Es war Monate her, seit Biddy Pennymain zuletzt besucht hatte. Ihre Beziehung zu ihrer Schwester war nie gut gewesen. Bis auf einen Zeitraum von acht oder neun Jahren nach ihrer Heirat mit Quig war sie selten frei von Neid auf Innis gewesen und fühlte sich oft schuldig, dass sie, Biddy, sich von Michael Tarrant hatte zum Ehebruch verführen lassen. Die Zeit hatte alte Wunden und jugendliche Rivalitäten nicht heilen können, und sie machte in dem Durcheinander, das die Wechseljahre mit sich brachten, Innis Vorwürfe für all ihre Enttäuschungen.
Sie war schockiert gewesen, als sie Michael auf ihrer Türschwelle stehen sah, noch schockierter aber darüber, wie er sich verändert hatte, Veränderungen, die sie zu dem Schluss geführt hatten, dass Erinnerungen an eine ungetrübte Liebe nicht mehr als Hirngespinste waren.
Michael Tarrant war jetzt nicht mehr als ein vulgärer, kleiner Bauerntölpel. Sie mochte kaum glauben, dass sie sich einst dazu hatte hinreißen lassen zu denken, dass seine hartnäckige, egoistische Beharrlichkeit Ausdruck wahrer Liebe gewesen war. Die Erkenntnis, dass sie Michael Tarrant vielleicht geheiratet hätte, wenn er nicht mit Innis verheiratet gewesen wäre, erfüllte sie jetzt mit Ekel.
Biddy stieß im Garten vor Pennymain auf Innis. Sie besprühte die Rosensträucher mit Seifenwasser.
»Biddy!« Innis lächelte dieses liebreizende kleine Lächeln, das Biddy immer verabscheut hatte, das so ruhig, so geduldig, so fromm war. »Wie schön, dich zu sehen. Willst du hereinkommen? Ich setze den Kessel …«
»Ich will nicht reinkommen«, unterbrach Biddy. »Ist Michael hier?«
»Ich dachte, er sei bei dir, auf Fetternish.«
Innis schulterte die Messingspritze und lächelte weiter dieses gütige, aufreizende Lächeln, so als ob das plötzliche Wiederauftauchen ihres Mannes keine Bedrohung darstellte. Für einen Augenblick begann Biddy sich sogar zu fragen, ob er sich wieder in das Bett ihrer Schwester zurück geschmeichelt hatte. Aber sie vergaß diesen lächerlichen Gedanken rasch wieder.
»Was wollte er denn für sich selbst?«, fragte Biddy.
»Hat Becky es dir nicht erzählt?«
»Becky! Ha, ich weiß überhaupt nicht, was mit Becky heute Morgen los ist. Sie ist da oben und heult in den Ausguss oder rennt davon, um sich auf der Toilette zu verstecken, schluchzt, als sei ihr Herz gebrochen. Hat Michael etwas gesagt, das sie gekränkt hat?«
»Ich denke, sie weiß, dass sie einen schweren Fehler gemacht hat, als sie an Gavin schrieb.«
»Warum, in Gottes Namen, hat sie es denn getan?«, sagte Biddy.
»Vielleicht, um mir heimzuzahlen, dass ich eine Fremde aufgenommen habe.«
»Kehrt das Ludlow-Mädchen nach Derbyshire zurück, zu Gavin?«
»Nein.«
»Kränkelt sie?«, fragte Biddy. »Ich hörte, dass Agnes MacNiven gestern Abend hier war.«
»Fay wird eine Hebamme brauchen, wenn es so weit ist. Aber bisher ist sie völlig gesund«, erzählte Innis. »Das Baby liegt gut und Agnes rechnet, dass es vor Ende August kommen wird.« Sie zögerte und fuhr dann fort: »Wenn Michael nicht bei dir auf Fetternish wohnt, muss er zurück ins Mishnish gegangen sein. Hat Quig ihn nach Tobermory gefahren?«
Biddy schüttelte den Kopf. »Michael hat offensichtlich gemerkt, dass er weder in meinem Haus noch in deinem willkommen ist. Hat er dich um die Scheidung gebeten?«
»Das hat er.«
»Er will die Witwe heiraten, mit der er zusammenlebt, wahrscheinlich, um an ihr Geld zu kommen. Was weißt du über sie?«
»Sehr wenig«, antwortete Innis. »Eigentlich überhaupt nichts. Er fährt morgen mit der Claymore wieder zurück. Er sagte Fay, sie solle mit ihrem Gepäck am Pier sein, aber ich bin sicher, dass er weiß, dass sie nicht dort sein wird.«
»Morgen früh? Gott, dann beweist er aber nicht viel Ausdauer, nicht wahr, nicht wie der alte Michael Tarrant, oder?«
»Ich glaube«, meinte Innis, »dass er nur gekommen ist, um die Frau zu beschwichtigen.«
»Die Witwe?«
»Ja, die Witwe. Michael will mit uns nicht mehr zu tun haben, als wir mit ihm zu tun haben wollen.«
»Bist du endlich über ihn hinweg?«, sagte Biddy.
»Ich, ja«, sagte Innis. Sie stockte. »Und du?«
Biddys Wangen glühten. »Was meinst du mit …«
»Bist du’s, Biddy?«
»Natürlich bin ich das«, erwiderte Biddy. »Schon lange.«
»Warum möchtest du, dass ich mit ihr spreche?«, fragte Quig. »Warum kann Willy das nicht tun? Sie hat mehr Respekt vor Willy als vor mir.«
»Willy ist mit Aileen hinausgegangen, um Hermann aufzulauern«, sagte Maggie, »und ich habe nicht die Absicht, ihm über die Auffahrt hinterher zu hetzen. Und ebenso wenig habe ich die Absicht, den Rest des Vormittags mit einem heulenden Mädchen zu verbringen. Es gibt Arbeit zu tun.«
»Die Arbeit kann warten«, sagte Quig. »Wo ist Becky?«
»Auf dem Hof und schluchzt.«
»Nun gut. Ich werde mit ihr reden.«
Es dauerte gut zehn Minuten, bis er Becky draußen am Hang unterhalb der Terrasse fand. Der Rasen war geschnitten, doch das warme, feuchte Wetter hatte das Gras schnell wieder wachsen lassen und Klee, Gänseblümchen und Butterblumen durchsetzten die welken Heuhaufen. Quig betrachtete die schlecht gepflegten Rasenflächen und dachte, was für eine unverantwortliche Menge an Zeit, Mühe und Geld auf den Versuch vergeudet worden war, dem Land mehr abzugewinnen, als es hervorbringen konnte. Dann entdeckte er Becky, fast versteckt hinter einem der verzierten Steinpoller, die vor der gefliesten Terrasse aufragten. Sie hatte die Knie angezogen und die Hände vor die Augen geschlagen. Er sah das Kind in ihr, die unfertige Frau. Becky war stur, intolerant und streitsüchitg, dennoch hatte er Mitleid mit ihr.
Er eilte den Hang hinunter.
»Was ist denn, Becky? Erzähl mir, was dir fehlt.« Er setzte sich neben sie ins Gras. »War dein Vater eine solche Enttäuschung?«
»Ich hätte niemals schreiben sollen. Ich hätte es auf sich beruhen lassen sollen.«
»Das hättest du«, stimmte Quig ihr zu. »Was hattest du gehofft, damit zu gewinnen?«
»Ich habe ihn vermisst. Zumindest habe ich das, als ich jünger war. Ich weiß, dass Mam mich liebt und nichts tun würde, um mich zu verletzen, aber als Fay Ludlow kam und ich das von meinem Bruder hörte …« Sie blickte zu ihm auf, ihre Augen waren voller Tränen. »Ich wollte herausbekommen, wer ich wirklich bin und was für ein Mann mein Vater wirklich ist. Ich dachte, er würde mir helfen, zu einer Entscheidung zu kommen über … Dinge.«
Quig sagte: »Hat Rachel dich darauf gebracht?«
»Rachel hat immer gewusst, was sie wollte.«
»Aber du nicht.«
»Nein, ich nicht.«
»Biddy hätte für dich bezahlt, damit du auf dem Festland aufs College gehen könntest, das weißt du, aber du hast sie nie darum gebeten.«
»Ich wollte Fetternish nicht verlassen, Mam nicht verlassen.«
»Hast du deine Meinung geändert?«, forschte Quig.
