5

Werben um Mitternacht

Der Ort, den Austin Baverstock auf all den unwirtlichen, welligen, weitläufigen Flächen seines Anwesens am liebsten mochte, war ein handflächengroßes Stück Grasland, das oberhalb der schwarzen Felsen von Fetternish Point lag. Vor wahrscheinlich nicht allzu langer Zeit hatte es hier noch Ackerbau gegeben, und die Ruinen eines kleinen Bauernhofes, hinter denen eine Gruppe von Bäumen stand, boten ein wenig Schutz vor dem Regen, der von der See hereinpeitschte.

Er kam in seinen nun nicht mehr neuen Tweed gekleidet hierher, um die Hunde zu trainieren und ihnen Manieren beizubringen. Die Hunde waren jedoch nur ein Vorwand, um aus dem Haus zu kommen. Er konnte es nicht ausstehen, stundenlang mit Walter und Hector Thrale im Büro eingesperrt zu sein oder trübselig die Landschaft durch die großen Fenster des Speisezimmers zu betrachten. Also ging er mit Odin und Thor und einer Tasche voller Biscuits und den langen Lederleinen, die er in Tobermory erstanden hatte, hinaus und tat sein Bestes, um die Hunde dazu zu bringen, ihm zu gehorchen, nicht weil er ein Tyrann war, sondern ganz einfach, weil die Hunde jung waren und etwas Disziplin brauchten, damit sie zu ertragen waren.

Anfangs hatte er die Hunde sogar noch weniger als Mull gemocht. Er hatte keine Affinität zu Hunden und noch weniger zu diesem einsamen, an der Küste gelegenen Außenposten Fetternish. Eigenartigerweise jedoch schienen die Hunde in ihn vernarrt zu sein, selbst wenn er sie nicht mit Biscuits bestach. Sie sprangen an ihm hoch, legten ihre großen Pfoten auf seine Knie und schoben sich gegenseitig weg, um das Privileg zu haben, sein Gesicht zu lecken, und er gewährte ihnen sogar zu Walters großer Bestürzung allabendlich Zutritt zu der großen Halle oder dem Gesellschaftszimmer, damit sie sich zu seinen Füßen hinlegen konnten, während er in seinem Sessel vor dem Kamin döste.

Aus einer alten Karte, die er im Büro des Gutes fand, erfuhr Austin, dass der zerfallene Bauernhof An Fhearann Cáirdeil hieß, was, wie Innis Campbell ihm gesagt hatte »Der Hof der Freundschaft« bedeutete. Zunächst hatte er Biddy um eine Übersetzung gebeten, aber Biddy war abweisend gewesen und hatte ihm erklärt, dass es für das Gälische nichts Vergleichbares auf Englisch gebe. Als hätte er kein Recht, das zu erforschen, was hier gewesen war, bevor er kam, als ob die Geschichte von Mull so wie das Land selbst etwas wäre, das die Insulaner für sich selbst zu behalten vorzogen. Er war von dem Augenblick an, als er darauf gestoßen war, gern nach An Fhearann Cáirdeil gegangen, aber nachdem Innis ihm erzählt hatte, was der Name bedeutete, ging er noch lieber dorthin.

Die Überreste eines kleinen Gerstenfeldes lockten rauschende Wolken kleiner Vögel an, und wenn er ganz still saß, konnte er beobachten, wie sie an den Ähren pickten, bis Thor und Odin sie, wenngleich nicht bösartig, wieder verscheuchten. Er schaute den Bussarden zu, die hoch über der Baumgruppe kreisten, und den Turmfalken, die über dem Rand der Klippe schwebten, und einmal, nur ein einziges Mal, entdeckte er fünf Rehe, die auf dem Gras ästen, das dem Gesetz nach, wie er annahm, ihm gehörte. Alles, was er an diesem Nachmittag tun konnte war, »die Jungen« zu halten, da die Hunde die Rehe witterten, bevor die Rehe sie entdeckten, und sie hatten so heftig an den Leinen gezerrt, dass sie ihm fast den Arm abgerissen hätten. Zum ersten Mal hatte er diese Erregung erlebt, nicht die der Jagd, sondern die des Entdeckens, und es war mysteriöser und erregender als alles andere, was er seit langer Zeit erlebt hatte. Und als die hübschen, weiß getupften Geschöpfe davongesprungen waren, hatte er Bedauern empfunden und das Bedürfnis gehabt, sich dafür zu entschuldigen, dass er sie gestört hatte.

Bald danach hatte er damit begonnen, auch morgens hinauszugehen. Er streifte an der Küste entlang und über den Kamm oder kletterte, als er kräftiger wurde, den steilen Hohlweg hoch, der zu der Schlucht namens Na h-Vaignich führte, wo er manchmal Michael Tarrant traf oder den alten Barrett, und er blieb stehen und wünschte ihnen »die Tageszeit«. Er ging auch nach Olaf’s Hill, natürlich in der Hoffnung, Biddy zu begegnen. Nach dem Essen aber ging er alltäglich zum Freundschaftshof, denn er war fast ebenso versessen darauf, die Rehe wiederzusehen, wie darauf, dem rothaarigen Mädchen zu begegnen.

»Was«, erkundigte Walter sich eines Abends nach dem Essen, »ist in dich gefahren, Austin?«

»Hmmm?«

»Wohin gehst du jeden Tag? Was machst du so alleine?«

»Ich sagte dir doch, dass ich einfach ein Auge auf die Dinge habe.«

»Du meinst, du spionierst dem Campbell-Mädchen nach.«

»Wirklich, Walter, das ist sehr unangebracht.«

Sie hatten gerade das Abendessen beendet, nicht im Esszimmer, sondern in der Halle. In den vergangenen Wochen war es so kalt geworden, dass die riesigen Räume an der Vorderseite ungastlich geworden waren, und es war leichter für Willy und das Dienstmädchen, den Brüdern an einem Kiefernholztisch neben dem Kaminfeuer in der Halle zu servieren, als sehr umständlich den Mahagonitisch im Esszimmer zu decken. Selbst Walters formelle Gewohnheiten standen an zweiter Stelle, hinter Bequemlichkeit, und allmählich lockerten sich seine »Edinburgh«Standards. Er bestand nicht länger darauf, dass sie sich zum Abendessen »anzogen«, womit er gestärkte Hemden, Manschettenknöpfe und polierte schwarze Schuhe meinte, und Austin erschien ohne Krawatte, mit offenem Kragen und sah, so fand Walter, aus wie einer der Fischhändler, die an den Kais herumhingen.

An diesem speziellen Abend trug Austin eine weite Strickjacke, grüne Kordhose und dicke Strümpfe. Nur seine bestickten chinesischen Slipper erinnerten Walter an die Freuden der Zivilisation am Charlotte Square und stimmten ihn recht melancholisch.

»Nein, das ist nicht recht«, sagte Walter scharf. »Überhaupt nicht recht.«

Einer der Hunde, Odin, blickte von seinem Platz vor dem Feuer auf. Er wäre vermutlich zu den Füßen seines Herrn gekrochen, um ihn zu verteidigen, wenn Austin ihm nicht »Platz« befohlen hätte.

»Was ist nicht recht?«, wollte Austin wissen.

»Du verbringst mehr Zeit mit diesen glücklichen Tieren als mit mir.«

»Dann komm mit uns. Komm raus und beweg deine Beine. Ist besser, als hier drinnen herumzuschleichen.«

»Meine Beine bewegen? Meine Beine in strömendem Regen bewegen? Wenn du eine Lungenentzündung bekommst, Austin, musst du die Schuld dafür allein bei dir selbst suchen.«

»Ich werde überhaupt nichts bekommen.«

»Und ich schleiche nicht herum«, sagte Walter.

»Wer hat dir erzählt, dass ich Bridget Campbell getroffen habe? War es Thrale?« Austin zuckte die Schultern. »Nicht, dass ich daraus ein Geheimnis gemacht hätte.«

»Ich bedaure, dass wir sie überhaupt ermuntert haben.«

»Wen?«

»Zum Beispiel mit diesem verdammten, blöden Luncheon.«

»Oh, ich dachte, das sei gut angekommen.«

»Und dieser Tanz, dieser …«

»Ceilidh«, sagte Austin. »Hättest du weniger Zeit mit Tratschen und mehr Zeit mit Tanzen verbracht, hättest du das vielleicht ebenso sehr genossen wie ich.«

»Du hast es nicht genossen.«

»Das habe ich.«

»Sie hat dich mehr oder weniger den ganzen Abend ignoriert.«

»Hat sie nicht.«

»Sie hatte nur Augen für den Schafhirten.«

»Hatte sie nicht.«

Walter schwieg. Er starrte freudlos in den Kamin. Feuchte Scheite brannten mit viel Rauch, aber ohne Glanz, und der gigantische, mit Torf gefüllte Fischkorb, der neben dem Kamin stand, gab einen Erdgeruch von sich, der gemischt mit dem Geruch der Hunde bei ihm fast Übelkeit erregte. Er schob seinen Käseteller beiseite, hob ein Glas Port, leerte es wie ein geübter Säufer, nahm eine Glocke vom Sofa, machte einen oder zwei Schritte auf den Korridor zu, der in die Küche führte, und läutete heftig. Dann ließ er sich auf das Sofa fallen und trat, nicht bösartig, nach Thor, der vielleicht zu verschlafen war, um einen Baverstock vom anderen zu unterscheiden und versucht hatte, an der Spitze seines Slippers zu lecken.

»Ich sag dir, Walter, lass es nicht am Hund aus.«

»Der Hund! Der verdammte Hund!«

Willy tauchte pfeifend aus der Düsterheit auf. Seine gestreifte Weste war nicht zugeknöpft und sein Kragen unschicklich geschlossen. Auch er trug die abscheulichen Wollstrümpfe, die, so fand Walter, überaus geeignet waren, wenn man durch die Moore lief, aber völlig unpassend fürs Haus. Willy wurde von Margaret Bell begleitet, die, wie Walter zugeben musste, als Einzige von ihnen nicht verrückt geworden zu sein schien.

»Wünschen Sie, dass wir abräumen, Mr. Baverstock?«, fragte Willy.

»Ja.«

»Kaffee?«

»Ja.«

»Brandy«, sagte Willy, »oder würden Sie Whisky bevorzugen?«

»Brandy.«

»Nun, Sir, ich denke, dass für eine solche Nacht Whisky das Richtige wäre.«

»Was immer du willst.«

»Margaret«, fiel Austin von seinem Platz am Tisch ein, »sind Sie noch hier?«

»Ich räume nur ab, Sir.«

»Müssten Sie nicht schon auf dem Heimweg sein?«

»Bald, Mr. Baverstock, sehr bald«, antwortete Willy für sie.

»Wie spät ist es eigentlich?«

»Fast acht Uhr, Mr. Austin«, sagte Willy.

»Gott, noch nicht später?« Walter warf sich gegen das Polster zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und wippte gereizt mit den Hausschuhen, als ob die Dienerschaft schuld daran sei, dass die Zeit so langsam verging.

Austin schaute zu, wie die beiden die Teller und Bestecke abräumten und, jeder ein Tablett tragend, wieder über den Korridor verschwanden. Er starrte einen langen Augenblick auf seine Finger, drehte sich dann um und sagte: »Walter, warum gehst du nicht nach Hause?«

»Ich bin zu Hause.«

»Ich meine, warum gehst du nicht nach Edinburgh zurück?«

»Kann ich nicht.«

»Warum nicht? Was gibt es hier, das deine Aufmerksamkeit erfordert? Die Schafe sind geschoren, und die Wolle ist nach Sangster befördert, nicht wahr?«

»Schon längst.«

»Tarrant wird die Lämmer von der Herde absondern und dafür sorgen, dass die Widder die Mutterschafe decken – wann?«

»Nächste Woche.«

»Also – was hält dich hier?«, sagte Austin.

»Ich bin nicht geneigt, das Haus unbewohnt zu lassen.«

»Ich werde bleiben«, sagte Austin. »Ich werde das Haus hüten.«

»Du?«

»Du brauchst gar nicht so verletzend zu klingen, alter Junge. Ich bin durchaus imstande, dafür zu sorgen, dass die Wasserleitungen nicht zufrieren und dass Willy das Silber nicht stiehlt.«

»Ich kann nicht einfach weglaufen und dich hierlassen. Das wäre nicht fair.«

»Walter, ich will hierbleiben.«

»Wegen diesem Mädchen, dieser Rothaarigen?«

»Es gefällt mir hier.«

»Du bist verblendet, das ist alles.«

»Vielleicht bin ich das«, gab Austin zu. »Aber ich sehe nichts Schlimmes daran. Ich meine, alter Junge, es ist ja nicht so, als ob ich das Haus in eine Säuferhöhle verwandeln würde oder Bridget Campbell mitten in der Nacht hierher schleppen würde.«

Walter musterte seinen Bruder ernst. »Heißt das, dass du lieber hierbleiben, als mit mir nach Edinburgh zurückkehren würdest?«

»Ich denke, dass das wahrscheinlich so ist.«

»Du spielst nicht nur den Märtyrer?«

»Sicher nicht.«

»Ich will dir was sagen«, sagte Walter, »warum fahre ich nicht für ein oder zwei Wochen nach Edinburgh zurück, nur um zu sehen, dass am Charlotte Square alles in tadelloser Ordnung ist, und du kommst dann zu Weihnachten nach. Natürlich bringst du Willy und Queenie mit. Ich zweifle nicht daran, dass sie einen Ortswechsel zu schätzen wissen.«

»Und dann?«

»Im Januar oder Februar reisen wir alle gemeinsam zurück.«

»Nun, wenn dir das behagt, warum nicht?«, stimmte Austin freundlich zu. Er stand von dem Tisch auf, trat an den Kamin, bückte sich und streichelte Odins breiten, braunen, muskulösen Rücken. »Was sagst du dazu, junger Bursche?«

Odin gab als Antwort ein zufriedenes Winseln von sich und drehte sich um, damit sein Bauch gekrault wurde.

