Für einen Moment legte sich eine so tiefe Stille über den Raum, dass das sanfte Schwappen der Wellen wie ein Dröhnen klang. Mit einem leise schmatzenden Geräusch zog der Höllenfürst die Klinge aus dem Körper des Mannes, der mit weit aufgerissenen Augen zu Boden fiel.
Amicia schaffte es nicht, den Blick von der Leiche abzuwenden. Das Blut rauschte in ihren Ohren und ohne es zu wollen, wich sie einen Schritt nach hinten, blind tastete ihre Hand nach der Türklinke. Sie erstarrte jedoch mitten in der Bewegung, als sich der Körper auf einmal veränderte.
In einem Moment hatte er noch ausgesehen wie ein etwas untersetzter, aber doch recht gut aussehender Mann, im nächsten breitete sich der Geruch der Verwesung im ganzen Zimmer aus und nahm ihr die Luft. Innerhalb weniger Sekunden wurde die Haut des Mannes wässrig und weiß, große Flecken zeigten sich auf seinem Körper.
Ihr Fluchtinstinkt wurde von ihrer Neugierde verdrängt. Sie hob den Blick zum Höllenfürsten, der nicht einmal mehr weiter auf die Leiche achtete, sondern damit beschäftigt war, seine Klinge zu säubern.
»Was passiert hier?« Der Gestank wurde immer schlimmer und trieb ihr die Tränen in die Augen.
»Der Körper kehrt in seinen ursprünglichen Zustand zurück. So, wie dieser aussieht, ist er wohl schon seit ein paar Wochen tot.« Ein angeekeltes Funkeln trat in Lucifers Augen. »Jemand muss ihn so schnell wie möglich wegschaffen.«
Langsam schüttelte Amicia den Kopf, als sich die Puzzleteile in ihrem Kopf langsam zu einem Bild zusammensetzten. »Dieser Mann, der Körper, war bereits tot. Eine fremde Seele hat sich seiner bemächtigt und ist damit durch Paris gelaufen.«
Mit raubtierhafter Geschmeidigkeit kam der Höllenfürst auf sie zu und stieg dabei, ohne weiter auf sie zu achten, über die Leiche.
»Gut erkannt. Die Seele, ein Kerl namens Miles Brown, ist jetzt zurück – dort, wo er hingehört. In der Hölle.«
Immer noch spürte sie das Holz der Tür in ihrem Rücken, ihr Herz flatterte, als sich der Gefallene vor ihr aufbaute und zu ihr herabschaute. »Wir können diese kleine Fragerunde sehr gern weiterführen«, brummte er mit schräg gelegtem Kopf. »Aber mir wäre eine Kabine, in der es nicht nach Tod riecht, deutlich lieber.«
Ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen, als er an ihr vorbeigriff und die Tür öffnete. Erst als er die Tür ein Stück nach vorn drückte, wich sie zur Seite aus und ließ ihn als Erstes hinaustreten. Noch kurz blickte sie zu dem Toten, den nun schon zum zweiten Mal das Leben verlassen hatte, dann folgte sie Lucifer.
Im Flur hatte sich inzwischen eine kleine Menschenmenge gebildet. Unter ihnen konnte Amicia drei weitere Dämonen erkennen, die zusammen mit den Menschen, die wohl nur ahnen konnten, was hier wirklich vor sich ging, aufmerksam dem Höllenfürsten lauschten.
»Bringt die Leiche weg und sorgt dafür, dass sie diesmal auch wirklich beerdigt wird. Die Familie darf nichts davon erfahren. Unsere Aufgabe hier ist erledigt, macht alles sauber und bringt dieses Schiff endlich wieder an Land. Ich kann den Krach nicht länger ertragen«, wies Lucifer alle an, ohne dabei jemand Bestimmten anzuschauen.
Wie Schrotkugeln stoben die Zuhörer auseinander, verschwanden die Treppe nach oben an Deck oder in eine der anderen Kabinen. Eine Dämonin und ein junger Mann drückten sich an Amicia vorbei und betraten die Kabine. Verwirrt blickte die Gefallene auf die nun wieder geschlossene Tür.
Niemand achtete auf sie, alle waren komplett auf ihre Arbeiten konzentriert.
Unsicher blieb Amicia einen Moment stehen. Auch wenn sie langsam eine Ahnung davon bekommen hatte, was hier vor sich ging, waren da immer noch sehr viele Fragen.
