Mit einem leisen Ruck setzte das Flugzeug auf dem Rollfeld auf. Noch bevor sie ganz zum Stehen gekommen waren, sprangen die ersten Fluggäste schon auf und zerrten ihr Gepäck aus den Fächern.
Amicia blieb entspannt sitzen und beobachtete den Trubel um sie herum. Dünne Schleierwolken hingen vor der Sonne, ein scharfer Wind pfiff über die freie Fläche.
Paris zeigte sich von einer besseren Seite als Berlin. Vielleicht war dies ein gutes Omen.
Als Letzte verließ Amicia das Flugzeug und blickte sich einen Moment oben auf der Treppe um. Es war später Nachmittag und nicht sonderlich viel los auf dem Flughafen. Auf dem kurzen Weg zwischen der Treppe und dem Eingang zum Gebäude riss der stürmische Wind an ihren Haaren.
Sie war die Letzte, die ihren Koffer vom Rollband nahm. Das wenige, was sie besaß und woran ihr Herz hing, hatte sie in den kleinen Schalenkoffer gesteckt. Ihre Zeit in Berlin war vorbei … so oder so.
Es war ihr überraschend schwergefallen, Abschied von dem kleinen Späti zu nehmen. Monatelang war es ihr einziger Ort außerhalb der Wohnung gewesen, zu dem sie irgendeine Verbindung gespürt hatte.
Auf der Fahrt in die Stadt ließ Amicia ihren Plan noch einmal Revue passieren. Sie konnte nicht einfach zu einem Höllentor marschieren und Einlass verlangen. Zwar würde man ihn ihr gewähren, aber damit würde sie auch sofort ein Dämon werden. Eine Kreatur der Hölle, für die es kein Zurück mehr gab.
Um diesen Schritt zu vermeiden, musste sie klüger vorgehen. Ihre Seele vor den dunklen Einflüssen der Hölle bewahren.
Sie brauchte jemanden, der ihr Zugang zur Hölle und zum gefallenen König gewährte. Amicia traute sich nicht seinen Namen auszusprechen. Nicht einmal in Gedanken. Er war wie ein Gespenst, das man heraufbeschwor, wenn man es rief.
Es gab auf der ganzen Welt, in Himmel und Hölle nur wenige Personen, die diese Macht hatten. Und eine solche residierte in Paris.
Das Taxi hielt vor dem kleinen, schmutzigen Hotel, welches sich Amicia online rausgesucht hatte. Schnell bezahlte sie den Fahrer und stieg aus. Die Frau an der Rezeption hatte wenig Interesse an ihr und fragte nicht einmal nach, als Amicia sich mit einem eindeutig falschen Namen eintrug.
Dem Zimmer schenkte sie wenig Aufmerksamkeit, hier musste sie immerhin nur schlafen.
Nach einer kurzen Dusche holte Amicia ihren Laptop hervor und setzte ihre Recherche fort.
Der gefallene König hatte nur wenige enge Verbündete, doch eine davon lebte hier in der Stadt. Den Menschen war sie unter dem Namen Lilith bekannt, doch Amicia kannte sie als »die erste Frau«. Die erste Frau an Adams Seite. Für ihre Schönheit und auch für ihre Intelligenz bekannt. Kein Wunder also, dass sie eine Modellagentur führte.
Der Ort, an den Amicia wollte, war nicht weit von ihrem Hotel entfernt, allerdings war es bereits zu spät, um dort aufzukreuzen. Seufzend schloss sie den Laptop wieder und blickte aus dem kleinen Fenster.
Die Nacht senkte sich bereits über Paris und Amicia wusste nicht, was sie tun sollte. Vier Tage ihres schon viel zu geringen Zeitfensters waren bereits abgelaufen und bisher hatte sie es nur in eine andere Stadt geschafft.
Leise meldete sich ihr Magen, sie musste dringend etwas essen. Ihr Körper hatte Bedürfnisse, eine Sache, die sie auch nach so vielen Jahren noch verwunderte. Und manchmal bestürzte.