Wieder stirnrunzelnd sagte Walter: »Gefällt es dir wirklich hier?«

»Ja, ich denke schon.«

Walter beugte sich vor und streckte zögernd eine Hand nach dem Hund aus, der kurz mit den Zähnen schnappte, als wollte er damit zu verstehen geben, dass er nicht jedermann erlaube, sich Freiheiten mit seinem Bauch herauszunehmen.

Walter sagte: »Du wirst dich doch nicht zum Narren machen, wenn ich fort bin, nicht wahr, Austin?«

»Würde ich das tun, alter Junge?«

»Ich weiß nicht, was du tun wirst«, erklärte Walter. »Du hast dich so verändert.«

»Zum Besseren, hoffe ich.«

»Das bleibt abzuwarten«, sagte Walter.

Von der Landseite Pennypols aus war der Schuppen nicht zu sehen. Tatsächlich brauchte man sogar scharfe Augen, wollte man ihn von der See aus sehen, denn er war kaum mehr als eine Anhäufung verwitterter grauer Planken, die am Ende des Landungsstegs der Campbells lehnten. Egal wie der Wind blies, er ließ Unmengen von Luft und Regen herein, und an diesem Vormittag hatte der Wind nach Nordwest gedreht, und die See war rau. Neil und Donnie hatten das Boot hoch auf den Rand der Wiese gezogen, an dem zerbrochene Muscheln, Büschel von Strandnelken und Kuhfladen die Grenze zwischen Strand und Weide markierten, und Neil, dem Regen nichts auszumachen schien, konnte damit fortfahren, den Kiel abzukratzen. Donnie und sein Vater hingegen suchten an Schutz, was die Hütte zu bieten vermochte, und waren damit beschäftigt, für die letzten Wochen der Fischsaison, Leinen zu reparieren und Haken zu ersetzen.

Regen rann in Bächen über die Schräge des Dachs und wurde nach innen in die Gesichter der Männer geweht. Es gab keine Tür. Ein Großteil der Ausrüstung, die in der Hütte lagerte, war verrottet, aber gebrochene Fischkörbe, die noch mit Steinen beschwert waren, boten Vater und Sohn eine bequeme Sitzgelegenheit. Sie arbeiteten Hüfte an Hüfte, schnitten und spleißten, fädelten und knoteten mit durchgefrorenen, vom Salz geschwollenen Fingern. Dann und wann hielt Ronan inne, blies in seine Hände, nahm die Flasche aus dem Korb, der neben ihm stand, nahm einen Schluck und bot sie Donnie an, der, obwohl ihm nicht wärmer war als seinem Vater, immer den Kopf schüttelte. Donnie war schneller, aber nicht weniger gründlich als sein Vater. Er arbeitete allerdings unlustig, mit fast blickleeren Augen, als ob er durch die Langweiligkeit der Aufgabe nicht nur stumm, sondern auch blind geworden wäre.

An diesem trübseligen Oktobermorgen war es Ronan, der sich in regelmäßigen Abständen bemühte, ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Ich hörte wen flüstern, dass einer unserer Gentlemen vielleicht fortgeht, um den Winter in Edinburgh zu verbringen und sich dort um seine Geschäfte zu kümmern.«

»Das ist jetzt eine Tatsache«, sagte Donnie.

»Der andere wird der Nächste sein. Und dann, ehe du dich versiehst, werden es nicht auf ihrem Gut lebende Gutsherren sein, die wir als Nachbarn haben.«

»Das wird uns nicht schaden«, sagte Donnie.

»Aber deine Schwestern werden sie vermissen.«

»Ja, ich denke, das könnte der Fall sein«, räumte Donnie ein.

Ein längeres Schweigen, dann: »Ich frage mich, ob es nur die feinen Herren aus Fetternish sind, die daran denken, uns zu verlassen?«

Donnies Augen verloren den abwesenden Blick, den sie fast den ganzen Morgen gehabt hatten. »Was meinst du damit, Dada?«

»Oh, ich habe nur den Verdacht, dass einer von uns daran denkt, sich auf eigene Füße zu stellen.«

»Wenn du mich meinst …«

»Sie ist ein feines, kräftiges Mädchen, MacNivens Tochter.«

»Was hat Neil dir erzählt?«, sagte Donnie.

»Neil muss mir überhaupt nichts erzählen«, sagte Ronan. »Ich habe Augen im Kopf. Ich kann sehen, wie es mit dir und dem Mädchen aus Leathan steht. Du wirst bald heiraten wollen, denke ich.«

»In der Tat, und das werde ich.«

»Ich werde dafür sorgen, dass ein weiterer Raum für dich und deine Braut gebaut wird.«

»Ein weiterer Raum? Wo?«

»An der Rückseite.«

»Hier, meinst du?«

»Wo sonst?«

»Nein.« Donnie schüttelte seinen Kopf. »Für uns gibt es hier keinen Raum. Und das Boot bringt nicht genug ein, um uns zu ernähren.«

»Ich bin sicher, sie wird bereit sein, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, diese Braut von dir.«

»Muriel wird vielleicht arbeiten wollen – aber das wird nicht auf Pennypol sein.«

»Wirst du dir dann ein Cottage suchen?«

»An Cottages herrscht kein Mangel«, sagte Donnie. »Es ist bezahlte Arbeit, die schwer zu finden ist. Ich werde vielleicht auf die Dampfer gehen, wie Muriels Brüder.«

»Es gefiele mir nicht, zu sehen, dass mein Sohn sich als Lohnsklave verkauft.«

»Was würdest du denn gern sehen? Dass ich für dich arbeite?«

Ronan machte wieder eine Pause. »Was du brauchst, ist ein eigenes Boot.«

»Ja, und wie soll ich mir so etwas leisten?«

»Hast du kein Geld gespart?«

»Du weißt genau, dass ich das nicht habe.«

»Nun, Donnie, du hast nie gehungert, nicht wahr?«

»Das ist wahr.« Donnie knotete einen Haken an die dünne Leine und die Leine an das Seil, sechs oder acht kurze, geschickte Bewegungen und zum Abschluss ein letztes Ziehen mit den Zähnen. »Ich habe nie gehungert.«

»Ist das nicht genug für dich?«

»Nein, Dada, das ist nicht genug für mich.«

»Sie hat dir den Kopf verdreht, dieses Mädchen aus Leathan, sie und ihre Familie.«

Donnie seufzte. »Es hat nichts mit ihrer Familie zu tun. Ich will für Muriel und für meine Kinder das Beste. Ist das so schlimm?«

»Es ist überhaupt nicht schlimm«, sagte Ronan. »Außer dass man Geld braucht, um anfangen zu können, als Start.«

»Willst du damit sagen, dass du kein Geld hast, das du mir geben kannst?«

»Nein. Ich habe kein Geld, das ich dir geben kann. Und du wirst nichts von McIver bekommen, egal ob zu Lebzeiten oder nach seinem Tod.«

»Dann werde ich bei MacBraynes Gesellschaft nach Arbeit auf den Dampfern fragen.«

»Die Dampfer!«

»Es ist besser als nichts.«

»Es ist nicht besser als ein eigenes Boot.«

»Ich werde für ein eigenes Boot keine Schulden machen«, sagte Donnie.

»Ich würde dich nicht dazu drängen, Schulden zu machen, Sohn.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich weiß, wie Geld zu verdienen ist.« Ronan ließ das sacken, bevor er hinzufügte: »Genug Geld, um dir ein Boot zu kaufen und die ganze Ausrüstung, die du brauchst. Und um die Miete für ein Haus zu bezahlen. Und es einzurichten.«

»Was erzählst du mir da?«

»Ich erzähle dir, dass ich über deine Situation nachgedacht habe, Donnie, und ich habe eine Lösung des Problems gefunden.«

Ronan griff nach der Flasche, aber Donnie nahm sie ihm weg. Er hielt die Flasche mit beiden Händen auf seinem Schoß, sodass sein Vater sie ihm entreißen müsste, wenn er sie haben wollte. »Was ist die Lösung?«

»Du hältst die Lösung in deinen Händen.«

»Was sagst du da?«, fragte Donnie verblüfft.

»Whisky ist die Lösung.«

»Whisky? Dieses Zeug, Fergus’ Tropfen?«

»Fergus’ Tropfen werden uns bald Geld einbringen«, sagte Ronan. »Der Diener der Baverstocks hat mir eine Partnerschaft mit ihm vorgeschlagen. Ich soll Whisky ohne Wissen der Zollbeamten transportieren.«

»Schmuggeln!« Donnie schüttelte seinen Kopf. »Für Schmuggeln kannst du ins Gefängnis gesteckt werden, Dada.«

»In den letzten zwanzig Jahren ist niemand wegen Schmuggels eingesperrt worden.«

»Weil es niemand mehr macht, nicht auf Mull.«

»Außer Fergus«, sagte Ronan. »Aber jetzt, wo das Gesetz geändert worden ist, wird es eine neue Nachfrage geben. Naismith wird das Geld investieren, um die erste Fuhre herzustellen, und wir werden sie nach Buck’s Island schaffen.«

»Wer wird uns bezahlen?«

»Naismith.«

»Und wer wird das Zeug abholen?«

»Das ist etwas, worum wir uns nicht sorgen müssen.«

»Ich bin aber besorgt«, sagte Donnie, »da er der Mann sein wird, der zuerst einmal Naismith bezahlen wird.«

Ronan kicherte. »Donald, Donald, das ist alles geregelt. Bei der Verschiffung sind für dich vier Pfund drin. Vier Pfund dafür, alle zwei oder drei Wochen nach Loch Buie runterzufahren.«

»Egal was du sagst, Dada, Schmuggeln ist illegal.«

»Ich leugne nicht, dass es gegen das Gesetz ist. Aber es ist gegen das Gesetz der Engländer, ein Gesetz, vor dem kein Schotte Respekt hat.«

»Weiß Neil davon?«

»Er ist dabei.«

»Wie wird er bezahlt werden?«

»Ich bezahle Neil von meinem Anteil.«

»Und ich?«

»Ein Drittel von dem, was ich bekomme.«

»In bar, nicht als Versprechen?«

»In bar«, versprach Ronan.

Donnie hob die Flasche von seinem Schoß hoch und hielt sie in das Licht, das durch den Türrahmen fiel. »Lass mich darüber nachdenken.«

»Es ist die einzige Möglichkeit, zu bekommen, was du möchtest.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

»Denke nicht zu lange darüber nach, Sohn«, sagte Ronan. »Wenn du es nicht mit mir machst …«

»Was dann?«

»Werde ich einen anderen finden, der es tut.«

Wenn es Biddy überlassen gewesen wäre, das Tempo in diesem rauen Monat vorzugeben, hätte sie alle Vorsicht in den Wind geschlagen, sich rücksichtslos über alle Proteste der Familie hinweggesetzt und wäre sofort nach dem Abendessen aus dem Cottage stolziert.

»Und wohin willst du jetzt gehen?«

»Zum Haus meines Geliebten, ins Bett meines Geliebten.«

Diese Art von Aufrichtigkeit war natürlich unmöglich. Sie sollte eine Dame sein, und Damen nahmen sich erst Liebhaber, wenn sie verheiratet waren. Aber sie hatte zu viel gelernt, um jetzt noch eine Dame zu sein. Sie hatte zum Beispiel die wahre Bedeutung der groben Worte, die auf den Viehmärkten gerufen wurden, gelernt, und obwohl sie sich weigerte, sie laut zu sagen, hallten sie in ihrem Kopf wider, während sie sich in dem Schlamm des Kartoffelfeldes abmühte oder die Hemden auf den Rand des Waschzubers schlug. Es waren keine Worte der Liebe, sondern des Liebemachens, denn Michael Tarrant hatte in ihr einen Sturm des Verlangens entfesselt, der jeden Gedanken an Werben und Ehe beiseitefegte. Nicht einmal der Schafhirte konnte ihren Hunger ganz stillen. Sie erwartete mehr von ihm, mehr vielleicht, als selbst der sexuelle Akt an sich geben konnte.

Sie durchlebte die Spätherbsttage in einem Nebel von Verlangen, war gefangen in einem Netz von Arbeit auf dem Hof, die durch das kalte, feuchte Wetter anstrengend und unerfreulich war.