Kurz entschlossen folgte sie Lucifer in die Kabine am anderen Ende der Jacht. Immer noch pochte ihr Herz viel zu schnell, das Adrenalin rauschte durch ihre Adern.
Der Höllenfürst stand mit dem Rücken zu ihr, als sie eintrat. Ohne groß nachzudenken, schloss sie die Tür hinter sich und sperrte damit den Rest der Welt aus. Diese Kabine erinnerte mehr an ein kleines Wohnzimmer, es gab Sofas und einen großen Holzschrank, der auch eine Bar eingebaut hatte.
»Wer war die Seele?« Langsam schlenderte Amicia an der Wand entlang, dabei achtete sie darauf, den Gefallenen nicht einen Moment aus den Augen zu lassen.
»Ein Wurm, ehemals menschlicher Abschaum, der sich irgendwie seinen Weg zurück auf die Erde gewieselt hat.«
Tiefe Schatten lagen über seinem Gesicht und ließen es noch kantiger wirken, noch unmenschlicher.
»Aber wieso sollte der Herrscher der Hölle persönlich ausrücken, um einen Entflohenen zu fangen? Gibt es nicht genau für so was die Generäle und das einfache Fußvolk?« Sie formulierte ihre Frage genau, achtete auf ihre Wortwahl.
Ruckartig drehte sich der Höllenfürst um und ging mit weiten Schritten zu der kleinen Bar. Wortlos füllte er zwei Kristallgläser drei Fingerbreit mit bernsteinfarbenem Scotch und kam dann auf Amicia zu.
»Wenn du mich schon ausfragen willst, dann musst du auch mit mir trinken«, brummte er und drückte ihr eines der Gläser in die Hand.
Ohne seinem Blick auszuweichen, setzte Amicia an. Rauchig und brennend floss der Scotch ihre Kehle hinunter und direkt in ihren nervösen Magen. Immer noch löste sie ihren Blick nicht von ihm, als sie das Glas wieder herunternahm und wie einen Anker in ihren Händen hielt.
Zufrieden nickte der Höllenfürst und genehmigte sich selbst einen großen Schluck. Für einen Moment schloss er die Augen, ein genüsslicher Ausdruck trat auf sein Gesicht.
»Nun, Geliebte«, begann er, nachdem auch er sein Glas wieder in den Händen hielt. »Entgegen der Meinung vieler mache ich mir sehr gern die Hände schmutzig. Vor allem, wenn es um eine so wichtige Sache geht.«
Nachdenklich nickte sie und suchte sich einen Platz auf einem der Sofas. Ihre Knie waren immer noch zittrig und lange konnte sie nicht mehr stehen. Nach einigen Augenblicken und einem weiteren Schluck Whiskey nahm Lucifer ihr gegenüber Platz.
»Eine Seele ist aus der Hölle entkommen. Ich denke mal, das kommt nicht sonderlich oft vor«, fasste Amicia ihre wirren Gedanken zusammen. »Du bist hier, weil das nicht die einzige Seele ist, der das gelungen ist.«
Mit einem düsteren Ausdruck in den Augen deutete er ihr an weiterzusprechen.
Um einen Moment Zeit zu gewinnen, nahm Amicia einen weiteren Schluck und behielt ihn für einige Augenblicke auf der Zunge. »Nicht nur hast du eine Seele zurück in die Hölle geschickt, du hast auch deine Generäle zusammengerufen. Ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und sage, dass die beiden Sachen zusammenhängen.« Abwartend blickte sie ihn an.
»Die klugen Mädchen hab ich am liebsten, dabei treffe ich leider viel zu selten auf sie«, murmelte er so leise, dass Amicia es kaum verstehen konnte. »Gute Beobachtungsgabe. Vor einigen Wochen ist nicht nur eine, sondern direkt ein Dutzend Seelen aus der Hölle entkommen. An einem einzigen Tag. Weißt du, wie viele Verdammte mir im letzten Jahrhundert entkommen sind?«
»Keiner.«
»Nicht ein einziger. Das Tor der Hölle ist verschlossen für jeden, der kein Dämon ist. Und selbst diese können es nur passieren, wenn sie eine Erlaubnis haben, entweder direkt von mir oder von einem meiner Generäle.« Abwartend blickte er zu ihr.
