KAPITEL ELF – VERDÄCHTIGUNGEN

Vignette

Sie schaffte es nicht ganz bis in Liliths Wohnung, sondern nur bis zur Spanischen Treppe. Dort ließ Amicia sich auf eine der Stufen sinken und barg den Kopf zwischen den Armen.

Immer noch kribbelte ihr ganzer Körper und sie konnte Lucifers Berührungen, seine Küsse, noch auf ihrer Haut spüren. Sobald sie die Augen schloss, sah sie wieder seine breite Gestalt, die über ihr aufragte. Seine rauen Hände, die ihren Körper erkundeten.

Müde fuhr sie sich durch die noch halb nassen Haare und schüttelte den Kopf. Sie hatte einen riesigen Fehler begangen, doch daran konnte sie nun nichts mehr ändern. Ihr blieb nichts anderes übrig, als mit diesem Moment der Schwäche zu leben, der sicher bald eine Erinnerung werden würde.

Die warme Nachmittagssonne schien auf Amicia herab und wärmte sie wenigstens etwas auf. Um sie herum lebten die Menschen ihr Leben, bemerkten sie nicht einmal. Vielleicht sollte Amicia es ihnen einfach nachtun und die schlimmen Dinge verdrängen und sich auf die schönen Sachen konzentrieren.

Seufzend stand sie auf und machte sich auf den Weg zurück in die Wohnung.

***

Auch hier empfing sie Stille, von Lilith und Jakob fehlte jede Spur. Doch als Amicia die Tür hinter sich schloss, steckte Letzterer den Kopf aus seinem Zimmer.

»Da bist du ja.« Mit einem breiten Lächeln kam Jakob auf sie zu, doch das Lächeln erstarb schnell wieder. »Was ist passiert?«

Sie musste nicht fragen, woher er es wusste. Die fremde Kleidung und die nassen Haare zeigten ganz klar, dass etwas vorgefallen war. Seufzend schleppte Amicia sich auf die Terrasse und winkte Jakob hinter sich her.

»Moment, ich hole noch schnell Lilith«, murmelte dieser.

Ohne weiter auf ihn zu achten, ließ Amicia sich auf einen der Liegestühle fallen und legte den Arm über die Augen. Sie war so müde wie schon lange nicht mehr in ihrem Leben. Nicht nur körperlich, sondern auch emotional.

»Hier.« Mit einem aufmunternden Lächeln reichte Jakob ihr ein Glas mit Wasser und setzte sich dann an den Tisch gegenüber der Liegestühle.

Voller Anmut schwebte Lilith auf die Terrasse und nahm ebenfalls Platz. Mit einem königlichen Kopfnicken deutete sie Amicia an zu beginnen.

»Heute Morgen war ich im Vatikan, da habe ich Lucifer getroffen«, fasste Amicia es schnell zusammen. »Auf dem Weg hierher sind wir von sechs Engeln angegriffen worden.«

Einige Augenblicke sagte keiner was. Amicia nippte an dem Wasser und bemerkte zum ersten Mal an diesem Tag, dass sie Hunger hatte. War wirklich schon fast der ganze Tag vergangen?

»Engel, die auf offener Straße Lucifer angreifen.« Ungläubig schüttelte Lilith den Kopf. »So etwas ist noch nie vorgekommen. Bist du verletzt?«

Überrascht hob Amicia die Augenbrauen. »Nein. Sie haben mich zwar erwischt, aber die Wunden sind schon verheilt.« Zum Beweis hob sie ihr Top an und zeigte die nun fast unsichtbaren Narben.

Erleichtert atmete Lilith durch. »Wieso sollten die Engel ihn auf einmal angreifen? Das widerspricht der Abmachung.«

Sofort horchte Amicia auf. »Abmachung?«

Unwirsch winkte die erste Frau ab. »Lucifer wird sich darum kümmern.« Trotzdem wanderte ihr Blick besorgt über die Stadt.

Einen Moment überlegte Amicia, ob sie noch einmal nachhaken sollte, aber etwas in Liliths Gesicht hielt sie davon ab. Sicher würde sie nicht mehr erfahren, sonst hätte Lucifer ihr schon etwas gesagt.

