KAPITEL SIEBEN – ÜBER DEN WOLKEN

Vignette

Das laute Chaos des Flughafens verschwand hinter den Glastüren, als sie hindurchtrat. Eine adrett gekleidete Stewardess führte sie durch einen abgeschotteten Bereich direkt auf das Rollfeld. Ein schicker Privatjet stand in der glitzernden Sonne.

Amicia atmete tief ein und aus, dann stieg sie die Treppe nach oben. Eine weitere Stewardess erwartete sie dort bereits mit einem professionellen Lächeln auf den Lippen. »Herzlich willkommen.«

Die Gefallene schenkte ihr ein schmales Lächeln, dann trat sie in den Passagierraum. Das Innere des Jets konnte man nicht anders als luxuriös bezeichnen. Edle Ledersitze, zwei passende Sofas, im hinteren Bereich konnte sie sogar ein kleines Schlafzimmer ausmachen. Alles war in Cremetönen gehalten, dazu noch ein sattes warmes Braun.

Lilith thronte bereits in einem der Sessel, vor sich eine Tasse Kaffee und eine Flasche Wasser. Weiter hinten saß Jakob mit seinem Laptop an einem kleinen Tisch und plapperte aufgeregt in sein Handy.

»Da bist du ja endlich. Diesmal wenigstens nicht zu spät«, begrüßte Lilith sie und deutete auf den Platz ihr gegenüber. »Wir können gleich starten.«

Unsicher ließ Amicia sich in den Sessel sinken und blickte aus dem Fenster. Weiter hinten konnte sie den normalen Trubel des Flughafens sehen, doch in ihrer Nähe herrschte beinahe gespenstische Stille.

Ein silberner Wagen hielt direkt vor dem Flieger. Amicia musste nicht einmal hinsehen, um zu wissen, wer da angekommen war. Ein Ruck ging durch alle Anwesenden. Das Lächeln der Stewardess vertiefte sich, Lilith saß noch gerader und Jakob klappte seinen Laptop zu.

Mit großen Augen blickte die Gefallene auf die Tür, durch die in diesem Moment der Höllenfürst trat. An diesem Tag trug er wieder einen Anzug, jedoch ohne Krawatte, der oberste Hemdknopf stand locker offen.

»Ich bin doch nicht etwa zu spät?« Mit einem breiten Grinsen ließ er seinen Blick durch die Kabine gleiten.

»Wie immer wartet die ganze Welt auf dich«, murmelte Lilith und nippte an ihrem Cappuccino.

»Bist du mir böse?« Amüsiert hob Lucifer die Augenbraue.

»Ich mag es nun einmal nicht, so kurzfristig aus meinem Haus gejagt zu werden«, grummelte die erste Frau weiter.

»Meine Entscheidung habe ich erst in der letzten Nacht getroffen.« Zum ersten Mal richtete der Höllenfürst seinen Blick auf Amicia, so, als würde er mit ihr sprechen.

Lilith wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und ließ das Thema fallen. Mit einem leisen Lächeln nahm Lucifer in dem Sessel auf der anderen Seite des Ganges Platz. Weniger als ein Meter trennte Amicia von ihm und erneut stieg ihr der angenehme Geruch von Kaffee, Whiskey und dunkler Schokolade in die Nase.

Die Tür wurde geschlossen, die Stewardess informierte sie, dass sie bald abheben würden. Das Licht in der Kabine wurde gedimmt, während das Röhren der Triebwerke immer lauter wurde.

Unsicher wandte Amicia den Blick ab und versuchte nicht weiter auf den Gefallenen neben sich zu achten. Mit einem Ruck setzte sich der Jet in Bewegung und sie fuhren auf das Rollfeld.

Ihre Finger krallten sich in die Armlehne, als sie schneller und schneller wurden und endlich den Boden hinter sich ließen. Ihr Magen hüpfte aufgeregt, während sie in die Höhe glitten.