In der frischen Abendluft spazierte sie durch die hübschen Straßen von Paris. Es roch nach komplexer Gourmetküche und Kaffee, die bunten Blumen ließen alles frisch und neu wirken. Diese Stadt war so ganz anders als Berlin, obwohl sie viel gemeinsam hatten. Die Menschen hier waren anders, zwar genauso in sich gekehrt und auf sich selbst konzentriert, aber sie trugen ein anderes Gesicht zur Schau.
Vor vielen, vielen Jahren war Amicia bereits einmal hier gewesen. Damals war sie über die alten Häuser und Straßen geflogen und nichts weiter als eine stumme Beobachterin gewesen. Jetzt hätte sie mit den Menschen kommunizieren können, aber das Bedürfnis danach war verschwunden.
In einem winzigen Imbiss holte sie sich eine Kleinigkeit zu essen. Auf dem Weg zurück zum Hotel kam sie an einem niedlichen kleinen Park vorbei. Allein auf einer Parkbank sitzend verdrückte sie die Portion Pommes frites und starrte in die Nacht.
Ihre Hände zitterten leicht, als sie eine zum Mund führte. Nervös war wohl der falsche Ausdruck für ihr Gefühl. Fest ballte sie die Faust, bis das Zittern verschwand. Sie war nicht nervös, sie war entschlossen. Ihre Chance stand schlecht, aber sie hatte eine. Und sie würde sich weder vom Himmel noch von der Hölle davon abbringen lassen.
***
Am nächsten Morgen stand Amicia um acht Uhr auf und machte sich fertig. Sie hatte nur diese eine Chance und der erste Eindruck zählte besonders. Das enge dunkelblaue Kleid betonte ihre milchig weiße Haut und die Kurven ihres Hinterns und ihrer Brüste. Ihre langen Locken ließ sie offen über die Schultern fallen. Durch die schwarze Mascara wurden ihre Wimpern noch länger und betonten ihre himmelblauen Augen.
Auf den viel zu hohen Pumps konnte sie gerade so gehen, aber sie ließen ihre Beine länger wirken. Sie sah eher aus, als würde sie auf die Piste gehen als zu einem Vorstellungsgespräch.
Pünktlich um neun Uhr stand sie vor dem schicken Neubau, in dem sie ihre Chance sah. Große Glasfronten ließen das helle Tageslicht herein. In riesigen geschwungenen Buchstaben stand dort der alles erklärende Name: Agentur First, by Lili First.
Bei dieser Anspielung musste Amicia beinahe die Augen verdrehen.
Im offenen Eingangsbereich erwartete sie eine hübsche Blondine hinter dem ausladenden Tresen. Das perfekte Make-up und die kunstvollen Locken hatten sie an diesem Morgen sicher Stunden gekostet.
»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«, fragte sie mit affektiert süßer Stimme.
»Ich würde gern mit Madame First sprechen.« Amicia erwiderte ihr strahlendes Lächeln.
»Darf ich fragen, ob Sie einen Termin haben?« Möglichst unauffällig checkte die Rezeptionistin Amicias Auftreten und ihre Kleidung.
»Nein, leider nicht. Aber ich muss sie wirklich dringend sprechen.«
»Oh, das tut mir schrecklich leid. Madame First hat einen sehr vollen Tagesplan und es ist uns leider nicht möglich, alle Anfragen zu beantworten. Besonders nicht ohne Anmeldung.« Das Lächeln der Frau gefror ihr förmlich im Gesicht und ein gelangweilter Ausdruck trat in ihre Augen. Sie wollte sich ganz offensichtlich nicht länger mit Amicia beschäftigen.
»Ich muss wirklich dringend mit ihr sprechen«, versuchte Amicia es noch einmal freundlich.
»Sie können gern warten. Dort drüben«, bot die Rezeptionistin mit vielsagendem, fast herablassenden Blick an.
»Danke sehr.« Amicia nickte ihr freundlich zu und suchte sich einen Platz auf einem der cremefarbenen Sessel am Fenster. Dabei spürte sie den genervten Blick der Rezeptionistin auf sich ruhen.
Ohne es zu verschleiern, blickte sie sich um. Schon die Eingangshalle verströmte Macht und Reichtum. Jahrtausende auf dieser Erde mussten Lilith etwas gebracht haben. Es war ein Leichtes gewesen, diese Agentur zu finden, immerhin versteckte die erste Frau sich nicht und ihr Gesicht war allen Engeln bekannt.
