung gehe. Es wird aufregend für Sie sein, Ihrer Tochter wieder zu begegnen«, sagte er, »und die Frau Ihres Sohnes kennen zu lernen.«
»Ich weiß, dass sie schwanger ist, falls Sie darauf anspielen.« Michael schluckte den Rest Tee und schob sich eine weitere Scheibe Brot und Butter in den Mund. Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und streifte Krümel von seinen Rockaufschlägen. »Wie sehe ich aus?«
»Beeindruckend«, sagte Quig. »Es war Becky, die ihm von Fay erzählt hat, nicht wahr?«
Michael tippte sich mit einem Zeigefinger an die Nasenspitze und zwinkerte ihm zu.
»Keine Namen«, murmelte er, »kein Ärger.«
»Sollen wir dann gehen?«, sagte Quig.
»Ja, warum nicht?«, sagte Michael.
Die Hitze machte sie träge. Es ging ihr eigentlich gut, fand sie, doch die Schwangerschaft raubte ihr Energie und das schwüle Wetter machte sie ängstlich. Sie spürte, dass das Baby sich in ihrem Schoß drehte, als ob es ebenfalls Mühe habe, zu atmen. Sie dachte ständig daran, während sie sich um die Beete auf Pennypol kümmerte, die Erde mit der Spitze einer Hacke wendete und mit einer schweren Gießkanne die Reihen auf und ab ging. In diesem kritischen Stadium mussten die Pflanzen feucht gehalten werden, aber das Heranschleppen der Gießkanne vom Bach war erschöpfend, und sie war gezwungen, zwischen jedem Gang zu ruhen und befürchtete, dass sie ihnen nicht genug geben könnte.
Dennoch gediehen die Erdbeerpflanzen gut. Sie kontrollierte sie regelmäßig auf Milben und Mehltau und hoffte, dass sie noch vor dem Ende der Saison Früchte ernten könnte, obwohl es wahrscheinlicher war, dass die Pflanzen erst im nächsten Jahr tragen würden. Sie kniete neben den Beeten an der Mauer, hielt ihren Bauch mit den Händen, starrte auf die Ausläufer und sorgte sich, dass sie sie zu früh ausgesetzt haben könne. Überlegte auch, wie ›es‹ sein würde, und ob sie es in einer künftigen Saison mit zerdrückten Erdbeeren, gesüßt mit ein wenig Zucker und gemischt mit Sahne, füttern könnte, und ob sie, wenn sie den Löffel an die Lippen des Babys hielt, Glück in seinen Augen sehen würde.
An Erdbeeren war etwas Unschuldiges, eine Qualität, die kein anderes Obst besaß. Sie waren nicht hart wie Äpfel, körnig wie Birnen, nicht sauer wie Stachelbeeren oder Himbeeren. Sie sehnte sich nach dem Geschmack von Erdbeeren auf ihrer Zunge, dem Duft, der so zärtlich war wie ein Kuss an einem Mittsommertag.
Es war sehr früh, als der Mann aus der Schlucht hinter dem Cottage auftauchte.
Sie war nicht nach Pennypol gegangen und fütterte Innis’ Hühner. Sie hatte das Schrotmehl gestreut und stand da, den Eimer an ihrer Hüfte, als sie den Hut bemerkte, der sich hinter der Hecke auf und ab bewegte.
Sie hielt den Eimer fest, und die Hühner begannen um sie zu gackern, zu ihren Füßen zu picken und bettelten darum, gefüttert zu werden. Sie griff in das Schrotmehl und streute abwesend eine Handvoll, griff wieder hinein und streute aus, während sie beobachtete, wie er um die Hecke kam und vor dem Tor stehen blieb: ein arroganter, korpulenter, aufrecht gehender Mann, nicht sehr groß, in einem auffallenden Tweedanzug und mit jener Art von Hut, den Saatgutverkäufer trugen.
Er beugte sich über das Tor und griff nach dem Riegel.
Dann hielt er inne und schaute zu ihr, sah sie eindringlich an.
Sie wusste, wer er war, obwohl er nicht war, was sie erwartet hatte, nicht nach dem Wenigen, was sie über ihn gehört hatte. Es gab jedoch, dem Zug um seinen Mund nach zu urteilen, keinen Irrtum, diesen schwachen, rattenhaften Anflug von Verachtung, wie etwas, das in weiches Holz geschnitzt ist. Der Mann war fett und mittleren Alters. Sein Kopf saß oben auf seinem Kragen, als sei er aus einem Rohr herausgequetscht worden, und sein Hut klemmte auf seinem vollen grauen Haar wie eine Erbse auf einer Hügelkuppe. An seiner Art war indes nichts Komisches, nichts, das sie veranlasst hätte zu lächeln.
Sie spürte, dass ›es‹ sich in ihr umdrehte, und hatte ein scharfes Brennen in ihrer Kehle.
»Mama«, sagte sie. »Mama«, rief sie.
Innis kam aus der Küchentür gerannt.
Agnes MacNiven war George Barretts Schwägerin: Das heißt, sie war mit Peter MacNiven verheiratet, der einer von Muriels Brüdern war.
Sie war auch die Hebamme des Distrikts.
Sie war jedoch keine Hebamme im traditionellen Sinne des Wortes, nicht jemand, der durch Erfahrung und wegen seiner Nähe gerufen wurde, um bei der Entbindung von Babys zu helfen und etwa so viel anatomische Kenntnis wie eine durchschnittliche Zehnjährige besaß.
Agnes MacNiven war alles andere als eine weise alte Frau. Nachdem ihre eigenen Kinder halb erwachsen gewesen waren, hatte Agnes sich aus dem Cottage des Straßenbauarbeiters in Leathan frei genommen und war drei lange Jahre lang jeden zweiten Freitag nach Oban gefahren, um als das ausgebildet zu werden, was ihr Mann stolz als ›lärmende Krankenpflege‹ bezeichnete. Zur gegebenen Zeit hatte sie ein Diplom erhalten, war auf die Lohnliste der Grafschaft Argyll gesetzt worden und mit jenem wissenschaftlichen Status ausgestattet, den nicht einmal Dr. Kirkhope in seiner Blütezeit ganz erworben hatte.
Sie arbeitete Hand in Hand – oder sonstwie – mit dem jungen Dr. Cumming. Er hatte, wie es schien, eine magische Art, wenn es darum ging, Frauen in und durch die Schwangerschaft zu bringen, doch seine Praxis konzentrierte sich auf Salen und er konnte beim besten Willen nicht überall zugleich sein. Er verließ sich auf Agnes, um draußen in der Wildnis einen Fall von Präklampsie oder die gefährlichen Anzeichen zwanzig anderer weiblicher Fehlfunktionen während der Schwangerschaft zu erkennen.