»Es ist wohl nutzlos zu fragen, ob es eine Lücke im Tor gibt. So wenig, wie es eine in den Pforten des Himmels gibt.« Nachdenklich beobachtete sie, wie sich die Flüssigkeit in ihrem Glas drehte.
Bei der Erwähnung des Himmels verzog Lucifer angewidert das Gesicht. »Es ist erstaunlich leicht, da rauszukommen. Das weißt du genauso gut wie ich. Nur der Weg zurück ist deutlich komplizierter. Ich kenne nicht viele, die das geschafft haben. Du etwa?«
Sie antwortete nicht, hielt seinem Blick aber stand. Es kam ihr wie ein Test vor, er wollte mehr über sie erfahren, doch das konnte sie nicht zulassen. »Aber wir können sicher sein, dass mehr in den Himmel zurückwollen als in die Hölle.«
»Niemand entscheidet, wo er nach seinem Tod landet. Man bekommt, was man nun mal bekommt, und kann niemand anderem die Schuld dafür geben.«
Darauf konnte sie auch nichts erwidern. Immerhin wurde den Engeln beinahe genau dasselbe immer wieder eingetrichtert. Nur fehlte bei den Erzengeln der zynische Unterton.
»Dein Ego ist verletzt«, stellte Amicia fest und musste sich ihr Grinsen verkneifen. Nachdem sie ihr Glas geleert hatte, stellte sie dieses auf dem flachen Tisch ab und lehnte sich entspannt zurück.
»Mehr als nur das.« Er tat es ihr gleich, erhob sich aber und kam mit der Flasche zurück. Amicia widersprach ihm nicht, als er ihr erneut eingoss. »Weil diese Seelen entwischt sind, wird meine Macht offen angezweifelt. In der Hölle verbreiten sich Gerüchte schnell und schon bald werden die ersten Stimmen laut werden.«
»Du vermutest einen Plan, dich zu stürzen und einen neuen Höllenfürsten zu krönen.« Amicia verging ihr Lachen wieder. »Mir fällt niemand ein, der dazu in der Lage ist.«
Kurz schüttelte Lucifer den Kopf und drehte das Glas in seiner Hand. Durch das Fenster konnte Amicia die vorbeiziehende Stadt erkennen. Langsam erloschen auch in Paris die Lichter, so weit war die Nacht nun schon vorangeschritten.
Weiterhin herrschte Stille zwischen ihnen und langsam wurde Amicia wieder nervös. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie locker sie auf einmal geworden war, ob dies nun am Alkohol oder ihrem Gesprächspartner gelegen hatte, wollte sie gar nicht so genau wissen.
»Sind nun alle Seelen wieder da, wo sie sein sollen, oder brichst du bald zu einer erneuten Jagd auf?«, stellte sie die erste Frage, die ihr in den Sinn kam.
»Ich habe die letzte Seele zurückgeschickt, zumindest wurden nicht noch mehr verschwundene bemerkt«, brummte Lucifer, ohne sie anzublicken.
»Wieso diese ganze Show?« Fragend zuckte sie mit den Schultern. »Eine riesige Party auf einer teuren Jacht, zu der ein Haufen Menschen eingeladen wurde. Das ergibt nicht wirklich Sinn.«
»Die meisten der Verdammten konnte ich schnell aufspüren. Menschen sind recht einfach gestrickt, sie kehren immer wieder an Orte zurück, die sie sehr gut kennen. Und zu den Menschen, die sie lieben. Entflohene Seelen kehren zu ihren Familien zurück, zwar in neuen Körpern, aber mit denselben Erinnerungen. Ich musste also nur herausfinden, wo die Familien lebten, und habe meine Opfer dort entdeckt.«
»Aber dieser Miles hatte keine Familie, niemanden, der ihm etwas bedeutete. Es gab niemanden, zu dem er zurückkehren konnte«, beendete sie seine Ausführungen. »Aber eine Jachtparty?«
»Du wärst überrascht, was Seelen alles von sich geben, wenn sie in der Hölle sind. Sie gestehen offen und ehrlich ihre tiefsten Ängste und wildesten Fantasien.« Kurz zwinkerte Lucifer ihr zu. »Miles war sein Leben lang ein langweiliger Einsiedler. Nicht weil er es wollte, sondern weil ihm die körperlichen Vorzüge gefehlt haben. Per Zufall ist er in einem recht ansehnlichen Körper mitten in Paris gelandet.«
»Da konnte er seine Träume dann auf einmal ausleben. Was würde eine solche verlorene Seele mehr anlocken als die Erfüllung all seiner Wünsche.«
Langsam schüttelte Amicia den Kopf und nahm ihr Glas wieder hoch.