Diese Art des Fliegens war gleichermaßen wunderschön – seltsam richtig – und doch so falsch. Dasselbe Gefühl des Abhebens, der Blick auf die Welt, die unter ihr immer kleiner wurde. Aber es fehlte der Wind in ihren Haaren, das Rauschen in ihren Ohren. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich für einen Moment vorstellen, wieder durch den Himmel zu segeln.

»Vermisst du es?«, erklang eine warme Stimme neben ihr.

Hektisch riss Amicia die Augen auf und blickte sich um. Hinter ihr konnte sie Jakob wieder auf den Tasten klappern hören, Lilith hatte die Augen geschlossen und dicke Kopfhörer auf den Ohren.

Die Hände im Schoß verschränkt wandte sie sich Lucifer zu, der sie interessiert beobachtete. Entspannt hatte er es sich auf seinem Platz bequem gemacht, die langen Beine ausgestreckt.

»Wie kann man das Fliegen nicht vermissen?«, flüsterte sie zurück.

»Was würdest du alles dafür geben, es wieder tun zu können?« Er beugte sich ein Stück über den Gang zu ihr.

»Gar nichts, denn ich bin machtlos.«

Lucifer kniff die Augen zusammen. Anscheinend war er mit ihrer Antwort nicht zufrieden, fragte jedoch nicht weiter nach.

Noch einen Moment blickte sie ihn an, dann wandte sie sich wieder dem Fenster zu. Sie näherten sich bereits der leichten Wolkendecke, bald schon war die Welt unter ihr verschwunden.

Unruhig tippte sie mit dem Zeigefinger auf der Lehne herum. Sosehr sie sich auch entspannen wollte, sie konnte es einfach nicht. Sie spürte ihn neben sich, seine Präsenz war wie ein flackerndes Feuer, das über ihre Haut leckte.

Endlich erloschen die Anschnalllichter.

So schnell sie konnte, sprang Amicia auf und eilte in den hinteren Bereich des Jets, wo sie die Toilette vermutete. Anstatt eines kleinen Waschraums, in dem man sich kaum um sich selbst drehen konnte, fand sie sich in einem komplett ausgestatteten Badezimmer mit großer Dusche wieder.

Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte ihre Stirn für einen Moment dagegen. Dieser kleine Raum war noch nicht erfüllt mit Lucifers Geruch und sie konnte wieder durchatmen.

Ihr Spiegelbild war noch schlimmer, als sie gedacht hatte. Die Haare standen wild vom Kopf ab, als wäre sie durch einen Sturm gelaufen. Oder geflogen. Bei dem Gedanken musste sie kurz lächeln.

Mehrmals wusch sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser, bis etwas Farbe auf ihre Wangen zurückkehrte. Danach ließ sie sich das Wasser einfach einige Augenblicke über die Handgelenke laufen, in der Hoffnung, so auch ihren Kopf freizubekommen.

Ein letztes Mal atmete sie tief durch und versuchte wieder klar zu werden. Sie konnte nicht länger zulassen, dass Lucifer ihr so unter die Haut ging. Wenn sie in seiner Gegenwart nicht klar denken konnte, dann war sie auch nicht in der Lage, weiter Nachforschungen anzustellen.

Dass Lucifer nun doch noch länger auf der Erde bleiben wollte, brachte ihren ganzen Plan durcheinander. Entweder kam sie so näher an den Morgenstern heran oder ihr Auftrag war zum Scheitern verurteilt.

Das Flugzeug ruckelte ein wenig in der Luft herum und erinnerte sie daran, wo sie sich befand. Noch länger konnte sie sich leider nicht im Bad verstecken, ansonsten würde man ihr nur Fragen stellen.

Mit einem Ruck öffnete sie die Tür und trat in den schmalen Gang hinaus. In der Kabine sah sie die immer noch schlafende Lilith und Jakob, der weiterhin konzentriert arbeitete, aber von Lucifer fehlte jede Spur.

Der erschrockene Schrei blieb ihr im Hals stecken, als sie am Arm gepackt und in die kleine Schlafkabine gezerrt wurde. Mit einem lautem rums fiel die Tür hinter ihr zu und eine kräftige Gestalt drückte sie gegen die Wand.