»Für mich gibt es hier nichts«, sagte Becky. »Ich dachte, wenn ich mich mit meinem Vater treffe, würde das meine Probleme lösen.«
»Aber du hast an Gavin geschrieben, nicht an deinen Vater. Das war dein Fehler.«
»Du hast wie gewöhnlich Recht, Quig. Warum hast du immer Recht?«
Sie wischte sich die Augenlider mit den Fingerspitzen ab. Sie war kein hübsches Mädchen, aber ihre wache Intelligenz würde ihr auf dem Festland gute Dienste leisten. Quig wünschte, sich dazu durchringen zu können, sie zu mögen, und bedauerte, dass er nicht mehr für Innis’ Mädchen getan hatte, als sie aufgewachsen waren.
»Du fürchtest dich, nicht wahr?«, vermutete er. »Du fürchtest dich vor dem, womit du konfrontiert werden wirst, wenn du Mull verlässt.«
»Ich habe gesehen, wie Menschen sich verändern, nachdem sie gegangen sind, wie Donnie sich veränderte und Tricia, sogar Rachel. Sie wurden andere Menschen, Fremde sogar für sich selbst.« Sie rieb sich mit einem Knöchel unter der Nase und starrte auf die See. »Dada konnte sich nicht einmal an meinen Namen erinnern«, sagte sie, mehr verwirrt als traurig. »Er hatte gar kein Interesse an mir. Er war nur daran interessiert, das zu bekommen, was er für sich haben wollte.«
»Die meisten Menschen sind so«, sagte Quig.
»Aber der eigene Vater … mein Vater …« Sie riss den Kopf hoch und schaute ihn finster an. »Ich muss für mich selbst entscheiden, nicht wahr, Quig?«
»Ja, das musst du«, sagte Quig. »Aber entscheide bald, weil es ganz gut sein könnte, wenn du nicht hier bist, wenn Gavin zurückkommt.«
»Ich sehe jetzt, dass ich einen schrecklichen Fehler gemacht habe. Wenn Mam will, dass Fay hierbleibt, wenn es Mam glücklich macht …« Sie hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Ich mache nichts als Ärger, nicht wahr? Ich habe immer an Gerechtigkeit und faires Spiel geglaubt, aber alles, was ich wirklich wollte, war ein Vorwand, zu bleiben und mich nichts stellen zu müssen.« Sie zuckte wieder die Schultern. »Ich könnte Krankenschwester sein, weißt du. Wenn ich wollte, könnte ich Krankenschwester sein.«
»Wie mir gesagt wurde, ist das ein sehr hartes Leben.«
»Ha!«, rief Becky, wobei sie weniger wie ihre Mutter als wie ihre Tante klang. »Es kann nicht härter sein, als unter Maggie Naismith zu arbeiten. Wenn Rachel es ertragen kann, kann ich das auch.« Sie schaute ihn rasch an. »Versuchst du, mich zu überreden, eine Entscheidung zu fällen?«
»Nein, ich versuche nur, dich zu verleiten, Mittagessen zu machen.«
»Du bist ein Teufel, Quig, weißt du das?«
»O, das weiß ich sehr gut«, sagte Quig. »Aber wirst du trotzdem darüber nachdenken – nein, nicht übers Mittagessen, über die andere Sache.«
»Ich werde nicht über sehr viel anderes nachdenken.« Becky richtete sich auf und strich sich die Haarsträhnen zurück, die ihr in die Stirn gefallen waren. »Ich beginne zu verstehen, was sie in dir sieht.« Sie beugte sich zu ihm und lächelte ihm ins Gesicht. »Die kleine Miss Unschuldig, meine ich. Sei lieber vorsichtig, Onkel Quig, denn sonst werde ich vielleicht nicht die Einzige sein, die ihre Sachen packt und aufs Festland geht. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss mich ums Mittagessen kümmern.«
»Becky, warte …«
Aber sie war bereits über den Rasen durch die Butterblumen und Kleeblüten zum Haus gerannt.
Quig beobachtete sie reglos, lehnte sich dann mit einem kleinen ergebenen Stöhnen zurück und starrte freudlos auf die See hinaus.
Biddy erschrak ziemlich, als das Mädchen sich aus dem Farn erhob, obwohl sie viel zu massiv war, um einer von Aileens Elfengeistern zu sein.
Biddy spürte, dass dies keine zufällige Begegnung war.
»Vermessen Sie Ihr Land, Mrs. Quigley?«, fragte das Mädchen.
»Nein, ich vermesse mein Land nicht«, erwiderte Biddy verdrossen.
»Suchen Sie dann Mr. Quigley?«
»Was geht’s dich an, was ich tue?«
Tatsächlich hatte sie nichts getan, außer spazieren zu gehen.
Sie war unruhig gewesen, seit Patrick weg war, und ihre Sorge und das Schuldgefühl hatten sich verzehnfacht durch das Wissen darum, dass Michael derzeit in Tobermory war. Sie war auch aufgeregt, weil Christina und Robbie bald von der Schule zurückkehren würden. Patrick fort, die Kinder drohend nahe: kein Wunder, dass ihre Kopfschmerzen wiedergekommen waren. Deprimiert und besorgt war sie über den schmalen Weg, der von dem großen Haus zu den sandigen Mulden an der Rückseite von Olaf’s Hill führte, hinausgegangen. Hier war sie vor der Sicht vom Haus aus geschützt und weg von jenem Streifen Land, der nicht länger ihr gehören würde, wenn sie ihn Patrick Rattenbury gab.
Fay hatte sie natürlich vom Hügel aus entdeckt – daran war nichts geheimnisvoll –, war hinuntergeschlendert und hatte sich im hohen Farn versteckt, um sich auf sie zu stürzen, als sie vorbeikam.
Das Summen der Insekten war unnormal laut. Sie hingen in einer dichten, ekelhaften Wolke um Fay, als sei sie ein totes Ding oder ein Ding, das sterben würde. Biddy erschauerte, riss sich dann zusammen, reckte ihre Schultern und blickte herablassend auf den geschwollenen Klumpen Bauch, der bald einen weiteren Campbell hervorbringen würde, ein weiteres Glied in der Kette der Verdammnis.
»Bist du mir gefolgt?«
»Ja, Mrs. Quigley, das bin ich.«
Sie sahen sich in dem Sumpf des Weges an, umgeben von kopfhohem Farn. Biddy, nervös und überempfindlich, hatte plötzlich Furcht vor Fay Ludlow, ein erschreckendes Gefühl von Vorahnung.
»Warum?«, sagte Biddy.
»Werden Sie ihn besuchen?«
»Ich gehe nirgendwohin«, sagte Biddy. »An keinen Ort, der dich etwas anginge.«
»Werden Sie ihm die Wahrheit sagen?«
Mit trockenem Mund sagte Biddy: »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»Von Mr. Tarrant. Michael Tarrant. Werden Sie ihn treffen?«
»Du hast mehr Grund ihn zu sehen, als ich.«
»Er ist Gavins Bruder, nicht wahr?«, sagte Fay Ludlow.
»Er ist Gavins Vater, sein Vater, um Himmels willen! Wie kann er …«
»Sie sind keine Cousins«, sagte Fay. »Ich weiß, dass sie keine Cousins sind. Ich wusste, als ich Robbie zum ersten Mal sah, dass er mehr ist als ein Cousin von Gavin.«
Biddy spürte, dass eine wässrige Flüssigkeit, brennend wie Essig, in ihre Kehle stieg.
»Das ist zu weit hergeholt, um glaubwürdig zu sein.«
Fay schwenkte eine Hand, um die schwarzen Fliegen zu verscheuchen. Da waren jetzt mehr Fliegen, wie Biddy sah, ein Schwarm, eine Wolke, die über den Farnen hing.