Freundschaftlich klopfte Jakob ihr auf den Knöchel. »Ich bin nur froh, dass dir nichts weiter passiert ist.«

»Danke.« Warm lächelte sie ihn an. »Damit habe ich heute nun wirklich nicht gerechnet.«

»Das ist doch ein gelungener Start für die nächsten Tage.« Genervt verdrehte Lilith die Augen. »Die Generäle kommen in die Stadt, in der jetzt anscheinend auch Engel patrouillieren. Wenn das kein schlechtes Omen ist.«

»Jetzt sei nicht immer so negativ«, schalt Jakob sie. »Das eine hat sicher nichts mit dem anderen zu tun, außer wir haben auf einmal einen Spion in unserer Mitte.«

Schnell nahm Amicia einen weiteren Schluck Wasser. Sie war es nicht gewesen, die etwas verraten hatte, aber die Schuldgefühle nagten trotzdem an ihr.

Irgendwie brachte die Gefallene ein schwaches Lächeln zusammen, dann stand sie auf und floh in die Sicherheit ihres Zimmers. Sobald die Tür fest hinter ihr verschlossen war, konnte sie wenigstens etwas durchatmen.

Die Kleidung, die ihr nicht gehörte, faltete sie sauber und verstaute sie in einer Ecke, nachdem sie ihr Handy hervorgezogen hatte. Dabei bemerkte sie, dass sie einige besorgte Nachrichten von Jakob und Lilith hatte.

Mit einem seltsamen Gefühl in der Brust kroch Amicia unter die Decke und schloss die Augen. Zu ihrer großen Erleichterung verfolgten sie die Bilder des Kusses nicht noch bis in den Schlaf, der sie schon bald verschluckte.

***

Am nächsten Morgen lag eine knisternde Spannung in der Luft. Amicia war schon früh auf den Beinen. Da sie nicht sicher wusste, was genau passieren würde, wollte sie auf alles vorbereitet sein. Was hieß, dass sie sich erst einmal einen Kaffee machte, um auch den Rest der Müdigkeit loszuwerden.

Obwohl die Hitze des Tages sich bereits ankündigte, schlüpfte die Gefallene in die Lederjacke und steckte sich die vorderen Haarsträhnen fest, damit sie ihr nicht im Gesicht herumflogen. Jetzt kam es darauf an, dass sie ihre Rolle als Leibwächterin gut spielte.

Um neun Uhr war von Lilith immer noch nichts zu sehen, stattdessen tauchte Jakob auf. »Wir haben uns wohl beide für den geschäftlichen Look entschieden«, kommentierte er ihre Jacke.

»Dann schwitzen wir also zusammen.« Sie nickte zu seinem schicken Anzug – sogar mit Weste und Krawatte.

»Ein wenig schlottern mir die Knie«, gestand Jakob leise und machte sich eine Tasse Kaffee. »Ich habe kein Problem, ab und an mal bei den Generälen in einem Hotel zu sein, aber sie hier in der Wohnung zu haben …« Er schüttelte sich.

»Dafür bin ich ja da«, sagte Amicia mit vorgetäuschter Lockerheit. »Keiner von denen wird aus der Reihe tanzen.«

»Wenn du das sagst.« Mit der Tasse bewaffnet verschwand er wieder in seinem Zimmer.

Je näher sie zehn Uhr kamen, desto nervöser wurde Amicia. Unruhig fummelte sie an dem Saum ihrer Jacke herum und blickte immer wieder zwischen der Tür und der Wohnung hin und her.

»Wieso findet diese Befragung hier statt?«, fragte sie Jakob, der im Wohnzimmer werkelte und alles vorbereitete.

»Um die Generäle in Sicherheit zu wiegen. Wenn wir es offizieller machen würden, könnten sie Verdacht schöpfen«, murmelte dieser abwesend und rückte zum wiederholten Male einen der Sessel zurecht.

»Kann ich dir vielleicht irgendwie zur Hand gehen?« Amicia kam sich recht bescheuert vor, wie sie einfach in der Ecke stand und den Mann bei seinen Arbeiten beobachtete.