»Jetzt sind wir wieder allein, Geliebte. Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten«, knurrte Lucifer mit tiefer Stimme. Ein dunkles Feuer brannte in seinen Augen, als er auf sie herabschaute.

Amicia konnte die Wand in ihrem Rücken spüren, sein fester und doch sanfter Griff an ihren Armen. Sein kräftiger Oberschenkel hielt sie an Ort und Stelle. Ihr Herz pochte so schnell, dass sie ihren Puls am Handgelenk spüren konnte, und doch hatte sie keine Angst. Stattdessen raste ein anderes Gefühl durch ihre Adern und raubte ihr den Atem.

»Ich dachte, du magst es, wenn Frauen Geheimnisse haben«, brachte sie mit schwacher Stimme hervor.

»Geheimnisse sind das eine, eine Bedrohung ist etwas ganz anderes.« Langsam beugte er sich zu ihr herab, bis sich ihre Gesichter direkt voreinander befanden.

Hektisch wich Amicia ein Stück zurück und leckte sich ungewollt über die Unterlippe. Ihr war auf einmal viel zu heiß und ihre Gedanken drifteten in eine Richtung ab, in der sie sie ganz sicher nicht haben wollte.

»Wäre ich eine Bedrohung, dann hätte Lilith mich nicht eingestellt«, wisperte sie.

»Meine gute Lilith hatte schon immer ein Herz für Streuner. Irgendwie hast du es geschafft, sie für dich einzunehmen.«

»Ich bin halt gut in meinem Job.« Mit neu gefundenem Selbstvertrauen hob sie das Kinn und blickte ihm fest in die Augen.

»Ja, das habe ich schon gehört.« Seine große Hand wanderte ihren linken Oberschenkel hoch bis zu der versteckten Klinge. »Dabei siehst du viel zu unschuldig aus, um jemandem etwas anzutun.«

Eine Gänsehaut breitete sich von der Stelle, an der seine Hand lag, über ihren ganzen Körper aus. Die Wärme seiner Haut brannte sich durch den Stoff ihrer Jeans bis direkt in ihr Innerstes. »Der Anschein kann durchaus trügen.«

Seine Lippen verzogen sich zu einem trägen Lächeln und Amicias Gedanken gaukelten ihr ein völlig falsches und doch so faszinierendes Bild vor. Wie er sich vorbeugte und mit seinem Mund über ihren strich. Wie seine Hände weiter über ihren Körper wanderten, bis jeder Zentimeter Haut in Flammen stand.

Doch der Höllenfürst beugte sich nicht hinab, um sie zu küssen. Stattdessen wich er ein Stück von ihr zurück, wobei seine Hand an Ort und Stelle blieb. »Wenn dies deine Verteidigung sein sollte, dann ist sie ziemlich schwach.«

»Ich muss mich nicht verteidigen«, sprach sie mit hochnäsiger Stimme. »Denn ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen.«

»Du glaubst nicht an Zufälle«, griff er ihr Gespräch aus der Nacht wieder auf. Nun löste Lucifer auch die rechte Hand von ihrem Arm und nahm stattdessen eine Strähne ihres Haares zwischen die Finger. »Aber doch an Verdächtigungen.«

»Ist es nicht an den Haaren herbeigezogen, mich mit den Seelen in Verbindung zu bringen?« Um ihre Worte zu unterstreichen, drehte sie den Kopf zur Seite, sodass die Strähne aus seinem Griff glitt. »Falls es dir entgangen sein sollte, ich bin eine Gefallene und kein Dämon. Also: Kein Zutritt in die Hölle für mich.«

Bedächtig nickte er, seine Hand immer noch neben ihrem Gesicht erhoben. Er lehnte sich weiter nach vorn, bis sein Unterarm gegen die Wand lehnte. So sperrte er sie beinahe ein, wobei seine andere Hand langsam hoch zu ihrer Hüfte wanderte. »Aber wo kommst du dann auf einmal her?«

»Berlin«, gab sie kurz angebunden zurück.