Amicia bereitete sich auf eine lange Wartezeit vor. Sie hatte damit kein Problem, immerhin hatte sie nichts anderes zu tun.
***
Die Stunden zogen sich langsam dahin. Zehn Uhr, elf, zwölf.
Leute kamen und gingen. Die hochnäsige Rezeptionistin begrüßte jeden von ihnen mit derselben falschen Freundlichkeit. Amicia war nicht die Einzige, die an diesem Morgen weggeschickt wurde.
Und doch ließ sie sich von all dem nicht stören. Völlig entspannt saß sie auf dem Sessel und schaute aus dem Fenster. Ihr Verhalten war der Rezeptionistin nicht geheuer, das merkte Amicia recht schnell. Die Menschen hielten andere ihrer Art, die nicht am Handy hingen, für seltsam.
Aber Amicia langweilte sich auch ohne Technik nicht. Nach vielen Jahrhunderten hatte sie eine seltsame Faszination dafür entwickelt, die Menschen einfach nur zu beobachten. Man konnte viel aus dem einfachsten und alltäglichsten Verhalten lesen.
Und an den großen Fenstern der Agentur liefen genug Menschen vorbei, um sich stundenlang zu beschäftigen:
Die Bewohner von Paris, die sich schon lange an den Wundern der Stadt sattgesehen hatten. Träumer, die immer noch nach diesem besonderen Funken suchten, der etwas in ihrem Herzen berührte. Touristen, die jede noch so kleine Kleinigkeit beeindruckte. Mit staunendem Blick wanderten sie durch die Straßen und versuchten alles in sich aufzunehmen.
Jeder Mensch in dieser Stadt hatte eine Geschichte, die sich in ihre Seele eingebrannt hatte. Gut und Böse kämpften um die Vorherrschaft, ohne dass die betroffene Person etwas ahnte.
Spielte es überhaupt eine Rolle, was nach dem Tod auf einen wartete, wenn man nichts davon wusste? War es nicht besser für die Menschen, ihr Leben so zu leben, wie sie es wollten, solange sie es konnten? Um die Konsequenzen konnte man sich danach immer noch kümmern.
Hatte Gott den Menschen nicht deshalb den freien Willen gegeben?
Mehrmals musste Amicia blinzeln. Schon wieder verstrickte sich ihr Verstand in diese Gedankenspiele. Solche Fragen waren der Grund, weshalb man ihr die Flügel ausgerissen hatte.
Das leise Klappern der Tastatur der Rezeptionistin wurde kaum von der leisen Hintergrundmusik übertönt. Immer wieder hob die Frau den Blick und schaute zu Amicia hinüber. Nur für einen Wimpernschlag, dann wandte sie sich wieder ihrer vorgeschobenen Arbeit zu. Ihre Nervosität und Unsicherheit waberten durch die Luft.
Sicher reichte dieses abweisende Verhalten, um die sonstigen Wartenden zu vertreiben. Menschen begaben sich nicht gern in Situationen, die ihnen unangenehm waren. Aber Amicia war kein Mensch. Und sie hatte ordentlich Sitzfleisch.
Ihre Geduld wurde belohnt.
Um kurz nach zwei Uhr hielt eine schwarze Limousine vor der Agentur. Der Fahrer beeilte sich auszusteigen und öffnete die hintere Wagentür. Sofort sprang die Rezeptionistin auf und kam hinter ihrem beschützenden Tisch hervor.
Nun war sie also endlich da.
Lilith.
Doch leider wurde Amicia der Blick auf die mächtige Frau verwehrt. Sie wurde umschwärmt von einer Gruppe Assistenten und Speichellecker, die jeder ihrer Anweisungen Folge leisteten und um ein wenig Anerkennung bettelten.
Langsam erhob Amicia sich. Schweigend beobachtete sie das Chaos, welches durch das Foyer fegte. Niemand schenkte ihr Beachtung, schien auch nur zu bemerken, dass sie da war.
Die wartende junge Frau war nichts weiter als ein Teil der Einrichtung.
Als Amicia sich leise räusperte, war dieses Geräusch so unerwartet und fremd in dieser Umgebung, dass sie dadurch tatsächlich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden erhielt.