Fay sagte: »Das war nicht Quig, nicht wahr? Ich meine, er ist nicht der Vater von Robbie. Er mag ihn lieben wie ein Vater, aber sie sind nicht vom selben Blut.« Sie wedelte wieder mit der Hand. »Ich möchte nichts von Ihnen, Mrs. Quigley, ich möchte nur, dass Sie über das nachdenken, was Sie getan haben, bevor Sie mich verurteilen.«
»Dich verurteilen?«
»Ich habe nicht viel vom Leben gesehen, als ich in Fream war – aber ich habe genug gesehen«, fuhr Fay fort. »Ich habe nie einen Mann nackt gesehen, bis Gavin mich in unserer Hochzeitsnacht mit nach Hause nahm. Außer ihm habe ich nie einen Mann nackt gesehen. Nur weil ich aus dem Waisenhaus komme, bedeutet das aber nicht, dass ich Dinge nicht verstehe. Ich verstehe, dass Sie getan haben, was Sie tun mussten um Ihres Babys willen, und das macht Sie und mich gleich.«
»Bist du mir deshalb gefolgt? Um mich mit törichtem Unsinn über meinen Sohn zu belästigen? Wenn du glaubst, du könntest mir auch nur einen Penny entlocken …«
»Sie verstehen nicht«, sagte Fay. »Er ist da unten in der Stadt und wartet darauf, dass ich mit ihm zurückgehe. Ich werde nicht gehen. Als Nächstes wird er Gavin schicken. Ich habe niemanden, der mich beschützt, wenn Sie nicht hinter mir stehen. Ich weiß, dass Ihr Wort mehr gelten wird als meins, dass niemand mir jemals glauben wird, was ich zu sagen habe, selbst wenn man sieht, wie Gavin aussieht. Sie denken vielleicht, ich irre mich, wenn ich sage, dass Robbie und Gavin sich ähneln wie ein Ei dem anderen, aber so ist es. Das ist kein Zufall. Da kommt das Blut durch.«
»Was hat mein Mann zu deiner Geschichte zu sagen?«
»Nicht einmal im Traum würde ich das Quig erzählen. Ich werde es niemanden erzählen, weil niemand mir glauben wird, selbst wenn man den Beweis vor Augen hat. Wäre Mr. Tarrant nicht hierher gekommen, hätte ich es für mich behalten. Wenn ich mich irre – aber ich weiß, dass ich das nicht tue –, dann werden Sie mich noch mehr hassen, als Sie es schon tun, noch mehr sogar als Sie tun werden, wenn die Dinge sich verschlechtern.«
»Du meinst, wenn Gavin deinetwegen kommt?«
»Das wird er.«
»Und was, wenn nicht?«, fragte Biddy.
»Mr. Tarrant wird ihn schicken.«
»Michael? Warum sollte er das tun?«
»Um es Ihnen heimzuzahlen.«
»Mir?«, sagte Biddy.
»Ihnen allen.«
Das war wahrscheinlich reine Vermutung von Fay Ludlow, doch nichtsdestoweniger hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn es mehr als Vermutung war, dann wusste Biddy, dass Michael dahinterstecken musste. Sie glaubte nicht, dass das Mädchen so scharfsinnig war, sah sie nur als Schwachkopf, ohne den Grips oder die Frechheit, Opportunistin zu sein.
»Ich habe keine Angst vor Gavin Tarrant«, sagte Biddy.
Das war sonderbarerweise die Wahrheit. Sie hatte den mopsgesichtigen Jungen mit dem dunklen Haarschopf und dem gemeinen Blick immer verabscheut. Hatte boshafte Befriedigung an der Tatsache gefunden, dass die Natur Innis ein solches Kind geschenkt hatte. Irgendwie hatte sie die Augen vor der Tatsache verschlossen, dass Gavin Tarrant und Robbie, ihr Robbie, Halbbrüder sein könnten.
Sie war sich nie sicher gewesen, wer Robbies Vater wirklich war, Michael oder Quig. Sie hatte mit Michael nur ein paar Tage vor ihrer Heirat mit Quig geschlafen und hatte ihrem Glücksstern dafür gedankt, dass sie genau da einen Ehemann gefunden hatte, einen guten Ehemann, einen stillen, fügsamen, bedingungslosen Ehemann.
»Wenn Gavin hierher kommt, um Ärger zu machen«, fuhr Biddy fort, »wird Quig sich um ihn kümmern.«
»Ja«, sagte Fay, »aber wird Quig sich um mich kümmern, um mich und mein Baby?«
»Du …« Biddy zögerte. »Du bist keine von uns, wirst es nie sein.«
»Aber mein Baby ist es, mein Baby wird es sein.«
Biddy war plötzlich wütend. Sie wollte nur das schwitzende Mädchen mit ihrem riesigen, massiven Bauch loswerden. Sie erinnerte sich ihrer eigenen zweiten Schwangerschaft, an die Hölle, die Christina ihr in der Hitze der Sommermonate bereitet hatte: Übelkeit, Krämpfe, Blasenschwäche und Durchfall, so als habe die Natur Christina geschickt, um sie für die Leichtigkeit zu bestrafen, mit der sie Robbie geboren hatte.
»Ich werde mich nicht für etwas erpressen lassen, das du nicht beweisen kannst.«
»Es ist also wahr«, stellte Fay fest. »Ich wusste es.«
»Es ist nicht wahr, überhaupt nicht wahr«, widersprach Biddy mit aller Autorität, die sie aufbringen konnte. »Robbie ist mein Sohn, Quigs Sohn. Er wurde ehelich geboren. Mir ist egal, wie groß die Ähnlichkeit zwischen Gavin Tarrant und Robbie ist. Es ist eine Laune der Natur, mehr nicht, eines dieser Dinge, die in manchen Familien passieren.«
»Quig akzeptiert das, nicht wahr?«, sagte Fay.
»O, ich habe jetzt genug davon«, sagte Biddy. »Ich wusste von dem Augenblick an, als ich dich sah, dass du nur Ärger machen würdest. Aber wenn du glaubst, du könntest mich mit deinen Lügengeschichten einschüchtern, liegst du falsch. Ich werde nicht auf deine Verleumdungen und Andeutungen hereinfallen. Sie beeindrucken mich nicht, Fay Ludlow, und sie werden niemand in meiner Familie beeindrucken, am allerwenigsten Quig.«
»Wenn Gavin kommt, wird er die Wahrheit herausfinden.«
»Nein«, schnappte Biddy. Wenn Gavin kommt …«
Plötzlich erfasste eine eiserne Faust ihre Stirn. Rasender Schmerz schoss seitlich durch ihr Gesicht. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, bedeckte ihre Augen mit einer Hand und spürte, dass der Schmerz sich in ihrer Stirn zusammenzog. Alle Gedanken an Gavin, an Robbie, an Quig schwanden. Ihre Mutter hatte ein Aneurysma gehabt und sie für den letzten Teil ihres Lebens zum Krüppel gemacht.
Wie alt war Vassie gewesen, als die Katastrophe gekommen war? Älter als sie, Biddy, jetzt war – aber nicht viel.
Sie saugte etwas heiße, salzige Luft ein.
»Was ist denn?«, fagte Fay. »Was fehlt Ihnen?«
»Nichts. Nichts fehlt mir.«
»Haben Sie Schmerzen?«, sagte Fay. »Soll ich Quig holen?«
Kein undeutliches Sehen, keine Benommenheit, keine Übelkeit, kein Verlust der Motorik. Sie erinnerte sich aller Anzeichen und Symptome. Ferne Stimmen riefen Biddy, flüsterten ihr Neuigkeiten über ihre eigene Sterblichkeit zu. Sie sog wieder tief Luft ein, rieb ihre Stirn, um die Erinnerung wegzumassieren. Schmerz war eine Ablenkung gewesen, eine Nebenerscheinung, um sie von ihren anderen Sorgen abzulenken, von denen das Mädchen nicht die kleinste war. Sie wollte Patrick, wollte verzweifelt Patrick. Sie brauchte einen Mann, um sich anzulehnen, zum Lieben.
»Ich werde es niemand erzählen, wissen Sie«, sagte Fay. »Ich hatte nie die Absicht, es jemand zu erzählen. Ich wollte nur, dass Sie wissen, dass wir nicht so weit auseinander sind, Mrs. Quigley, und dass Sie nicht schlecht von mir denken sollen, weil ich jung und hier eine Fremde bin.«
»Nun gut«, hörte Biddy sich sagen. »Jetzt, da du gesagt hast, was du sagen wolltest, würde ich gerne meinen Spaziergang fortsetzen.«
»Ich werde ein Stück mit Ihnen gehen«, sagte Fay Ludlow.
»Nein, das wirst du nicht«, entgegnete Biddy energisch, machte auf dem Absatz kehrt und ging den sandigen Weg hinauf, den Weg zurück, den sie gekommen war.
Michael war allein im Speisesaal, als Biddy im Mishnish ankam.
Sie hatte Maggie nach Crove geschickt, um dort den Einspänner zu holen und war kurz nach dem Abendessen selbst nach Tobermory gefahren. Obwohl Hochsommer herrschte, war das Licht durch die Berge eingetrübt und die See lag dunkel unter Wolken. Es mochte Regen oder ein Gewitter in der Luft sein, doch Biddy nahm an, dass der Himmel bei Anbruch der Nacht klar und Regen nicht mehr als eine ferne Drohung sein würde.