»Du willst wirklich nichts von dir preisgeben, nicht wahr?« Das interessierte Funkeln war wieder in seine Augen zurückgekehrt.

»Es gibt nichts preiszugeben. Und mit den entflohenen Seelen habe ich auch nichts zu tun.« Halbherzig stieß sie gegen seine Brust, damit er zurückwich.

Doch Lucifer rührte sich keinen Zentimeter, er blickte einfach nur weiter auf sie hinunter. In ihrem Rücken konnte sie das leise Summen des Jets spüren, was sie erneut daran erinnerte, wo sie sich befanden und wer auf der anderen Seite dieser Wand wartete.

»Ich bin hier, weil Lilith mir vertraut.« Mit erhobenem Kinn blickte sie zu ihm auf. »Solltest du damit ein Problem haben, dann wende dich gern an sie. Ansonsten muss ich jetzt in die Kabine zurückkehren, um meiner Aufgabe nachzugehen.« Diesmal schubste sie ihn mit mehr Nachdruck von sich.

Ohne zu zögern, trat Lucifer zurück und ließ sie gewähren. Mit einem wütenden Schnauben fuhr Amicia sich durch die Haare und drückte sich an ihm vorbei in Richtung Tür.

»Was soll Lilith hier oben schon passieren?«, fragte der Höllenfürst schulterzuckend.

»Mir würden da ein paar Dingen einfallen«, murmelte sie und trat zurück in die Hauptkabine.

Immer noch kribbelte ihr ganzer Körper und ihre Wangen brannten. Innerlich hoffte sie, dass niemand etwas mitbekommen hatte oder bemerkte, wie aufgebracht sie war.

Angespannt, die Hände vor dem Bauch verschränkt, schritt sie den Gang entlang. Hinter sich konnte sie immer noch gedämpft Lucifers Präsenz fühlen, aber er folgte ihr nicht.

»Alles in Ordnung bei dir?«

Bei Jakobs Frage wäre sie beinahe zusammengezuckt. Er hatte von seinem Laptop aufgeschaut und betrachtete sie nun mit zusammengezogenen Augenbrauen.

»Ja, natürlich«, murmelte Amicia und kehrte schnell an ihren Platz zurück.

Er folgte ihr. Die Hände locker in die Hosentaschen gesteckt blickte er besorgt auf sie hinab. »Mach dir keine Gedanken, seine Majestät wirkt auf alle einschüchternd.«

Irgendwie schaffte Amicia es, ihr Gesicht zu so etwas Ähnlichem wie einem Lächeln zu verziehen. »Alles gut, wir haben uns nur unterhalten.«

»Das glaube ich dir nicht. Er schafft es, jedem unter die Haut zu gehen. Wenn er dich denn überhaupt sieht.« Locker zuckte Jakob mit den Schultern.

»Er ignoriert dich?« Amicia schlug die Beine übereinander.

»Ich glaube eher, dass er mich nicht einmal bemerkt hat. So als kleiner Mensch stehe ich doch recht weit unter ihm«, murmelte der Mann trocken.

»Du bist mir durchaus aufgefallen, Jakob.« Wie aus dem Nichts war der Höllenfürst aufgetaucht und nahm seinen Platz wieder ein. »Ich habe lediglich beschlossen deiner Anwesenheit keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken. Oder willst du dich mal mit mir unterhalten?« Sein Lächeln war so scharf wie die Klinge an Amicias Oberschenkel.

»Nein, Herr«, flüsterte Jakob mit gesenktem Kopf und zog sich wieder zurück in den hinteren Teil der Kabine.

»Sieh an, unserer Lilith geht es immer noch großartig. Niemand hat in den letzten paar Minuten versucht sie umzubringen.« Mit dem Kinn nickte Lucifer zu der schlafenden ersten Frau.

Schnaubend wandte Amicia den Kopf ab und blickte aus dem Fenster. Sie hatten immer noch mehr als eine Stunde Flug vor sich, vielleicht sollte sie auch etwas Schlaf abbekommen. Doch sie schaffte es einfach nicht, sich zu entspannen. Immer noch spürte sie Lucifers Berührungen auf ihrem Körper, zusammen mit den Blicken, die er ihr nun immer wieder zuwarf.