Sieben Köpfe wandten sich ihr gleichzeitig zu, vierzehn Augen blickten fragend, überrascht, entsetzt oder wütend. Nur die erste Frau selbst schenkte Amicia immer noch keine Aufmerksamkeit. Stattdessen wandte sie ihren Blick der Rezeptionistin zu. »Und wer ist das bitte?«
Ihrer Stimme mangelte es an Freundlichkeit. Sie war deutlich genervt und hatte wenig Lust auf dieses Gespräch.
»Diese junge Frau wollte Sie unbedingt sprechen«, stotterte die Empfangsdame nach einigen Augenblicken endlich. »Sie wartet schon seit Stunden.« Vielleicht war dieser winzige Nachsatz eine Entschuldigung für die vorherige Unfreundlichkeit. Vielleicht war sie aber auch ein Versuch, die Schuld für diese unhöfliche Unterbrechung ganz auf Amicias Ungeduld zu schieben.
Mit einer deutlich unwilligen Bewegung nahm die erste Frau ihre Sonnenbrille ab und drehte den Kopf leicht in Amicias Richtung. Kurz wanderte ihr Blick an ihrem Körper hoch und runter.
»Ich muss dich leider enttäuschen. Der unschuldige Engelslook ist nicht mehr angesagt. Perfektion, auch wenn sie bei dir echt zu sein scheint, ist langweilig.«
Ohne einen weiteren Blick drehte Lilith sich um und setzte ihren Weg durch das Foyer fort. Für sie war diese kurze Audienz beendet.
»Lilith, ich muss mit dir sprechen.«
Amicia würde sie nicht so schnell abwimmeln lassen. Die Worte, die im Raum hingen, waren für die Menschen nicht verständlich. Die uralte Sprache, die über Amicias Lippen gekommen war, klang abgehackt und gleichzeitig melodisch. Die erste Sprache, die jemals auf dieser Welt gesprochen worden war, war außer bei den Engeln schon lange vergessen. Nur drei Menschen waren überhaupt in der Lage, sie zu verstehen, zwei davon waren sicher im Himmel verwahrt. Der dritte wirbelte jetzt mit wildem Blick zu Amicia herum.
Liliths ausdrucksstarke Bernsteinaugen blitzten interessiert und wütend. Schnaubend überwand sie den Abstand zwischen sich und Amicia, dabei wiegte sie mit den ausladenden Hüften.
In vielerlei Hinsicht war Lilith das absolute Gegenteil ihrer Nachfolgerin Eva. Ihr rabenschwarzes Haar berührte knapp ihre schmalen Schultern, die schnell durch die ausladenden Rundungen ihrer Brüste abgelöst wurden. Liliths Körper war in der Lage, jeden Mann schwach werden zu lassen. Viele waren bereits vor ihr auf die Knie gegangen.
Sie war Feuer und Eigensinn in Person. Ihr Wille war ungebrochen, ganz egal worum es ging. Niemals würde sie sich unterordnen, erst recht keinem Mann wie Adam, dem es selbst am nötigen Intellekt gefehlt hatte.
Dies war der Grund, weshalb Gott Eva keinen freien Willen gewährt hatte. Er hatte seiner Schöpfung eine treue, gute Gefährtin zur Seite stellen wollen, die nicht alles infrage stellte und ihren eigenen Weg suchte. Eva war perfekt und blind gewesen, bis sie sich der Schlange geöffnet hatte.
All diese Erkenntnisse schossen Amicia innerhalb weniger Herzschläge durch den Kopf, während sie dem intensiven Blick Liliths standhielt.
»In mein Büro«, zischte diese nach ewig andauernden Minuten. Ihre kleine Armee von Arschkriechern rannte aufgeregt durcheinander und versuchte ihrem Wunsch so schnell wie möglich nachzukommen.
Entspannt folgte Amicia den aufgescheuchten Hühnern in einen wartenden Aufzug. Während der kurzen Fahrt herrschte eine bedrückte Stille und Lilith würdigte sie nicht einmal eines Blickes, ihr Gesicht war starr und ausdruckslos.