»Miles würde ich nicht als verlorene Seele bezeichnen. Er wusste ganz genau, wieso er in der Hölle gelandet war. Nicht ein einziges Mal hat er Reue gezeigt, da war nur der Frust, dass er nicht noch mehr erleben konnte.«
Seine so ausdruckslos ausgesprochenen Worte ließen Amicia einen Schauer über den Rücken laufen. Schnell trank sie den Scotch, das warme Brennen vertrieb die Kälte.
»Jetzt ist er ja wieder da, wo er hingehört«, flüsterte sie atemlos.
»Harsche Worte für einen Engel.« Lucifer richtete seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf sie. »Glaubst du nicht daran, dass jede Seele errettet werden kann, so wie jeder brave kleine Engel?«
»Sag du es mir, immerhin warst du auch einmal einer«, schoss sie zurück.
»Das ist schon so lange her, dass es nicht mal mehr zählt.«
Bei seinen Worten musste sie beinahe lachen. Sie war nun fast so lange auf dieser Erde, wie sie im Himmel gewesen war, und doch hatte sie ihr Zuhause nicht einen Tag vergessen. Aber der Gefallene vor ihr hatte schon lange aufgegeben.
»Wie wirst du jetzt weitermachen? Die Seelen sind zurück in der Hölle, jetzt musst du herausfinden, wer sie rausgelassen hat, oder?« Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber ihr Interesse war geweckt.
»Einer von ihnen wird mir schon sagen können, wer mich verraten hat. Sobald der Verräter gefunden ist, werde ich ein Exempel an ihm statuieren. Das war schon lange nötig.« Ein grausamer Ausdruck trat in seine Augen.
»Wann war denn das letzte Mal?«
»Das gab es noch nie. Bisher hat noch niemand etwas so Anmaßendes und Dummes gewagt«, knurrte er.
»Dann verlässt du Paris nun also wieder«, murmelte Amicia in ihr Glas. Dem verwirrenden Gefühlschaos in ihrem Inneren wollte sie gerade keine weitere Aufmerksamkeit schenken.
»Meine Aufgabe hier ist erfüllt und die Verdammten kann ich auch bequem in der Hölle befragen.«
In diesem Moment verstummte die Musik über ihren Köpfen. Es war wie ein Weckruf, als die Hintergrundgeräusche auf einmal verschwanden. Die Party und die Nacht waren vorbei und Amicia sollte jetzt dringend das Weite suchen. Doch wollte ihr Körper nicht auf ihren Geist hören, denn das Gespräch war immer noch nicht beendet.
»Deine Antworten wirst du sicher nicht in der Hölle finden«, sagte sie, solange der Alkohol in ihren Adern ihr noch den Mut verlieh. »Diese Seelen sind dem Dämon, der sie hat entkommen lassen, sicher sehr dankbar. In ihren Augen hat er oder sie mehr Macht als du, zumindest in diesem Moment. Ihr Befreier ist ihre Hoffnung und nichts lässt Menschen mehr ertragen als die Hoffnung. Während du und deine Schergen sie foltern, um ihnen Antworten zu entlocken, wird der Verräter weitermachen.«
Wortlos blickte Lucifer sie an, keine Regung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Zäh wie Gummi zogen sich die Sekunden, bis Amicia seinem intensiven Blick einfach nicht mehr standhalten konnte. Über ihnen waren die Schritte der Gäste zu hören, die von der Jacht gingen. Amicia sollte jetzt unter ihnen sein und sich davonmachen.