Agnes war beliebt, streng, aber fürsorglich und hatte die besten Beine im Nordviertel, wenn, was dazu gesagt sein muss, die Definition der Qualität von Gliedmaßen auf Masse beruht.
Agnes fuhr mit dem Fahrrad überallhin.
Sie hatte einen alten Raleigh Drahtesel mit Vollgummireifen, einem Sattel von der Größe eines Suppenkessels und einem Lenker, der ein Highland-Rind beschämt haben würde. Sie strampelte mit diesem Apparat hügelauf- und hügelabwärts mit einer Überzeugung, mit der Hermann der Deutsche es nicht aufnehmen konnte, und sie war mehr als einmal dabei entdeckt worden, wie sie den langen, holperigen Hang nach Dervaig hinunterschoss, beide Hände vom Lenker genommen, um sich die Nase zu pudern oder Lippenstift nachzulegen oder sich einen Spritzer Desinfektionsmittel oder Lavendelwasser zu verabreichen, abhängig, wie angenommen wurde, vom Anlass ihres nächsten Besuches.
Glücklicher-, aber nicht zufälligerweise, begegnete Robert Quigley ihr nicht auf einer Fahrt hügelabwärts, sondern nahe der Kuppe des Hügels, der Leathan mit Dervaig verband.
Agnes war tief nach vorn gebeugt, trat heftig in die Pedale, hatte den breitkrempigen Hut über ihre Nase nach unten gezogen und die Stirn konzentriert gerunzelt. In der Packtasche hinter ihrem Sattel waren ihre schwarze Tasche und die Sterilisationsbecken unter einer Öltuchhülle festgebunden und ihr Mantel hing wie ein Puffer über dem Lenker.
»Ho!«, sagte Quig. »Du hast es heute Morgen aber eilig, Agnes.«
Sie bremste das Vorderrad des Raleigh und riss, als erwache sie aus einer Trance, den Kopf hoch und brachte das Fahrrad zum Stehen.
»Zufällig bin ich überhaupt nicht in Eile, Robert. Warum sitzt du hier auf einem Felsen und siehst aus, als habe dir jemand deinen Kuchen gestohlen?«
»Ich warte auf dich.«
»Tatsächlich?«, sagte Agnes.
Sie atmete nicht einmal schwer, wie er bemerkte. Sie hob ihren Rock und schwang ein kräftiges Bein in einem gerippten grünen Strumpf über die Fahrradstange und glitt flink zu Boden.
Quig stand auf. »Da ist ein Mädchen, das bald deine Aufmerksamkeit brauchen wird.«
»Welches Mädchen?«, fragte Agnes. »Und weshalb kommt der Ehemann der Lady von Fetternish den ganzen Weg hierher, nur um mir von ihr zu erzählen?«
»Sie ist ein Neuankömmling. Ihr Name ist Fay Ludlow. Sie wohnt bei Innis Tarrant auf Pennymain«, sagte Quig. »Sie ist im siebten Monat.«
»Wie weit im siebten Monat?«
»Das kann ich dir nicht sagen«, sagte Quig. »Ich bin nicht einmal sicher, ob sie dir das selbst erzählen kann.«
»Hat sie Schmerzen?«
»Nein, sie sagte, sie hätte noch keine.«
»Kümmerst du dich um sie, weil du ihr Arbeitgeber bist?«
»Ach, nun hör aber auf damit, Agnes. Tu nicht so, als hätte Muriel dir nicht erzählt, was auf Pennypol passiert ist.«
Agnes grinste. Ihre Wangen waren mehr wie Äpfel als jeder Apfel, den er jemals gesehen hatte. »Sprechen wir über das Gärtnermädchen?«
»Genau.«
»Ich dachte, sie sei eine Patientin von Dr. Kirkhope.«
»Sie ist die Patientin von niemandem«, sagte Quig. »Aber sie wird in naher Zukunft deine guten Dienste brauchen, und ich dachte, es wäre das Beste, wenn du ihr vorher vorgestellt werden würdest.«
»Ist das wirklich so?«, sagte Agnes.
»Sie ist sehr schwer oder wirkt so zumindest auf mich. Ich habe das Gefühl, dass sie sich vielleicht im Datum der Empfängnis geirrt haben könnte und das Baby schneller kommt, als wir denken.«
»Aber wir reden doch wohl nicht über dein Kind?«
»Natürlich ist es nicht mein Kind.«
»Warum mischst du dich dann ein, Robert?«, sagte Agnes. »Warum holt Innis mich nicht? Wenn das, was ich von Muriel gehört habe – und wie du weißt, bin ich niemand, der Klatsch wiederholt – wenn das, was ich gehört habe, wahr ist, dann hast du dieses Mädchen bereits seit Wochen unter deinen Fittichen.«
»Sie ist die Frau von Gavin Tarrant.«
»Das habe ich auch gehört, ja«, sagte Agnes, »neben vielen anderen verrückten Geschichten, die aus dem Schulhaus zu kommen schienen.«
»Gillies war falsch informiert.«
Agnes tat etwas mit ihren Beinen, eine Art Ballettschritt, wie Quig dachte, obwohl er noch nie in seinem Leben eine Ballettaufführung gesehen hatte: einen großen, weiten Schritt, der sie auf den Sattel hob, wobei sie zugleich das Fahrrad aufrichtete.
»Ich werde dort jetzt hinunterfahren, wenn du willst«, sagte Agnes. »Wird das Mädchen in Innis’ Haus oder wird es im Garten sein? Wird sie bereit sein, sich von mir untersuchen zu lassen?«
»Ich würde jetzt nicht gehen, nicht sofort«, sagte Quig.
»Ich habe Zeit. Ich muss erst um neun Uhr in der Stadt sein.«
»In der Stadt?«
»In Dervaig. Ich habe viel Zeit.«
»Nein, geh jetzt nicht«, sagte Quig. »Wenn du heute Abend jedoch Zeit hast, wäre ich dir sehr verpflichtet, wenn du vorbeischauen würdest.«
»Du scheinst um Gavin Tarrents Frau sehr besorgt zu sein.«
»Ich bin besorgt. Das ist wahr.«
»Warum?«
»Ich fühle mich für sie verantwortlich.«
»Du fühlst dich für jeden verantwortlich, Robert, das ist immer dein Problem gewesen.« Agnes nahm eine Puderdose aus ihrer Tasche, öffnete sie, betupfte ihre Nase mit einem runden rosa Läppchen, bewunderte sich in dem kleinen Spiegel im Deckel der Dose und ließ das Behältnis dann zuschnappen. »Ich werde kurz vor dem Abendessen in Pennymain vorbeischauen. Wirst du dafür sorgen, dass sie dann dort ist?«
»Das werde ich. Das werde ich«, versicherte Quig und trat hastig zurück, als die Hebamme und ihr Fahrrad vorwärts schossen und einen Augenblick später über die Hügelkuppe entschwanden.
