»Wieso muss ich dich dabei begleiten?«, fragte Amicia tonlos und blickte zu ihm auf. Ihr Herz klopfte wieder viel zu schnell und sie musste sich zusammenreißen, um sich nicht in seine Berührung zu schmiegen.
»Weil eine Nacht neben den Toren sehr langweilig sein kann und du mich unterhältst«, erklärte er sanft.
»Was für ein Kompliment, da werden doch jedem Mädchen die Knie weich«, murmelte sie abwehrend und trat einen Schritt von ihm zurück.
»Komm schon, Geliebte, du willst doch mitkommen. Ich kann die Neugierde und die Abenteuerlust in deinen Augen sehen. Jetzt biete ich dir eine Führung durch die Hölle an, mit mir, und du zögerst?«
Leider wusste er nur zu gut, wie er ihre Neugierde noch anfeuern konnte. Ihr Blick wanderte zum Fenster und in die nun völlig dunkle Hölle. Amicia wollte dort hinaus und dieses fremde Land erkunden, all seine Geheimnisse aufdecken.
Vielleicht konnte sie so mehr über den Morgenstern erfahren und wo er sich möglicherweise befand. Das redete sie sich immer wieder ein, als sie sich zu Lucifer umwandte. »Was soll ich anziehen?«
»Am besten etwas, auf dem man die Blutflecken nicht so genau sehen kann … für den Fall der Fälle.« Sein breites Grinsen zeichnete sich klar in der Dunkelheit ab.
Leicht genervt verdrehte sie die Augen und ging zu ihrer Tasche, die immer noch unberührt neben der Tür stand. Mit zittrigen Händen zog sie eine frische Jeans und ein schwarzes Shirt hervor. Erleichtert stellte sie fest, dass Lucifer ihr den Rücken zugewandt hatte, und so zog sie sich schnell um. »Wir können.«
Knapp nickte er und schritt aus dem Zimmer. Amicia musste sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Von der Seite betrachtete sie sein ernstes Gesicht, kein Muskel regte sich darin.
Niemand war zu sehen oder zu hören, als sie die lange Wendeltreppe hinunterschritten, doch Amicia wurde das Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wurden. Immer wieder blickte sie über ihre Schultern, doch sie konnte nichts Auffälliges erkennen.
»Du kennst doch sicher den Ausdruck ›die Wände haben Ohren‹. Nun, hier haben sie auch Augen«, murmelte Lucifer leise. »Sieh es wie ein lebendiges Überwachungssystem, zu dem nur ich Zugriff habe.«
Das beruhigte sie nur wenig. »Wo genau befinden sich die Tore eigentlich?«, fragte sie, um die Stille zwischen ihnen zu füllen.
»Nicht weit von hier. Außer Pandemonia gibt es hier nicht viel. Nur Dunkelheit und Feuer.«
Seine Worte jagten einen Schauer über ihren Rücken.
»Das klingt ja sehr vielversprechend.«
Endlich verließen sie die endlose Treppe und gingen durch einen langen Gang. Zum Glück gab es hier weder Gold noch Spiegel, nur einfachen kalten Stein. Ihre Schritte halten gespenstisch von den Wänden wider, nur einige Fackeln boten wenig Licht.
Sie verließen den Palast durch eine große Pforte, die von weiteren Statuen alter Dämonen gesäumt war. Auch hier konnte Amicia niemand anderen sehen, dabei sollte es hier doch von Dämonen wimmeln.
»Wieso ist hier eigentlich niemand?«, traute sie sich endlich zu fragen, als sie einen einsamen Weg entlanggingen. Dieser führte sie immer näher an den Schlund heran.
»Nur wenige Dämonen dürfen den Palast über diesen Weg verlassen, für alle anderen gibt es kleine Seitengänge«, informierte Lucifer sie kurz angebunden. Er schien mit seinen Gedanken schon ganz woanders zu sein.
Mit gesenktem Kopf eilte Amicia neben ihm her und verbiss sich alle weiteren Fragen. Gerade war nicht der richtige Zeitpunkt dafür und sie konnte die Antworten immer noch in dem Buch suchen, welches sicher in ihrem Zimmer lag.