Ein leises Klopfen erklang an der Tür. Die Dämonin, die eben auch Miles gebracht hatte, steckte den Kopf rein. »Jetzt sind alle gegangen, die Leiche werden wir gleich an Land bringen.«
Lucifer nickte knapp. Mit einem letzten kurzen Blick in Amicias Richtung verschwand die Dämonin wieder. »Nun, der Abend ist dann wohl gelaufen«, nutzte die Gefallene diesen Moment. »Ich sollte jetzt auch gehen.«
»Glaubst du an Zufälle, Geliebte?« Seine blauen Augen richteten sich wieder auf sie. »Ich nicht. Eine hübsche Gefallene, die just dann auftaucht, wenn mir Seelen entkommen.«
Beide erhoben sich im selben Moment, Amicia leicht zittrig, der Höllenfürst voller Eleganz. Irgendwie schaffte sie es, ihre Gefühle und ihren Körper unter Kontrolle zu halten. »Ich glaube durchaus an Zufälle.«
»Wo kommst du her und was bringt dich ausgerechnet jetzt zu mir?«
Wäre Amicia ein Mensch gewesen, hätte er ihr direkt in die Seele geschaut.
»Ich schulde dir keinerlei Antworten«, sagte sie mit klarer und fester Stimme. »Du magst zwar der Herr der Hölle sein, aber ganz sicher nicht meiner.« Ohne weiter auf ihn zu achten, verließ sie die Kabine.
»Dein Glück, dass ich Geheimnisse mag«, hörte sie ihn noch murmeln, bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.
Niemand hielt sie auf, als sie als letzter Gast die Jacht verließ. Doch sie konnte die Blicke, einige neugierig, andere misstrauisch, genau auf ihrer Haut spüren.
Paris tief in der Nacht kam ihr beinahe wie eine andere Stadt vor. Eine unwirkliche Stille lag über den Straßen, nur noch wenige Menschen waren unterwegs. Zum ersten Mal seit Langem fühlte Amicia sich verletzlich, den Menschen ausgeliefert.
Ein Sturm tobte in ihrem Inneren. Immer und immer wieder ging sie die letzten Stunden in ihrem Kopf durch, versuchte ein klares Bild zu erkennen.
Einem inneren Impuls nachkommend zog sie ihre High Heels aus und spürte den kalten Asphalt unter ihren Zehen. Der unebene Boden erdete sie, brachte ihrem Kopf neue Klarheit.
Während sie durch die verlassenen Straßen wanderte, überdachte Amicia den Abend noch einmal. Und auch das Bild, welches sie von Lucifer hatte.
Es kam ihr ein wenig so vor, als hätte der Höllenfürst zwei Persönlichkeiten oder vielleicht auch zwei Gesichter, die er der Welt zeigte. Der charmante Partylöwe, der Frauen und Männer für sich einnehmen konnte, und der eiskalte Herrscher, der jeden bestrafte, der sich ihm in den Weg stellte.
Seltsamerweise fühlte Amicia sich mit Letzterem deutlich wohler. Bisher war sie davon ausgegangen, dass sie es keine Minute mit Lucifer in einem Raum aushalten würde, doch das Gespräch mit ihm war einfacher gewesen, als sie geglaubt hatte.
Diese Erkenntnis ließ sie erstarren. Atemlos stand sie im Dunkeln der Nacht und blinzelte. Seitdem sie gefallen war, war ihr ein Gespräch mit einem anderen Wesen noch nie so leicht gefallen. Es hatte ihr zwischendurch sogar ein wenig Spaß gemacht.
Hektisch schüttelte Amicia den Kopf. Sicher lag es nur daran, dass der Höllenfürst ebenfalls einmal ein Engel gewesen war. Dadurch war er ihr ähnlicher als jeder Mensch oder Dämon.
Da war die leise Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr sagte, dass es ihr mit Faniell auch nicht so leicht gefallen war. Dass sie zu dem Engel, der ehemals ihr Freund gewesen war, keine enge Verbindung gespürt hatte.
Während sie durch die Straßen von Paris spazierte, wanderte ihr Geist zurück zu einer Zeit, als sie dies ebenfalls getan hatte.
Es stank nach Abfall, Dreck und Tod. Düstere Gestalten in dreckiger Kleidung und mit bösen Gesichtern drängten sich durch die Straßen. Der schmale Mond spendete nur wenig Licht, noch mehr Wesen versteckten sich in den langen Schatten.
Amicia zog den dünnen Umhang enger um sich, der Stoff hielt die Kälte kaum von ihr ab. Ihre Zähne klapperten, das Gefühl in ihren Fingern und Zehen war verschwunden. Immer noch hatte sich ihr Körper nicht an die Kälte gewöhnt.