In ihrer Unschuld hatte Innis angenommen, dass sie ihren Mann nie wiedersehen würde. Sie hatte um seine Rückkehr gebetet, jedoch nie wirklich geglaubt, dass Gott ihre egoistische Bitte erhören würde. Jetzt war Michael hier, saß auf einem Stuhl in der Küche: seinem Stuhl, dem Stuhl, den er während ihrer ganzen Ehe mit solcher Autorität belegt hatte. Den Stuhl, den sie fast zwölf Monate lang, nachdem er gegangen war, unberührt gelassen hatte und der noch immer unberührt und unbesetzt sein würde, hätte Gillies sich nicht in einer sehr kalten Herbstnacht darauf gesetzt und die erste Phase ihres Verlangens und ihres Schuldgefühls zunichte gemacht.
Nun war Michael zurück, hatte die Beine übereinandergeschlagen, und der Hut lag auf dem Tisch. Innis erkannte, dass Gott ihre Gebete beantwortet und das auf eine Art und Weise getan hatte, die ihr Vorstellungsvermögen übertraf, denn der Mann auf dem Stuhl war Michael, aber nicht ihr Michael.
Ihr Ehemann war gertenschlank und knochenhart gewesen. Der Mann, der jetzt vor ihr saß, war fett, nicht angenehm füllig wie Biddy, sondern primitiv. Er war überhaupt nicht abgebrüht, nicht maskulin und imposant. Er hatte diese Qualitäten gegen das verschlagene, großspurige Gehabe getauscht, das ihr Vater an sich gehabt hatte, bevor der Trunk ihn nach unten gezogen hatte. Sie fragte sich, ob Michael ebenfalls an die Flasche gekommen war oder ob bloße Selbstgefälligkeit ihn so aufgebläht hatte.
Sie saß auf einem Stuhl am Tisch, die Hände im Schoß gefaltet, sah ihn an und hörte die vertraute Stimme unvertraute Phrasen sagen. Die pingeligen Verzögerungen bei der Wahl seiner Worte waren symptomatisch für den Mann, der er geworden war, und nicht für den Mann, in den sie sich verliebt hatte. Durch die halb offene Tür des Schlafzimmers konnte sie die gedämpfte blaue Farbe des Kleides Unserer lieben Frau sehen und den Schimmer der Kerze, die sie eine knappe halbe Minute, bevor Fay nach ihr gerufen hatte, entzündet hatte.
In ihrer Handfläche verborgen waren die Perlen des Rosenkranzes. Sie fühlte sich sonderbar sicher und befreit, während sie Michaels Forderungen lauschte.
»… um des Kindes willen, wenn schon aus keinem anderen Grunde, musst du mit mir zurückkommen, Mädchen«, sagte er. »Was immer Gavin dir in der Vergangenheit angetan hat, bedauert er jetzt, und er wird gut zu dir sein. Er hat das Haus getüncht, innen und außen, wie er mir erzählt hat, und er hat eine Trennwand eingezogen, um ein Extrazimmer zu schaffen, einen separaten Raum für das Baby.«
»Warum ist er nicht selbst gekommen?«
»Wenn du die Wahrheit wissen willst …«
»Ich will die Wahrheit wissen«, sagte Fay.
»Wenn du die Wahrheit wissen willst, er hatte Angst, selbst zu kommen.«
»Angst? Gavin und Angst? Es fällt mir schwer, das zu glauben«, sagte Fay.
Innis mischte sich nicht ein. Fay war hart genug, um auf sich selbst zu achten, anders als Becky, die geradezu kindlich leichtgläubig in Anwesenheit ihres Vaters geworden zu sein schien. Sie huschte herum, lächelte gekünstelt, bot Tee an, gekochte Eier. Votivopfer, dachte Innis, für einen Vater, an den sie sich kaum erinnern konnte. Es war allzu deutlich, dass Becky Fay verraten hatte, indem sie an ihren Bruder in Fream geschrieben hatte.
Innis ließ die Perlen unter der Kuppe ihres Daumes rinnen.
»Ich habe ihn davon überzeugt, mich an seiner Stelle gehen zu lassen«, erzählte Michael. »Du weißt ebenso gut wie ich, wie Gavin ist, Mädchen. Er kann nicht immer die andere Warte der Dinge sehen, und er geht viel zu schnell an die Decke.«
»Ich werde nicht mit Ihnen zurückgehen«, sagte Fay bestimmt. »Ich werde nicht zurückgehen, um seine Frau zu sein.«
»Sieh dich an«, sagte Michael. »Dein dicker Bauch ist sein Werk. Was in diesem großen Bauch von dir ist, ist sein.«
»Nein, es ist mein.«
»So wird das aber kein Gericht sehen«, sagte Michael.
»Ein Gericht kostet Geld«, sagte Fay, »und Gavin hat kein Geld.«
»Ich habe Geld«, sagte Michael. »Ich werde ihm Geld leihen. Es ist nicht recht, ein Kind seinem Vater vorzuenthalten.«
Becky nickte zustimmend. »Oder einen Vater seinem Kind.«
Michael drehte sich um, kippte seinen Kopf fast nach unten, als habe er vergessen, dass seine Tochter im Zimmer war. Er warf einen Blick auf Becky, sah nichts, was ihn interessierte, und wandte sich wieder an Fay.
»Du siehst, sie pflichtet mir bei. Sie begreift, was ich meine.«
»Kein Wunder«, sagte Fay.
»Was soll das heißen?«, schnappte Becky.
»Wer hat dich dazu angestiftet, Becky?«, fragte Fay. »War es deine Schwester oder hast du ganz allein beschlossen, mich loszuwerden?«
»Lass meine Schwester da raus«, sagte Becky.
Fay sagte: »Ich habe mich von eurer Schöntuerei nicht einwickeln lassen, Becky. Ich wusste die ganze Zeit, dass du die Sache nicht ruhen lassen würdest.«
»Nicht zulassen würde, dass du alles übernimmst, meinst du.«
Michael beobachtete sie leicht lächelnd. Er hatte sein volles graues Haar mit Wasser gebürstet, und sein frisch rasiertes Kinn glänzte rosa. Er hob seine linke Hand. Der Ring, den Innis ihm als Zeichen der Treue gegeben hatte, war entfernt worden, verkauft vielleicht oder versetzt oder einer anderen Frau geschenkt.