»Nein, ich bin schon fertig.« Mit einem zufriedenen Ausdruck richtete Jakob sich auf. »Jetzt können wir gern anfangen.«

»Fehlt nur noch eine.« Zum wiederholten Male blickte Amicia zu Liliths geschlossener Zimmertür.

»Sie wird gleich rauskommen. Manchmal ist sie eine richtige Dramaqueen und braucht den großen Auftritt.«

In diesem Moment ertönte die Hausklingel durch die ganze Wohnung und sofort versteifte Amicia sich. Ihre Finger wanderten zu den Ersatzklingen an ihrem Oberschenkel, ihre eigentlichen lagen noch bei Lucifer in der Wohnung.

»It’s showtime.« Jakob schenkte ihr ein letztes aufmunterndes Lächeln, dann wurde sein Gesicht beinahe ausdruckslos, als er zur Tür ging.

Schnell tat Amicia es ihm nach und stellte sich breitbeinig neben der Tür auf. Ihre Aufgabe war ganz simpel, herumstehen und gefährlich wirken. Dabei sollte sie auf jede noch so kleine Regung achten, die einer der Generäle von sich gab.

Mit klopfendem Herzen blickte sie zur Tür, durch die kurz darauf Jakob trat, ihm folgten eine zierliche Blondine mit ellenlangen Beinen und zwei beinahe gleich aussehende Männer mit Militärhaarschnitten. Alle drei waren Dämonen.

Schweigend stellte Jakob sich neben Amicia, während die drei Neuankömmlinge alles genau unter die Lupe nahmen. Irgendwann nickte die Blondine zufrieden und eilte zurück zur Tür.

Dann endlich trat der General selbst ein. Ein Mann, der die Maße eines Kleiderschranks und den düsteren Gesichtsausdruck eines Profiboxers hatte. Das kantige Gesicht und die bullige Nase bestärkten diesen Eindruck nur.

Ohne auf Amicia oder Jakob zu achten, stampfte er durch die Wohnung und ließ sich auf dem Sessel nieder. Wie ein König thronte er dort und blickte düster vor sich hin. Niemand sagte etwas, die Blondine blieb an seiner Seite, während die Zwillinge hinter ihm Stellung bezogen.

Amicia tat ihr Bestes, um keinen der fremden Dämonen anzustarren, auch wenn ihre Neugierde mal wieder an ihr nagte. Einige Minuten verstrichen, in denen alle einfach nur herumstanden oder –saßen und warteten. Dann endlich öffnete sich die Tür und Lilith schwebte in den Raum.

»Bruno! Schön, dass du kommen konntest.« Überschwänglich begrüßte sie den General, reichte ihm jedoch nicht die Hand. Stattdessen setzte sie sich auf das Sofa, die Beine locker übergeschlagen, den Blick direkt auf Bruno gerichtet.

»Ich bin nicht unbedingt freiwillig hier«, grummelte der General mit tiefer Stimme. Er hatte seine Augenbrauen so stark zusammengezogen, dass seine Augen mehr an die eines Schweins erinnerten.

»Das tut mir auch unglaublich leid«, fuhr Lilith mit zuckersüßer Stimme fort. »Keiner von uns beiden will hier sein, also lass es uns schnell hinter uns bringen. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?« Sie machte eine kleine Bewegung in Richtung Jakob.

»Worum geht es hier?« Bruno ging gar nicht auf ihre Frage ein, sondern starrte nur weiter vor sich hin. »Im Gegensatz zu dir bin ich schwer beschäftigt.«

Das Lächeln auf Liliths Lippen wurde, wenn möglich, sogar noch süßer. »Das verstehe ich natürlich. Dann lass uns direkt zum Punkt kommen. Vor einigen Wochen sind Seelen aus der Hölle entkommen.« Sie machte eine dramatische Pause und wartete auf seine Reaktion.