Das große Büro, von dem aus Lilith ihr Reich regierte, lag allein im obersten Stock. Der schwarze Marmorboden war so stark poliert, dass man sich darin spiegeln konnte. Große Blumensträuße standen überall herum, natürlich perfekt abgestimmt auf Möbel- und Wandfarbe.
»Verschwindet, alle!«, rief Lilith genervt und vertrieb ihre Entourage. Ihre hohen Absätze klapperten auf dem Boden, als sie mit schnellen Schritten zu dem Massivholzschreibtisch ging, der mitten im Raum stand.
Nachdem die Assistenten, Leibwächter und wer sonst noch aus dem Raum verschwunden waren, war es lange Zeit totenstill. Mit verschlossenem Blick saß Lilith hinter ihrem Schreibtisch wie eine Königin auf ihrem Thron.
»Vielen Dank, dass du mich empfängst«, begann Amicia zögerlich. Immer noch sprach sie in der vergessenen Sprache, die ihr auch nach all der Zeit noch problemlos von der Zunge rollte.
»Ach, lass doch dieses uralte Kauderwelsch«, fuhr Lilith sie an. »Niemand spricht das heutzutage mehr.«
»Da, wo ich herkomme, schon noch ab und zu«, murmelte Amicia.
»Der Himmel und ich sind nicht gerade freundschaftlich auseinandergegangen. Am besten erwähnst du nichts mehr in dieser Richtung, wenn du nicht sofort rausfliegen willst.« Aus einer Schublade holte die erste Frau einen kleinen goldenen Flachmann hervor. Sie genehmigte sich einen Schluck, bevor sie wieder zu Amicia schaute.
»Du bist also eine Gefallene?«
Leicht beugte sich Amicia vor und zog das Kleid von ihren Schultern. Die wulstigen, leuchtend roten Narben stachen aus ihrer weißen Haut hervor. Sie sahen aus, als wären sie gerade erst verheilt – eine andauernde Erinnerung an das, was sie verloren hatte.
»Wie lange ist es her, dass der Himmel dich rausgeworfen hat?«
»Sechshundertfünfzig.«
»Was? Tage, Wochen, Monate?« Fragend hob Lilith die Augenbrauen.
»Jahre«, hauchte Amicia.
Für eine Sekunde verrutschte die ach so perfekte Maske der ersten Frau und man konnte die ehrliche Überraschung in ihrem Gesicht sehen. »Sie haben dich vor sechshundertfünfzig Jahren hier runtergeschickt?«
Amicia zuckte nur mit den Schultern.
»Und erst jetzt meldest du dich bei einem von uns. Hast du wirklich die letzten Jahrhunderte unter den Menschen verbracht? Worauf hast du gewartet?«
»Ich hatte Hoffnung. Dass ich irgendwann wieder nach Hause komme«, gestand Amicia.
»Engelchen, der Himmel gibt keine zweiten Chancen. Ganz egal, wie loyal du auch bist. Hast du verkackt, dann hast du verkackt. Finde dich damit ab!«
»Die Hoffnung ist meist stärker als der Verstand. Ich wollte hoffen. Und bereit sein, falls ich eine Chance bekomme«, erklärte Amicia ruhig.
Lilith hob die schmalen Augenbrauen und ließ ihren Blick noch einmal über Amicia gleiten. »Dann bist du hier an der falschen Adresse. Noch viel weiter weg vom Himmel geht kaum.«
»Genau das möchte ich.« Amicia nahm die Schultern zurück und blickte die erste Frau völlig ruhig an. »Ich bin durch mit dem Himmel.«
Ein kurzes, trockenes Lachen entwich dieser. »Du willst mir doch jetzt nicht tatsächlich verklickern, dass du nach mehreren Jahrhunderten einfach so beschlossen hast, dass es jetzt genug ist?«
Mit diesen Fragen hatte Amicia bereits gerechnet. Wieso sollte Lilith ihr auch einfach so glauben? Unter dem aufmerksamen Blick der ersten Frau begann sie, auf und ab zu gehen.