Eines der Frühjahrskälber war krank. Es musste versorgt werden. Obwohl Innis die Verantwortung für die Kühe hatte, war es Biddys Aufgabe, Futter und Mist aus dem Stall zu schaffen, in dem das arme, hustende Tier eingestellt war. Trotz des Wetters war die Rübenernte eingebracht. Die Kartoffeln waren von schlechter Qualität. Einige waren schon schwarz, andere fühlten sich matschig an, was bedeutete, dass sie nicht gut zu lagern waren. Indessen regnete es weiter, und die Schwestern sagten wenig zueinander, weil sie selbst am Abend zu hundemüde waren, um mehr zu tun, als zu essen und sich lustlos am Kamin zu lümmeln, bis sie sich mit zufallenden Lidern ins Bett begaben. Kirche am Sonntag, ein Spaziergang dann und wann zwischen böigen Schauern, ein Ausflug nach Crove, um Mehl und Tee einzukaufen. Der Rest war Arbeit und nochmals Arbeit und sonst nichts, was die trüben Tage verschönern konnte. Allein Biddy hatte Energie übrig.

Sie stahl sich mitten in der Nacht davon, wenn der Rest des Haushaltes schlief. Sie traf sich mit Michael im Kuhstall und paarte sich mit ihm, und ihr Liebemachen war schnell und rücksichtslos und eindringlich. Zwischendurch konnte sie an wenig anderes denken als daran, dass seine Hände an ihr waren, sein Mund und an das plötzliche, rutschende Eindringen, zu dem sie immer bereit zu sein schien. Sie schleppte sich von einem gefährlichen Stelldichein zum nächsten, und bei solchen Gelegenheiten, wenn sie sich verspätete und er gegangen war oder wenn er überhaupt nicht kam, weinte sie und rang ihre Hände und verabscheute den Zustand, in den dieses Lieben sie versetzt hatte.

Manchmal kam Austin Baverstock morgens aus dem großen Haus herunter, und wenn Innis oder Biddy zufällig im Kälberpferch waren, lehnte er sich an die Mauer am Fuße des Hügels und sprach fünf oder zehn Minuten mit ihnen. Die Hunde waren angeleint und unter Kontrolle, und Mr. Baverstocks Tweedanzug und die Stiefel waren abgetragener, alles Neue daran verschwunden, und selbst auf Biddy wirkte er männlicher, als er damals gewirkt hatte, als er nach Fetternish gekommen war. Manchmal bewirkte seine höfliche Unterhaltung, dass Biddys Egozentrik verflog und sie zuschaute, wie er in den Wind davonschritt, und sich fragte, wie es sein mochte, bei ihm zu liegen, ob es genauso wäre wie mit Michael oder ob der Mann den Unterschied ausmachte.

Doch sosehr sie sich auch bemühte, konnte sie sich Austin Baverstock nicht in einem solchen Zustand von Erregung vorstellen, dass er sie auf einem Sack auf dem Boden des Kuhstalls oder auf einer Decke im Farn nehmen würde. Für Mr. Baverstock musste es ein Bett sein: ein Himmelbett mit fleckenlosen Laken und einer Federmatratze und wahrscheinlich überdies mit so viel Respekt und »Nettigkeit«, dass sie schwerlich merken würde, dass er überhaupt bei ihr gewesen war.

An diesem Morgen dachte sie jedoch an Michael, als Austin zu ihr stieß. »Miss Campbell! Welch angenehme Überraschung!«

»Was machen Sie denn hier?« Sie hatte nicht die Absicht gehabt, so schrill zu klingen.

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«

Sie gab sich Mühe, höflich zu sein. »Nein, überhaupt nicht. Wie Sie sehen, habe ich nichts von besonderer Wichtigkeit getan.«

»Alles, was Sie tun, ist wichtig, Biddy.«

»Wie bitte?«

»Ich meine Ihre Arbeit.«

Einer der Hunde ließ an der Mauer Wasser. Biddy schaute ihm völlig ungerührt zu. Mr. Baverstock blickte beiseite. Sie hoffte, dass Fingal drinnen schlief, weil sie nicht wollte, dass sein Bellen Vassie veranlasste nachzusehen, was draußen los sei.

»Ich hatte gehofft, Sie heute Morgen allein anzutreffen.«

»Oh, wirklich, Mr. Baverstock?! Aber warum dies?«

»Ich habe etwas für Sie – falls Sie so liebenswürdig sind, es anzunehmen.«

Biddy fuhr sich mit einer Hand über ihr zerzaustes Haar und strich ihr Mieder glatt. Sie brauchte nicht bei solchen Tricks Zuflucht zu suchen, um Austin Baverstocks Aufmerksamkeit zu gewinnen.

»Etwas für mich?«, sagte sie.

»Ja«, sagte er. »Ich stieß ganz zufällig darauf. Ich meine, als ich dieses Objekt sah, dachte ich sofort, wie hübsch es sei und wie gut es Ihnen stehen würde.«

Biddy straffte ihre Schultern und bog ihren Kopf nach hinten, um ihre Figur besser zur Geltung zu bringen. »Was für ein Objekt, Mr. Baverstock?«

»Ich würde es schä-schätzen, Biddy, wenn Sie mich Austin nennen.«

»Was ist es – Austin?«

»Ach, ja, nun – es ist dies.«

Er reichte ihr die Hundeleinen, die Biddy widerwillig entgegennahm. Die Hunde betrachteten sie bösartig und hätten womöglich ihren Mut auf die Probe gestellt, wenn Austin, der unter seinem Ulster herumfummelte, nicht gemurmelt hätte: »Platz, Platz!«

»Ah!«, sagte er wieder. »Dies.«

Die Brosche war auf Seide gebettet. Es war ein zierliches kleines Objekt aus reinem Silber mit Schneckenverzierungen auf keltische Art, besetzt mit Halbedelsteinen.

»Es ist wunderschön, Mr. Bav–, Austin.«

»Nehmen Sie es«, sagte er. »Es ist für Sie.«

»Ich kann keine Geschenke von einem Gentleman annehmen. Meine Mutter würde das nicht für schicklich halten.«

»Müssen Sie ihr das erzählen?«

»Wenn ich es ihr nicht erzähle, kann ich es nicht tragen.«

»Dann nehmen Sie es als – unser Geheimnis.«

»Das wäre nicht recht.« Biddy hatte nicht die Absicht, die Brosche wieder herzugeben. »Es ist sehr großzügig von Ihnen, Austin, aber es schickt sich auch nicht. Geben unverheiratete Gentlemen in Edinburgh Damen solch intime Geschenke? Ist das in der Stadt so üblich?«

»Nein. Das kann ich nicht sagen«, gab Austin zu. »Obwohl es gemacht wird. Dessen bin ich sicher.«

»Haben Sie es schon gemacht?«

»Nein, niemals.«

»Dann fühle ich mich geschmeichelt.«

»Nehmen Sie es. Bitte, Biddy.«

»Ich möchte aber sicher sein, dass Sie nicht glauben, dies bedeute irgendeine Art von Versprechen meinerseits, Mr. Baverstock, ja?«

»Absolut nicht. Ich versichere Ihnen nachdrücklich, dass es ohne jedwede Bedingungen gegeben wird.«

Sie hob ihren Arm, drehte ihr Handgelenk und hob die Brosche wie ein Kind, das ein Bonbon auswählt, vorsichtig von der Seide. Sie hielt sie zwischen Zeigefinger und Daumen und drückte sie auf ihre Brust.

»Sie steht Ihnen wirklich, Biddy.«

»Ja, es ist ein sehr hübsches Ding.«

»Würden Sie es bitte in dem Geiste annehmen, in dem es gegeben wird?«

»Was für eine Art Geist ist das?«

»Ein Geist von Zuneigung und Bewunderung.«

Biddy nickte, als wäre dies die einzig mögliche Erklärung, die er geben könnte, um sie zufriedenzustellen, und drückte das Schmuckstück an ihr Kleid, ein warmes, aber schäbiges wollenes Kleidungsstück, das die Farbe von getrocknetem Seetang hatte, und zum ersten Mal seit der Nacht des Erntedankfestes spürte sie, dass sich die Last des Verlangens von ihren Schultern hob. Mr. Baverstocks Ergebenheit stellte ein Gefühl von Macht wieder her, das bei ihrer Beziehung zu Michael Tarrant fehlte und für das sie ihm mehr als alles andere dankbar war.

»Wenn dies der Fall ist, Austin, will ich es annehmen«, sagte sie. »Ich werde es an einem sicheren Platz aufbewahren. Es wird mein Geheimnis sein und mich an Sie erinnern, wenn ich es herausnehme.«

Einer der Hunde, Odin, gähnte hörbar.

»Wird es das«, sagte Austin, »wird es das wirklich?«

»Wo haben Sie es erstanden?«, fragte Biddy.

»In Tobermory.«

Das, so glaubte Biddy, war eine Notlüge, da sie jedes Schmuckstück kannte, das in der Stadt zu finden war, und in keiner der Auslagen etwas so Schönes wie diese keltische Brosche gesehen hatte.

»Ich hoffe, Sie sind nicht gekränkt«, sagte Austin.

»Wie kann ich gekränkt sein?«, fragte Biddy.

»Ein unverheirateter Gentleman, eine unverheiratete Dame – der Akt des Schenkens könnte falsch verstanden werden.«

»Mr. Baverstock – Austin – werben Sie um mich?«

»Nun – äh – nein. Jedoch, wenn ich mir diese Freiheit erlaubte, wäre es ein Anathema?«

»Anathema?«

»Unangenehm?«

»Es wäre nicht unangenehm, nein«, erklärte Biddy. »Vorausgesetzt, es würde diskret getan. Ich würde nicht wollen, dass Sie sich irgendwie verpflichtet fühlten.«

»Das störte mich nicht.«

»Nein, aber mich«, sagte Biddy.

»Glauben Sie, Ihre Familie hätte etwas dagegen?«

»Genau das ist es, Austin. Das ist es, kurz gesagt.«

»Und Sie, haben Sie etwas gegen mich?«

»Oh nein«, sagte Biddy.

»Mögen Sie mich, vielleicht ein bisschen?«

»Ich kenne Sie nicht gut genug, um das sagen zu können.«

»Aber es ist nicht so, dass Sie mich nicht leiden können?«

»Oh nein«, sagte Biddy wieder.

»Dann habe ich also eine Chance?«

»Wozu, Austin?«

»Mehr als Ihr Nachbar zu sein?«

»Wenn sie damit meinen, mein Freund zu sein, würde ich sagen, Sie haben sie.«

Sie nahm das Stück Seide aus seiner Handfläche, legte die Brosche vorsichtig darauf, wickelte sie ein und steckte sie in den Ausschnitt ihres Kleides. Dann bot sie ihm ihre vom Wind gerötete Wange zu einem Kuss, eine Geste, die ein Mann, der weniger verliebt als Austin Baverstock war, schwerlich ignoriert hätte.

»Danke, Mr. Baverstock.«

»Austin.«

»Ja, Austin. Vielen, vielen Dank!«

»Es war mir eine Freude, Biddy«, versicherte der Gentleman ihr aufrichtig.

Acht Tage lang beraubte die weibliche Natur Biddy Michaels Gesellschaft. Ihr kam nicht der Gedanke, ihn für etwas so Seriöses wie eine Unterhaltung aufzusuchen. Das war nicht das, wusste Biddy, was Michael von ihr wollte oder, um ehrlicher zu sein, was sie von ihm wollte, denn Unterhaltung wäre ein armseliger Ersatz für das gewesen, was üblicherweise zwischen ihnen stattfand. Sie informierte ihn über ihren Zustand, indem sie eine Nachricht in eine Whiskyflasche steckte, die sie unter einem Felsen am Hang von Olaf’s Hill versteckte.

Ich fühle mich nicht gut und werde dich eine Woche lang nicht sehen.

Michaels Antwort entbehrte ebenso jedweder verliebten Formulierungen. Er würde nicht schreiben: Ich werde dich von ganzem Herzen und aus tiefster Seele vermissen und werde die Stunden zählen, bis wir wieder zusammen sind. Dein niedrigster und untertänigster Diener, Michael Tarrant. Tatsächlich schrieb er Antworten, die so kurz und telegrafisch waren, dass Biddy sich gelegentlich fragte, ob er überhaupt schreiben könne: Montag – Felsen. Dienstag – Kuhstall. Biddy wusste aus Erfahrung, um welche Zeit ein Treffen möglich war. Ihr kam nicht der Gedanke einfach Nein zu schreiben, und ihn über den Grund nachdenken zu lassen, oder die Frage Warum? zu schreiben, was zumindest der Beginn eines Dialoges zwischen ihnen gewesen wäre.

Wenn sie sich zufällig im Laufe des Tages begegneten, verhielten sie sich fast wie Fremde zueinander. Michael tauchte auf dem Hügel auf, begleitet von Thrale oder Walter Baverstock, und Biddy blickte auf, schaute wieder weg und ignorierte ihn so betont, wie er sie ignorierte. Sie sagte zu Michael nichts, und er nahm ihre Existenz mit nicht mehr als einem knappen Kopfnicken zur Kenntnis.

»Magst du ihn nicht?«, fragte Innis. »Ich dachte, du magst ihn.«

»Es ist offensichtlich, dass er mich nicht mag.«

»Was ist zwischen euch passiert?«

»Mach mit deiner Arbeit weiter, Innis, und stell keine dummen Fragen.«

Acht Tage ohne die Befriedigung, von Michael Tarrant umarmt zu werden. Acht Tage nur die Erinnerung an Austin Baverstocks Großzügigkeit, um zu verhindern, dass sie verrückt wurde und ihre Gedanken ständig kreisten wie ein alter Fischkorb aus Weide, der in einem Strudel gefangen ist. Dann: Mittwoch – Kuhstall.