Einen Moment sagte der General gar nichts, dann nickte er langsam. »Das erklärt so einiges. Sind alle wieder zurückbefördert worden?«

»Natürlich, alles wurde geregelt«, bestätigte Lilith. Nicht für eine Sekunde wich das Lächeln aus ihrem Gesicht. »Lucifer hat sich darum gekümmert und nun darf ich hinter ihm aufräumen.«

Etwas ruppig nickte Bruno und grunzte zur Bestätigung. »Da hast du aber echt den Kürzeren gezogen. Wie kann ich dir helfen?«

»Du kennst ja unseren Fürsten, er verdächtigt alle und jeden und will sichergehen, dass alles seinen gewohnten Weg geht. Jetzt darf ich mich versichern, dass niemand von uns dahintersteckt.«

»Er verdächtigt einen von uns?« Wenig überrascht lehnte der General sich zurück und ließ seinen Blick durch die Wohnung gleiten. »Was für ein kluger Mann. Nun, und was erwartest du von mir?«

»Ich wusste, dass du es verstehen würdest.« Unterwürfig nickte Lilith. »Beantworte einfach nur ein paar Fragen, dann kannst du schon bald wieder deiner Wege gehen und wir können diese ganze Sache vergessen.«

Etwas hochnäsig nickte Bruno und deutete ihr an, mit den Fragen zu beginnen.

***

Die nächsten paar Stunden beobachtete Amicia die Schatten dabei, wie sie über die Terrasse wanderten, während sie den unendlichen Fragen lauschte. Die Zeit wollte einfach nicht verstreichen und Lilith schienen immer neue Dinge einzufallen, die sie unbedingt noch wissen musste.

Die Gefallene verstand, was hinter dieser Taktik steckte. Die erste Frau wollte den anderen General in Sicherheit wiegen, ihn mit ihren Fragen einschläfern und nachlässig machen. Doch davon ließ Bruno sich nicht beeindrucken, er beantwortete jede Frage mit demselben Grollen und derselben Aufmerksamkeit.

Während Lilith und Bruno redeten, blieben die restlichen Wesen in der Wohnung völlig still. Man konnte fast meinen, dass die beiden Leibwächter Statuen waren, während die Blondine sich nur ab und an durch die Haare fuhr. Im Hintergrund bewegte Jakob sich, doch er war dabei so leise, dass man ihn fast hätte vergessen können.

Endlich war Lilith wohl zufrieden oder ihr waren einfach die Fragen ausgegangen. Voller Eleganz erhob sie sich und strahlte Bruno noch einmal an.

»Danke, dass du so offen zu mir warst. Die ganze Sache wird sich sicher bald aufklären.«

»Das denke ich auch. Halt mich auf dem Laufenden, wenn sich etwas Neues ergibt.«

Mit düsterer Miene erhob sich der General und ging ohne ein Wort des Abschieds aus der Wohnung, seine kleine Entourage folgte ihm auf dem Fuß.

Noch einen Moment herrschte angespannte Stille, dann atmeten alle gleichzeitig auf. Lilith ließ das inzwischen so falsch wirkende Lächeln fallen und stieß stattdessen mehrere lange ausführliche Flüche aus.

Obwohl es noch nicht ganz Nachmittag war, holte Jakob eine Flasche Weißwein hervor und goss drei Gläser ein. Amicia wäre zwar mehr nach einem Shot Wodka gewesen, aber gerade reichte ihr einfach etwas Alkohol.

Ohne abzusetzen, leerte Lilith das Glas und schenkte sich dann sofort neu ein. Zum Glück hatte Alkohol kaum Wirkung auf höllische oder himmlische Wesen, ansonsten hätte sie nach dem zweiten Glas nicht mehr stehen können.

Amicia nippte nur wenig an ihrem Wein und schüttelte ihre Beine aus. Sie war es nicht mehr gewöhnt, so lange still zu stehen. »War der Tag erfolgreich?«

Nachdenklich wackelte Lilith mit dem Kopf. »So kann man es nennen. Bruno ist schon immer eine harte Nuss gewesen, so viel wie heute habe ich ihn noch nie reden hören. Normalerweise gibt er Nachrichten durch seine Armee von Blondinen weiter.«

»Wird es dann von jetzt an einfacher?«, fragte Amicia.

»Nein, nur immer mehr von demselben.« Mit der Weinflasche unterm Arm ging Lilith auf die Terrasse. »Ihr beide habt heute großartige Arbeit geleistet, danke dafür. Lasst uns hoffen, dass die nächsten Tage auch so einfach ablaufen.«

»Ich gehe mich jetzt erst einmal umziehen.« Hektisch löste Jakob den Knoten seiner Krawatte und atmete tief durch.