Sie musste jedoch stehen bleiben, als der Weg sich gabelte und der eine Pfad sie zu einer Art Aussichtsplattform führte. Von dieser aus hatte man sicher einen unglaublichen Blick über den Schlund und alles, was darin lag.
»Na los! Trau dich«, wisperte Lucifer direkt in ihr Ort. Sie hatte nicht einmal bemerkt, wie er neben sie getreten war. »Wirf einen Blick in die wahre Hölle!«
Sie sollte seinen Worten und ihrem Drang widerstehen und weitergehen und doch konnte Amicia nicht anders. Langsam schritt sie auf die Plattform zu und blickte hinunter.
Sie wusste nicht genau, was sie eigentlich erwartet hatte. Vielleicht eine brennende Schlucht, ewiges Eis oder laute, qualvolle Schreie. Davon war weit und breit nichts zu sehen. Der Höllenschlund war beeindruckend, jedoch eher wegen seiner Ausmaße und nicht wegen seines Inhalts.
»Es ist gar nicht so beeindruckend, wie immer alle denken. Von hier oben kann man eigentlich kaum etwas erkennen.« Lucifer lehnte sich neben sie auf die Brüstung und blickte ebenfalls hinab. »Das, was du hier siehst, sind die obersten Schichten, wo die weniger Bösen ihre Zeit absitzen. Darunter liegt noch sehr viel mehr.«
»Wie weit geht es da hinunter?«, fragte sie atemlos. Ihr Blick wanderte weiter durch die Dunkelheit, um noch mehr Details auszumachen.
»So ziemlich unendlich, wenn du mich fragst. Ein Mensch könnte nicht jede Ebene in seinem Leben besuchen, selbst wenn er es wollte.«
»Was ist ganz unten?«
»Ein See.«
»Ein See?!« Voller Überraschung wandte sie sich ihm zu. »Am Grund der Hölle gibt es Wasser, damit hatte ich nicht gerechnet.«
»Das Feuer, nach dem du sicher suchst, befindet sich außerhalb.«
»Was ist am Boden des Sees?«
»Ich weiß es nicht. Es gibt dort keinen Boden. So lautet das Gerücht, niemand weiß es genau.«
Für einen Moment konnte Amicia nichts weiter sagen, sondern ihn einfach nur anschauen. »Am Ende der beinahe unendlichen Schlucht befindet sich ein wahrscheinlich unendlicher See, von dem niemand Genaueres weiß. Das ist überraschend.«
Lucifer winkte sie hinter sich her und machte sich wieder auf den Weg. »Es gibt drei Wege, um aus dem Schlund herauszukommen. Der eine ist der Aufstieg. Die Seele hat sich von all ihren Sünden reingewaschen und darf in den Himmel reisen, wo sie sich für den Rest der Ewigkeit langweilen kann.«
Sie überging seinen kleinen Seitenhieb. »Der zweite Weg macht einen zum Dämon.«
»Ganz genau. Die Seele gibt jede Chance auf Erlösung auf und wird Teil der Hölle. «
»Der dritte Weg hat dann wohl etwas mit dem See zu tun«, schlussfolgerte Amicia.
»Wer weder erlöst werden kann noch hierbleiben will, der kann in den See springen. Keine Ahnung, was genau dann mit einer Seele passiert. Manche glauben, sie vergeht endgültig, andere denken, das ist der Weg zur Wiedergeburt.«
»Was ist deine Theorie?«
Unsicher zuckte er mit den Schultern. »Es ist unwichtig. Wer einmal in den See gesprungen ist, wird niemals wiederkommen.«
Ein langes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Der Weg schlängelte sich nun am Rand des Schlundes entlang, hinter ihnen konnte Amicia einen guten Blick auf den Palast werfen, doch gerade fehlte ihr dazu die Lust.
Immer wieder musste sie an den See denken und was dort unten wirklich auf einen wartete. Das endgültige Nichts oder ein neues Leben. Im Himmel gab es nur sehr wenige Seelen, die jemals wiedergeboren wurden. Es war einfach kein Weg, den man dort beschritt.
»Wir sind gleich da.« Lucifer blieb stehen. »Nicht weit von den Toren gibt es eine gute Möglichkeit, sich zu verstecken, da können wir die Nacht verbringen.«
Am liebsten hätte Amicia sich eine Ohrfeige gegeben, da ihre Gedanken wieder in eine ganz andere Richtung wanderten. Die Nacht mit dem Höllenfürsten zu verbringen war nicht romantisch und daran sollte sie gar nicht erst denken.