Den ganzen Tag lang konnte sie an nichts anderes denken als daran, was er mit ihr machen würde, wie seine Haut sich anfühlen würde, wie ihre Muskeln sich anspannen würden, wie er sie zu einem Höhepunkt bringen würde, der fast an Schmerz grenzte. Wie sie, wenn er fertig war, wieder bei ihm anfangen würde, ihre Brüste an ihm rieb, bis er sie entweder von sich schob oder mit einem wütenden kleinen Knurren wieder in sie stieß und von vorne begann.

Im Kuhstall gab es kein Licht. Sie wagten nicht, eine Laterne oder eine Kerze anzuzünden, und sie sprachen nur flüsternd. Sie konnte aber seinen Atem an ihrem Ohr spüren und die Gerüche des Kuhstalls riechen, den scharfen, dumpfen Geruch von Stroh, von vertrauten Dingen, die ihre Lust verstärkten. Wenn es vorbei war, lag sie zwei oder drei Minuten keuchend da, und dann sagte er: »Du solltest jetzt besser gehen.« Dann löste sie sich von ihm, schlüpfte hinaus in die kalte Nachtluft, eilte ums Cottage herum zur Tür und trat leise in die Küche.

Mittwochnacht jedoch jagte Michael sie nicht davon. Er schlang einen Arm um ihre Hüfte, zog sie wie ein Ringer an sich und flüsterte: »Was wollte Baverstock von dir?«

»Was?«

»Baverstock. Er gab dir etwas. Ich sah, wie du es nahmst.«

»Michael Tarrant, hast du mir nachspioniert?«

»Ich war mit den Schafen auf dem Hügel. Ich sah unbeabsichtigt, was geschah. Was war es? Was hat er dir gegeben?«

»Nichts. Ein Schmuckstück.«

»Er würde dich nehmen, wenn er könnte. Er würde dich so nehmen wie ich.«

Sie wehrte sich gegen seine Umarmung. Ihre Brüste waren an seine unbehaarte Brust gepresst. »Nein«, zischte sie. »Du irrst dich. Er würde mich heiraten, wenn er könnte.«

»Das ist es also?«

»Lass mich los. Ich muss ins Haus.«

»Würdest du ihn nicht heiraten wollen?«

»Ich werde niemanden heiraten, Michael.«

»Nicht einmal mich?«

»Nein, nicht einmal dich.«

»Bin ich für dich nicht gut genug?«

»Du bist mir recht«, sagte Biddy, die sich wieder zu befreien versuchte.

»Aber Austin Baverstock würde besser sein.«

»Ich wage zu sagen, ja.«

»Was hat er dir gegeben?«

War es Eifersucht oder Scham, die diese Fragen auslöste? Michael Tarrant hatte ihr nichts gegeben außer Lust und Erfahrung. Sie legte eine Hand flach auf den Steinboden, stützte sich auf einen Ellenbogen und antwortete ihm so unbeteiligt und trocken, wie sie nur konnte. »Er gab mir eine Brosche.«

»Silber?«

»Ja, Silber.«

»Und du hast sie behalten?«

»Natürlich habe ich sie behalten.«

»Er wäre ein perfekter Partner für dich, Biddy.«

»Nur mit dem, was er mir geben könnte – und das wäre nicht genug.«

»Nach dem, was du von mir gehabt hast?«, fragte Michael.

Sie deutete die Frage falsch. »Was habe ich von dir bekommen, was ich nicht von einem anderem Mann haben könnte?«

Er gab ihr einen kleinen Schubs. »Du solltest jetzt besser zurückgehen.«

»Erst wenn du mir geantwortet hast.«

»Wie kann ich dir antworten?«

»Wenn du mich liebtest, würdest du schnell genug eine Antwort finden.«

»Liebe«, sagte er. »Ist das alles, was du von mir willst, Biddy?«

»Ich glaube nicht einmal, dass du mich sehr magst.«

»Das ist nicht wahr«, sagte er. »Es ist nur, dass ich dich nicht heiraten kann.«

»Kannst du nicht oder willst du nicht?«

»Ich glaube nicht, dass du mich liebst, Biddy.«

»Ha!«, sagte sie. »Haben nur Männer das Recht, sich aus purem Vergnügen zu nehmen, was sie wollen?«

»Ich dachte …«

»Warum kannst du mich nicht heiraten? Was steht dagegen?«

»Wir sind zu – zu egoistisch, um je Mann und Frau zu sein.«

»Zu egoistisch? Willst du mir erzählen, ich sei egoistisch?«

»Nein, nein. Sprich leiser!«

»Willst du mir sagen, dass du meiner überdrüssig bist?«

»Das wohl kaum«, sagte er.

»Warum drängst du mich zu Mr. Baverstock? Tust du das, weil er dein Herr ist und du dich bei ihm lieb Kind machen willst?«

»Das ist lächerlich.«

»Er gab mir eine Silberbrosche. Ich hatte nicht darum gebeten. Er gab sie mir aus Liebenswürdigkeit. Ich wäre töricht gewesen, hätte ich das abgelehnt.«

»Ja, das wärst du.«

Sie stand auf und zog den Rock über ihre Schenkel. Sie war zu lange geblieben, und die Kälte war in sie gekrochen. Sie erschauerte. Als sie über ihm stand, konnte sie ihn deutlicher sehen, wie er da ausgebreitet auf dem Sack auf dem Steinboden lag. Sie erschauerte wieder, heftig fast, und presste ihre Arme an ihre Brüste. Jedoch war kein Ärger in ihr, und ohne den fühlte sie sich verloren.

Sie sagte: »Warum gibst du nicht einfach zu, dass du mich nicht liebst?«

»Es würde keinen Unterschied machen, wenn ich das täte«, antwortete er. »Würde es dich daran hindern, dich mit mir zu treffen? Würde es uns hindern, zu tun, was wir tun?«

»Nein.«

»Biddy«, sagte er, »du liebst mich nicht mehr, als ich dich liebe.«

»Glaubst du, ich würde mich einem Mann hingeben, den ich nicht liebe?«

»Ja.«

»Ha!«, sagte sie wieder wie ihr Vater.

»Du solltest jetzt besser gehen.«

»Warum?«

»Weil es sehr spät ist und …«

»Hast du genug von mir gehabt?«, sagte Biddy.

»Für heute Nacht, ja.«

»Schön, ich habe auch genug von dir gehabt, Michael Tarrant.«

Sie wandte sich zur Tür, löste das Seil und zog die Tür auf. Die Bewölkung war verschwunden, Wind strich über den Hügel, und Sterne glitzerten in der Dunkelheit über ihr. Die Nacht wirkte riesig und leer. Dann war er hinter ihr, legte eine Hand auf ihre Taille, und sie ließ sich von ihm umdrehen und sich mit mehr Leidenschaft auf den Mund küssen, als er sie je zuvor geküsst hatte.

»Samstag?«, fragte er leise.

Und Biddy nickte. »Ja.«

Als Biddy die Tür aufstieß, war ihr erster Gedanke, dass sie ertappt worden war. Fingal war auf den Beinen und knurrte. Ihre Mutter war im Begriff, eine Lampe anzuzünden, und alle Arten seltsamer Geräusche kamen vom Dachboden oben an der Leiter. Schuldgefühl durchrann Biddy wie kochendes Wasser. Sie spürte, dass ihr Gesicht rot und ihr Bauch wieder heiß wurde und sie presste ihre Arme an ihre Brüste, als wollte sie sie verstecken.

»Bist du es, Biddy?« Vassie warf einen Blick über ihre Schulter, während sie die Wachskerze an den Lampendocht hielt. »Wo bist du gewesen?«

»Ich – ich – auf dem Abort«, sagte Biddy.

»Oh Gott! Bist du auch krank?«

Biddy merkte, dass sie nicht die Ursache für die Besorgnis ihrer Mutter war, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Ihr Vater und ihre Brüder schliefen noch fest, und hätte Vassie vermutet, dass sie mit einem Mann im Kuhstall gewesen war, wäre jetzt der gesamte Haushalt auf den Beinen, das wusste Biddy. Ganz plötzlich wurde ihr bewusst, wie gefährlich eigentlich ihre Liaison mit Michael Tarrant geworden war, denn wenn sie miteinander entdeckt wurden, würde er gezwungen werden, sie zu heiraten, und sie würde in dieser Angelegenheit kein Wort mitzureden haben.

»Nein, ich bin nicht krank«, sagte Biddy. »Ich – ich musste nur raus.«

Vassie schloss die Laterne und richtete den Docht. Der Geruch von Öl war stark in der kalten Küchenluft, und Spiralen von schwarzem Rauch stiegen auf. Bevor Biddy sich entschuldigen und fragen konnte, was ihre Mutter so beunruhigt hatte, tauchte Innis’ Kopf oben an der Leiter auf.

»Reich mir schnell ein Tuch hoch«, sagte Innis.

»Übergibt sie sich noch immer?« Vassie warf ihrer Tochter ein Handtuch zu. »Hat sie ihren Kopf über dem Topf?«

»Ja.«

»Hat sie Krämpfe?«

»Nein, ihr ist nur schlecht.«

»Wer ist krank?«, sagte Biddy. »Ist es Aileen?«

»Ja.«

Innis verschwand. Biddy füllte den Kessel aus dem Wasserzuber und setzte ihn aufs Feuer. Oben würgte Aileen, würgte wieder und stieß einen winselnden Schrei aus. Vassie stieg, die Lampe in der Hand, die steile Holzleiter hoch und blickte in den Dachboden, als Donnie, durch die Unruhe aufgeweckt, seinen Kopf aus dem Alkoven steckte.

»Was ist denn hier los?«

»Aileen ist krank«, erzählte Biddy ihm.

»Ist das alles?«, murmelte er, zog sich wieder hinter den Vorhang zurück und ging vermutlich wieder ins Bett.

Vassie stellte die Lampe auf dem Boden des Dachbodens ab und zog sich hoch. Biddy konnte durch die Bodenbretter nichts weiter als den Schimmer des Lichts sehen und außer einem undeutlichen Gemurmel von Stimmen nichts hören. Sie hockte sich vor dem Herd auf die Fersen und blickte auf ihren Magen hinab, auf die Wölbung ihres Bauches und den Schatten zwischen ihren Schenkeln. Sie sorgte sich nicht um Aileen, konnte an nichts anderes als an ihre eigene gefährliche Situation denken und wie entsetzt sie gewesen war, als sie die Küche betreten hatte.

Während sie neben dem Feuer kniete und darauf wartete, dass der Kessel kochte, überkam sie eine plötzliche Welle der Erschöpfung, und sie war wütend und erbost darüber, dass Aileen diesen ganzen Wirbel verursachte. Fingal schnüffelte an ihr und stieß seine feuchte Nase an ihre Knie. Sie schlug mit dem Unterarm nach ihm, sodass er davonschlich und sich unter den Tisch legte, die trägen gelben Augen auf sie gerichtet. Dann stand sie schwerfällig und langsam auf und zog sich selbst an der Leiter hoch, um auf den Dachboden zu schauen.

Aileen war im Bett, hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Der Nachttopf war in günstiger Reichweite neben ihrem Kopf platziert. Die Öllampe stand auf einem kleinen Treibholzregal, unter dem Biddy in einem Loch in den Dachgrassoden Austin Baverstocks Geschenk versteckt hatte.

»Ist alles in Ordnung mit ihr?«, sagte Biddy.

»Oh, es geht ihr gut«, sagte Vassie leise. »Sie ist ein gutes Mädchen und wird morgen früh wieder ganz gesund sein.«

»Was fehlt ihr denn?«, fragte Biddy.

»Ich denke, es war etwas, das sie gegessen hat«, sagte Innis.

»Kann ich schon ins Bett gehen?«, sagte Biddy.

»Nein, lass sie erst einschlafen«, sagte Vassie.

Biddy gab ein leises, ungehaltenes Geräusch von sich, sagte aber nichts, und einen Augenblick später trat sie wieder in die Küche, um eine Kanne Tee aufzugießen, während Vassie ein Wiegenlied summte, damit die Kleine einschlief.

Seit Innis sich erinnern konnte, blieben sie und ihre Schwestern zum ersten Mal zurück, um sich um Pennypol zu kümmern. Sie würden jedoch nicht völlig schutzlos sein, da Donnie sich freiwillig bereit erklärt hatte zu bleiben, während Ronan, Neil und Vassie mit dem Vieh aufs Festland gingen, um es zu verkaufen.

In den vergangenen Jahren hatte Vassie die Tiere vom Feld an Mr. Simpkins, einen Händler aus Perth, verkauft, der sein ganzes Fleisch auf Mull erwarb und einen Preis bezahlte, der fair war, wenn auch nicht gerade großzügig. In diesem Jahr jedoch war Ronan nicht bereit, einen Mittelsmann zu bezahlen, und erklärte, dass Neil und er der Herde folgen würden und, während Vassie auf einem der Pferde ritt, die Tiere nicht nur zur Verladestelle, sondern den ganzen Weg zum Viehmarkt in Oban begleiten würden.