Amicia tat es ihm gleich und verschwand in ihrem Zimmer. Ihre Lederjacke flog in die Ecke, gefolgt von ihrer dicken Jeans. Aus dem Haufen neuer Kleider zog sie ein violettes Sommerkleid hervor, welches so gar nicht zu ihr passte, sie aber doch angelacht hatte.

Erleichtert atmete sie durch. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie eingeengt sie sich in der Jeans gefühlt hatte. Wild fuhr sie sich durch die Haare, nachdem sie auch die Haarklammern gelöst hatte.

»Ich gehe etwas spazieren«, informierte sie Lilith, die es sich wieder auf ihrem Liegestuhl bequem gemacht hatte.

Die erste Frau schob sich die große Sonnenbrille von der Nase. »Pass bitte auf dich auf, keiner kann sagen, ob die Engel nicht noch mal angreifen.«

»Mache ich«, versprach Amicia und brachte ein flüchtiges Lächeln zustande.

Auf dem Weg nach draußen traf sie auf Jakob, der nun wieder lockere Straßenkleidung trug. »Bin heute Abend wieder da.«

Er warf ihr einen kurzen besorgten Blick zu, sagte jedoch nichts. Erleichtert atmete Amicia durch, als sie draußen auf die Straße trat und schon bald vom Trubel der Stadt umgeben war.

Sie ließ sich von den Massen treiben, achtete kaum darauf, wohin sie ging. Die Sonnenstrahlen wärmten ihre Haut und vertrieben die Müdigkeit, die sie nach dem Tag in der Wohnung verspürte.

Obwohl sie es nicht sicher sagen konnte, wurde Amicia das Gefühl einfach nicht los, dass Faniell noch an diesem Tag zu ihr kommen würden. Doch dafür brauchte sie eine ruhige Ecke.

Ihr Weg führte sie vorbei an der Villa Medici bis zur Terrazza del Pincio und von da aus in den dahinterliegenden Park, den man auch von Lucifers Wohnung aus sehen konnte. Schon bald verschluckten die Bäume die Geräusche um sie herum, wäre sie weiter geradeaus gegangen, wäre sie direkt zum Bioparco Rom gekommen.

Sie schlenderte vorbei an verschiedenen Brunnen und kleinen Cafés, an denen sich die Menschen tummelten. Doch auf den schmalen Wegen und Straßen waren kaum Leute unterwegs, hier herrschte eine angenehme Stille.

Es dauerte nicht lange, bis der sanfte Klang in der Luft lag, der einen Engel ankündigte. Amicia verlangsamte ihre Schritte nicht, wich aber vom Weg ab und ging direkt auf eine kleine Baumgruppe zu. Auch wenn die Chance gering war, konnte immer noch jemand vorbeikommen, der Amicia bei ihrem Gespräch mit dem Engel beobachtete.

Versteckt zwischen einigen hohen Büschen und Bäumen wartete sie, bis Faniell auftauchte. Wie immer trug er die unendliche Ruhe eines hohen Engels zur Schau, ein krasser Gegensatz zu der kochenden Wut, die Amicia fühlte.

»Du hast einiges zu erklären«, knurrte sie und wirbelte zu ihm herum.

»Wovon sprichst du?« In milder Überraschung hob er die Augenbrauen.

»Sechs Baby-Engel haben gestern versucht mich und den Höllenfürsten umzubringen.« Sie schaffte es kaum, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen, der Drang zu schreien war einfach zu stark. »Am helllichten Tag, mitten in der Stadt.«

Faniell wirkte nicht einmal überrascht, sondern nickte nur langsam. »Nun, das ist natürlich unschön. Dieser Angriff war nicht so geplant.«

»Du steckst also wirklich dahinter.« Irgendwie hatte Amicia es bereits erwartet, doch dass der Engel es so offen zugab, versetzte ihr einen Schock. Einen Moment konnte sie nichts mehr sagen, sondern wandte sich ab, um tief durchzuatmen.

»Wieso?« Ihre Stimme brach.