Die Stadt hatte einen öligen Geruch an sich, mehr mechanisch als nach Fisch.
Der Pier war fast verlassen. Draußen, auf der Bucht, hinter Calf Isle, lagen drei gepflegte Jachten vor Anker. Auf dem, was als Promenade galt, schlenderte der größte Teil der Besucher dieses Tages ziellos umher.
Sie machte das Pferd an dem Geländer des alten Molenkopfes fest, spazierte über das Pflaster zur Frontseite des Hotels und sah ihn durch das Fenster allein sitzen. Er nippte abwechselnd an einer Tasse und einem Brandyglas, sein Kopf war von Zigarrenrauch umhüllt.
Es gab keine Hotelhalle. Geklapper von Geschirr drang aus dem Durchgang zur Küche und das Klimpern eines ungestimmten Klaviers und gedämpfter Gesang war aus dem hinteren Salon zu hören.
Biddy ging direkt in den Speisesaal und setzte sich an Michaels Tisch. Sie tat das anmutig, schlug den Rock ihres Musselinkleides unter ihren Knien hoch.
Sie trug einen kleinen Umhang aus rubinrotem Tuch mit einem Kragen aus japanischem Fuchs und einen Hut, über dessen Krempe eine Taubenschwinge befestigt war, schön und modisch, aber nicht zu auffällig. Das Ankleiden fürs Ausgehen hatte fast den ganzen Nachmittag in Anspruch genommen und sie davon abgehalten, sich weiter in ihr Leid zu versenken.
Ihre Kopfschmerzen waren jetzt verschwunden.
»Ich dachte mir, dass du kommen würdest«, sagte Michael. »Ich dachte mir, dass du nicht widerstehen könntest.«
»Schmeichle dir nicht zu sehr«, sagte Biddy.
»Nimmst du einen Drink mit mir?«
»Was ist in deinem Glas?«
»Brandy und Soda.«
»Ich würde einen Likör vorziehen«, sagte Biddy. »Drambuie.«
»Dann einen Drambuie.« Michael erhob sich nicht von seinem Stuhl. Er rief mit lauter Stimme: »Tam, Tam, einen Drambuie für die Dame, bitte, und noch mal dasselbe für mich.«
Er kam nicht auf den Gedanken, dass er nicht gehört werden könnte oder dass seine Bestellung nicht sofort ausgeführt werden würde.
Er musterte Biddy kritisch, hatte seine Augenlider gesenkt und rauchte seine Zigarre sehr langsam, inhalierte und exhalierte mit träger Zufriedenheit. Er sagte nichts und sie sagte nichts, bis die Gläser auf einem Blechtablett auftauchten. Tam, der Wirt, ging wieder und ließ das Paar zwischen Tischtüchern, Tassen und Essig- und Ölfläschchen allein. Michael nippte an seinem neuen Glas.
»Hat Innis dich hergeschickt, um für sich zu bitten?«, fragte er.
»Innis bettelt nicht, wie du wohl weißt.«
»Dann hat sie sich nicht sehr geändert.«
»Fast überhaupt nicht«, sagte Biddy. »Was hast du zu ihr gesagt?«
Er zuckte die Schultern, nippte und paffte an der Zigarre. »Es gab wenig zwischen uns zu sagen. Komisch – eigenartig, meine ich –, wie wenig es gab, worüber wir zu sprechen hatten. Es hat nie so viel zwischen Innis und mir gegeben wie zwischen mir und dir war, Biddy.«
»Bis auf drei Kinder und eine Ehe.«
»Du bist doch nicht hergekommen, um über Innis zu sprechen, oder?«, sagte er. »Du bist um das Wohlergehen deiner Schwester nicht besorgter als ich. Was führt dich zu dieser späten Stunde nach Tobermory? Konntest du mich nicht in Frieden lassen?« Er beugte sich vor. Sein Bauch zerknitterte seine Weste. »Konntest du es nicht ertragen, mich gehen zu lassen, ohne mir angemessen Lebewohl zu sagen?«
»Es ist vorbei, nicht wahr, Michael?«
»Ja«, sagte er sanft. »Ja, Biddy, es ist vorbei.«
»Erzähl mir von dieser Witwe, die du heiraten möchtest.«
»Ada? O, Ada ist einfach genau richtig für mich in meinem Alter. Sie gibt mir, was ich will, ich erwidere die Gunst und wir kommen sehr gut miteinander aus.«
»Und ihre Töchter?«
»Sie billigen das.«
»Billigen? Was für ein sonderbares Wort«, sagte Biddy. »Billigen sie, dass du ein Bett mit ihrer Mutter teilst?«
»Solange sie glücklich ist, ist ihnen gleich, was wir tun.«
»Hast du versprochen, sie zu heiraten?«
»Ada versteht die Situation.« Michael hielt inne. »Ich habe sie gewarnt, dass Innis schwierig sein würde. Der Versuch wird Ada genügen, zumindest für den Augenblick.«
»Dann ist dir Gavin also völlig gleichgültig, oder seine Frau?«
Er klopfte ein Stück Zigarrenasche auf eine Untertasse und unterließ es, Biddy in die Augen zu schauen. »Gavin ist schlecht. Sinnlos, vor dieser Tatsache die Augen zu verschließen. Du weißt das und ich weiß das, und zu deiner Information, Biddy, er ist nicht besser geworden. Er ist jetzt genauso, wie er immer war. Ich war gezwungen, ihn aus dem Ettrick Pen wegzujagen, ihn von Coraldene fortzuschicken, bevor er mir alles ruinierte.«
»Coraldene?«
»Adas Besitz, Adas Hof.« Michael klopfte wieder Asche ab. »Es waren die Mädchen, weißt du, die Töchter. Er war hinter den Töchtern her wie ein Fuchs hinter den Hühnern. Er hätte sie in Stücke gerissen, wäre ich nicht dort gewesen, um ihn wegzuschaffen. Es gab einige sehr gefährliche Situationen, mehr als einige. Das war schlecht für die Nerven. Sehr schlecht für die Nerven.« Er stieß ein trockenes Kichern aus. »Er war – er ist – ein Campbell durch und durch, weißt du.«
»Was meinst du damit?«
»Er ist völlig verrückt.«
Sie spürte Blut in ihre Wangen steigen, spürte, dass es in ihr brodelte.
Sie konnte jedoch nicht ernsthaft den Ruf ihrer Familie verteidigen, nicht gegenüber diesem Mann. Sie tröstete sich mit Ironie, mit dem Wissen, dass er, Michael Tarrant, vielleicht nicht nur Vater eines, sondern zweier Campbell-Männer war, jeder so verschieden vom anderen wie Tag und Nacht.
»Wie kannst du das von deinem eigenen Sohn sagen?«, fragte Biddy.
»Weil es die Wahrheit ist.«
»Und doch würdest du dieses arme Mädchen, Fay, zu ihm zurückbringen?«
Er kicherte humorlos wieder. »Was macht man mit Leuten wie Gavin? Das Gleiche, was du mit deinem Dada, dem alten Ronan, getan hast, das Gleiche, was du mit deiner verrückten Schwester tust. Man befriedigt sie. Bei Gott, ja, man befriedigt sie.«
»Hast du keine anderen Kinder, keine anderen Söhne?«
»Wie?«
»Ich meine«, sagte Biddy vorsichtig, »Kinder mit Ada Reese?«
»Ada ist darüber Gott sei Dank hinaus.«
Biddy hob das gerillte Glas und nippte an dem Likör. Er lag auf ihren Lippen und der Zunge, süß und mild zuerst, dann erwärmend. Sie schluckte und nahm ein wenig mehr. Die Hitze in ihrer Kehle und ihrer Brust halfen, ihren Ärger zu schmelzen. Michael war aufgeräumter, obwohl er das sicher nicht gewollt hatte. Seine Arroganz war jetzt nicht mehr als die Eitelkeit eines Männchens, dessen Federn erschlafft waren, dessen Pelz seinen Glanz verloren hatte.