»Aber, aber Mädchen«, sagte er. »Ich bin nicht hergekommen, um Zeit damit zu vergeuden, eurem Gezänk zuzuhören. Ich muss zum Wochenende wieder zu Hause sein und möchte alles geregelt und in Ordnung gebracht haben, bevor ich gehe.«
»Da gibt es nichts zu regeln«, sagte Fay. »Ich bleibe, wo ich bin.«
»Wenn du bleibst«, sagte Becky, »dann gehe ich.«
»Das hast du zu entscheiden«, sagte Fay. »Und Mama.«
Zu Innis sagte Michael: »Willst du mir vielleicht erzählen, du würdest eine Fremde den Platz deiner Tochter einnehmen lassen?«
»Sie ist auch deine Tochter, Michael«, sagte Innis.
»Das ist sie, ist sie. Das weiß ich«, sagte Michael ungeduldig.
»Nimm mich mit dir, Dada«, bettelte Becky. »Ich bin dies hier alles leid. Nimm mich mit dir. Ich bin Köchin, weißt du das nicht? Eine Haushälterin. Ich bin sicher, du könntest für mich eine Stellung bei deinem Arbeitgeber finden oder sogar in deinem Haus.«
»Nein, in meinem Zuhause ist kein Platz«, sagte Michael. »Dein Platz ist hier, Rachel.«
»Becky, ich bin Rebecca.«
»Ja, mein Fehler.«
»Mein Gott!«, klagte Becky. »Will mich denn niemand haben?«
»Ich bin sowieso hier, um Gavins Frau zu holen, keine Köchin oder eine Spülhilfe«, sagte Michael ungeduldig.
Mein Mann hat nie gelernt, dass Warten die beste Art ist, zu bekommen, was man möchte, dachte Innis, indem man seine Absichten wie den Strahl einer Sturmlaterne bündelt. Für einen Augenblick hatte sie fast Mitleid mit ihm.
Fay sagte: »Er kann dich nicht mit sich nehmen, Becky, weil er eine andere Frau und vielleicht eine andere Familie in den Borders hat.«
Noch bevor er antwortete, wusste Innis, dass Fays Anschuldigung die Wahrheit war. Sie hatte es eigentlich die ganze Zeit gewusst, und ein Stück von ihr, eine einzelne verärgerte Zelle, verachtete ihn, weil er sein Ehegelöbnis nicht gehalten hatte. Er hatte sie zum Katholizismus gebracht, und dafür würde sie ihm immer dankbar sein. Sie war mit offenem Herzen in die Kirche eingetreten und hatte zurückgegeben, was immer die Kirche von ihr verlangt hatte. Dahinter steckte dieser mysteriöse Gott, an den sie glaubte, ein eifersüchtiger und gerechter und verzeihender Gott, ein Gott mit einem Sohn, ein Sohn mit einer Mutter, eine Dreieinigkeit, die transzendent wie allgegenwärtig in ihr war und sie formte und hielt.
Doch trotz all ihrer guten Absicht, all ihrer Frömmigkeit, konnte Innis ihm nicht vergeben. Es war nicht Michaels Fehlbarkeit oder menschliche Schwäche, die ihn in ihren Augen erbärmlich machte, sondern sein hartnäckiges Streben nach Glorifizierung.
»Ich habe keine andere Frau.« Er konnte nicht einmal richtig lügen: Sein Gesicht wurde rot, nicht blitzartig wie bei Biddy, sondern mit einer sich langsam ausbreitenden Schamröte, die von seinem Hals wie ein Ausschlag aufstieg. »Ich bin – ich bin Adas Gutsverwalter. Ich kann keine andere Frau nehmen, wenn ich bereits verheiratet bin. Ich werde es für keine Frau riskieren, ins Gefängnis zu gehen. Für was für einen Idioten hältst du mich denn?«
»Wie heißt die Frau, die – die dich beschäftigt?«, fragte Innis.
»Ada. Mrs. Reese.«
»Ist sie Witwe?«
»Sie ist älter als ich. Sie ist fast eine alte Frau«, brauste Michael auf. »Sie ist von mir abhängig, da ich die Dinge für sie regele.«
»Und zweifellos ist sie dir dafür sehr dankbar«, sagte Innis.
»Warum lässt du meinen Dada nicht in Ruhe?«, sagte Becky. »Es ist doch egal, was er getan hat. Was ist mit ihr, mit der hier und ihrem großen, dicken Bauch? Was willst du mit ihr machen, Mam?«
»Fay kann bleiben, so lange sie möchte«, hörte Innis sich sagen. »Ich werde nicht zulassen, dass du sie nur wegen bloßer Drohungen mit zurück zu Gavin nimmst.«
»Bloße Drohungen! Bei Gott, Innis, ich habe noch nicht einmal begonnen, dir zu drohen.« Er beugte sich vor. »Was wirst du tun, wenn Gavin kommt? Er wird sich nicht mit Antworten abspeisen lassen, Innis. Ich bin der Einzige, auf den er hört. Wenn ich ihm sage, er soll dies Mädchen hier in ihrem eigenen Saft schmoren lassen, egal ob Baby oder nicht, wird er das tun. Aber dafür erwarte ich eine Gegenleistung.«
Innis sagte: »Ich werde in eine Scheidung nicht einwilligen.«
»Guter Gott, Frau, es ist sechzehn Jahre her, seit ich zum letzten Mal in dein Bett gestiegen bin. Woran klammerst du dich? Du weißt, dass ich nicht zurückkomme.« Der Stuhl knarrte unter seinem Gewicht. Er ballte seine Fäuste auf den Schenkeln. Seine Stimme war streng und ernst, als hielte er eine Moralpredigt. »Willst du mir erzählen, du und Gillies Brown wärt nicht intim gewesen?«
»Ich bin noch immer deine Frau, Michael. Ich werde immer deine Frau sein.«
»Jeder weiß von dir und Brown. Beantworte meine Frage.«
»Gillies ist für mich nicht mehr als ein Freund.«
»Ist dir nicht klar, dass eine Scheidungsklage, bei der er des Ehebruchs bezichtigt wird, ihn ruinieren würde? Egal wie das Ergebnis wäre, seine Karriere wäre beendet, sobald wir vor Gericht gehen.«
»Warum redest du ständig vom Gericht?«, fragte Innis. »Du weißt, dass du mich nicht vor Gericht bringen kannst, und das wirst du auch nicht. Du hast nicht mehr mit Anwälten zu tun gehabt als ich, Michael. Was würdest du tun, wenn all die anderen Dinge herauskämen, all deine Heimlichkeiten?«
»Wenn du Ada meinst …«
Innis schüttelte den Kopf. »Du hast dich nicht so sehr geändert, wie ich geglaubt hatte. Du bist noch immer auf Vorteil und Aufstieg aus, Michael. Wirst du das von dieser armen Frau bekommen, da du es von mir nicht haben kannst?«
»Ada ist keine arme Frau.«
»Ich möchte darauf wetten, dass sie das nicht ist«, sagte Fay.