»So einfach ist das leider nicht«, begann sie mit zögerlicher Stimme zu sprechen. »Mein Jahrestag des Falls ist erst kurz vorbei, jetzt sind es genau sechseinhalb Jahrhunderte. Und in all dieser Zeit hat sich niemals jemand für mich interessiert. Sollte ich mich dann nicht endlich mal damit abfinden, dass sie mich nicht mehr wollen?«
Ein mitleidiger, aber auch verstehender Ausdruck trat in Lilith Augen. »Nichts ist schlimmer als das Gefühl, nicht geliebt zu werden.« Wenn einer wusste, wie sich das anfühlte, dann war es die ehemalige Frau Adams. »Und jetzt willst du auf unsere Seite wechseln?«, fragte Lilith weiter. Ihre wachsamen Augen lagen auf Amicia, registrierten jede ihrer Bewegungen.
Nachdenklich schüttelte diese den Kopf. »Nein.«
»Dann verstehe ich deinen kleinen Besuch hier allerdings nicht.«
Tief atmete Amicia durch und versuchte sich zu sammeln. Jetzt wurde es kompliziert. »Der Himmel hat mich vergessen, aber ich kann ihn nicht einfach so hinter mir lassen. Außerdem weiß ich nicht, was mich bei euch erwartet.«
»Schätzchen, wir sind kein Aboservice, wo du einen Probemonat ausmachen kannst«, warf Lilith ein. »Entweder kommst du zu uns oder eben nicht.«
Innerlich biss Amicia sich auf die Zunge. »Es ist nicht einfach, sein Leben komplett umzukrempeln. Ich kenne euch nicht und habe ganz sicher kein Vertrauen zu euch. Aber ich will nicht mehr allein sein.«
»Nur damit ich das richtig verstehe.« Langsam erhob die erste Frau sich und trat um ihren Schreibtisch herum auf Amicia zu. »Du hast den Himmel nach sechshundertfünfzig Jahren endlich satt, bist aber nicht bereit zu einem Dämon zu werden. Du bleibst lieber eine Gefallene, nichts Halbes und nichts Ganzes.«
»Wer garantiert mir, dass ihr mich nicht genauso verstoßt wie die da oben?« Mit dem Kinn nickte Amicia in Richtung Decke. »Dämonen kann man nicht vertrauen.«
»Engeln genauso wenig«, schoss Lilith zurück. »Aber nun gut, was soll ich denn dann mit dir anfangen? Als Gefallene kannst du keine Seelen sammeln und, nimm es nicht persönlich, als Model machst du auch nur wenig her.«
Mit einer einzigen eleganten Bewegung holte Amicia die beiden Klingen hervor, die sie bisher an ihren Armen versteckt hatte. »Sicher kannst du eine Leibwächterin gut gebrauchen.«
Wenig beeindruckt blickte Lilith auf die dünnen Stahlmesser, die nun locker in Amicias Händen langen. Diese Messer hatte sie sich schon vor einigen Jahrzehnten besorgt, sie waren gut gearbeitet, aber kein Vergleich zu den Engelsschwertern, die sie einmal besessen hatte.
»Du warst also Teil der Engelsbrigade?« Interesse blitzte in Liliths Augen auf. »So ein kleines, unscheinbares Ding. Aber wenn ich eines gelernt habe in meinem durchaus langen Leben, dann sollte man das Innere eines Buches niemals nach dem Einband beurteilen.«
Nun stand sie direkt vor Amicia, dank der High Heels waren die beiden Frauen auf einer Höhe. In den Tiefen von Liliths Augen blitzte ein rotes Feuer auf und ihre vollen Lippen formten ein schmales Lächeln. »Wieso eigentlich nicht?«
Etwas überrascht stolperte Amicia einen Schritt zurück. »Wirklich?«
»Es ist nicht sonderlich klug, meine Entscheidungen infrage zu stellen.«
»Aber wieso?«
»Du musst weniger Fragen stellen, Amicia. Erstens lässt es dich leicht dümmlich aussehen, zweitens erkläre ich mich grundsätzlich niemandem. Meine Gründe sind allein meine Sache. Freu dich darüber oder verschwinde wieder!« Kurz deutet sie in Richtung Tür.
Schnell senkte Amicia den Blick. »Danke.«
»Allerdings habe ich eine Bedingung.« Das Lächeln, welches sich nun auf dem Gesicht der ersten Frau zeigte, konnte man nur als bösartig bezeichnen.