Trotzdem schloss Amicia die Augen und lehnte die Stirn ans Fenster. Auch wenn sie nicht schlafen konnte, konnte sie so wenigstens in aller Ruhe nachdenken.

Es hatte nicht einmal achtundvierzig Stunden gedauert und schon stand sie auf der Beobachtungsliste des Höllenfürsten. So viel zu ihrem Plan, sich bei ihm einzuschleichen, um den Morgenstern zu finden.

Die Gedanken brachten sie zu einem ganz anderen Problem. Sie hatte keine Ahnung, wie diese allmächtige Waffe aussah. Es konnte alles sein. Unter halb geschlossenen Lidern schielte sie zu Lucifer. Vielleicht trug er ihn in diesem Moment sogar bei sich?

Ihr Blick fiel auf die dünne Kette, die um seinen Hals hing. Ansonsten trug der Höllenfürst keinen Schmuck, nicht einmal eine Armbanduhr. Dieses einfache Lederband passte so gar nicht zu ihm. War der Morgenstern so klein, dass man ihn als Anhänger tragen konnte? Schnell schloss sie wieder die Augen, als Lucifer sich in seinem Sessel bewegte.

Als hätte sie sich einen Wecker gestellt, erwachte Lilith, sobald sie in den Landeanflug auf Rom gingen. Ihr Blick wanderte langsam durch die Kabine und blieb dann an Amicia hängen. Kurz zog sie die Augenbrauen zusammen, dann war ihr Gesicht wieder ausdruckslos.

Mit einem sanften Ruck setzte der Jet auf der Rollbahn auf. Der Flughafen und die dahinterliegenden Hügel rasten an dem Fenster vorbei, bis die Maschine vollständig zum Stehen gekommen war.

Mit ernstem Ausdruck packte Jakob seine Sachen zusammen, während Lilith sich ausführlich streckte und murmelte: »Ich schlafe im Flieger immer so gut.«

»Wir treffen uns heute Abend bei mir.« Lucifer war bereits bis zur Tür des Jets gegangen. »Dann besprechen wir alles Weitere.« Schon war er verschwunden. Kurz darauf hörte sie einen davonrasenden Wagen.

Jakob verließ als Erster ihrer kleinen Gruppe den Jet, gefolgt von Lilith, die nun eine große Sonnenbrille auf der Nase hatte.

Als Amicia aus der Tür trat, rannte sie in eine Mauer aus warmer, trockener Luft.

Beinahe sofort brach ihr der Schweiß aus und sie schälte sich aus der Lederjacke. Auf der Rollbahn wartete ein silberner Wagen auf sie, die erste Frau und Jakob hatten bereits hinten Platz genommen. So blieb Amicia nur der Beifahrersitz.

Der Fahrer würdigte sie keines Blickes, sondern legte den Gang ein und brauste davon.

Durch eine Schranke verließen sie den Flugplatz und fuhren auf die Autobahn, die sie direkt in die Metropole bringen würde. Die Lüftung blies ihr kalte Luft ins Gesicht und ließ Amicia bald wieder frösteln.

»Das Loft ist bereits vorbereitet und alles ist so eingerichtet, wie du es magst«, informierte Jakob Lilith. »All deine Aufgaben in Paris sind an Stellvertreter übergeben worden und ich leite sämtliche Anrufe um.«

Den Blick aus dem Fenster gerichtet nickte die erste Frau. »Wenn er mir doch nur sagen würde, wieso wir hier sind. Oder mir wenigstens mehr als zwei Stunden zur Vorbereitung gegeben hätte.«

Schuldig biss Amicia sich auf die Lippe. Etwas in ihr drängte dazu, Lilith die Wahrheit zu sagen, aber dann musste sie zugeben, dass sie auf der Jacht gewesen war. Diesbezüglich würde Lilith dann sicher einige Fragen stellen. Doch irgendwie hatte Amicia bereits eine gewisse Loyalität zu ihrer neuen Chefin entwickelt.