Wie ein Kampfhahn anschwellend, drehte er sich zu ihr. »Halt deinen Mund, Mädchen. Was weißt du schon von unseresgleichen? Du konntest von Glück reden, einen Mann wie Gavin zu finden, ja, und wenn er dir dann und wann mal einen Schlag gegeben hat, dann hattest du das auch verdient. Du bist nichts als ein Bastard aus dem Arbeitshaus. Niemand wollte dich damals haben und niemand hätte dich je haben wollen, wenn Gavin dich nicht zu sich genommen hätte. Ja, und sieh, wohin ihn das gebracht hat.«
»Dada«, platzte Becky heraus, »sprich nicht so zu ihr.«
Er funkelte sie an. »Was ist los mit dir? Du hast geschrieben und Gavin erzählt, wo er sie finden kann. Du hast ihn gebeten zu kommen und sie wegzuschaffen.«
»Ich will sie nicht hier haben, das ist wahr«, gab Becky zu. »Aber du musst sie nicht demütigen.«
»Was ist das bloß für ein Rattennest hier?!« Michael stemmte sich wütend von dem Stuhl hoch. »Ich bin gerade eine Viertelstunde zu Hause und da haben sich drei Frauen gegen mich verschworen, als hätte ich etwas Schlechtes getan.« Er wandte sich an Innis, stieß den Zeigefinger in die Luft. »Das ist alles dein Werk, Innis, du und deine verdammte Nächstenliebe, deine verdammte Religion. Du hast meine eigene Tochter gegen mich aufgehetzt. Willst du mir damit heimzahlen, dass ich gegangen bin und dich verlassen habe? Bei Gott, ich werde dich zu einer Scheidung zwingen, und wenn ich dich nicht dazu bringen kann, dann kenne ich jemand, der das tun wird.«
»Wenn du Gillies meinst …«
»Ich meine Gavin.« Er zupfte an seiner Weste, richtete seine Rockaufschläge und nahm seinen Hut vom Tisch. Er setzte ihn auf, nicht beiläufig, sondern sorgfältig. Den Hut zu tragen, schien ihn zu beruhigen und seinen Ärger zu besänftigen. »Ich habe mein halbes Leben an dir vergeudet, Innis Campbell, aber ich werde nicht die andere Hälfte deinetwegen vergeuden. Ja, es ist wahr: Ich will Ada Reese heiraten. Und ich will, dass sie«, er richtete einen Zeigefinger auf Fay, »mit mir zurückkommt, damit Gavin eine richtige Frau und ein richtiges Zuhause hat. Einige von uns wissen noch, wie man sich um seine Kinder kümmert, weißt du. Und du, Mädchen«, er krümmte den Zeigefinger und schwenkte drohend seine Faust, »ich will, dass du packst und am Freitagmorgen bereit bist, mit mir aufzubrechen.«
»Nein«, sagte Fay.
»Sie lebt jetzt hier«, sagte Innis bestimmt. »Hier wird sie bleiben.«
»Dann werde ich dich vor einem Gericht sehen, Innis.«
Logischerweise wusste sie, dass er es nicht wagen würde, sie vor den Kadi zu ziehen, dass er keine Scheidungsklage einreichen würde. Allein die Kosten würden ihn ruinieren. Außerdem gab es zu viel, dessen er sich schämen musste, zu viel, das er verbergen musste. Es würde jedoch nicht ihr Ruf sein oder der Michaels, der vorwiegend auf dem Spiel stand, wenn es zum Prozess käme, sondern Gillies’. Beim ersten Anzeichen eines öffentlichen Skandals würde das Schulamt Gillies seines Postens entheben. Daran bestand überhaupt kein Zweifel.
»Freitagmorgen, Mädchen«, sagte Michael, während er zur Tür ging. »Sei um halb acht mit allem, was du hast, am Pier.«
»Dada, was ist mit mir?«, sagte Becky.
»Was soll mit dir sein?«
»Willst du mich nicht auch mitnehmen?«
»Nein, Rachel, das will ich nicht«, sagte Michael, ging seine breiten Hüften drehend hinaus in den Garten und wälzte sich durch das schmale Tor, ohne sich umzudrehen.
»Wohin gehen Sie, Patrick?«, sagte Biddy. »Verlassen Sie uns, ohne Lebewohl zu sagen?«
»Ich fahre nur für ein, zwei Tage aufs Festland«, antwortete Patrick. »Ich muss mich um einige Dinge kümmern und unbedingt meine Mutter besuchen, die sich nicht sehr gut gefühlt hat.«
Biddy forschte nicht weiter nach dem Gesundheitszustand seiner Mutter. Michael Tarrant in ihrem Haus zu haben, hatte sie erschüttert, und sie war zu den Stallungen hinausgeeilt, kurz nachdem Quig und Michael nach Pennymain aufgebrochen waren.
Es war noch früh, nicht einmal sieben, und sie hatte gehofft, Patrick im Bett oder beim Frühstück vorzufinden.
Sie hatte nicht erwartet, dass er dabei sein würde, den Hengst im Hof aufzusatteln.
»Werden Sie sich mit Ihrem Klienten treffen?«, sagte sie.
»Ja.«
Er beschäftigte sich mit Riemen und Schnallen, hielt das Pferd mit einer behandschuhten Hand über den Nüstern still.
Sie sagte: »Werden Sie mir ein festes Angebot machen, wenn Sie zurückkommen?«
»Ich kann Ihnen erst ein Angebot machen, wenn ich weiß, was Sie verkaufen, Biddy.«
»Achthundert Acres.«
»Ah, Sie verkaufen also achthundert Acres?«
Er zog den Sattelgurt fest, schwang seine Reisetasche hinauf und schnallte sie an die Satteltasche. Die Reisetasche war durch vieles Reisen abgestoßen, durch all das Kommen und Gehen, das einen vornehmen Mann von Welt von einem Mann vom Lande unterschied.