Mit letzter Kraft schleppte sie sich zu der kleinen Kirche, die zwischen den Häusern kaum auffiel. Während um sie herum das Nachtleben tobte, Männer, die tranken und grölten, Frauen, die nach ihrem neusten Freier Ausschau hielten, achtete niemand auf das Haus Gottes.
Niemand war im Inneren, nicht einmal Kerzen brannten. Doch das war Amicia egal. Die kahlen Steinwände hielten wenigstens den scharfen Wind ab. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider und vermischten sich mit ihrem hektischen Atem.
Ein Gefühl der Ruhe ergriff Amicia und zum ersten Mal, seitdem sie gefallen war, konnte sie tief durchatmen. Die Anspannung und Angst, die sie bisher vorangetrieben hatten, verblassten ein wenig. Hier war sie ihrem Zuhause näher, vielleicht sogar nah genug, um jemanden zu erreichen.
»Vater, Brüder, Schwestern?«, rief sie mit kratziger Stimme in die Stille. »Hört ihr mich? Bitte, antwortet mir! Jemand hat einen Fehler gemacht. Ich gehöre nicht hierher. Bitte, holt mich nach Hause!«
Beim letzten Satz brach ihre Stimme und die ersten Tränen liefen heiß ihre Wangen hinunter. Atemlos stand sie da und wartete, hoffte, dass jemand kommen würde und sie erlöste. Aber niemand kam. Nicht in dieser Kirche und auch nicht in der nächsten, zu der sie sich schleppte.
Der Schmerz der Vergangenheit schoss wie eine Kugel durch ihre Brust und erinnerte sie daran, weshalb sie wirklich in der Stadt der Lichter war. Hektisch wischte Amicia sich die Tränen von den Wangen und eilte zurück in ihr kleines Motel.
Nun hatte sie den Höllenfürsten getroffen, ihn in ein Gespräch verwickelt. Jetzt musste sie nur noch herausfinden, wo er den Morgenstern versteckte. Da Lucifer nun erst einmal in die Hölle zurückkehren würde, hatte sie einige Tage, um sich einen genauen Plan zu überlegen.
***
Als sie endlich in ihrem schäbigen Zimmer ankam, zeigten sich bereits die ersten Sonnenstrahlen am Horizont. Sie fühlte sich, als wäre sie eine Woche unterwegs gewesen. Ohne sich auszuziehen, fiel sie aufs Bett und schloss die Augen.
Das nervige Vibrieren ihres Handys weckte sie einige Zeit später. Grelle Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster, aber noch stand die Sonne nicht hoch. Sie konnte nur wenige Stunden geschlafen haben.
Noch mit halb geschlossenen Augen tastete sie nach dem nervigen Ding und schaffte es irgendwie dranzugehen.
»Ja?«
»Guten Morgen, Amicia«, begrüßte Jakob sie mit viel zu fröhlicher Stimme. »Lilith erwartet dich in einer halben Stunde.« Ohne ein weiteres Wort legte er auf.
Für einen Moment lag Amicia einfach nur da, das Handy immer noch in der Hand, ihren Blick ins Nichts gerichtet. Ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen, die Müdigkeit saß ihr immer noch zu sehr in den Knochen.
Dann sprang sie so schnell aus dem Bett, dass sich für einen Moment alles drehte. Hektisch riss sie sich das Kleid vom Körper und stolperte ins Badezimmer. Das Wasser war eher lauwarm als heiß, aber es reichte, um sie einigermaßen wach zu machen.
Unruhig pochte ihr Herz. Es war sicher kein gutes Zeichen, dass Lilith sie so früh am Morgen sehen wollte. Das ungute Gefühl machte sich in ihr breit, dass Lilith von ihrem Ausflug gestern Abend wusste und sie nun die Konsequenzen tragen musste.
Zehn Minuten später war sie angezogen, aus ihren Haaren tropfte immer noch das Wasser. Sie stopfte ihr Handy noch in die Tasche ihrer Jacke, dann eilte sie aus dem Zimmer, ohne weiter auf das Chaos, welches sie hinterlassen hatte, zu achten.
Selbst wenn Amicia die nächste Metro erwischen würde, konnte sie es nicht in zwanzig Minuten zu Lilith schaffen.
Unsicher kaute sie auf ihrer Unterlippe herum, während sie aus dem Haus trat. Welche Strafe würde sie erwarten, wenn sie nicht pünktlich ankam?