»Es sind wohl Seelen aus der Hölle entkommen und Lucifer will herausfinden, wie das geschehen konnte«, murmelte sie mit gesenktem Kopf.

Einen Moment legte sich absolute Stille über das Innere des Wagens. Angsterfüllt blickte Amicia über ihre Schulter. Jakob stand der Mund offen und er blickte planlos zwischen ihr und der ersten Frau hin und her.

In Liliths Gesicht konnte Amicia nichts lesen. Völlig ausdruckslos blinzelte diese ihr entgegen. »Das war mir bereits bekannt. Nur … soweit ich informiert war, ist die letzte der Seelen wieder in der Hölle und so sollte es auch Lucifer sein. Kannst du mir sagen, wieso er immer noch hier oben weilt?«

Amicia nahm sich einen Moment Zeit, um über ihre Antwort nachzudenken. »Möglicherweise habe ich ihm den Rat gegeben, dass er den Verräter eher hier oben als in der Hölle finden würde.«

»Dieses ach so erhellende Gespräch habt ihr beide wann genau geführt?« Fragend hob Lilith eine Augenbraue.

»Gestern Nacht. Ich habe mich auf seine Jachtparty geschlichen, um mehr über ihn herauszufinden.« Das war keine Lüge, also musste Amicia deshalb auch keine Schuldgefühle haben. Nur leider nagten diese trotzdem an ihr.

»Dann wird er uns ja heute Abend sicher mitteilen, wie es nun weitergeht«, brummte die erste Frau und sah dann weg.

Für einen Moment blickte Amicia sie noch an, dann wandte sie sich mit klopfendem Herzen wieder nach vorn.

Den Rest der Fahrt herrschte angespanntes Schweigen im Wagen, nervös knetete sie ihre Hände.

Der Fahrer hielt vor einem alten Stadthaus an der Piazza di Spagna, einem der schönsten und teuersten Wohnviertel der Stadt, an. Zur Mittagszeit war nicht viel los, nur einige Touristen wanderten umher und fotografierten alles, was ihnen vor die Linse kam.

Nicht weit von ihnen konnte Amicia die Spanische Treppe sehen, vor der die Fontana della Barcaccia fröhlich sprudelte. Wie immer waren Menschen auf der bekannten Treppe versammelt, die das warme Sonnenlicht in sich aufsaugten.

Amicia wollte gar nicht wissen, wie schwer es war, hier eine Wohnung zu bekommen. Jakob eilte voraus und öffnete die Haustür, um seine Chefin reinzulassen. Im Inneren empfing sie angenehme Kühle und sanftes Dämmerlicht.

Der kleine, alte Aufzug erweckte nicht unbedingt Vertrauen in Amicia, aber sie folgte der ersten Frau trotzdem hinein, nachdem sie ihre Tasche vom Fahrer entgegengenommen hatte. Immer noch sprach Lilith kein Wort mit ihr und auch Jakob wich ihrem Blick aus.

Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass doch nicht alles vorbei war. Immerhin hatte Lilith sie noch nicht weggeschickt, aber dieses eisige Schweigen trieb sie beinahe in den Wahnsinn.

Die Aufzugtüren öffneten sich und sie traten in einen Gang hinaus, dessen schwarzer Marmorboden den feinen Deckenstuck spiegelte, sosehr war er poliert. Jakob eilte vor und öffnete die einzige Tür in diesem Stockwerk, hinter der sich wohl Liliths’ Wohnung befand.

Obwohl sie nun in einem anderen Land waren, zeigte sich der französische Stil der ersten Frau auch hier. Es fanden sich sogar einige ähnliche Bilder an der Wand.

Mit festem Schritt spazierte Lilith durch die helle, offene Wohnung hinaus auf die große Dachterrasse. Unsicher stand Amicia im Wohnzimmer herum und klammerte sich an ihrer Tasche fest.

»Komm, ich zeig dir dein Zimmer.« Immer noch ohne sie anzublicken, winkte Jakob sie hinter sich her.