Um die Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben, konzentrierte sie sich ganz auf die Höllentore. In ihrer Vorstellung hatten diese schon die verschiedensten Formen und Größen gehabt, doch in Wirklichkeit waren es einfach nur zwei große Flügel aus dickem Stahl.
Mehrere riesige Balken versperrten sie, nichts konnte hindurchdringen. Die hohen Mauern neben dem Tor waren aus altem Stein, über ihnen lag ein seltsamer Zauber, der sanft schimmerte.
»Das ist der einzige Weg in den Schlund«, überlegte Amicia laut vor sich hin. »Wie oft wird es geöffnet?«
»Nur einmal am Tag. Wer hindurchwill, muss warten, ganz egal auf welcher Seite. Auch Dämonen können den Schlund nur dadurch betreten.«
Langsam nickte sie und trat einen Schritt zurück. »Was würde passieren, wenn ich hindurchgehen würde?«
»Hängt ganz davon ab. Wie viele Sünden hast du begangen?«
Trocken schluckte Amicia. Zu lügen war eine Sünde und sie tat seit Wochen nichts anderes. Würde der Schlund sie verschlucken, wenn sie hineintrat?
»Keine Sorge.« Sanft legte Lucifer ihr die Hand an die Wange. »Dir kann da drin nichts passieren. Sogar Engel können den Schlund ohne Probleme betreten, sollte ihnen jemals der Sinn danach stehen.«
Etwas beruhigter nickte sie. »Mir steht beim besten Willen nicht nach einem Besuch im Schlund.«
»Komm, wir sollten jetzt lieber unsere Plätze einnehmen, ansonsten verpassen wir den Verräter noch.«
Nicht weit von ihnen gab es eine Felsformation, von der aus man zwar einen sehr guten Blick auf das Tor hatte, jedoch selbst nicht gesehen wurde. Mit einem leisen Seufzen kniete Amicia sich in den schwarzen Staub und stellte sich auf eine lange Wartezeit ein.
Sie hatte keinerlei Möglichkeit, die Zeit zu messen. Hier gab es keinen Mond, an dem man sich orientieren konnte, oder Sterne, die einem den Weg wiesen. Ihr Handy lag ganz unten in ihrer Tasche, Empfang hatte man in der Hölle sowieso nicht.
»Wie genau lautet deine Aufgabe hier unten eigentlich?« Amicia hielt die Stille nicht noch länger aus. Es gab keine weiteren Geräusche außer ihres leisen Atems und des lauten Herzklopfens.
»Hauptsächlich halte ich die Dämonen in Schach«, brummte er leise. Entspannt lehnte er an dem Felsen, den Blick direkt auf das Tor gerichtet, die Beine von sich gestreckt.
»Bei den Höhergestellten ist das meist kein Problem. Sie verstehen, wieso wir so leben, wieso es Himmel und Hölle gibt und welche Aufgaben wir alle haben. Ihnen reicht es, sich um die Menschen zu kümmern, die hier unten landen.«
»Die Niedrigen sehen das nicht so?« Ihre Oberschenkel fingen an zu brennen, also lehnte auch Amicia sich an den Felsen.
»Viele von ihnen ähneln Tieren, sie haben nur ihre Instinkte und kennen nicht viel mehr als Quälen und Töten. Nichts würden sie lieber tun, als die Erde zu überrennen und alle Menschen zu foltern. Doch wenn das passieren würde, würde alles aus dem Gleichgewicht geraten und der Erdball schon bald im Chaos versinken.«
»Magst du kein Chaos?«
»Ich verabscheue es. Das Leben ist einfacher, wenn ich alles unter Kontrolle habe und genau bestimmen kann, was passiert und was eben nicht. Im Chaos ist das unmöglich.«
Mit schräg gelegtem Kopf blickte Amicia ihn an. »Der Höllenfürst liebt die Ordnung, wer hätte damit gerechnet?«
»Diesen Titel hasse ich auch«, brummte er abwesend. »Ich bin kein Fürst, nur der Idiot, der hier unten für Ordnung sorgen darf. Irgendeiner musste ja den Kürzeren ziehen.«
Sofort horchte Amicia auf. »Was meinst du?«
»Vergiss es. Ganz ehrlich, das geht dich nichts an, Geliebte, und du willst es eigentlich auch gar nicht wissen.«
Fest biss sie die Zähne zusammen und verkniff sich eine weitere Frage. Schon wieder wanderten ihre Gedanken zu dem Brief und dem Morgenstern. So viel ergab einfach keinen Sinn, sosehr sie sich auch bemühte.