Vassie war alles andere als erfreut über die Aussicht, dass ihr Mann das Kommando über die Herde übernahm. Ronan war nie ein großer Bauer gewesen und nahm keine Rücksicht auf die Tiere, die sie gezüchtet und aufgezogen hatte. Es hatte eine heftige Auseinandersetzung gegeben, und Ronan hatte ausgeholt, um Vassie mit der Rückseite seiner Hand zu schlagen, aber Donnie hatte die Hand seines Vaters mitten in der Luft gefasst und sie festgehalten. Ronans Stimmung hatte sich augenblicklich verändert. Er hatte über Donnies Intervention gelacht und Donnies Haar gezaust, als ob dieser noch ein eigenwilliges Kind wäre.

Vassie hatte gründlich für Weideplätze längs der Strecke gesorgt und errechnet, was das Treiben pro Kopf an Gras kosten würde. Ronan, das wusste sie, würde versuchen, sie dazu zu bringen, das Vieh so billig wie möglich zu versorgen, damit er mehr fürs Trinken ausgeben konnte. Um seinem Manöver vorzubeugen, kramte Vassie eine große schwarze Ledergeldtasche heraus, die sie an ihren Körper band und in der das Reisegeld sicher vor diebischen Händen sein würde, womit sie natürlich die ihres Mannes meinte. Insgesamt würden sie fast eine Woche fort sein und mit dem Postschiff von Oban zurückkehren, was für Vassie und Neil eine neue Erfahrung sein würde, von dem Pferd ganz zu schweigen.

Aileen hatte darum gebeten, ebenfalls mitkommen zu dürfen, aber Vassie wollte nichts davon hören, und Aileen war weinend zurückgeblieben.

Die Mädchen und auch Donnie hatten die Herde bis Crove begleitet. Sie gingen hinter den Rindern, während Vassie mit flatternden Schals und ihrer baumelnden großen schwarzen Ledergeldtasche vorausritt, »He, he, Tempo, Tempo!« rufend, um Schritt zu halten und Ronan daran zu erinnern, die Nachzügler in Bewegung zu bringen, und Neil dazu, die Kälber aus den Gräben zu holen und von den Wäldern fernzuhalten. Sie folgten dem alten Weg, der hinter der Hauptstraße von Crove an Gärten und Nebengebäuden und an der Rückseite des Arms vorbeiführte. McKinnon kam persönlich heraus und reichte Ronan für unterwegs ein Viertelpint Whisky. Ladenbesitzer, Bauersfrauen und selbst Kinder aus dem Kindergarten kamen herausgelaufen, um die Campbells zu sehen, da Vassie auf einem Pferd schon Attraktion genug war, einmal ganz abgesehen von dem Anblick einer Rinderherde, die so dicht an dem Dorf vorbeizog.

Am Kirchentor winkten Reverend Ewing und sein »Mädchen« mit einem roten Taschentuch beziehungsweise einem Borstenbesen, während das Vieh auf die Brücke zutrottete, wo die Schotterstraße nach Dervaig begann. Bis dahin gingen Donnie und die Mädchen mit. Vassie richtete sich in den Leinensteigbügeln auf, stützte sich auf das Gepäck, das hinter ihr festgebunden war, und winkte, und das war alles, was ihrer Familie zum Abschied zuteilwurde, obwohl sie noch blieben, um zuzuschauen, wie der trockene, kalte Staub verschwand, und lauschten, wie das Brüllen der Rinder leiser und leiser wurde, bis schließlich das letzte Tier der Herde aus dem Blickfeld verschwunden war.

Innis hatte erwartet, vom Anblick der ziehenden Herde erregt zu sein, da den Geschichten von Großvater McIver über die großen Viehtriebe etwas Romantisches anhaftete. Da waren drei- oder viertausend Stück Vieh an der Küste von Gras Point gelaufen und durchschwammen die schmalen Kanäle zwischen den Inseln, die die Förde durchsetzten, bis sie an der Küste von Argyll ans Ufer kletterten. Die Treiber kamen natürlich noch immer nach Mull, und die riesigen Viehverkäufe auf dem Festland fanden noch immer statt, aber als sie an diesem klaren Novembermorgen an der buckligen Brücke am Rande von Crove stand, hatte Innis das Gefühl, als sagte sie nicht nur den Rindern von Pennypol Lebewohl, sondern auch ihrer Mutter, so, als ritte Vassie zurück in die Vergangenheit und würde nicht in einer Woche mit dem Postschiff von MacBrayne zurückkommen.

»Weinst du?«, wollte Biddy wissen.

»Es ist der Staub, durch den meine Augen laufen.«

»Es dürfte dir kaum das Herz brechen, sie von hinten zu sehen.«

Innis betupfte ihre Augen mit ihrer Manschette. »Wo ist Aileen?«

»Unter der Brücke.«

»Was macht sie da?«

»Sie lässt Wasser«, sagte Biddy. »Sie lässt in letzter Zeit mehr Wasser als wir alle zusammen.«

»Würdest du sie bitte im Auge behalten, Biddy?«

»Warum? Gehen wir nicht gemeinsam zurück?«

»Bevor wir heimgehen, muss ich kurz mit Mr. Ewing sprechen.«

»Ist es jetzt Mr. Ewing? Was willst du denn von dem?«

Innis antwortete nicht, da sie bereits zurück zum Kirchentor eilte, bevor der Geistliche auf dem kleinen Weg verschwinden konnte, der zum Pfarrhaus führte.

»Ist es das, was Sie wollten, Mr. Ewing?«, fragte Innis, nachdem das Boot die Felseninseln südwestlich von Pennypol hinter sich gelassen hatte und in den Gezeitenstrom gelangt war.

»Es ist alles, was ich wollte, Innis«, antwortete der Geistliche. »Und mehr als ich im Hinblick auf das Wetter erwartet hatte.«

»Ja, mit einem so schönen Tag konnten wir nicht rechnen.«

»Es heißt, wir werden dafür bezahlen müssen«, erinnerte Tom sie.

»Ach, es heißt, man müsse für alles zahlen, in dieser Welt oder in der nächsten.«

»Das haben Sie aber nicht von meiner Kanzel gehört.«

Innis lächelte. »Nein, nicht von Ihnen, Mr. Ewing. Es gibt Zeiten, in denen ich glaube, dass Sie einen anderen Gott verehren als wir anderen.«

»Genau denselben Gott, Innis. Aber Er ist anpassungsfähiger, als die Leute Ihm zutrauen.« Tom veränderte seine Position im Bug und legte einen Ellenbogen auf das Dollbord. »Schauen Sie sich um. Glauben Sie, dass der Gott, der eine so wunderschöne Welt wie diese geschaffen hat, uns zu etwas weniger Wundervollem verurteilen würde, nachdem wir ins Paradies gekommen sind?«

»Ja«, sagte Innis, »aber es ist nicht immer so wunderschön. Wenn wir jetzt hier wären und der Regen peitschte von oben herab, und die Wellen würden uns durchtränken, würde es nicht so leicht sein, an Gottes Güte zu glauben.«

»Güte ist etwas anderes als Verurteilung«, sagte Tom, lachte dann und schüttelte heftig seinen Kopf. »Nein, nein, Miss Campbell, ich werde mich von Ihnen nicht zu einer theologischen Diskussion verleiten lassen, nicht heute Morgen.«

»Ich kann mit Ihnen nicht diskutieren, Mr. Ewing«, sagte Innis. »Ich habe nicht genug Wissen.«

»Warum bestürmen Sie mich dann mit so vielen Fragen?«

»Damit ich lernen kann.«

»Nun, dann versuchen Sie heute bitte, Ihren Wissensdurst nicht weiter zu stillen«, sagte Tom. »Dies ist nicht Ihr Tag zum Lernen. Es ist meiner.«

Er trug sein Kollar unter einer Tweedjacke und einem dunkelblauen Wollpullover. Sein Mantel und sein Hut waren in einem trockenen Fischkorb im Boden des Bootes verstaut. Er strahlte etwas Gutes, Freies aus und sein dunkles Haar flatterte in einer Brise. Er wirkte ungezwungen, nicht überlegen, und er hatte seit dem Augenblick, als er die Kelpie betreten und Innis sie von dem Landungssteg weggerudert hatte, gelächelt. Biddy war gekommen, um sie zu verabschieden. Sie hatte auf dem Gras gestanden und auf theatralische Art ihr rotes Halstuch geschwenkt, und Fingal war neben ihr gewesen und hatte mit seinem Schwanz gewedelt, so als ob der Hund ebenso erpicht wie sie darauf wäre, sie zu verabschieden.

Donnie war nach Leathan gegangen, um beim Einzäunen zu helfen, und hatte auf Biddys Drängen Aileen mitgenommen.

Da die Hälfte der Herde fort war, waren die Weiden von Pennypol im ruhigen Novembersonnenschein unheimlich still. Selbst die Oberfläche der See schien reglos zu sein, so glasig wie ein Spiegel. Nur die ölige Dünung, die das Boot vorwärtsschob und die Ausbuchtung des Luggersegels, das Innis gesetzt hatte, zeigten an, dass überhaupt eine Brise da war.

Innis bediente das Segel vom Heck aus. Sie hatte die Pinne unter den Arm geklemmt, die großen, verwitterten Riemen vorübergehend eingezogen. Sie trug ein gemustertes Kleid, einen mit Quasten besetzten Schal und einen einfachen Filzhut, der Tom an ein spanisches Barett erinnerte. Er war versucht zu fragen, wer sie segeln gelehrt hatte, aber er wusste, welche Antwort er bekommen würde – die gleiche Antwort, die Innis auf fast jede Frage betreffend ihre Erziehung gab: »Großvater McIver.«

Der Morgen war absolut klar, die Sonne warm genug, um angenehm zu sein. Tom hob sein Gesicht ihren Strahlen entgegen, während die Kelpie auf die flachen Felsen zulief, die den Rand der Treshnish-Inseln markierten, in deren Nordwesten die Insel Foss, Evander McIvers Königreich, lag.

Im Lauf der Jahre hatte Tom viele Geschichten über den alten Mann gehört. Er hatte ihn da und dort auf Messen und Märkten gesehen, eine große, stattliche Gestalt mit einer Mähne weißen Haares, das an seinem Hinterkopf zu einem Zopf zusammengebunden war. Gewöhnlich trug er eine dunkle Hose aus Tartanstoff und einen breiten Ledergürtel, an dem eine Felltasche hing, aber nicht vorne, sondern an der Seite. Eine gefütterte, braune ärmellose Lederjacke ließ ihn noch massiger aussehen, und seine Halbstiefel aus Segeltuch, die vor einem halben Jahrhundert aus der Mode gekommen waren, wirkten, zumindest auf Tom, sowohl praktisch als auch behaglich. Er hatte einen Piratengang und einen harten, drohenden Blick, der über seinen wahren Charakter hinwegtäuschte. Hart mochte er in den Tagen seiner Jugend gewesen sein, aber bedrohlich war er niemals gewesen, nicht für Mann, Frau oder Tier.

Jetzt gab es nur noch wenige von McIvers Art. Sie waren durch die scharfsinnigen »Exzentriker« ersetzt worden, durch Schwärmer und selbst gesalbte Weise, deren Ruf auf nichts Wesentlicherem basierte, als einem Gedicht hier oder einer Ballade da oder einer Gaunerei, mit der sie einen Engländer um sein Geld betrogen hatten. Tom hatte sie an den Wegrändern der Strecken auftauchen sehen, die die Touristen nahmen, Schauspieler, deren Männlichkeit nur Schau war und ebenso unecht wie die meisten jakobitischen Souvenirs.

Was immer seine Fehler sein mochten, ein Schauspieler war Evander McIver nicht. Er war Tänzer gewesen, Gewichtheber, ein Ringer, ein Spieler und, in letzter Zeit, Züchter von guten Highland-Bullen. Er hatte beschlossen, auf Foss zu leben, fern von den Augen der Öffentlichkeit, statt von der Legende zu profitieren, die er unwissentlich geschaffen hatte. Tom war seit einiger Zeit darauf erpicht gewesen, dem alten Mann von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, aber er hatte nie eine passende Gelegenheit gefunden. Er empfand eine eigenartige Erregung und Vorfreude, als Foss auftauchte, sich hinter der Insel Groom More vorschob.

Innis steuerte die Kelpie durch einen Kanal, in dem Seehunde im Sonnenlicht badeten und Seevögel in Schwärmen über einer steilen Klippe kreisten. Dann lag die untertassenförmige Insel vor ihnen. Eine stumpfe Kuppe und eine dünne Baumreihe beschützten den Ankerplatz wie das Haus. Tom war schon vorher auf kleinen Booten gewesen. Er hatte Meeresbuchten erkundet, hatte sogar an den Sandbänken von Inch Kenneth gefischt – obwohl der Sport nicht nach seinem Geschmack war – und natürlich mehrere Male Staffa besucht. Aber niemals zuvor hatte er so etwas wie Foss gesehen.

Es gab keine Basaltsäulen, die den Besucher beeindruckten, keine großen Höhlen oder schädelförmigen Felsen oder allein stehende Felssäulen, nur ein hellgrünes Plateau, das nicht viel höher als dreißig Meter war, ein Haus und, hier und da, tabakbraune Rinder, mächtig und mit riesigen Hörnern, die ruhig das Gras wiederkäuten.