In einem Anflug von Verrücktheit sehnte sie sich danach, von ihm hochgerissen und fort zum Festland getragen zu werden, nach Perth oder Edinburgh, zu seinem Haus in Dunning, danach, Mull nie wiederzusehen. Aber unmittelbar auf dieses Verlangen folgte die Furcht, von Fetternish getrennt zu sein, in ein Meer von Fremden gesaugt zu werden, die nichts von ihr wussten und nicht die Spur von Achtung vor ihr hatten.
»Das tue ich. Ja, wahrscheinlich tue ich das«, sagte Biddy.
»Wahrscheinlich?«
»Bevor ich mich so oder so entscheide, müssen Sie mir sagen, wer Fetternish haben will. Hat Michael Tarrant da seine Hände im Spiel?«
»Tarrant, der Mann Ihrer Schwester? Was hat Sie denn auf die Idee gebracht?«
»Er tauchte gestern Abend auf. Ist Michael Tarrant einer Ihrer Klienten? Ist er ein Partner bei Louden, Lafferty and Spruell?«
Er legte einen Arm um ihre Schulter, aber nicht amourös. Sie lehnte sich an ihn, ergab sich ihm aber nicht. Er zog sie enger an sich oder versuchte das zumindest. Sie fühlte sich verärgert, verärgert und erregt, eine Emotion widersetzte sich der anderen.
Sie sagte: »Ich versuche nur, dies alles zu verstehen, Patrick.«
»Darf ich das so verstehen, dass Ihr Schwager kein Angebot für das Haus gemacht hat?«
»Nein, ich bezweifle, dass er so viel Geld zur Verfügung hat.« Sie spürte Patrick mehr seufzen, als dass sie das hörte. »Ich muss jedoch sicher sein, dass Michael Tarrant nicht daran beteiligt ist und nicht davon profitieren wird. Ich werde achthundert Acres von An Fhearann Cáirdeil verkaufen – ja, verkaufen – Patrick, aber erst, wenn ich Ihrem Klienten von Angesicht zu Angesicht gegenübergetreten bin.«
Patrick blickte auf seine Füße. Er ritt in Schuhen aus, wie sie bemerkte, nicht in Stiefeln. Er hatte seine Hosenbeine mit Segeltuchgamaschen an seinen Knöcheln befestigt, wie Hermann auf seinem Fahrrad. Einander widerstreitende Emotionen erfüllten sie, kleine Wellen der Belustigung schäumten unter Zweifeln und verhängnisvoller Ungewissheit und milderten ihr Begehren wie Sand den Ansturm der Wellen absorbiert.
Schließlich sagte er: »Ich gebe Ihnen mein Wort, Biddy. Ich habe von Michael Tarrant kaum gehört. Mein Auftraggeber ist einfach ein Geschäftsmann.«
»Geschäftsmann?«
»Ein Mann.«
»Schön, sagen Sie ihm, dass ich einen Teil des Landes von An Fhearann Cáirdeil verkaufen werde …«
»Gut.«
»… erst, wenn ich ihm von Angesicht zu Angesicht begegnet bin.«
»Biddy!«
»Dies sind meine Bedingungen, Patrick.«
»Ich bin nicht sicher, dass mein Klient mit ihnen einverstanden sein wird.«
»Dann wird sich Ihr Klient woanders nach Land umsehen müssen.«
»Ich dachte, wir kämen recht gut miteinander aus«, meinte Patrick. »Es ist, nehme ich an, meine Schuld, dass ich erlaubte, meinen Kopf von meinem Herzen beherrschen zu lassen.« Er blickte auf. »Wer ist dieser Michael Tarrant eigentlich?«
»Offensichtlich niemand«, antwortete Biddy.
Wie konnte sie ihm erzählen, dass Michael Tarrants Erscheinen ihren Traum von der Wiederentdeckung wahrer Liebe in den Trümmern der Vergangenheit zerstört hatte? Michael war ihr Geheimnis gewesen, eines der undefinierbaren, sentimentalen Geheimnisse, das sie nicht preisgeben konnte.
»Werden Sie Ihrem Klienten meinen Vorschlag übermitteln?«, fragte sie.
»Es ist kein Vorschlag, Biddy. Es ist ein Ultimatum.«
»Nennen Sie’s, wie Sie’s wollen«, sagte Biddy. »Werden Sie’s tun?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Nein«, sagte Biddy.
»Also gut«, sagte Patrick. »Ich werde es tun. Aber jetzt«, er fischte eine Sprungdeckeluhr aus seiner Seitentasche und schaute darauf, »muss ich Sie wirklich verlassen, Biddy, sonst werde ich das Boot verpassen. Denken Sie bitte nicht schlecht von mir. Sie wussten von Anfang an, dass ich eine Arbeit zu erledigen hatte und es ist nicht ganz meine Schuld, dass Sie getäuscht worden sind.«
»Getäuscht? Bin ich getäuscht worden?«
»Ich hätte nicht …«
»Was? Sagen Sie es!«
Er schüttelte den Kopf, nahm sie dann zu ihrem Erstaunen in die Arme und küsste sie. Die spröde Schale ihres gesunden Menschenverstandes zerbrach und sie rieb sich an ihm, presste ihre Brüste und Schenkel gegen seinen Körper. Doch in dem Augenblick, als er sie losließ und sich in den Sattel schwang, schwand die Hitze aus ihr und sie beobachtete mit einem sonderbaren Gefühl der Erleichterung, wie er vom Hof der Stallungen ritt, gerade so, als täte sie, wenn sie alles recht betrachtete, endlich das Richtige.
Janetta hörte die Hufe auf dem Gras des Hofes. Sie eilte aus dem Schulhaus nach unten und sah, dass Patrick an der Tür abstieg.
Kaum, dass sie ihn sah, wusste sie, dass er fortgehen würde, dass ihre Halsstarrigkeit ihn schließlich abgeschreckt hatte.
Ihr kam nicht der Gedanke, dass er vielleicht vor Biddy fliehen oder dass Heuchelei hinter seinem Erscheinen an ihrer Tür zwanzig Minuten vor acht an einem schönen Julimorgen stecken könnte.
Sie lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte die Arme.
»Sind Sie gekommen, um sich zu entschuldigen?«, sagte sie.