Mit jedem Schritt, den sie tat, wurden ihre Schuldgefühle schlimmer, bis sie es fast nicht mehr aushielt. Wortlos führte er sie einen kurzen Gang entlang zu einem kleinen, aber hübsch eingerichteten Zimmer mit angrenzendem Bad. »Hier kannst du dich einrichten.«

Bevor Amicia etwas erwidern konnte, war Jakob verschwunden und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Müde rieb sie sich übers Gesicht und entledigte sich als Erstes ihrer Lederjacke. Nur in Jeans und Shirt gekleidet blickte sie sich ein wenig genauer um. Das Zimmer war zwar voll möbliert, aber es gab keine Anzeichen, dass hier sonst jemand wohnte.

Um etwas Zeit und Abstand zwischen sich und die erste Frau zu bringen, räumt Amicia gleich ihre Tasche aus. Leider brauchte sie dafür nicht halb so lange, wie sie es gehofft hatte und schon bald gab es keinen Grund mehr, sich noch länger zu verstecken.

Mit einem flauen Gefühl im Magen schlich sie auf die Terrasse. In den letzten paar Minuten hatte Lilith sich nicht bewegt, sie stand immer noch mit dem Rücken zur Tür, die Hände auf die Balustrade gestützt.

Unsicher knetete Amicia ihre Hände und trat neben die erste Frau. Auf dem kurzen Weg hatte sie sich ihre Worte genau überlegt, doch jetzt kam nichts anderes als ein schwaches »Es tut mir leid« über ihre Lippen.

Mit einem leisen Seufzer nahm Lilith die Sonnenbrille ab. Aus ihren ausdrucksvollen Augen blitzte Amicia der Schalk entgegen. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Lucifer hat mich bereits in besagter Nacht angerufen und mir alles erzählt.«

Mehrmals blinzelte Amicia wortlos, dann wandte sie langsam den Kopf ab. Von der Terrasse aus hatte man einen unglaublichen Blick über die Häuserdächer, in der Ferne konnte sie sogar das Glitzern des Tibers erkennen. »Ich verstehe nicht ganz.«

»Lucifer und ich haben keine Geheimnisse voreinander, so war es schon immer zwischen uns. Als du auf seiner Party aufgetaucht bist, hat er mir das sofort mitgeteilt. Ursprünglich dachte er, dass ich dich vielleicht geschickt hätte, um meine Augen und Ohren zu spielen. Aber an einen solchen Auftrag kann ich mich nicht erinnern.«

»Ich bin auf eigene Faust hingegangen«, gestand Amicia noch einmal. »Die Neugier hatte mich gepackt und ich konnte einfach nicht widerstehen. Wie oft hat man schon die Chance, den ersten Gefallenen zu treffen?«

Bedächtig nickte Lilith, ihr Blick wanderte wieder über die Stadt. »Ich verstehe deine Neugierde besser, als du denkst, aber ich erwarte, dass du mich über solche Dinge informierst. Und das, noch ehe ich dich erwische. Im Endeffekt interessiert es mich nicht, was du in deiner Freizeit machst.«

Entschuldigend zuckte Amicia mit den Schultern.

»Aber dadurch, dass ich es nicht wusste, ist Lucifer dir gegenüber nun sehr misstrauisch. Er ist der festen Überzeugung, dass du etwas mit den entkommenen Seelen zu tun hast.«

»Wie ich ihm bereits erklärt habe, ist dem nicht so«, brummte Amicia und stützte sich auf die Absperrung. Es ging mehrere Stockwerke nach unten, wo sich die Menschen auf dem Bürgersteig drängten.

»Deine Erklärungen kommen leider etwas zu spät. Dein plötzliches Auftauchen ist durchaus auffällig, vor allem, wenn man es mit den entflohenen Seelen zusammen betrachtet. Lucifer war der festen Überzeugung, dass du mich weiterhin anlügen würdest, damit ich dich nicht wegschicke.«

»Er hält ja nicht gerade viel von mir.« Nicht, dass ihr das etwas ausmachen würde.