Biddy sagte: »Du hast gar nicht danach gefragt, wie es mir geht oder meinen Kindern.«
»Ich warte darauf, dass du es mir erzählst.«
»Als du gestern Abend da standest, dachte ich, du würdest kommen, um ein Angebot für Fetternish zu machen«, sagte Biddy. »Ist das nicht ein Witz?«
»Dann sind die Zeiten also schwer für dich, Biddy? Das hatte ich mir gedacht.«
»Ich verkaufe einen Teil des Besitzes.«
»Nicht an mich. Das tust du nicht«, sagte Michael. »Das hatten wir bereits durch.«
»Es ist die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass ich das Haus und genug Land behalte, um es meinem – es Robbie zu übergeben.«
»Ist es das wirklich wert, daran zu hängen?«
»Früher hast du das gedacht. Du begehrtest es.«
»Jetzt nicht mehr«, sagte Michael. »Ich habe alles – beinahe alles –, was ich will. Ich würde einen so nutzlosen Besitz wie Fetternish nicht einmal annehmen, wenn du ihn mir schenken würdest. Nein, da irrst du, Biddy. Ich bin nicht zurück nach Mull gekommen, um dein Land zu nehmen oder dich oder sonst etwas hier. Ich will einen klaren Bruch mit all dem, will das ein für alle Mal los sein.«
Er drückte die Zigarre aus, drehte sie auf der Untertasse. In der Geste war Ärger, eine Spur der alten verbitterten Enttäuschung. Er hatte ihr nicht die Wahrheit erzählt, nicht die ganze Wahrheit. Wie sehr Michael auch behaupten mochte, zufrieden mit seinem Los zu sein, Biddy wusste, dass es nicht so war. Plötzlich fühlte sie sich besser, klarer im Kopf. Irgendwie hatte sie eine Entscheidung gefällt oder – richtiger – eine Reihe kleiner Entscheidungen, von denen eine war, dass sie Michael nichts über Robbie sagen, sondern dieses spezielle Geheimnis für sich behalten würde.
Michael lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
Beißender Zigarrenrauch stieg von dem Stummel auf der Untertasse auf.
»Ich kann über eine Menge frohlocken«, sagte Michael. »Ihr habt mir nie meinen angemessenen Platz gegeben, keiner von euch: weder deine Mutter noch deine Schwester noch du, Biddy Baverstock. Du wolltest mich nicht reinlassen, nicht richtig. Gut, das war dein Fehler, nicht meiner. Ich hätte dich vorm Ruin retten können, besser als Quigley es getan hat. Hättest du mir meinen Platz gegeben, brauchtest du Fetternish jetzt nicht zu verkaufen.«
Er grinste einfältig.
Er war nicht neugierig wegen ihrer Kinder oder wie es ihr ging, hatte nicht mehr Interesse an ihr, als er an seinen Töchtern hatte. Jetzt wurde ihr klar, warum Becky den ganzen Morgen in Tränen verbracht hatte.
»Ich habe meinen Platz gefunden, Biddy. Ich bin deshalb nicht bescheiden, und ich werde da unten im Pen verehrt. Das Wort ist nicht übertrieben, glaube mir. Auf Coraldene genieße ich Achtung. Für Ada und ihre Mädchen bin ich ein König. Genauso, wie es sein sollte, bedenkt man all das Gute, das ich für sie getan habe.« Er fixierte sie mit seinem wässerigen Blick. »Das alles hätte ich für dich tun können, weißt du.«
»Für Innis, meinst du.«
»Innis! Nein, für dich. Zwischen uns mag alles tot und vorbei sein, Biddy, aber ich habe nicht vergessen, wie es einmal war. Hast du es?«
Sie konnte ihm eine wahrheitsgemäße Antwort nicht verweigern. Sie war nicht so verloren, so verlassen und verbittert. Vielleicht war mehr Liebe in ihm gewesen, als sie geglaubt hatte, mehr Romantik. Er hatte sie erregt, wie nur wenige andere Männer es je getan hatten.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Michael. Das habe ich nicht vergessen.«
»Ich musste zwar zum Pen zurückkehren, um die reichste Ernte zu finden, aber …«
»Aber?«, fragte Biddy.
»Du bist noch immer eine gut aussehende Frau, Biddy.«
»Danke.«
»Ich habe oben ein Zimmer.« Er wandte den Blick nicht ab. »Ich werde hierher nicht zurückkommen. Ich werde euch nicht mehr behelligen. Ich wusste, dass Innis mir niemals geben würde, was ich wollte, und ich bezweifle, dass sie das Mädchen aufgeben wird. Das ist etwas, worum ich mich kümmern werde, wenn ich zu Hause bin. Aber jetzt – ich kann erahnen, warum du heute Abend gekommen bist, Biddy. Du kannst vor mir nichts verbergen.«
»Verbergen …«
»Niemand wird uns sehen, niemand wird es wissen.«
Sie stieß ein erstauntes Keuchen aus. Der Ärger in ihr wandelte sich in Gelächter.
Der fette kleine Rest des schlanken und hungrigen Liebhabers, der er einst gewesen war, wollte sie wieder verführen. Nein, nicht verführen, sondern er nahm an, ja, nahm an, sie würde der bloßen Gelegenheit erliegen und wieder in seine Arme sinken, als habe sich überhaupt nichts geändert.
»Um der guten alten Zeiten willen?«, murmelte er und hob eine sandgraue Augenbraue. »Um der guten alten Zeiten willen, Biddy. Was sagst du?«
Lachen explodierte tief aus ihrer Brust.
Es war Monate her, Jahre, seit sie hemmungslos gelacht hatte. Sie war machtlos, konnte ihr Gelächter nicht unterdrücken. Tränen traten in ihre Augen. Ihr Zwerchfell und ihre Rippen weiteten sich. Sie fühlte sich offen, erleichtert, als das Gelächter sich aus sich selbst verstärkte und Michael sich, vor Verblüffung erst starr, dann vor Wut, an den Speisesaalstuhl klammerte, als sei ihr Gelächter ein Tornado, der ihn hochreißen und fortwirbeln könne.
»Darf ich das«, sagte Michael mit zusammengebissenen Zähnen, »als ein Nein verstehen?«
Biddy war auf den Beinen. Sie hatte in ihrer Hast Flüssigkeit aus dem Glas verschüttet, und der Fleck erstreckte sich wie eine Honigfalle über das Tischtuch. Ihr Hut war auf dem Kopf zurückgerutscht und ihr Umhang hatte sich weit geöffnet. Sie hielt sich die Seiten, die vor Gelächter schmerzten über die wütende Verbitterung des Schafhirten und die strohdumme männliche Eitelkeit, die ihn veranlasste zu glauben, er sei noch immer der Mann, der er einst gewesen war.
Sie schüttelte den Kopf, konnte nicht sprechen.
Das Klavier hinten im Salon hörte auf zu klimpern.
Im Küchendurchgang trat ebenfalls Stille ein, als Biddy hilflos weinte und lachte, lachte und weinte und in diesem hilflosen Zustand aus dem Mishnish hinaus auf den Bürgersteig wankte, Mr. Michael Tarrant zurücklassend, der sich mit geballten Fäusten an seinen Stuhl klammerte, einem Kapitalverbrecher gleich, der soeben auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden war.
Sie war noch nicht weit aus Tobermory hinausgefahren, als das Gelächter in ihr erstarb und sie in Tränen aufgelöst war. Sie konnte sich nun nicht mehr sicher sein, ob ihr Gelächter hysterisch gewesen war oder ob Michaels lächerlicher Vorschlag nicht doch eine schwache Stelle in ihrem Herzen angerührt hatte. Sie war weniger als zehn Minuten in seiner Gesellschaft gewesen und doch war es ihr gelungen, ihn zu demütigen, und sie war umgekehrt wieder in einen Zustand der Verwirrung versetzt worden.
Als sie die Kreuzung erreichte, lenkte sie das Pferd auf die Abzweigung, die zu den Stallungen führte. Es war fast völlig dunkel, als sie Patricks Tür erreichte. Sie stieg aus dem Gig, band das Pferd an und ging in die Küche. Sie tastete sich zur Anrichte und fand auf dem kleinen Regal darüber eine Lampe und Streichhölzer, entzündete die Lampe und sah sich um.
Sie schwamm nicht länger in Tränen. Sie fühlte sich kühn, nicht schuldig. Es war, wie sie sich erinnerte, ihr Besitz. Sie war berechtigt, ihn jederzeit zu inspizieren, wenn sie das wollte. Seltsamerweise roch die Küche nicht nach Patrick. Sie roch nach den Stallknechten, den Bells, die so viele Jahre darin gelebt hatten. Enttäuscht, aber unbeirrt, kniete sie sich auf den Steinboden und begann systematisch die Schubladen der Anrichte zu öffnen. Die meisten davon waren leer oder enthielten nichts Interessanteres als Küchengeräte.