»Amiciell.« Mit einem sanften Lächeln trat der Engel auf sie zu, die Hände vor dem Bauch gefaltet. »Deine Wut kann ich sehr gut verstehen, aber bitte lass mich ausreden, bevor du falsche Schlüsse ziehst.«

Einige Augenblicke schloss sie die Augen, dann nickte Amicia.

»Wir haben diese sechs Engel hinuntergeschickt, um dich anzugreifen, jedoch nicht, um dich oder den Höllenfürsten zu verletzen. Es war lediglich ein Trick, damit er mehr Vertrauen zu dir gewinnt«, erklärte Faniell mit ruhiger Stimme.

Langsam wandte Amicia sich ihm wieder zu. »Du hast nicht nur meine Existenz riskiert, sondern auch noch sechs Unschuldige in den Tod geschickt.« Vor Enttäuschung taumelte sie einige Schritte zurück, bevor sie sich fangen konnte.

»So etwas würde ich niemals tun.« In Faniells Gesicht zeigte sich echte Überraschung. »Niemals würde ich deine Existenz riskieren. Diese Engel hatten klare Anweisungen, dir nichts zu tun, ganz egal was passiert. Sie wussten, was sie riskierten, und waren mehr als bereit es für den Morgenstern zu tun.«

Für einen kurzen Moment glaubte sie ihm, dann brach die Erinnerung an den Kampf wieder über sie hinein. Amicia stand wieder in diesem kleinen Hof, über der Stadt lag die unmenschliche Stille.

Diese Engel hatten sie direkt angegriffen und sich nicht zurückgehalten. In ihren Händen hatten die himmlischen Klingen aufgeblitzt, scharf und tödlich. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, waren sie auf Amicia losgegangen, mit dem festen Ziel, ihr Leben zu beenden.

Der Schmerz schnitt tief in ihr Herz, als sie zu dem Moment zurückkehrte, in dem sie den Engel mit ihrer eigenen Klinge durchbohrte. Die ganze Zeit hatte sie ihn dabei angeschaut und in seinen Augen war reine Panik aufgeleuchtet. Eine so tiefe Angst, wie sie nur jemand empfinden konnte, der sicher war, nun zu sterben.

Einige Augenblicke hielt Amicia die Augen geschlossen. Sie konzentrierte sich ganz auf den leisen Gesang der Vögel, das sanfte Rauschen der Bäume und die entfernten Stimmen der Menschen um sich herum. Langsam kehrte sie zurück in den Moment, mit der Gewissheit, dass Faniell sie anlog.

Keiner dieser Engel hatte gewusst, dass er selbst sterben würde, und sie waren auch ganz sicher nicht dazu bereit gewesen. Die grausame Erkenntnis, belogen worden zu sein, setzte sich in ihrer Brust fest wie ein glühender Funke.

Irgendwie schaffte Amicia es, ihre Gesichtszüge soweit unter Kontrolle zu haben, dass sie sich wieder dem wartenden Engel zuwenden konnte. »Dann bin ich beruhigt. Es tut mir auch sehr leid, dass diese Jünglinge nun in der Schwebe sind.«

Für einen Moment weiteten sich Faniells Augen. »Sie wurden gar nicht ausgelöscht?«

»Nein.« Amicia strich sich eine Strähne hinters Ohr. »Aus irgendeinem Grund hat Lucifer darauf verzichtet, leider kann ich dir nicht sagen, wieso. Aber so sind ihre Leben wenigstens verschont worden.«

Mit einem leicht zittrigen Lächeln nickte Faniell. »Das ist sehr erfreulich. Hoffentlich hat sich diese kleine Aktion gelohnt und der Höllenfürst hat nun vollstes Vertrauen in dich.«

»Das wird sich zeigen«, murmelte sie leicht abwesend.

»So viel Zeit haben wir nicht«, betonte Faniell etwas zu laut. »Schon bald wird es zu spät sein, sicher bereitet sich Lucifer schon auf seinen Angriff vor. Unseren Informanten nach ruft er seine Generäle hier in der Stadt zusammen. Hast du das denn nicht mitbekommen?«

»Lilith vertraut mir noch nicht genug. Sie sind nicht dumm, verstehst du? Eine Gefallene, die gerade zu dieser Zeit auftaucht, ist nun einmal verdächtig.« Lügen kamen so viel einfacher über die Lippen, wenn sie zum Teil der Wahrheit entsprachen.