Das zweigeschossige Haus lag unten am Fuße des Hügels. Es war nicht aus einheimischem Gestein, sondern aus importiertem Holz erbaut. Selbst das Dach war mit Holzschindeln gedeckt. Mit seinen Fensterläden und einer von einem Geländer umgebenen Veranda auf der Vorderseite erinnerte es Tom an ein Plantagenhaus oder eine Residenz in Indien. Er hatte nur ein oder zwei Minuten, um die Architektur zu betrachten, als das Boot den Kanal durchquerte, und Innis holte das Segel herunter und tauchte die Riemen ein. Vier Bullen und sechs oder acht Kühe hoben ihre Köpfe und schauten unbeeindruckt zu, wie die Kelpie auf den groben Sand lief, und zwei kleine Jungen und eine Frau, nicht viel älter als Innis, die aus dem Nichts aufgetaucht waren, zogen den Bug über die Flutlinie hoch.

Die Jungen waren geschmeidig und braunhäutig, hatten nackte Beine, braunes Haar und dunkle Augen. Sie waren so sauber und adrett, als wären auch sie von den Rindern abgefressen.

»Ho, Mairi«, rief Innis.

»Ho, Innis«, antwortete die junge Frau und watete zu Toms Überraschung durch das seichte Wasser neben das Boot und umarmte Innis liebevoll. Der Geistliche kletterte über den Bug und sprang auf den Strand. Er drehte sich um, um Innis eine Hand zu reichen, aber sie war, ebenfalls barfüßig, in das seichte Wasser gestiegen. Als er sich umschaute, sah er Evander McIver auf der Veranda stehen. Er lehnte am Geländer. Er trug nichts außer einer Hose und einer Lederweste. Brust, Schultern und Füße waren nackt im Novembersonnenschein.

Mehrere andere Frauen und Kinder waren zu sehen, einschließlich zweier gut aussehender junger Mädchen, die eine unheimliche Ähnlichkeit mit Innis hatten, und einem jungen Mann von vierzehn oder fünfzehn, der am Ende der Veranda stand. Als Tom in seine Richtung schaute, nickte er und machte mit geschlossener Faust eine Geste der Begrüßung. Tom nickte zurück. Innis war hinter ihm, trug Geschenke für ihren Großvater und das Päckchen, das Tom mitgebracht hatte und das ein in Leder gebundenes Exemplar von Hortons Tractatus enthielt, ein Buch, mit dem er nie viel hatte anfangen können, das Evander McIver aber, wie Innis ihm erzählt hatte, zu schätzen wisse.

Innis führte ihn zu dem Haus. Zu seiner Rechten war ein Kräutergarten. Hinter diesem war die Mauer eines Gemüsegartens. Eine andere Frau, nicht so jung, stand, eine Hacke in der Hand, zwischen den Reihen. Ihr Haar war mit einem hellblauen Tuch zusammengebunden. Auch sie winkte ihm zu, und Tom winkte zurück.

»Wer sind die, Innis?«, murmelte er.

»Seine Kinder, seine Familie.«

»Ich dachte, ihr seid seine Familie.«

»Hier hat er eine andere Familie.«

»Welches ist seine Frau?«

»Wer weiß?«, sagte Innis.

Evander McIver löste sich von dem Geländer, als das Paar sich näherte. Auch er lächelte und schien ebenso freundlich zu sein wie alle anderen auf der kleinen grünen Insel Foss.

»Nun, Pfarrer, es ist gut, Sie endlich hier zu haben.«

»Danke, Mr. McIver. Ich freue mich, hier zu sein.«

»Sind Sie gekommen, um zu sehen, wie man mich am besten begraben kann?«, fragte der alte Mann mit einem Augenzwinkern.

Tom überraschte sich selbst, indem er mit genau dem herausplatzte, was ihm durch den Kopf ging.

»Aufrecht stehend, Sir«, sagte er, »schiene mir am geeignetsten.«

Evander McIver lachte und forderte Tom Ewing mit einer fließenden Bewegung seiner Arme auf, in sein Haus zu treten.

Austin hatte die Hunde dabei und Willy hatte die Flasche mitgenommen, und die beiden gingen froh gelaunt hinaus, um zum Freundschaftshof zu spazieren.

Dieses Mal stöhnte Willy nicht, weil er aus der warmen Küche fortgeschleppt wurde, denn auch er hatte Gefallen daran gefunden, draußen zu sein, und wenn seine Begeisterung auch nicht so groß wie die seines Herrn war, so doch neu genug, um nicht ignoriert zu werden.

Ein Teil seines Dranges, von Zeit zu Zeit über die Heide zu laufen, rührte aus seiner Unsicherheit her, was er mit Maggie Bell tun sollte. Es war nicht, dass er nicht gewusst hätte, was er von ihr wollte – das war ganz offensichtlich –, aber er war skeptisch, was den Preis anbelangte, den er für diese Erfahrung vielleicht zahlen müsste. Die Angst vor Konsequenzen hatte ihn bisher niemals daran gehindert, das mit Frauen zu tun, was er wollte, und Willy war überaus verblüfft über das, was in ihn gefahren war und warum er plötzlich unter diesen Zweifeln litt. Skrupel?, dachte er. Sicher keine Skrupel, nicht in meinem Alter. Jede Küchenhilfe oder jedes Mädchen, das jemals seinem Charme erlegen war und sich in ihn, wenn auch nur flüchtig, verliebt hatte, war, was Willy Naismith anbetraf, für ihn eine faire Beute gewesen, ein Opfer ihrer eigenen Schwäche, die um alles gebeten hatte, was sie bekam, was, um es offen zu sagen, ziemlich viel war.

Ganz anders aber die »schüchterne« Margaret Bell. Sie war vernarrt in ihn, sie betete ihn an, und doch verweigerte sie ihm, sich irgendwelche Freiheiten ihr gegenüber herauszunehmen. Kein einziger Kuss, keine Liebkosung, keine Umarmung in der Vorratskammer und kein Zwicken in den Po in der Halle als Belohnung für alles das, was Willy für sie getan hatte. Und zu gestatten, dass Willy sie zu ihrem Schlafzimmer geleitete, da sie nun Vollzeitdienerin geworden war und abends nicht mehr heimging – nein, das war ganz gewiss nicht Teil von Maggies Tagesordnung. Mehr noch, Maggie hatte irgendwie die Köchin auf ihrer Seite, und die alte Queenie beschützte Maggies Ehre ebenso wie ihre eigene, was angesichts von Queenies wechselvoller Vergangenheit allerdings nicht viel besagte. Dennoch erreichte Willy dadurch, dass die beiden zusammenhielten, mit all seinen Verführungskünsten überhaupt nichts, und deshalb litt er unter allen Symptomen von Niedergeschlagenheit.

Gemeinsam mit Mr. Austin hatte Willy eine Kostprobe davon bekommen, wie der Winter auf Mull sein konnte, wie schlechtes Wetter einen ans Haus fesselte, wie düster das große Haus von Fetternish unten wie oben wirken konnte, wenn die Sonne um halb vier nachmittags unterging und die Abende sich wie Gefängnisstrafen hinzogen, nur drei Bedienstete, zwei Hunde und ein Herr da waren, die alle in den ansonsten leeren Räumen beschäftigt waren und zur Ablenkung nichts weiter tun konnten, als Queenie beim Stopfen von Strümpfen zuzuschauen oder Maggie beim Nähen von Schürzen oder, sofern dazu aufgefordert, mit dem Gentleman oben eine Partie Dame zu spielen. Da wunderte es wenig, dass er froh war, während der Tageslichtstunden entfliehen zu können, besonders jetzt, wo der Regen aufgehört hatte und kein Wind mehr wehte und die Insel in Sonnenschein gebadet war.

»Ich finde, das ist ein Geschenk, Willy. Was meinst du?«

»Finde ich auch, Mr. Austin. Finde ich auch.«

Er hatte um einen Zuschuss gebeten, der ihm auch gewährt worden war, einen Zuschuss, um Jagdstiefel bezahlen zu können, und hatte ein schönes Paar in Tobermory gekauft. Er hatte auch die Erlaubnis erhalten, sich das Tweedcape und den Hut auszuleihen, den Mr. Walter zurückgelassen hatte, und so gab es kaum etwas, was Herrn und Diener voneinander unterschied, als das Paar mit den Hunden, die nicht angeleint waren und vor ihnen umhertollten, zu dem verfallenen Bauernhof schritt.

Erst als sie auf der zerfallenen Mauer saßen, auf die See hinausblickten und auf die hoch aufragenden Gipfel des Ardnamurchan, schnitt Austin das Thema Frauen an, und Willy, der Probleme auf sich zukommen ahnte, holte die silberne Flasche heraus, die er halb und halb mit schwarzgebranntem Whisky und Quellwasser gefüllt hatte.

»Wie du weißt, Willy, habe ich nie zu denen gehört, die sich um das kümmern, was unten vorgeht zwischen – ich meine – der Dienerschaft«, begann Austin, »aber entdecke ich da eine gewisse gegenseitige Anziehung zwischen dir und unserer neuen jungen Dame?«

»So ist es, Mr. Austin – leider.«

»Warum sagst du ›leider‹, William? Miss Bell scheint eine angenehme Seele zu sein.«

»Oh ja, Sir«, pflichtete Willy bei. »Sie ist sehr angenehm.«

Austin schaute zu, wie der Diener einen Schluck aus der Flasche in den silbernen Becher goss. Er nahm ihn vorsichtig mit Zeigefinger und Daumen und hielt seine linke Handfläche darunter, um keinen Tropfen zu verschütten. In Edinburgh hätte er es für dekadent gehalten, vor Mittag Alkohol zu trinken, aber die kräftige frische Luft an der Küste hatte seine Gewohnheiten verändert und viele der gesellschaftlichen Unterschiede eliminiert.

Austin nippte an dem Whisky und schaute auf die See hinaus, während die Hunde in den Ruinen herumschnüffelten, als suchten sie nach alten Knochen.

»Ich bin doch nicht unverschämt, William, oder?«

»Überhaupt nicht, Mr. Austin.«

Ein weiterer Schluck, ein weiterer Blick auf den Ozean. »Ich wünschte, ich hätte dein Aussehen, Willy. Das wünschte ich wirklich.«

»Mein Aussehen!«, rief Willy aus.

»Ich meine, ich wünschte, ich hätte deine Wirkung auf Frauen.«

»Oh, so schlecht sind Sie nicht, Sir«, sagte Willy. »Ich bin sicher, dass Sie in einer dunklen Nacht auf der Princes Street Billigung finden würden.«

Einen Augenblick lang fragte Willy sich, ob er zu weit gegangen war. Austin schaute ihn stirnrunzelnd an und lachte dann. »Versuchst du mir damit zu sagen, dass das Äußere nicht zählt?«

»Das ist es, Mr. Austin«, sagte Willy.

»Was wollen Frauen von einem Mann? Ich meine, worauf sind sie aus? Was veranlasst sie, einem Mann vor einem anderen den Vorzug zu geben?«

Willy trank direkt aus der Flasche. Er wischte sich seinen Bart mit der Handfläche ab und dachte, wie gut der Whisky im Freien schmeckte und dass Jack Stratton schließlich doch ein ganz gutes Geschäft machte. Er wünschte sich jetzt, auf ein besseres Angebot gewartet zu haben, aber Haggertys erste Lieferung würde Anfang nächster Woche fertig sein, und Campbell würde für den Transport sorgen, sobald er aus Oban zurückgekehrt war.

Willy seufzte. »Ich weiß, was Sie mich fragen, Mr. Austin, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich die richtige Person bin, Ihnen das zu erzählen.«

»Bist du ebenso durcheinander wie ich? Sicher nicht.«

»Ich bin nicht durcheinander, Sir. Womit ich meine, ich weiß verdammt gut, was Margaret Bell in mir sieht. Sie sieht einen Ehemann.«

»Sie könnte erheblich Schlimmeres bekommen, William.«

»Ja, Mr. Austin«, pflichtete Willy bei. »Aber sie könnte auch erheblich Besseres bekommen. Ich weiß es, auch wenn sie es nicht weiß.«

»Aber du bist doch ein Mann in einer – nun – gewissen Position und du bist nicht gerade alt.«

»Ich bin aber auch nicht gerade jung«, sagte Willy. »Die Wahrheit ist, Sir, ich bin nicht zuverlässig.«

»Meine Schwester hat sich nie beklagt.«

»Ihre Schwester!«, sagte Willy etwas beunruhigt. »Was sie getan …« Er verzichtete darauf, den Satz zu Ende zu führen, um nicht zu viel zu verraten. Austin Baverstock, der so unschuldig wie morgendlicher Sonnenschein war, hatte offensichtlich keine Ahnung, was zwischen seiner Schwester und seinem Diener vorgefallen war. »Nein, Sir. Ich meine, dass ich nicht zuverlässig bin, wenn es darum geht, ein Ehemann zu sein.«

»Ich glaube, ich würde an allen Fronten ›zuverlässig‹ sein, William. Findest du nicht?«

Erleichtert darüber, dass seine Beziehung mit Agnes Baverstock kein Thema mehr war, sagte Willy: »Warum reden wir nicht offen miteinander, Mr. Austin, da wir beide Männer von Welt sind? Sie haben ein Auge auf Biddy Campbell geworfen, und Sie möchten herausfinden, wie Sie sie bekommen können.«

»Ich will sie heiraten, William, nicht nur einfach so – du weißt schon.«

»Meinen Sie damit, Sir, Sie würden nicht nur – Sie wissen schon, wenn sich Ihnen die Gelegenheit böte?«

»Ich – ich würde es, vielleicht.«

»Ich würde es, das kann ich Ihnen versichern«, sagte Willy.