»Er ist grundsätzlich eher paranoid. Aber ich war mir sicher, dass du es mir früher oder später erzählen würdest. Vielleicht wollte ich auch einfach nicht zugeben, dass ich mich so hätte täuschen lassen.«

»Lilith, bis gestern Nacht wusste ich nicht, dass Seelen entkommen waren. Vor dir hatte ich keinen Kontakt mit irgendwelchen Dämonen oder eine Ahnung, wie es in der Hölle aussieht. Was auch immer da vor sich geht, mit mir hat es ganz sicher nichts zu tun.« Dies waren keine Lügen, es war die reine Wahrheit und es tat gut, sie auszusprechen.

»Genau deshalb wirst du nun helfen den Verräter zu finden.« Lilith verdrehte die Augen. »Deine Worte haben Lucifers Jagdinstinkt geweckt. Er ist der Überzeugung, dass er ihn finden kann, auch ohne die Aussagen der Seelen.«

»Und du bezweifelst das?«

»Nicht einen Moment. Wenn Lucifer sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann wird er es auch zu Ende bringen. Nur habe ich echt Besseres mit meiner Zeit zu tun, als Detektivin zu spielen.«

»Dann lass es mich machen. Ich komme aus dem himmlischen Heer und kann da vielleicht helfen«, schlug Amicia sofort vor. Eine bessere Gelegenheit konnte sie gar nicht bekommen, um mehr Zeit mit Lucifer zu verbringen.

»Mal schauen. Erst einmal müssen wir das Abendessen heute hinter uns bringen. Ich habe da eine Bitte an dich.« Sie wirbelte zu Amicia herum, die Hände in die Hüfte gestützt.

»Natürlich.«

»Nimm doch mal etwas von deinem Gehalt und investiere es in eine neue Garderobe. Es mag vielleicht oberflächlich und auch ein wenig lächerlich sein, aber ich lege auf so etwas großen Wert. Vor allem, wenn die anderen Generäle dabei sind.«

Verstehend nickte Amicia. Lilith wollte ihr Gesicht vor den anderen wahren und Stärke ausstrahlen. »Wird erledigt, ich bin bis heute Abend wieder da.«

»Danke.« Kurz drückte Lilith ihr die Hand, dann ging sie hinein.

Einen Moment blieb Amicia noch stehen und atmete die warme Luft ein. Es juckte ihr sowieso in den Fingern, sich genauer in dieser Stadt umzusehen. Rom schien vor Leben nur so zu pulsieren und zum ersten Mal seit Langem wollte sie sich hineinstürzen.

Als sie in die Wohnung trat, war Lilith bereits in ihrem eigenen Zimmer verschwunden. Jakob werkelte in der Küche herum und schenkte ihr ein breites Grinsen. »Na, hast du Ärger bekommen?«

»Dich hat sie also auch eingeweiht. Ich muss schon sagen, du bist ein guter Schauspieler.« Lachend schüttelte Amicia den Kopf.

»Nimm’s mir nicht übel, aber ich muss mich an das halten, was sie sagt. Und ich bin froh, dass du keine Verräterin bist.«

Ein warmes Gefühl breitete sich in Amicias Brust aus. »Kannst du mir einen Tipp geben, wo man hier gut einkaufen gehen kann?«

»Direkt um die Ecke liegt die Via del Corso, da solltest du fündig werden.« Jakob zwinkerte ihr zu und wandte sich dann wieder in Richtung Kühlschrank.

Mit leichtem Schritt und überraschend guter Laune verließ Amicia das Stadthaus und trat in den wilden Trubel von Rom. Seltsamerweise störte es sie nicht einmal, durch die Läden zu spazieren und nach neuer Kleidung zu suchen.

***

Schon nach einer Stunde trug sie mehrere prall gefüllte Tüten auf den Armen, darin befand sich Kleidung, die sie sonst niemals ausgesucht hätte.

Ihr Weg führte sie weg von der vollen Hauptstraße und in eine kleine Seitengasse, in der sich mehrere süße Läden befanden. Das Lächeln gefror ihr jedoch auf den Lippen, als sie hinter sich Flügel schlagen hörte.