Fragend hob Amicia eine Augenbraue.
»Für mich ist es unerklärlich, wie jemand nach so vielen Jahrhunderten immer noch wie ein Engel aussehen kann. Dir strömt der Himmel noch aus jeder Pore und jeder Strähne, das müssen wir ändern.«
Unwillig griff Amicia nach ihren langen Haaren und fuhr mit den Fingerspitzen hindurch. Über ihr Aussehen hatte sie sich nie viele Gedanken gemacht, in ihrer Lebenslage spielte es auch keine Rolle. »Ich verstehe nicht ganz.«
»Sieh es als einen kleinen Vertrauensbeweis, den du erbringen musst.« Behutsam nahm Lilith eine von Amicias langen Locken zwischen die Finger. »Immerhin gebe ich dir hier auch einen großen Vorschuss.«
Trocken schluckte Amicia. Das Aussehen eines Engels ändert sich niemals, ihre ganze Existenz über sahen sie gleich aus. Was auch immer Lilith also mit ihr vorhatte, es würde für immer bleiben.
Doch was war schon etwas so Unwichtiges wie ihr Aussehen, wenn Amicia dafür nach Hause zurückkehren konnte. Sanft lächelte sie die erste Frau an. »Kein Problem.«
»Nun gut.« Zufrieden rieb diese sich die Hände und ging zurück zu ihrem Schreibtisch. »Dann lass es uns miteinander versuchen. Die Kriege sind nur noch ein billiger Abklatsch und das einzig wahre Böse findet man in den Tiefen des Internets. Ich brauche Abwechslung.«
»Das ist zwar nicht meine Aufgabe, aber ich werde es versuchen«, versprach Amicia mit wenig Begeisterung in der Stimme. So ganz traute sie dem Braten noch nicht, es war zu leicht gegangen. »Und jetzt?«
Ohne aufzuschauen, scrollte Lilith durch ihr Handy, dabei wickelte sie eine Strähne ihres Haares um ihren Finger. »Du gehst nach Hause. Morgen früh wird dich ein Wagen abholen und dann schauen wir weiter. Eine Woche, so viel Zeit gebe ich dir mich zu überzeugen.«
Ein weiteres Ultimatum, eine weitere Uhr, die über Amicias Kopf tickte. Doch es war ein Schritt in die richtige Richtung. Mit einem kleinen Lächeln nickte sie. »Das werde ich schaffen.«
»Wo wohnst du?« Lilith ging nicht weiter auf ihre Aussage ein.
Etwas zögerlich nannte Amicia den Namen ihres Motels.
»Da hast du dir aber ein ganz schönes Drecksloch ausgesucht«, kommentierte Lilith trocken.
»Ich habe keine hohen Ansprüche ans Leben.«
Einige Herzschläge lang blickte Lilith Amicia einfach nur an. »Das ist eine verdammt traurige Aussage.«
Wortlos senkte die Gefallene die Augen. Was sollte sie dazu noch großartig sagen? Sich zu verteidigen hatte keinerlei Sinn und an der Situation würde es nichts ändern.
»Wir sehen uns morgen.«
Eine weitere Verabschiedung würde Lilith nicht aussprechen, ihre Aufmerksamkeit hatte sich bereits etwas anderem zugewandt.
Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen verließ Amicia das Büro. In der Eingangshalle warf sie der Empfangsdame einen kurzen Blick zu, doch diese achtete nicht auf sie.
***
Die Nacht senkte sich langsam über Paris und das Nachtleben erwachte. Unendlich viele Lichter begannen die Dämmerung zu erhellen, Musik drang leise an Amicias Ohr. Menschen schlenderten nun viel entspannter über die Bürgersteige und unterhielten sich leise.
Tief atmete Amicia die frische Nachtluft ein. Paris hatte diesen einzigartigen Geruch, der im ersten Moment schwer zu beschreiben war. Schokolade, gemischt mit Wein und Rosen. Fremd und exotisch, doch irgendwie bekannt.
Eine fast vergessene Leichtigkeit ließ ihr Herz höher schlagen. Ihre Schritte wurden leichter, beinahe schwebte sie über den abgetretenen Asphalt.
Ihr Ziel rückte langsam, aber sicher, näher.