»Ich verabscheue das Chaos auch«, murmelte sie leise.
»Da kommt jemand.« Innerhalb weniger Sekunden sprang Lucifer auf und kniete sich hinter den Felsen.
Schnell tat Amicia es ihm nach und lugte zwischen zwei Steinen hindurch. Erst sah sie nur eine Gestalt, dann tauchte noch eine zweite aus der Dunkelheit auf. Beide unterhielten sich angeregt, doch leider konnte Amicia nicht verstehen, worum es ging.
Mit der Hand deutete Lucifer ihr an, unten zu bleiben. Amicias Herzschlag wurde immer schneller, je näher die beiden Gestalten kamen. Immer noch konnte sie nichts genauer ausmachen, doch langsam drangen die Stimmen bis zu ihr.
Die eine war ganz eindeutig weiblich. »Hör auf so herumzuheulen«, giftete sie vor sich hin. »Niemand hat Verdacht geschöpft, also können wir auch einfach weitermachen.«
»Aber was, wenn er doch Wind davon bekommt?«, jammerte die zweite Gestalt mit einer männlichen Stimme.
»Wie viel Glück kann man haben?«, hauchte Amicia.
»Wie dumm kann man sein?«, wisperte Lucifer gleichzeitig.
Kurz blickte sie lächelnd zur Seite und begegnete Lucifers grinsendem Gesicht. Schnell wandte Amicia sich wieder den Verrätern zu, doch ihr Herz pochte nun aus einem anderen Grund viel schneller.
Langsam konnte die Gefallene mehr von den Gestalten ausmachen. Innerlich verfluchte sie sich selbst, weil sie bei den Gesprächen nicht genauer aufgepasst hatte. Die beiden kamen ihr bekannt vor, doch konnte sie sich an keine Namen erinnern.
Lucifer hingehen wusste offensichtlich ganz genau, wen er da vor sich hatte. Sein Lächeln war bösartig und doch sehr zufrieden. Beinahe konnte sie seinen Triumph in der Luft spüren.
Doch noch hatten sie keine Beweise. Verdächtiges Zeug zu plappern und sich am Tor herumzutreiben war leider kein Geständnis. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als weiter zu warten.
Die beiden Generäle waren viel zu sehr in ihr Gespräch verwickelt, um zu bemerken, dass sie beobachtet wurden. Die Frau, eindeutig die Anführerin, redete weiterhin auf den Mann ein. »Jetzt zeig mal etwas Rückgrat. Die Hölle wird keinen von uns beiden akzeptieren, wenn wir uns nicht wie Herrscher aufführen.«
Obwohl dies kaum möglich schien, sackte der anderen General noch weiter in sich zusammen, was irgendwie lustig aussah, da er mehr als einen Kopf größer war als die Frau. »Im Gegensatz zu dir bin ich mir nicht sicher, ob unser Plan aufgehen wird.«
»Ich kann deine ewigen Sorgen nicht mehr hören. Wir planen das hier nun schon seit Jahrzehnten und bisher hat Lucifer nichts mitbekommen. Sogar nachdem er die ersten Seelen entdeckt hatte, hat er noch keinen Verdacht geschöpft. Wir beide machen einfach so weiter, bis wir genug Dämonen zusammengesammelt haben – und dann stürzen wir ihn.«
Mit etwas mehr Selbstvertrauen nickte der andere. »Du hast recht. Was sind schon zwölf Seelen, wenn er die anderen freien nicht bemerkt hat?«
Ein dunkles Grollen drang aus Lucifers Brust. Es klang wie Donner in der Ferne, doch zum Glück bemerkten die beiden Generäle davon nichts.