»Natürlich, du hast recht. Du wirst schon wissen, wie du am besten ihr Vertrauen gewinnen kannst. Nach nur so wenigen Tagen kann ich wohl kaum erwarten, dass du bereits so weit gekommen bist.« Faniell bedachte sie mit diesem warmen, einladenden Lächeln, das die Menschen so leicht um den Finger wickelte.

Doch bei Amicia funktionierte es schon lange nicht mehr. Trotzdem erwiderte sie es. »Ich werden den Morgenstern beschaffen, ganz egal was es kostet.« Sie wusste nicht genau, wem sie das gerade versprach.

»Daran zweifelt keiner. Ich habe mich auch noch etwas erkundigt, um dir bei deiner Suche zu helfen. Nur leider gibt es nicht sonderlich viele Informationen über den Morgenstern. Was bei einer uralten geheimen Waffe, die bereits vor Jahrtausenden gestohlen wurde, nicht sonderlich überraschend ist.«

»Also hast du gar nichts herausfinden können?«, fragte Amicia etwas zu scharf und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ein paar Dinge schon. Die Waffe zeichnet sich durch ihre Macht und nicht durch ihre Größe aus. Außerdem soll man ihr nicht direkt ansehen, dass sie eine Waffe ist. Mehr konnte ich leider nicht erfahren.« Entschuldigend zuckte Faniell mit den Schultern.

»Damit hast du mir bereits geholfen«, murmelte sie leicht abwesend. Ein kleiner Gegenstand, der nicht als Waffe zu erkennen war. Ihre Gedanken wanderten sofort zu der Kette, die Lucifer um den Hals trug und die anscheinend niemand sehen durfte.

Königlich nickte Faniell und trat einen Schritt zur Seite. Für ihn war die Unterhaltung beendet, doch Amicia brannte immer noch eine Sache auf der Seele.

»Warte.« Ihr Blick richtete sich direkt auf ihn. »Ich brauche eine Versicherung von dir, dass ihr mich wirklich in den Himmel zurückholt.« Es war gefährlich, so etwas zu verlangen, doch die düsteren Vorahnungen wurden immer deutlicher.

Mitten in der Bewegung stockte Faniell, mit großen Augen blickte er zu Amicia. »Vertraust du uns etwas nicht?«

»Wie könnte ich? Mehr als Sechshundert Jahre, Faniell. Mehr als sechs Jahrhunderte, in denen ich hier auf mich allein gestellt war. Nicht ein einziges Mal habt ihr euch für mich interessiert und nun verlangt ihr etwas so Großes und Gefährliches von mir. Würdest du dann nicht auch eine Sicherheit verlangen?«

Einige Augenblicke zögerte der Engel, dann nickte er. »Doch, würde ich. Und du sollst auch eine von mir bekommen. Ich werde schauen, was ich tun kann.«

Im Kopf überschlug Amicia schnell, wie lange sie noch in der Stadt sein würde. »Triff mich in acht Tagen um Mitternacht, du wirst mich finden. Dann kannst du mir den Beweis übergeben. Vielleicht habe ich bis dahin schon herausgefunden, wo sich der Morgenstern befindet.«

»In acht Tagen, sehr wohl. Pass so lange gut auf dich auf, Amiciell. Deine Sicherheit ist uns äußerst wichtig.« Mit diesen Worten verschwand er im Nichts und ließ Amicia allein zurück.

Seine Worte sollten sie mit Zuversicht und einem Gefühl der Sicherheit zurücklassen, doch stattdessen fühlte Amicia sich einfach nur leer und einsam. Obwohl sie direkt im warmen Sonnenlicht stand, bildete sich eine Gänsehaut auf ihrem ganzen Körper.

Mit gesenktem Kopf wanderte sie zurück durch den Park in Richtung der Wohnung. Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte die Puzzleteile einfach nicht zusammensetzen, wieso Faniell diese jungen Engel geschickt hatte und was er ihr noch alles verschwieg.

Nur eines wusste Amicia in diesem Moment sicher, sie musste es irgendwie schaffen, an Lucifers Kette zu kommen. Ganz egal was es kostete.