Eine einfache schwarze Limousine wartete auf der Straße, der Motor lief. Hinter den getönten Scheiben konnte Amicia niemanden erkennen, der Fahrer sprang jedoch raus und hielt ihr die Tür auf.
Das Wageninnere war leer, also wartete niemand auf sie. Erleichtert atmete die Gefallene durch. Lilith würde ihr sicher keinen Wagen schicken, wenn sie Amicia wieder rausschmeißen wollte.
Und dennoch stellte sich ihr die Frage, weshalb sie um diese Uhrzeit und so schnell zu ihr kommen musste.
***
Es war kurz nach elf, als Amicia vor dem Haus ankam, keine Minute zu spät.
Unsicher klopfte sie an die Tür und wurde erneut von einem Hausmädchen hereingelassen, welches sie in einen der Salons führte. Niemand war zu sehen, warmes Sonnenlicht fiel durch die Fenster.
Langsam schritt Amicia durch den Raum und nahm auf einem der Sofas Platz. Sie hatte kaum drei Stunden geschlafen und zusammen mit der Menge Alkohol, die sie in der letzten Nacht zu sich genommen hatte, fühlte sie sich wie durch den Fleischwolf gedreht. Wie sehr vermisste sie es, ohne Schlaf oder Nahrung auszukommen.
Das einzig Gute an ihrem vernebelten Verstand war, dass sie nicht weiter über den Höllenfürsten nachdenken konnte. Jedes Mal, wenn sie es versuchte, schoss ein scharfer Schmerz durch ihre Schläfe – wie eine Warnung, es nicht zu tun.
»Du siehst so schrecklich aus, wie du am Telefon geklungen hast.« Mit einem breiten Grinsen und in einen perfekt sitzenden Anzug gekleidet kam Jakob zu ihr in den Salon. In der Hand hielt er einen Kaffeebecher und eine Papiertüte, beides reichte er Amicia.
Tief atmete sie den aromatischen Geruch des Kaffees ein, der sofort ihre Lebensgeister wieder in Gang brachte. Obwohl sie sich beinahe die Zunge verbrühte, konnte sie nicht warten und nahm einen großen Schluck.
In der Tüte befand sich ein noch warmes Croissant – in einer Größe, die Amicia noch nie gesehen hatte. Bei dem Anblick knurrte ihr Magen laut. Das erste Stückchen explodierte beinahe auf ihrer Zunge, so gut schmeckte es.
»Danke«, murmelte sie zwischen den Bissen und blickte zu Jakob.
Der hatte es sich ihr gegenüber auf einem Sofa bequem gemacht und tippte auf seinem Handy herum. »Sehr gern. Aber wieso verspürst du überhaupt Hunger? Solltet ihr Engel nicht über solchen weltlichen Bedürfnissen stehen?«
»Ich bin kein Engel mehr, deshalb ist mein Körper dem eines Menschen deutlich ähnlicher. Früher konnte ich eine Ewigkeit ohne Nahrung oder Schlaf auskommen«, murmelte sie, den letzten Bissen Croissant noch in der Hand.
»Wie lange denn so?« Für einen Moment blickte Jakob von seinem Handy hoch, Interesse zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
»Der längste Zeitraum für mich war sechs Wochen, aber ich habe von Engeln gehört, die es sechs Monate ausgehalten haben.« Genüsslich leerte sie ihren Kaffeebecher und knüllte die nun leere Tüte zusammen.
Bevor Jakob weitere Fragen stellen konnte, die ihm so klar auf der Zunge brannten, trat Lilith mit einem ernsten Gesichtsausdruck ein. Anstatt auf die beiden zu achten, spazierte sie zum Fenster und blickte einige Minuten schweigend hinaus.
Während Jakob völlig ruhig blieb, musste Amicia sich zusammennehmen, um nicht auf ihrem Platz hin- und herzurutschen. Irgendwas stimmte nicht und sie war sich ganz sicher, dass es etwas mit dem Höllenfürsten zu tun hatte.
»Wir werden Paris verlassen«, sprach die erste Frau endlich und wirbelte zu ihnen herum. »Lucifer braucht meine Hilfe und wir werden ihn nach Rom begleiten.«
Überrascht hob Amicia die Augenbrauen. »Wir alle?«
»Natürlich. Oder hast du den Vertrag vergessen, den du unterschrieben hast? Unser Flieger geht in zwei Stunden, wir treffen uns am Flughafen.«