»Denk an unseren Plan«, beschwor die Frau ihren Partner. »Mit jeder Seele kommen wir unserem Ziel näher und schon bald müssen wir nicht mehr vor diesem Engel ohne Flügel buckeln. Jetzt öffne das Tor, die neuen Seelen warten bereits.«
Sofort kam der Mann ihrem Befehl nach und wandte sich dem Tor zu. Langsam und ächzend zogen sich die stählernen Balken einer nach dem anderen zurück, bis sich die Türen ein Stück weit öffneten. Der Gestank von Tod und Verwesung drang hervor, zusammen mit dichtem schwarzen Rauch. Dann schossen neun kleine weiß leuchtende Kugeln hervor und verschwanden im Nichts.
Anscheinend änderte es nichts am Aussehen einer Seele, ob sie aus dem Himmel oder der Hölle kam. Doch nun verschwanden diese in der Dunkelheit über ihnen, auf der Suche nach einem Körper, den sie übernehmen konnten.
Mit einem lauten Knirschen schloss sich das Tor wieder und die Schlösser rasteten ein. Die beiden Verräter sprachen nicht länger miteinander, doch Amicia konnte erkennen, dass die Anführerin sehr zufrieden lächelte.
So genau verstand die Gefallene nicht, wie der Plan der beiden aussah, doch es spielte keine Rolle für sie. Es zählte nur, dass die Verräter gefunden waren.
Nachdem die beiden wieder in der Dunkelheit verschwunden waren, wagte Amicia es trotzdem nicht zu sprechen. Mit hektisch pochendem Herzen kniete sie da und blickte zwischen dem Höllenfürsten und dem Pfad zum Palast hin und her.
»Willst du sie nicht festnehmen oder aufhalten?«, platzte die Frage endlich aus ihr heraus.
Langsam schüttelte Lucifer den Kopf. »Noch nicht. Die beiden jetzt hinzurichten würde das Problem nur verlagern, schon bald würden sich weitere Dämonen gegen mich erheben. Ich habe schon einen Plan, vertrau mir einfach.«
Mit schmerzenden Gliedern erhob Amicia sich und streckte ihre steifen Gelenke. »Was geschieht mit den entflohenen Seelen?«
»Darum kümmere ich mich ein anderes Mal. Bis diese einen Körper gefunden haben, führt sowieso kein Weg zu ihnen. Lass uns zurück zum Palast gehen, bevor noch jemand mitbekommt, dass wir nicht da sind.«
Schweigend wanderten die beiden den Pfad zurück, jeder hing seinen Gedanken nach. Amicia versuchte sich an die Namen der beiden Generäle zu erinnern, doch sie wollten ihr einfach nicht mehr einfallen.
»Wer sind die beiden?«, traute sie sich endlich zu fragen, als sie den Palast wieder betraten.
»Die Frau heißt Jula, sie ist eine meiner ältesten Verbündeten, doch irgendwie habe ich schon immer gewusst, dass etwas mit ihr nicht stimmt.«
Langsam konnte Amicia sich wieder an diese Dämonin erinnern. Sie war eine der Letzten gewesen, mit denen Lilith sich unterhalten hatte. Die beiden Frauen kamen gut miteinander aus.
»Der Mann ist Bruno.« Abfällig schüttelte Lucifer den Kopf. »Bei ihm überrascht es mich am meisten, vor allem, da er offenbar der unterwürfige Partner ist. Aber so kann man sich in jemandem täuschen.«
Erneut machten sie sich an den Aufstieg und wieder war niemand zu sehen. Amicia fragte sich, was die anderen Generäle gerade so trieben und ob die beiden Verräter nun friedlich in ihren Betten schliefen.
Doch für Amicia war in diesem Moment nicht an Schlaf zu denken. Die Gedanken rasten durch ihren Kopf, genauso wie das Adrenalin durch ihren Körper. So genau wusste sie selbst nicht, weshalb sie diese Entdeckung so aufwühlte.
Die große Tür zu ihrem Stockwerk war geschlossen, doch öffnete sie sich von allein, als Lucifer auf sie zutrat. Unsicher blieb die Gefallene im Flur stehen und blickte sich um.
»Wenn du wissen willst, wie es nun weitergeht, musst du mit mir kommen«, beschwor der Höllenfürst sie mit sanfter Stimme und winkte sie hinter sich her.