Die Lampe hochhaltend, ging sie nach oben.
Er hatte das kleinste der vier Schlafzimmer gewählt, um darin zu schlafen: einen schmalen Raum, direkt über der Treppe. Das Bett war ordentlich gemacht mit einer Patchworkdecke und sauberen Laken. In dem winzigen, rechteckigen Fenster sah Biddy ihr Spiegelbild. Sie wirkte in dem dunklen Raum blass und rätselhaft, geradezu phantomartig. Sie hatte kein Gefühl von Vertrauensbruch und war weniger über ihren Wagemut als über ihre Entschlossenheit erregt.
Sie kniete sich auf die Bodenbretter und streckte einen Arm unter das Bett. Sie zog einen geblümten Nachttopf hervor, den die Bells zurückgelassen hatten. Sich tiefer zum Boden beugend, griff sie wieder zu.
Der Aktenkoffer war aus hart gegerbtem Leder gefertigt, rechteckig in der Form, nicht tief. Er hatte ein einzelnes Messingschloss und zwei Riegel.
Sie schob die Riegel beiseite und drückte, den Atem anhaltend, auf das Schloss, das mit einem scharfen Geräusch aufsprang. Biddy zögerte, besorgt wegen dem, was sie finden würde – dann öffnete sie den Koffer.
Er war mit Briefen vollgestopft, mit Rechnungen und Quittungen, sauber in Päckchen und Bündeln zusammengehalten, nicht durch Gummiringe, sondern durch verblichene scharlachrote Bänder der Art, wie Anwälte sie benutzen. Handel, dachte sie, keine Romantik. Sie änderte die Position der Lampe und begann ruhig und methodisch den Koffer zu entleeren. Ihr Kopf war so klar wie ein Maimorgen, ihre Augen waren weit offen, sodass sie spüren konnte, wie kalte Luft unter ihre Lider trat.
Sie hob die Bündel nacheinander heraus und führte jedes an ihre Nase, als wolle sie Böses oder Betrug daran erschnuppern, bevor sie es aufknotete.
Da waren Briefe von Herzögen und Briefe von Grafen, ein Stoß von Konten einer Plantage irgendwo in Perthshire. Eine quittierte Rechnung von dem Instrumentenbauer, der den Windmesser gebaut hatte, der im Moor surrte. Briefe und kleine Nachrichten von mehreren verschiedenen Frauen – Amy, Peggy, Lynette, Jane – Zuneigung bekundend, nach seiner Gesundheit fragend, Liebe erklärend, Teilung zärtlicher Erinnerungen, ihn wegen Gleichgültigkeit scheltend. Biddy war versucht, sie zu lesen, war aber zu entschlossen, um zu riskieren, sich durch Eifersucht ablenken zu lassen.
Dann war er da: ein schmaler, ungefalteter Stoß von Briefen in einer ziemlich kindlichen Handschrift auf schwerem, cremefarbenen Papier geschrieben.
Die Blindprägung sprang ihr ins Auge: The Ards.
Sie legte diese Briefe auf das Bett, entknotete das Band, entfaltete einen und begann zu lesen. Drei bestürzende Seiten später stieß sie auf die Unterschrift: Dorothea Lafferty.
Biddy legte den Brief vorsichtig beiseite, ergriff den Nächsten und las ihn ebenfalls, dann den anderen und noch einen, bis sie alle sechs in der Reihenfolge gelesen hatte, in der Frances Hollanders Schwiegermutter sie an ihren Grundstücksmakler geschrieben hatte, und sie verstand genau, was vorging, wenn auch nicht – noch nicht – den Grund dafür.
Quig hatte den Einspänner in den frühen Morgenstunden hinunter nach Pennymain gebracht und ihn am Gartentor, bereit und wartend, stehen lassen. Er weckte weder Innis noch die Mädchen und bot Innis auch nicht an, sie nach Tobermory zu begleiten.
Woher Quig wusste, dass sie Michael die Nachricht von Angesicht zu Angesicht überbringen würde, kümmerte Innis nicht. Quig hatte sie immer verstanden – sogar besser als Gillies –, da sie verwandte Seelen waren, er und sie, und einst hatten sie ein harmonisches Verhältnis miteinander gehabt, das fast zu eng war, um angenehm zu sein.
Innis fuhr früh hinaus und allein.
Der Nachtwind hatte die tief hängenden Wolken vertrieben und der Morgen versprach, wenngleich er nicht sonnig war, recht schön zu werden.
In der Bucht von Tobermory hatten die Jachten Segel gesetzt und fuhren, Wind suchend, den Sound of Mull hinunter. Angelfischer, die letzten von Tobermorys einst mächtiger Flotte, liefen träge aus dem Hafen aus und steuerten zu den küstennah gelegenen Fischgründen bei Canna und dem Point of Sleat. An den Hafenmauern an dem alten Pier herrschte reger Betrieb, da die Claymore bereits unter Dampf stand und die Touristen schon die gedämpfte Panik zeigten, die einem Auslaufen zum Höhepunkt der Sommersaison vorausging.
Die Claymore gab ebenso Rauch wie Dampf von sich. Ihre Schornsteine stießen das dunkle und stinkende Zeug aus. Der Molenmeister, Harry Horseburgh, dirigierte den Betrieb, ein Tuch über seine Nase gebunden, und brüllte in einer Mischung von Englisch und Gälisch Anweisungen, wodurch er mehr wie ein Straßenräuber als wie ein Angestellter von MacBrayne’s Schifffahrtsgesellschaft klang. Eine Herde Lämmer wurde die Gangway hochgetrieben, und ein unruhiges junges Fohlen aus dem Gestüt in Ardmore wurde überredet, aus einer Transportkiste zu kommen und in eine andere auf dem Vorderdeck zu gehen.
Innis ließ den Einspänner vorm Mishnish stehen und spazierte zum Pier.
Selbst unter den Touristen fiel Michael auf. Er sah wohlhabend aus und war stolz darauf. Den Bowler auf seinem grauen Haarschopf in den Nacken geschoben, die Daumen in seine Westentaschen gehakt und eine Zigarre im Mund, hätte er perfekt auf die Rennbahn von Ayr gepasst, um dort lauthals Wetten zu brüllen oder, wahrscheinlicher, eine Bierlieferung zu einer besseren Gaststätte zu überwachen. Zu seinen Füßen standen mehrere Taschen, und zwei oder drei in braunes Papier eingebundene Pakete waren an die Griffe seiner Reisetaschen gebunden. Er beobachtete, wie Innis auf ihn zu spazierte, doch nach der Begrüßung zu urteilen, die er ihr zuteil werden ließ, hätte sie eher eine Fremde als seine Frau sein können.
»Wo ist denn das Mädchen?«, fragte er.
»Fay bleibt bei mir.«
»Dann wirst du mit Gavin fertig werden müssen.«
»Ich bin darauf vorbereitet, mit Gavin fertig zu werden«, sagte Innis.
»Was hast du mir sonst zu sagen?«
»Nichts«, antwortete Innis. »Ich bin nur gekommen, um sicher zu gehen, dass du auf das Schiff steigst.«
»Ich werde nicht zurückkommen, Innis. Ich habe genug von Mull.«
»Werden wir uns – mit unseren Anwälten – nicht vor Gericht wiedersehen?«
»Das bleibt abzuwarten.«
»Für wen?«, sagte Innis.
Er nahm die Zigarre aus dem Mund und betrachtete die Glut an ihrer Spitze. Rauch aus der Zigarre und Rauch von der Claymore vermischten sich in der Luft über dem ruhigen Wasser jenseits der Mauer, und vier große, gelbschnäbelige Möwen hoben sich verächtlich von den Duckdalben und glitten lautlos davon.
Michael ließ die Zigarre auf das Pflaster fallen und trat sie aus. »Ich werde die Entscheidung treffen, wenn es mir passt.«
»Darf ich das so verstehen, dass du mich wissen lässt, wenn du das tust?«
Feiste Gesichtszüge, hängender Bauch, die feine Geschmacklosigkeit seiner Kleidung konnte seine Verärgerung nicht verbergen. Er hatte seine Karten weise ausgespielt, völlig anders als der Michael Tarrant, der einst nach Pennypol gekommen war, der Biddy verfolgt hatte, der sie, Innis, geheiratet hatte, und sie alle verlassen hatte, als klar wurde, dass er nicht bekommen würde, was er wollte. Wut war Verärgerung geworden, Leidenschaft ein lächerliches Bedürfnis, herumzustolzieren und bewundert zu werden. Jetzt reduziert auf den Zustand kraftloser Beleidigungen, schmollte er wie eine Parodie des zornigen, unbeugsamen Burschen, der er einst gewesen war.