»Entschuldigen?«
»Weil Sie mich ignoriert haben.«
»Also, wirklich, Netta! Wie können Sie so etwas sagen? Ich bin beschäftigt gewesen, sehr beschäftigt, und jetzt bin ich für drei oder vier Tage daheim. Meiner Mutter geht es nicht gut.«
»Es ist hoffentlich nichts Ernstes?«
»Sie ist gestürzt und hat sich das Rückgrat geprellt. Sie ist ans Bett gefesselt und sehr gereizt, wie mein Vater mir erzählt. Ich bin verpflichtet, bei ihr zu sein und mich wie ein pflichtbewusster Sohn zu verhalten. Nein, das ist unfair. Ich möchte persönlich sehen, wie es ihr geht und wie mein Vater damit fertig wird. Ich bin sicher, das verstehen Sie.«
»Versteht Biddy das?«
»Biddy?« Er runzelte befremdet die Stirn. »Was hat Biddy damit zu tun? Was ist denn los mit Ihnen, Janetta?«
»Ich bin eifersüchtig, denke ich.«
»Eifersüchtig auf Biddy? Dazu haben Sie keinen Grund.«
»Ich weiß, dass Sie – dass Sie mit ihr zusammen gewesen sind.«
»Natürlich bin ich mit ihr zusammen gewesen. Ich versuche, mit ihr Geschäfte zu machen.«
»Die gleiche Art von ›Geschäft‹, die Sie mit mir zu machen versuchen?«
Die Fenster des Schulhauses standen offen. Beim allerbesten Willen würde ihr Vater nicht umhin können, ihrem Geständnis zuzuhören. Aber es war ihr jetzt egal, was ihr Vater von ihr dachte, was irgendwer von ihr dachte. Wenn sie Patrick für sich haben wollte, dann würde sie sich einfach mehr kompromittieren müssen als die feine Dame von Fetternish und weniger pervers sein als die Dame von The Ards.
»Ich hatte das Gefühl, dass ich kommen müsste«, sagte er, »es Ihnen erklären müsste.«
»Das denke ich ebenfalls«, sagte Janetta. »Es ist das Mindeste, was Sie tun konnten.«
Sie lehnte weiter am Türrahmen, die Beine unter ihrem Rock übereinander geschlagen, die Arme über ihrem flachen Busen verschränkt. Sie hatte nicht einmal ihr Haar hochgesteckt und sah, wie sie dachte, wie eine Schlampe aus. Vielleicht fühlte Patrick sich von Schlampen angezogen. Vielleicht zog er Schlampen sogar Flittchen wie Biddy Baverstock Quigley vor.
Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, sagte er: »O, ich sehe, Sie denken, dass weil Biddy Quigley und ich … Nein, nein, Janetta, so ist es keineswegs.«
»Sie wird Sie verschlingen wie einen Bückling, wissen Sie.«
»Tja, das mag sie ja versuchen«, sagte Patrick, »aber wenn sie das tut, wird sie feststellen, dass ich ein größerer Bissen bin als jeder andere Fisch, den sie bisher gehabt hat. Was ist mit Ihnen, Miss Brown, sind die Männer von Perthshire nicht nach Ihrem Geschmack?«
»Das sind sie gewiss.« Sie fühlte sich fast von ihrer eigenen Ernüchterung hypnotisiert. Sie war krank vor lauter Lügen und Langeweile, hatte es satt, geachtet statt geliebt zu werden. »Speziell ein Mann.«
»Was möchten Sie?«, fragte Patrick.
»Bitte?«
»Vom Festland, aus Perth. Ein Geschenk. Ich werde Ihnen ein Geschenk mitbringen. Was möchten Sie, Schulmeisterin? Etwas, das Sie mögen.«
»Ein Ebenholzlineal«, sagte Janetta ohne Zögern.
Er lachte. »Das ist aber ein sonderbarer Wunsch.«
»Ich habe schon immer ein echtes Ebenholzlineal haben wollen.«
»Mit einer Messingkante?«
»Das Beste, das man kaufen kann, Mr. Rattenbury.«
»Also gut«, sagte Patrick. »Mehr brauche ich nicht zu wissen. Ich werde am Dienstag wieder zurück sein.«
»Egal, wann Sie zurückkommen«, Janetta schenkte ihm ein Lächeln, »ich werde hier sein.« Und dann, bevor er versuchen konnte, sie zu küssen, machte sie auf dem Absatz kehrt, ging wieder ins Haus und sah aus dem oberen Fenster zu, wie er über den Weg davonritt.
»Du wirfst dich ihm an den Hals, Netta«, sagte ihr Vater.
»O ja«, sagte Janetta. »O ja, das tue ich ganz sicher.«
»Scheidung«, sagte Gillies völlig ruhig, »ist eine leere Drohung und nicht einmal eine entfernte Möglichkeit. Auf welcher Grundlage sollte Michael auf Scheidung klagen, Innis? Auf Verlassen? Er hat dich verlassen, wie du weißt, oder? Er hat dich doch niemals aufgefordert, du solltest zu ihm kommen, nicht wahr? Ja, die Ehe ist vorbei und eine gerichtliche Trennung, richterlich anerkannt, würde eine befriedigende Lösung sein, was das Gesetz betrifft. Aber ein solches Urteil würde einem Mann nicht erlauben, wieder zu heiraten, und nach allem, was du mir erzählst, ist das der einzige Grund dafür, dass er nach all diesen Jahren eine Scheidung möchte.«
»Er würde auf der Grundlage meines Ehebruchs klagen«, sagte Innis.
»Ah, dann haben wir es mit komplexeren Problemen zu tun«, fuhr Gillies unbeeindruckt fort. »Ich nehme an, dass er mit dieser Frau, Ada Reese, nicht in einem Stand der Keuschheit lebt, eine Tatsache, die zu beweisen nicht schwerfiele. Dann hätten wir also eine Klage auf der Grundlage beidseitigen Ehebruchs, was nach schottischem Gesetz noch nie dagewesen ist. Was bedeutet, dass jede Klage nach Ermessen des Gerichts mit allem Für und Wider erwogen und das Urteil zugunsten der weniger schuldigen Partei gefällt wird.«
»Hast du dich so intensiv mit dem Gesetz befasst?«
»Natürlich habe ich das«, sagte Gillies. »Glaubst du, ich hätte zuvor noch nie daran gedacht, dich zu heiraten, Innis? Es hat Zeiten gegeben, in denen ich an wenig anderes dachte. Ich habe die Gesetzesbücher studiert, um ein Schlupfloch zu finden, das uns erlauben würde, Mann und Frau zu sein. Dem Gesetz nach gibt es überhaupt keinen Hinderungsgrund, da das Eheschließungsgesetz eindeutig und kurz und bündig ist, was die Gültigkeit der Ehe und die Verstöße dagegen anbelangt.«
»Ich kann keine Scheidung einreichen«, sagte Innis. »Es wäre ein Verstoß gegen das Heilige Sakrament der Ehe und würde mich in die Situation ständigen Ehebruchs versetzen, selbst wenn ich das nicht billigend in Kauf nähme.«
»Ja, ja.«
Gillies ist erschreckend ruhig, dachte sie, erschreckend pedantisch.