»William!«

»Das soll keine Respektlosigkeit gegenüber der Dame sein, Mr. Austin, oder Ihnen gegenüber, aber jeder flotte Kerl würde sich von ihr angezogen fühlen.«

»Sie scheint so viel zu bieten.«

»O-ho«, pflichtete Willy bei. »Aber ich glaube, sie würde einen im Brautgemach ganz schön auf Trab halten.«

»Wirklich?«

»Rothaarige Mädchen sind gewöhnlich hitzig, wenn es zum – Sie wissen schon – kommt.« Willy schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Das habe ich zumindest gehört.«

»Ich bin überrascht, dass Miss Campbell nicht schon geführt worden ist.«

»Geführt worden?«, sagte Willy. »Wohin?«

»Vor den Altar. Noch nicht verheiratet ist.«

Willy sagte: »Weiß Mr. Walter, dass Sie von der Dame so gefesselt sind?«

»Ich habe nicht versucht, meine Gefühle für sie zu verbergen.«

»Ich denke, er billigt das nicht?«

»Ich glaube, er ist der Meinung, dass Miss Campbell – nun ja – unter meiner Würde wäre.«

»Ich verstehe«, sagte Willy. »Ich fürchte, ich stimme mit Mr. Walter nicht überein. Ich habe das Gefühl, dass Biddy Campbell, bekäme sie ein wenig Schliff, sich in jeder Art von Gesellschaft behaupten könnte.«

Austin hob eine Augenbraue. Er war offensichtlich erfreut über Willys Einschätzung von Biddy Campbell, was genau die Wirkung war, die Willy mit seiner Bemerkung hatte erzielen wollen. Austin beugte sich verschwörerisch zu dem Diener, als fürchtete er, sie könnten belauscht werden.

»Wie bekomme ich sie, William?«, murmelte er. »Kannst du mir das sagen?«

»Mit Geduld, Mr. Austin. Mit Geduld und Geld.«

»Mit Geld?«

»Ja, Sir«, sagte Willy. »Am Ende kommen alle Damen zu dem Mann, der Geld hat. Sie wissen immer, wo ihr Vorteil liegt und wer ihnen das meiste bietet.«

»Ist das nicht vielleicht ein bisschen zynisch?«

»So denken Damen, Mr. Austin. Glauben Sie mir.«

»Alle?«

»Fast ausnahmslos«, erklärte William seinem Herrn. »Geduld und Geld werden das für Sie schaffen.«

»Schön, schön, wie interessant!«, sagte Austin Baverstock und hielt, erfreut über Willys Prophezeiung, den Silberbecher hin, um sich weiteren schwarzgebrannten Whisky einschenken zu lassen.

Im Verlauf des Mittagessens wurde Tom Ewing klar, dass er nicht aus eigenem Entschluss nach Foss gekommen, sondern aufgefordert worden war, vor dem alten Mann zu erscheinen, und dass Innis nur die Abgesandte ihres Großvaters war. Nichts wurde gesagt, was erkennen ließ, dass er erwartet worden war oder dass McIver ein Motiv dafür hatte, ihn als einen Ehrengast zu behandeln. Doch nicht einmal der alte McIver und seine Sippschaft von Frauen wären in der Lage gewesen, einen Tisch derart üppig ohne große Vorbereitungen zu decken.

Das Haus war etwa dreißig Jahre zuvor aus importiertem Hartholz errichtet worden. Es war doppelwandig und mit Zedernholz getäfelt. Die Balkendecke des großen Wohnraumes war niedrig. Die Wände waren von Bücherregalen gesäumt, die mit dickleibigen Bänden über jedes Thema, das es unter der Sonne gab, gefüllt waren. Die Einrichtung war schlicht: mit Segeltuch bezogene Sofas, ein Tisch mit Messingplatte, zwei oder drei Öllampen an kräftigen Messinghaltern. Der Kamin reichte kaum höher als Toms Hüfte, und auf einem auffallenden Regal darüber stand eine Reihe maritimer Instrumente neben einem wunderschönen Messingmikroskop in einem mit Samt ausgeschlagenen Etui.

Trotz der Abgeschiedenheit der Insel mangelte es Evander McIver nicht an den schönen Dingen des Lebens. Von dem Islay Maltwhisky, der Tom als Appetitanreger gereicht wurde, bis hin zu dem roten Bordeaux, der das Mahl begleitete, war alles vom Feinsten. Der Geistliche speiste geräucherten Lachs mit Senfsoße, Kammmuscheln, erstklassiges Rindfleisch, frisches Gemüse und eine Pfirsichtorte mit Dickrahm. Eine Käseplatte war bestückt mit reifem Stilton, einem alten Cheddar und einem feinen, festen Brie. Das Esszimmer war kaum mehr als ein Alkoven des Wohnraums, aber zwei kleine Fenster boten Ausblick auf die Rinderweide, und während er aß, betrachtete der Geistliche nicht nur die großhörnigen Tiere, mit denen McIver seinen Lebensunterhalt bestritt, sondern auch die Frauen, die auf den Feldern arbeiteten. Es waren fünf oder sechs und dazu ein halbes Dutzend Kinder, alle so braun und geschmeidig und gesund, dass sie offensichtlich den Grundsätzen guter Haushaltsführung folgend erzogen und aufgezogen worden waren.

Alle nur denkbaren Fragen brannten dem Geistlichen auf der Zunge. Der alte McIver war sich der Neugier seines Gastes bewusst, neckte ihn aber, indem er das Thema Beziehungen und die Herkunft der Familie von Foss umging. Tom war durch das Gespräch bei Tisch nicht gelangweilt. McIver war gewiss kein Philister. Tatsächlich hatte Tom alle Mühe, die zahllosen Fragen zu beantworten, die der alte Mann ihm hinsichtlich der Probleme zeitgenössischer Theologie stellte, ein Thema, in dem Tom offenkundig nicht so beschlagen war wie sein Gastgeber.

Innis hörte zu, ohne ein Wort zu sagen. Sie überließ das Auftragen einer gut aussehenden jungen Frau namens Katrin, die ihn wie alle anderen, denen Tom bisher begegnet war, anlächelte und auf Gälisch ansprach. Als das Essen vorbei war, führte Evander ihn wieder in den Wohnraum, wo sich Katrin und Mairi und ein olivbrauner Junge zu ihnen gesellten, die sich still auf die Sofas setzten und wie Innis dem Gespräch lauschten, ohne sich einzumischen.

Evander öffnete das Päckchen, das Tom mitgebracht hatte. Er bewunderte das Buch und dankte ihm dafür. Dann stand er auf, bat die Frau Mairi, ihm seinen Hut zu bringen, und schlug vor, einen Spaziergang zu machen, bevor es draußen zu kalt wurde und bevor der Geistliche nach Mull zurückkehren musste, um seinen Pflichten nachzukommen.

Tom folgte McIver die Stufen zu einem kleinen, sandigen, von Muscheln bedeckten Pfad hinunter. Er erwartete, dass Innis sie begleiten würde, aber sie blieb zurück, lehnte an dem Geländer der Veranda, flankiert von dem Jungen und einer der Frauen. McIver schritt aus wie ein Mann in seinen besten Jahren. Nur der stahlgraue Zopf und die weiße Mähne, die bis zu seinen Schultern reichte, ließen erahnen, wie alt er war.

Aus keinem bestimmten Grunde schaute Tom zum Haus zurück. Er spürte, dass er vor Überraschung über das, was er sah, den Atem anhielt. Innis hielt ein Baby in ihren Armen, ein Kind, das in einen Schal gewickelt war, ein kleines, braunhäutiges, pausbäckiges Kind, das Tom wie eine Vision der Zukunft erschien und nicht eine der Vergangenheit.

Evander wartete freundlich lächelnd.

»Haben Sie vielleicht eine Frage, Mr. Ewing?«, sagte er.

»Ich bin neugierig, ja.«

»Geht es um die Kinder?«

»Ja.«

»Sie sind auf dieselbe Art auf die Welt gekommen wie wir alle.«

»Sind es Ihre Kinder?«

»Meine Kinder, meine Enkel und Urenkel.«

»Wo sind die Väter?«

»Fort«, sagte Evander McIver. »Fort – oder sie waren nie welche.«

»Waren nie welche?«

»Einer war ein Mann von der Long Isle, der vor einigen Jahren hier einen Winter verbrachte. Ein anderer kam aus Neuschottland. Er war ein Hochseefischer, der nach Hause gerufen wurde, um seine sterbende Mutter zu pflegen und nie zurückkam. Ein anderer war ein Pferdehändler aus Bantry Bay.«

»Ist keines der Kinder ehelich geboren?«

»Ich denke, das ist eine Frage, die ein Geistlicher stellen muss.«

»Ich fürchte, das ist so, Mr. McIver.«

»Ist es nicht genug, dass sie geboren wurden und leben?«

»Ich bin kein Anhänger der Keuschheitsliga«, sagte Tom vorsichtig, »aber ich bin von der Kirche von Schottland geweiht, und Sie können von mir nicht erwarten, dass ich wahllose Paarung akzeptiere.«

»Ich versichere Ihnen, dass es kein wahlloses Paaren gab, Mr. Ewing.«

»Egal, welche Meinung Sie dazu haben, Mr. McIver, Männer und Frauen sind keine Tiere auf dem Felde, die sich nach Lust und Laune paaren und fortpflanzen.«

»Ist die Geburt eines Kalbes oder eines Kindes nicht ein Wunder Gottes, egal ob die Kirche dazu ihren Segen gibt oder nicht?«

»Das ist ein Trugschluss«, sagte Tom. »Keine Diskussion.«

»Würden Sie sie nicht taufen?«

»Oh, ich verstehe. Ich verstehe.«

»Wenn ich meine Kinder eines Sonntagmorgens in Ihre Kirche brächte, würden Sie sie im Namen des Herrn taufen?«

»Nein.«

»Wegen dem, was Ihre Kirchenältesten sagen würden?«

»Ich müsste die Erlaubnis des Presbyteriums haben, und das Presbyterium würde sie mir absolut verweigern«, sagte Tom.

»Und Sie würden sich den Presbytern nicht widersetzen?«

»Nein«, sagte Tom wieder.

»Nun gut, zumindest sind Sie ein ehrlicher Mann«, sagte Evander McIver zu ihm.

»Haben Sie mich deshalb nach Foss eingeladen, Mr. McIver? Um zu fragen, ob ich Ihre Enkel taufen würde?«

»Nein, deshalb nicht.«

»Warum haben Sie mich von Innis herbringen lassen?«, sagte Tom. »Ich weiß, dass Sie das taten. Es hat keinen Sinn, es zu leugnen.«

»Ich leugne es nicht. Ich wollte Ihnen meine Insel zeigen.«

»Es war nicht Innis’ Idee?«

»Es war mehr mein Wunsch als ihrer.«

Tom war ein wenig enttäuscht. »Ich denke, mich trifft zum Teil Schuld.«

»Schuld?«

»Sagen wir, dass meine Nase mich gewarnt hat.«

»Warum auch nicht?«, sagte Evander. »Wir alle sind von Natur aus neugierig, Mr. Ewing, entweder was die Welt anbelangt oder die Gewohnheiten der Menschen, die auf ihr leben. Erst wenn eine Person oder eine Rasse die Neugier verliert, setzt der Verfall ein.«

»Es gibt also nichts, was ich für Sie tun kann, Mr. McIver?«

»Ah, aber nicht doch«, erklärte Evander ihm. »Das würde ich nicht sagen. Es gibt Dinge, die Sie für mich tun können, Mr. Ewing. Es ist nur die Frage, ob Sie bereit sind, sie zu tun oder nicht.«

Sie spazierten weiter, während sie sprachen. Tom passte seinen kurzen Schritt dem ausgreifenden Evanders an. Er war erpicht auf das Gespräch gewesen und rätselte nun, was der alte Bullenzüchter von ihm wollte.

Als sie den Hang des kleinen Hügels emporstiegen und den Strand und das Haus hinter sich ließen, kam schnell die offene See ins Blickfeld. Sie hatte das gleiche tintige Dunkelblau wie das Meer um Iona, wo Granit in den Atlantik ausbiss. Die Gewässer nördlich von Foss hatten einen ähnlichen Farbton durch die kalten Strömungen, die blauschwarz wie Samt an Seide den Rand der Reeden streiften. Tom konnte die Brise an seiner Wange spüren, die Gischt, die von den seeumtosten Felsen unter dem Pfad hochgetragen wurde. Im Winter, dachte er, muss die ganze Insel wie ein Floß in einem Schleier von Gischt treiben, während McIver und seine Kinder und seine Enkel im Inneren des Holzhauses kuschelten und die Bullen und Bullenkälber in den Binsen kauerten, die Schwänze in den Wind gestellt und der Himmel über ihnen tobend.

»Da wären wir.« Evander McIver deutete auf seine Füße.