Dies war der Moment, in dem Amicia sich hätte umdrehen und in ihr Zimmer gehen sollen. Sie war ihm in dieser Nacht schon wieder viel zu nahe gekommen, jedoch konnte sie einfach nicht widerstehen.
Lucifers Räume befanden sich genau in der Mitte des Flures. Im Großen und Ganzen ähnelten sie Amicias Zimmer, doch war hier alles etwas größer und persönlicher eingerichtet. Ein wenig erinnerten sie die großen Bücherregale an den Wänden und die Kunstgegenstände, die überall herumstanden, an seine Wohnung in Rom.
Lucifer trat zur geschlossenen Balkontür und riss sie auf. Ein sanfter Wind strich durch das Zimmer und lockte Amicia nach draußen. Hier genoss sie einen ähnlichen Ausblick wie von ihrem Balkon. Es war sehr beeindruckend.
»Auch wenn wir die beiden nun auf frischer Tat ertappt haben, verstehe ich immer noch nicht so ganz, wie ihr Plan eigentlich aussieht.« Mit vor der Brust verschränkten Armen stellte sie sich neben Lucifer an den Rand des Balkons. »Was haben sie davon, immer mal wieder ein paar wenige Seelen entkommen zu lassen?«
»Leider sind die beiden nicht dumm, ansonsten würde mir das Ganze hier deutlich weniger Kopfschmerzen bereiten«, brummte er und fuhr sich durch die Haare. »Sie sind nun schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten dabei, das alles zu planen.
Sie können sich nicht so einfach gegen mich stellen, dafür ist meine Macht zu stabil. Wenn sie mich wirklich stürzen und an meiner Stelle herrschen wollen, dann müssen sie es geschickt anstellen. Langsam mehr und mehr Dämonen auf ihre Seite ziehen und mich als unfähig dastehen lassen.«
»Sind dir die anderen entkommenen Seelen bisher nicht aufgefallen?«, fragte Amicia tonlos.
»Willst du mal raten, wie viele Seelen es da unten gibt?« Mit düsterer Miene ließ er den Blick über sein Reich schweifen. »Manche von ihnen sind schon seit Jahrtausenden dort und mit jedem Tag werden es mehr. Deshalb habe ich die Generäle berufen, damit sie mir etwas Arbeit abnehmen und ich sie bei Laune halten kann.«
»Einige Zeit ging das ja auch gut«, murmelte Amicia. »Aber jetzt wollen sie dich wohl loswerden.«
»Das ist nicht der erste Putschversuch, den ich erlebe, und sicher auch nicht der letzte. Aber dieser ist einfach anders. Es sind keine kleinen Dämonen, die nur endlich rauswollen, es sind kluge Wesen, die mich genau kennen.«
»Sie kennen deine Schwächen.«
»So etwas besitze ich nicht«, grollte er.
»Jeder hat Schwächen, ob man es nun zugibt oder nicht.«
»Wenn dem so ist, was ist dann deine, Geliebte?« Er hielt den Kopf schräg, Amicia spürte seinen durchdringenden Blick auf sich.
Ein scharfer Wind fuhr über den Balkon und bescherte ihr eine Gänsehaut. Unsicher trat sie zurück ins Zimmer und wanderte dort herum. Sie schuldete ihm weiterhin eine Antwort, doch wollte sie dafür etwas Abstand zwischen sich und Lucifer bringen.
Langsam schritt sie die Bücherregale ab und nutzte den Moment, um auch nach dem Morgenstern zu suchen. So wirklich glaubte sie nicht an einen Erfolg, jedoch konnte sie sich diese Chance auch nicht entgehen lassen.
»Nun, wie sieht es aus?«, fragte Lucifer, der ebenfalls wieder reingekommen war, doch etwas Abstand zu ihr hielt.
»Ich sehne mich nach Zuneigung und Kontakt«, gestand sie leise, ohne ihn dabei jedoch anzusehen. »Im Himmel gibt es keine Freunde, nur Mitkämpfer und auf der Erde habe ich mich nie zugehörig gefühlt. Das ist meine Schwäche.«
Lange schwieg Lucifer und irgendwann hielt sie es nicht länger aus, sie musste zu ihm aufschauen. Die Arme vor der Brust verschränkt blickte er sie an, in seinem Gesicht konnte sie nichts lesen.