Er war nicht sehr überrascht gewesen, als er erfuhr, dass Michael nach Mull zurückgekehrt war. Er hatte keine einzige Frage wegen Fay gestellt. Mit seinem gewohnten Scharfsinn war er sofort auf den Kern ihrer Besorgnis gekommen.
»Ja, ja«, fuhr er fort. »Wenn Michael mit Becky korrespondiert hat, auch nur indirekt, dann muss er wissen, dass du auf deine Religion nicht verzichten wirst, nur um seinen Wunsch nach Trennung zu befriedigen. Wo ist er jetzt? Ist er noch immer auf Fetternish bei Biddy?«
»Nein, zu Becky großer Enttäuschung ist er nach Tobermory zurückgekehrt«, sagte Innis. »Er hat Fay bis Freitagmorgen Zeit gegeben, zu entscheiden, was sie tun will.«
»Will Fay denn überhaupt zu ihrem Mann zurückkehren?«
»Ich will sie nicht gehen lassen.«
»Was hat das mit dir zu tun, Innis?«
»Alles.« Sie machte eine Pause und kapitulierte dann. »Nichts.«
»Wie fandest du ihn, Michael, meine ich?«
»Er ist fett geworden.«
»Ist das deine einzige Beobachtung?«, sagte Gillies.
»Er hat mich nicht einmal an sich erinnert.«
»Fürchtest du dich vor ihm?«
»Nein, ich fürchte mich nur vor dem Schaden, den er bei dir anrichten kann.«
»Unzweifelhaft ist es genau das, was Michael beabsichtigt«, sagte Gillies. »Denkst du wirklich, er sei hergekommen, um Gavins Ehe zu retten? Natürlich nicht. Er nutzte eine Gelegenheit, um zu bekommen, was er will, nämlich ein legales Recht, wieder zu heiraten. Fay wäre dumm, wenn sie mit ihm gehen würde.«
»Ich bin erleichtert, dass du das sagst.«
»Es machte auch keinen Sinn«, sagte Gillies. »Michael hat seinen Vorschlag gemacht. Ich nehme an, er wusste die ganze Zeit, dass das zu nichts führen würde. Vielleicht hat er dieser Frau, mit der er zusammenlebt, überstürzte Versprechungen gemacht. Wer kann schon sagen, was an Hinterhältigem in seinem Kopf vorgeht? Aber das Resultat ist klar: Er ist in beiden Fällen gescheitert. Es ist ihm nicht gelungen, Gavins Frau für Gavin zurückzugewinnen, und es ist ihm nicht gelungen, dich einzuschüchtern und dich zu einer gütlichen Scheidung zu bewegen.«
»Denkst du nicht, Liebster, dass ich dich nicht schon längst geheiratet hätte, wäre ich in der Lage gewesen, mich von Michael zu trennen?«
»Bist du nicht ein bisschen anmaßend in der Annahme, dass ich dich heiraten wollte, wenn du eine freie Frau wärst?«
»Ich bin nicht in der Stimmung für deine Scherze.«
»Nein, und es ist ja ein Scherz«, sagte Gillies. »Gott, wie viel leichter wäre alles für uns gewesen, wenn du nicht …« Er zuckte die Schultern. »Ich beklage mich nicht. Lieber habe ich deine Freundschaft, als mit jemand anders verheiratet zu sein.«
»Ich nehme deine Freundschaft nicht als selbstverständlich hin, Gillies.«
»Tätest du das, wärest du nicht hier, um mich zu warnen.«
»Wenn Michael eine Scheidungsklage einreicht und deinen Namen als Mitverantwortlichen nennt, wird das Schulamt dich doch entlassen, oder nicht?«
»Das wird man, gleich, ob schuldig oder nicht«, sagte Gillies. »Oder vielleicht würde man, nur um das Gesicht zu wahren, meine Amtsniederlegung fordern, die man natürlich bekommen würde.«
»Würdest du nicht dagegen ankämpfen?«
»Es gäbe nichts zu kämpfen«, sagte Gillies. »Jedoch wird es dazu nicht kommen. Michael hat seinen Versuch gemacht und ist erfolglos geblieben. Das Mädchen – Fay – wird bei dir auf Pennymain bleiben und ihr Baby in Frieden haben. Michael wird zu seiner Border-Frau zurückkehren und sich irgendeine Geschichte ausdenken, um sie zu beschwichtigen, und das wird dann das Ende sein.«
»Und Gavin?«
»Ach, ja«, sagte Gillies. »Gavin. Es wäre falsch, Gavin zu vergessen.«
»Ja, das denke ich auch«, sagte Innis.
Quig war überrascht und recht beunruhigt, als Agnes MacNiven einen großen roten Gummischlauch entrollte und sich ihrer Patientin näherte.
Er war an angewandte Wissenschaft in Verbindung mit Schafen gewöhnt, hatte aber etwas Diskreteres im Umgang mit einem Menschen erwartet.
Agnes hatte ihren Mantel abgelegt und ihre Ärmel hochgekrempelt. Ihre Arme waren nicht weniger muskulös als ihre Waden und sie hatte sie mit einem wässrigen Öl eingerieben, das beträchtlich weniger gut duftete als Parfüm. Trotz des langen Tages auf der Straße war sie so schroff wie immer, und als sie vom Bett herumwirbelte, den Gummischlauch wie eine Python um ihren Unterarm gewickelt, wurde Quig ganz klein.
»Wo ist Innis? Ich dachte, Innis würde hier sein?«, sagte Agnes.
»Sie musste weggehen«, sagte Fay, unbeeindruckt von der Aussicht, untersucht zu werden. »Becky wird bald daheim sein, falls Sie Hilfe brauchen.«
»Ich will dich nur untersuchen, junge Frau. Ich werde das Kind nicht auf der Stelle holen. Deswegen brauche ich keine Hilfe«, erklärte Agnes MacNiven. »Und ebenso wenig brauche ich dich, Robert, in der Tür stehend und gaffend.«
»Ich habe nichts dagegen, wenn Quig bleibt.«
»Nein, aber ich«, sagte Agnes.
»Ich werde draußen in der Küche sein, falls du mich brauchst«, sagte Quig.
»Danke«, sagte Agnes, »das werde ich mir merken.« Und dann machte sie ihm mit der Rückseite ihres muskulösen Ellenbogens die Schlafzimmertür vor der Nase zu.