Zuerst konnte Tom nichts außer einer Vertiefung in der kargen Weide sehen, einen Flecken Rasen, umsäumt von Farn und Heide. Die Gedenktafeln waren so unauffällig, dass er auf der Insel eine ganze Woche hätte suchen können, ohne sie zu finden. Sie ragten nicht vom Boden auf, sondern lagen flach, waren fast im Rasen vergraben. Sie waren mit Flechten bewachsen und beinahe nicht von den Felsen über ihnen zu unterscheiden, außer dass sie Verzierungen trugen und zumindest auf zweien von ihnen Buchstaben waren.

»Was ist das?«, fragte Tom.

»Gräber.«

»Wer liegt hier begraben?«

Der alte Mann hob seine Schultern und breitete seine Hände aus. »Ich kann die Schrift nicht lesen«, sagte er. »Es ist eine alte Schrift und zu verwittert, um sie entziffern zu können. Wenn sie niemand sind, können sie jedermann sein.«

Tom bückte sich, legte seine Hände auf die Knie und schaute auf die Steine.

Die Grabsteine waren aus Schiefer. In sie waren die Jungfrau und das Kind gehauen, ein Langboot mit aufgerollten Segeln, ein Bullenkalb, ein Schwert, ein Buchstabe hier, aber kein Lateinisch; ein Buchstabe dort, kein Gälisch. Zahlen, die keinen Sinn ergaben, waren mit Hammer und Meißel in den Schiefer geschlagen, und als er das Moos mit seinen Fingerspitzen wegrieb, konnte er ausmachen, wo das Werkzeug angesetzt worden war.

Die Steine von Foss vermittelten Tom ein sonderbares Gefühl, ein Gefühl noch sonderbarer als die aufrechten Steine auf dem Friedhof hinter der zerfallenen Kapelle von Pennygown oder Steinkreise oder die Vertiefungen alter Festungen oder die alte Caliach, die hoch auf ihrer Landzunge stand. Die Begegnung mit Überresten aus alter Zeit löste in einem Teil seiner Seele immer eine ketzerische Erregung aus. Allerdings nicht so stark, nicht so sonderbar wie die Entdeckung dieser unbekannten Gräber auf der kleinen grünen Insel Foss, die er, als er aufblickte und auf die See schaute, plötzlich als Zwischenstation auf einer Reise westwärts ansah, hinaus in den Sonnenuntergang und weiter ans Ende der Welt.

Evander McIver legte eine Hand auf seine Schulter. »Hier entlang«, sagte er. »Es sind nur ein oder zwei Schritte. Glauben Sie mir.« McIver ließ seine Hand auf seiner Schulter ruhen – ob um ihn zu führen oder ihn zu stützen, dessen war Tom sich nicht sicher.

Die drei neuen Steine waren Seite an Seite an den Rand des Farns gelegt worden. Sie waren nicht aus Schiefer, sondern aus rosa Granit aus dem Tormore Steinbruch an dem Ross von Mull. Tom konnte die Markierungen ausmachen, an denen die Platten von dem Block getrennt worden waren. Sie waren unpoliert und nicht alt, noch nicht alt.

»Meine Frauen«, sagte Evander McIver. »Hier liegt Eillien. Und hier liegt Vanessa.«

»Innis’ Großmutter?«

»Ja.«

»Ist Innis hier gewesen?«

»Ja, ich habe es ihr gezeigt.«

Toms Mund war trocken. Er konnte das Salz in der Luft schmecken, obwohl keine Brise da zu sein schien, die es landeinwärts treiben konnte. Er dachte an seine eigene Mutter, die in einem Mietshaus in Dundee noch sehr lebendig war, an dieses hohe, abweisende Grabmal von Haus, aus dem man den Tay überblickte. Er dachte an seinen Vater, der auf dem Friedhof in Ninewells am Stadtrand begraben war. An seine Brüder und Schwestern in Glasgow und wie sie von dem Tag gesprochen hatten, an dem sie alle gemeinsam auf die Hebriden zurückkehren würden – was sie aber jetzt niemals tun würden.

»Was hat sie – was sagte Innis, als Sie sie hierher gebracht haben?«

»Oh, sie ist noch zu jung, um zu verstehen«, antwortete Evander. »Aber Sie verstehen, Mr. Ewing, nicht wahr?«

»Ich kann es nicht erklären.« Tom schüttelte seinen Kopf. »Aber ja, ich verstehe.«

»Zwei Kinder sind hier mit Eillien begraben, zwei Babys. Sie nahmen sie mit sich, als sie gingen.«

»Wie lange ist das her?«

»Zwölf Jahre.«

»Und die andere?«

»Fünfunddreißig.«

»Sie haben eine lange Zeit ohne sie gelebt«, sagte Tom.

»Zu lange, denke ich.« Evander McIver berührte mit seinem Zeh den dritten Stein, den, der bereits seinen Namen trug. »Werden Sie es tun, wenn die Zeit kommt? Werden Sie die Worte über mich sprechen, Mr. Ewing?«

»Ich bin vielleicht nicht hier. Auf Mull, meine ich.«

»Ich glaube, Sie werden da sein, Mr. Ewing. Irgendwie glaube ich, Sie werden da sein.«

»Dann, Mr. McIver, ja, dann werde ich Ihre Trauerfeier zelebrieren.«

»Trotz allem, was vielleicht das Presbyterium darüber sagen wird?«

»Was sie nicht wissen, wird ihnen nicht schaden.«

»Dafür danke ich Ihnen, Mr. Ewing«, sagte Evander. »Ich möchte Sie aber um noch etwas bitten, bevor Sie aufbrechen.«

»Und das wäre?«

»Werden Sie auf Innis aufpassen, wenn ich tot bin?«

»Innis«, sagte Tom vorsichtig, »kann sicher selbst auf sich aufpassen.«

»Sie ist nicht wie die anderen.«

»Dessen bin ich mir wohl bewusst«, gab Tom zu. »Aber vielleicht könnte sie selbst einen Ehemann haben, der dann natürlich auf sie aufpasst.«

»Das könnte so sein«, sagte der alte Mann, »aber was, wenn es nicht so ist?«

»Ich werde auf sie aufpassen«, versprach Tom. »Das wird keine Umstände machen.«

»Danke, Mr. Ewing.«

Tom zögerte. »Ist das alles, Mr. McIver? Ist das alles, was Sie von mir wollen?«

»Für den Rest ist gesorgt.« Evander McIver legte wieder eine Hand auf Toms Schulter. »Ich denke, wir sollten jetzt zurückgehen.«

»Ja«, sagte Tom, »bevor es zu kalt wird.«

Er hatte sie aufs Bett gelegt, flach auf den Bauch. Da sie endlich allein waren, stöhnte sie und schrie bei dem heißen, feuchten Schlag seiner Schenkel gegen ihre Hinterbacken auf. Sie konnte seine Finger in ihrem Haar spüren, als er ihren Kopf zurückzog und mit seinen Händen ihre Brüste umfasste. Das schmale Bett knarrte. Draußen scharrte der Collie an der verschlossenen Tür des Schuppens und winselte fortwährend. Da die Sonne tief am Himmel stand, fiel ein eckiger Lichtstrahl über die Wand. Das irritierte Biddy. Er vermischte sich mit den blendenden Blitzen, die durch ihre Nerven schossen, als Erlösung sich entluden. Sie stieß heftig gegen ihn und sackte dann unter seinem Gewicht zusammen. Einen Augenblick lang sehnte sie sich danach, dass er sie mit nichts anderem als mit seinen Lippen berührte, um »Ich liebe dich, Biddy, ich liebe dich« zu flüstern, bevor die Gefühle wieder begannen, aber natürlich sagte Michael nichts.

Sie bemerkte kaum den Schatten, der durch das Sonnenlicht schritt. Eine Sekunde bevor der Riegel rasselte und die Cottagetür in ihren Angeln rappelte jedoch, spürte sie, dass jemand draußen war. Sie erstarrte. Sie stützte sich mit ihren Ellenbogen auf das Bett und hob ihren Kopf. Sie spürte, dass Michael sich zurückzog. Sie hörte, wie er Atem holte und dann ebenfalls still wurde, absolut still.

»Tarrant«, rief Hector Thrale. »Tarrant, ich weiß, dass Sie da drin sind!«

Das Rasseln des Riegels ging in das wütende und drängende Hämmern von Fäusten über.

»Was machen Sie denn, Mann? Öffnen Sie! Ich will mit Ihnen reden.«

Biddy machte Anstalten, sich aufzurichten, aber Michael drückte sie nach unten, presste seine Unterarme in ihr Kreuz. Er murmelte so leise, dass Biddy die Worte kaum verstehen konnte: »Lieg still!«

»Öffnen Sie diese Tür, Tarrant, oder ich trete sie ein!«

Der Collie bellte jetzt; es war ein scharfes, wildes Geräusch, begleitet von heftigem Kratzen unten an der Schuppentür.

Biddy senkte ihre Stirn auf das Kissen und schloss die Augen.

Sie platzte fast vor Verärgerung darüber, dass ihr der Genuss verdorben worden war. Wäre Michael nicht so ruhig gewesen, hätte sie Thrale vielleicht zugeschrien, er solle sie in Ruhe lassen. Sie dachte an sein dickes rotes Gesicht und die verschlagenen Augen, daran, wie gern er das mit ihr tun würde, was Michael tat, oder, da dies nicht ging, wie er sie mit Blicken verschlingen würde, während sie so nackt auf dem Bett des Schafhirten lag.

Stille draußen. Sie überlegte, ob Thrale gegangen sein mochte.

Stirnrunzelnd drehte sie sich um. Michael schüttelte seinen Kopf.

Einen Augenblick später durchschnitt ein Schatten das Band von Sonnenlicht und sie hörte das Pochen von Thrales Knöcheln an der Fensterscheibe.

Sie flüsterte: »Kann er uns sehen?«

»Nicht von dort aus.«

Ihre Röcke, Strümpfe, Schlüpfer und Schals lagen auf einem Stuhl neben dem Feuer. Ihre Schuhe, die sie einfach abgestreift hatte, lagen auf dem Steinfußboden. Das Pochen ging weiter. Thrales Stimme, die jetzt schmeichelnd klang, schien in der von Sonnenlicht erfüllten Luft zu schweben. Sie mochte nicht glauben, dass sie keine Angst hatte. Sie fühlte sich schwer und ausgesetzt in ihrer Nacktheit. Ihren Kopf drehend, schaute sie über ihre Schulter zu Michael, der zu ihrem Erstaunen erigiert geblieben war. Sie verlagerte ihre Stellung, ballte ihre Fäuste und schob sich auf den Ellenbogen rückwärts. Mit gebogenem Rückgrat stieß sie lockend gegen ihn, bis er wieder in sie drang, so glatt und leidenschaftslos wie immer.

Nach einer Weile ging Hector Thrale fort.

Da Wind und Gezeiten gegen sie standen, bot Tom an, einen der Riemen zu übernehmen. Seite an Seite auf der Ruderbank sitzend, ruderten der Geistliche und die Fischerstochter im Gleichtakt, bis die Kelpie die kleinen Inseln hinter sich gelassen hatte und ein achterlicher Wind aus Südwesten Innis erlaubte, das Segel zu setzen.

Tom nahm von Foss mehr mit, als er dorthin gebracht hatte: Eier in einem Strohkorb, geräucherten Fisch, einen Käse von der Größe einer Radnabe und zwei alte Bücher über die frühe Geschichte der Gälen, von denen Tom noch nie etwas gehört, geschweige denn sie gelesen hatte. All dies im Tausch gegen Versprechen, die weder seine Zeit noch seine Geduld strapazieren würden.

Er war ruhig während der Fahrt, aber nicht brütend, nicht ernst. Er spürte eine Verbundenheit mit Innis, die vorher nicht da gewesen war. Er fürchtete sich nicht mehr davor, dass ihre Röcke sein Knie streiften, dass ihre Schenkel seine berührten. Im Laufe des Tages war er von einer Art von Unschuld ergriffen worden, die überhaupt keine Unschuld war. Doch unglücklicherweise verlor sich der Geist von Foss, von Evander McIvers Insel bald, nachdem sie auf der Höhe von Treshnish waren und die Berge von Mull vor ihnen aufragten.

Die Dünung trug die Kelpie aus der Meerenge. Die langen, glänzenden Wellenkämme der offenen See schoben das Boot vorwärts. In den tiefen Schluchten von Mull waren die Schatten bereits lang geworden, und ein weißer Hauch in der Luft erinnerte ihn daran, dass es November war und der Winter bald kommen würde. Innis indes war glücklich, glücklicher, als er sie je gesehen hatte. Sie sang vor sich hin, während sie das Ruder bediente oder den Riemen oder das Segel trimmte. Er warf einen Blick zu dem aufragenden Stein auf der Landspitze, der alten Caliach, die immer und ewig auf die See hinausschaute. Er überlegte, was den wahren Geist der Inseln verkörpern mochte: Ob es die alte Frau war oder der alte Mann, ob es Legende war oder Geschichte, oder ob dies alles einfach nur Unsinn war und falsche Romantik?

Möwen stießen ins Kielwasser der Kelpie hinab, und über den tiefen Spalten der zerklüfteten Küste konnte er Raben kreisen sehen. Er schaute zu Innis, die lächelte, als ob sie genau wüßte, was ihm durch den Kopf ging.

»Sehen Sie jetzt, wer ich bin?«, fragte sie.

»Ich beginne es zu sehen«, erklärte Tom ihr und ließ es für den Augenblick dabei bewenden.