Er würde ihr jetzt nicht drohen, würde nicht mehr das Thema Gesetz und Anwälte ansprechen, weder von Verfügungen und Gerichtsverhandlungen sprechen. Innis hatte gewusst, dass er sich zurückziehen würde. Er hatte sich immer aus Situationen zurückgezogen, die er nicht meistern konnte. Er hatte keinen Charakter mehr, keine Verschlagenheit mehr in sich. Sie bedauerte, dass ein Mann, den sie einst geliebt hatte, sich am Ende als so hohl erwies.
»Solltest du nicht besser an Bord gehen?«, fragte Innis.
»Brennst du so darauf, mich loszuwerden?«
»Ich muss dich nicht loswerden«, sagte Innis. »Du bist noch dort, noch immer da unten im Pen, wo du bewundert und geachtet wirst. Ist dort nicht dein Herz, bei deiner Freundin, der verwitweten Dame?«
Er lächelte, seine Kiefermuskeln versanken in Fett. »Ja, du warst immer die Kluge, Innis Campbell. Hätte man dich und Biddy zusammengesetzt, hättest du die Königin von Schottland sein können und alle Männer hätten dir zu Füßen gelegen.«
»Das habe ich nie gebraucht, Michael, und auch nie gewollt.«
»Vassie Campbells Töchter.« Er schüttelte wehmütig den Kopf. »Gäbe es einen Weg, einen Mann zu vernichten, dann würdet ihr beide zusammen ihn herausfinden. Gott, ich wünsche ich wäre keiner von euch jemals begegnet.«
»Und ich dachte, du würdest uns ein Kompliment machen.«
»Das einzige Kompliment, das du von mir bekommen wirst, Innis, ist, dass du mich gehen siehst, ohne das bekommen zu haben, weshalb ich hier war.« Er schaute sich um, entdeckte einen Jungen, der an der Mauer neben dem Büro des Hafenmeisters herumlungerte, und schnippte mit den Fingern. »Ich werde jetzt gehen. Du brauchst mich nicht zu begleiten.«
»Ich denke, dass ich das dennoch tun werde«, entgegnete Innis. »Nur um sicher zu gehen.«
»Wie du willst«, sagte er mürrisch.
Dem Jungen mit dem Gepäck folgend, ging er zur Gangway und zog sich hoch. Erst einmal an Bord, verschwand er sofort in der Passagierkabine und kam nicht wieder heraus. Er ließ sich nicht einmal sehen, als die Schaufelräder sich zu drehen begannen, die Leinen losgeworfen wurden und die Claymore vom Pier ablegte, oder als das Kielwasser breiter wurde und Möwen in Linie hinter dem Dampfer schwebten und die Flaggen am Mast vom Wind erfasst wurden und knatterten, als würde die Reise lang und beschwerlich werden und der Bestimmungsort ungewisser sein als Oban.
»Leb wohl, Michael«, murmelte Innis und wandte sich erleichtert ab.
Es war kurz nach Mittag und die Sonne war herausgekommen, als Quig mit dem langen Boot am Strand von Foss anlegte. Er hatte das Boot von den Lachsfischern in Ardfinn geliehen und war damit zu der Mole bei Pennypol gesegelt, wo Fay wartete.
Er hatte seit Jahren keines der sperrigen Gefährte gesteuert, doch die Fertigkeit war bald wieder da, als er die Küste entlangfuhr, während das Segel in der steifen, kleinen Brise aus Westen schlug und er die Ruderpinne mit fester Faust umfasste. Er hatte vergessen, wie viel Freude Segeln machen konnte, wie es ihn belebte. Er war voller Vertrauen und Begeisterung, als er Fay die Stufen an der Mole von Pennypol herunterhalf und sie neben sich ins Heck setzte.
Wenn das Mädchen nervös war, weil es auf dem Wasser war, ließ es sich das nicht anmerken.
Sie vertraute ihm blind und schmiegte sich an ihn. Er legte einen Arm um sie.
Die See war unruhig, doch es gab keinen starken Seegang. Er hatte den Weg zwischen den Inseln oft genug zurückgelegt, um den Bug hoch zu halten, damit verhindert wurde, dass das Boot durch Querströmungen schlingerte.
Fay war von den kräftigen Bewegungen der See wie verzaubert, als das Boot über das blaugrüne Wasser glitt. Nie zuvor hatte sie Seehunde gesehen, die auf Felsen badeten oder ein bärtiges Gesicht, das aus den Wellen auftauchte und sie stirnrunzelnd anschaute. In ihr, so stellte sie sich vor, schwappte das Baby glücklich in einer ähnlichen Flüssigkeit, beschirmt und umhüllt von einem eigenen Ozean, während sie zusammen durch Kanäle und Gezeitenströmungen zwischen den kleinen Inseln südwestlich von Mull fuhren und schließlich Foss in Sicht kam.
Quig hatte ihr ein wenig über Foss erzählt. Er hatte sie allerdings gewarnt, sie solle jetzt nicht zu viel davon erwarten, da das Wetter ein großer Zerstörer war und die Zeit und Gezeiten und die saisonabhängigen Stürme das Haus sicher sehr beschädigt haben würden, in dem er mit Mairie und Aileen und Donnie unter Evander McIvers Schutz gelebt hatten.
Das Haus war jedoch noch da, ein hölzerner Bungalow, länger als breit. Aus einer Viertelmeile Entfernung sah es recht solide und unversehrt aus, doch als sie näherkamen, sah Fay, dass das Haus nicht mehr als eine Ruine war, und sie hörte Quig ein wenig stöhnen über das Ausmaß des Schadens, den das Wasser angerichtet hatte.
Er steuerte mit dem Bug voraus, holte das Segel ein und reffte es, sprang über die Bordwand und zog das Gefährt halb aus dem Wasser, sodass Fay trockenen Fußes aussteigen konnte. Er war behutsam, stützte ihr Gewicht mit seinem Arm. Erst als sie sicher auf dem Sand stand, drehte er sich um, zog das Boot weiter auf den Strand hoch und vertäute es an einem verrosteten Eisenpfahl unmittelbar oberhalb der Gezeitenlinie.
Vor Anstrengung schwitzend, zog Quig seine Jacke aus und rollte die Ärmel hoch, als fühle er sich getrieben, sofort mit der Arbeit zu beginnen. Der Seewind hatte sein Haar zerzaust und seine Wangen gerötet, und als er da stand, die Hände in die Hüften gestemmt, und den Schaden begutachtete, fand Fay, dass er mehr einem Forscher glich als einem Bauern.
Er half ihr den kurzen steilen Hang vom Strand hinauf und auf das Stück Rasen, das sich vor der Veranda befand.
Das Dach war nicht eingestürzt, hatte sich aber von seinen Balken gelöst, als habe es eine gigantische Hand verschoben, sodass nur der Kaminmantel unversehrt geblieben war. Der Raum darunter war von Flechten und Vogelkot graugrün und weiß gefärbt.
»Evander wollte ein Holzhaus«, erzählte Quig. »Er importierte alle Baumaterialien mit dem Floß vom Festland. Baute das Haus selbst. Er brauchte dazu vier oder fünf Jahre, glaube ich, obwohl ich damals zu jung war, um mich daran zu erinnern, wie er es tat, und zu klein war, um ihm zu helfen. Er hatte viel Arbeit, wie meine Mutter erzählt, und ließ alle Frauen mit am Haus sägen und hämmern und sie zugleich die Rinder versorgen, die er gekauft und hergebracht hatte.«
»Hat er das gemacht?«, fragte Fay. »Vieh gezüchtet?«
»Ja«, sagte Quig. »Er war Viehhändler und Viehzüchter. Er baute eine der besten Herden von Zuchtbullen in Schottland auf und verdiente sehr viel Geld damit. Bevor er sich nach Foss zurückzog, war er Sportsmann, ein Spieler, und die Geschichten über ihn waren Legende. Geschichten, die jetzt vergessen sind, jedenfalls die meisten, da seine Generation ausgestorben ist und Orte wie Foss und Männer wie Evander McIver fast ganz vergessen sind.«
»Das Haus«, sagte Fay, »könnte das repariert werden?«
»Ich denke schon«, sagte Quig.
»Könntest du es reparieren?«
»Ja«, sagte Quig, »wenn ich finde, dass es nötig ist.«
Die Holztreppe, die auf die Veranda führte, war noch immer solide und intakt, aber zu einem Steingrau verwittert und von Unkraut überwuchert. Quig nahm Fays Hand und führte sie über die durchhängenden Planken zur Tür.
Sie war halb aus ihren Angeln geweht worden, und Muscheln und Büschel von trockenem Seegras waren wie Opfergaben auf der Schwelle verstreut. Nachdem Quig die Tür aufgerichtet hatte, sah er, dass das große, lange Wohnzimmer mit seinem aus Steinen errichteten Kamin zu einem Zufluchtsort für Ratten und Seevögel geworden war. Der Boden war mit Trümmern und Kot übersät und mit Staub und Seealgen bedeckt.
Fay klammerte sich fest an Quigs Arms, während er die Dielen prüfte und sie weiterzog, als er feststellte, dass sie solide waren. Aus einem Augenwinkel sah sie eine Ratte weghuschen, und als sie nach oben schaute, sah sie eine weitere, die geduckt auf dem Hauptbalken über ihr hockte und mit wachen glänzenden Augen zu ihr herunterschaute. Sie fürchtete sich nicht vor Ungeziefer und zuckte nicht zusammen, als sie wie braune Pfeile über den Boden schossen und durch die Tür verschwanden.
»Wovon leben sie?«, fragte sie.
»Vor allem von Möweneiern, von Wurzeln und Feldmäusen«, sagte Quig. »Gott weiß, sonst gibt’s hier nichts für sie. Wenn man das jetzt so sieht, es ist ein trostloser Ort, nicht wahr?«
»Ich finde ihn nicht trostlos«, widersprach Fay. »Ich finde ihn wunderschön.«
»Wunderschön?«
»Es ist ein richtiges Inselhaus. Wenn es ordentlich repariert und gestrichen wäre, dann wäre das noch immer ein schönes Haus zum Leben, oder etwa nicht?«
»Das war es gewiss einmal«, sagte Quig seufzend. »Ja, das war es gewiss einmal.«
Er führte sie nach draußen, nahm einen Segeltuchbeutel aus dem Boot und ging langsam mit ihr über den Rand der Grasfläche und langsam den kleinen Hügel hinauf. Von dort aus blickten sie über die tanzenden Wellen zu dem Ort, wo die See dunkler als der Himmel war und die Wellen zu einer schmalen Linie zusammenliefen, auf der die Sonne silbern glitzerte und die Wolken, wenn es Wolken waren, tief über dem Horizont hingen, fast unsichtbaren Inseln gleich.
»Das war einmal die große Weide«, sagte Quig. »Sieh dir an, was jetzt an Unkraut darauf wächst.«
»Warum hält hier niemand Vieh?«
»Rinder, Schafe – pah! Es würde die Mühe nicht lohnen, drei- oder viermal im Jahr hier nach ihnen zu sehen. Sie würden herunterkommen, wie die Rehe auf den kleinen Inseln. Sie würden in etwa zehn Jahren ausgestorben oder, schlimmer noch, durch Vernachlässigung krank geworden sein. Es ist ein Fehler von den Stadtbewohnern zu glauben, dass Tiere ohne das Eingreifen von Menschen gedeihen. Käme ich zum ersten Kalben her, sagen wir mal im Frühjahr, würden die Tiere dünn sein und kränklich. Würde ich hier Heu oder Hafer anbauen oder brächte Futter mit dem Schiff her, dann müsste ich hier entweder leben oder viel Geld ausgeben, und das würde keinen Sinn machen. Heutzutage geht es nur um Geld, Fay, um Kosten und Buchführung. Es kann kein Zurück mehr zu dem geben, was einmal war.«
»Gibt es hier Wasser?«
»Hmm?« Quig war in Gedanken verloren. »Ja.« Er drehte sich aus der Hüfte, schaute hierhin und dorthin, als habe er, nur für einen Augenblick, völlig die Orientierung verloren. »Dort.« Er deutete in die Richtung. »Dort ist ein Regenwassersee in der Senke unterhalb des Hügels, wo die Rinder trinken. Und es gibt eine Quelle, die unmittelbar an der Rückseite des Hauses fließt. Evander wusste nie, warum die Quelle dort war oder warum sie nie trockenfiel. Es war der einzige Grund, warum er gerade Foss als Platz für sein Haus auswählte und keine der Treshnish-Inseln. Wir hatten natürlich auch Regenwassertonnen und hier und da Auffangbehälter, aber Evander sorgte sich, dass die Quelle eines Tages versiegen und der Boden nicht mehr fruchtbar sein würde und wir keine andere Wahl hätten, als fortzugehen.«
»Ist die Quelle noch da?«, fragte Fay.
Sie blickte jetzt nicht auf die See hinaus oder hinab auf das smaragdgrüne Weideland oder auf das Wäldchen von verkümmerten kleinen Bäumen hinter dem Haus.
Sie sah ihn direkt an.
»Selbst wenn sie noch …«, sagte er.
»Wir sehen nach, ja? Wir gehen dort hinunter und schauen selbst nach.«
Er wusste, dass sie noch dort sein würde, dass das Wasser, das den grasbewachsenen Felsen, den Evander zu seinem Paradies auserkoren hatte, gesegnet hatte, noch immer zwischen den vier flachen Steinen sprudeln würde, dass es nicht wie alles andere ausgetrocknet sein, sondern weiterfließen würde, ohne das Verschwinden der Männer und Frauen, die diese winzige Insel Zuhause genannt hatten, zu beachten.
Unkraut gedieh um die Quelle. Iris, Weide, das gedämpfte Grün von gewässertem Wachstum, und große Gruppen von Butterblumen, gelb wie die Sonne, folgten dem Rinnsal seewärts und endeten erst da, wo das Wasser im Sand versickerte.
Fay kniete sich mühsam hin. Quig hielt ihren Arm, ihre Hand.
Sie kniete sich neben die Steine zwischen die Butterblumen, schöpfte Wasser aus dem forellenbraunen Teich, tauchte ihre Zunge hinein, kostete es, ließ es in die andere Hand rinnen und trank.
»Es ist noch hier.« Fay lächelte zu ihm auf. »Siehst du Quig, das Wasser ist noch hier.«
»Ja«, sagte er. »Ich wusste, dass es das sein würde.«
Sich zu ihr beugend, küsste er sie sanft auf die Lippen.
Sie blieben danach nicht mehr lange. Quig fürchtete sich vor dem, was als Nächstes geschehen könnte. Er führte sie nicht auf die Landspitze hinaus, wo die Gräber lagen, diese Gräber, so geheimnisvoll und freundlich, wo Evander und seine Frauen begraben waren, verlorene Generationen von Männern, die vor langer, langer Zeit hier gelebt hatten, Seefahrer und Strandräuber und Krieger, die hier ihre Ruhe gefunden hatten. Er wusste nicht, wer sie waren, und er fürchtete sich einerseits vor dem, was sie repräsentierten, liebte es andererseits auch, war hineingezogen in den Kreislauf von Romantik und Überleben und eine Geschichte, die so verschwommen und substanzlos war wie eine Wolke.
Sie aßen auf der Treppe der Veranda, das Haus, die Quelle und die wilde Atlantikküste hinter sich.
Sie aßen gemächlich, so als bedeute der Tag nichts.
Sie plauderten und aßen Brot und gekochtes Fleisch und Scheiben von geräuchertem Fisch und tranken kalten Tee aus einer Flasche, wie die Schafhirten es taten, wenn sie draußen auf der Weide waren oder wie die Treiber in den Sommerlagern, die es nicht mehr gab.
Fay aß hungrig und glücklich, summte vor sich hin und klopfte sich dann und wann auf den Bauch, als wolle sie den Fötus trösten oder ihn necken.
Es war noch hier, alles war noch hier: das Skelett des schönen alten Hauses, die Quelle, die üppige Weide, fruchtbare Erde, die Gräber seiner Verwandtschaft dort draußen auf der Landspitze. Das Einzige, was erforderlich war, es wieder zum Leben zu erwecken, war das Leben, das Fay in sich trug, und die Leben, die dahinter lagen.
Ein Sehnen wuchs warm in ihm, so warm wie die Sonne auf seinem Rücken.
»Quig?«, sagte Fay ziemlich beiläufig. »Werden wir jemals wieder hierher zurückkommen?«
Und Quig antwortete ohne zu lächeln: »Vielleicht.«