»Es ist dumm, ich weiß«, redete sie weiter, damit die Stille nicht noch schwerer werden konnte. »Aber das habe ich immer am meisten bei den Menschen bewundert, die Nähe, die sie zueinander aufbauen konnten. Wir Engel sind Brüder und Schwestern, aber das ist nur eine Bezeichnung füreinander, kein Begriff für Familie.«
»Und inwiefern ist das deine Schwäche?«, fragte Lucifer sanft.
»Ich würde so ziemlich alles tun, um dieses Gefühl zu erleben, Teil einer Familie zu sein. Umgeben von Leuten, die mich lieben und auf mich aufpassen. Das ist mein größter Traum und meine größte Schwäche.« Einen Moment musste Amicia stocken, dann hatte sie sich so weit wieder gefasst, um fortzufahren. »Nun kennst du meine, was ist deine Schwäche, o großer Höllenfürst?«
»Ich habe keine, wie bereits erwähnt«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Dann hast du Glück«, murmelte sie leise. Doch tief in sich drin glaubte Amicia ihm nicht. Jeder hatte eine Schwäche. »Wenn sie also nicht deine Schwächen gegen dich nutzen wollen, was dann?«
»Meine Andersartigkeit. Auch wenn ich nun schon ewig hier unten bin, bin ich doch immer noch ein Engel. Selbst ohne Flügel und himmlischen Beistand. Wenn sie mich loswerden wollen, dann durch das Misstrauen und den Hass anderer.«
»Wie willst du dem entgegenwirken?« Amicia schlenderte weiter an den langen Regalen entlang und fasste ab und an einen der Gegenstände an, doch immer noch war nichts Himmlisches zu spüren.
»Ich werden den beiden Verrätern und jedem anderen in der Hölle beweisen, dass mich nichts stürzen kann«, knurrte er angriffslustig. »Morgen Abend wird es hier einen Ball geben, zu dem alle eingeladen werden, und der Höhepunkt wird eine Hinrichtung sein.«
Amicia wirbelte zu ihm herum und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Regal. »Ein Fest des Todes, wie nett. Eine reine Zurschaustellung deiner Macht und dazu ein paar leckere Häppchen?«
»Gefällt dir mein Plan nicht?« Ein arrogantes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.
»Er muss mir nicht gefallen, sondern für dich funktionieren. Du kennst deine Untertanen und Diener am besten, wenn dir dies deine Macht sichert, dann werde ich dich ganz sicher nicht aufhalten.«
»Aber am Ball teilnehmen?« Lauernd kam er auf sie zu.
»Nun, wenn Lilith auf diesen Ball geht, dann werde ich es auch tun.« Als er noch einen weiteren Schritt auf sie zumachte, wich Amicia nach hinten aus. Gerade konnte sie seine Nähe nicht ertragen, dafür schmerzte das Eingestehen ihrer Schwäche zu sehr.
»Nicht ganz das, was ich hören wollte, aber damit gebe ich mich auch zufrieden«, brummte er tief.
Amicia machte noch einen Schritt und erstarrte dann. Ein feines Flimmern lag in der Luft, ein sanftes Kribbeln, welches ihren ganzen Körper durchdrang. Langsam wandte sie den Blick zur Seite.
Halb versteckt, ganz hinten im Regal auf zwei alten Büchern, lag eine Glasscherbe, die selbst in dem wenigen Licht und unter der dicken Staubschicht leicht schimmerte. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht sofort die Finger danach auszustrecken.
Doch der Höllenfürst bemerkte die Veränderung in ihrem Verhalten. Wie hätte sie das auch verhindern können, so offen, wie sich der Schock in ihrem Gesicht zeigte.
»Du kannst es also auch spüren?« Lucifer griff an ihr vorbei und holte den Splitter hervor. »Sogar jetzt verströmt das Ding noch himmlische Energie.«
»Was ist das?«, fragte sie atemlos.
Mit einem fast schon gelangweilten Gesichtsausdruck drehte Lucifer die Scherbe in seinen Händen. »Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung. Als ich damals so freundlich aus dem Himmel begleitet wurde, hatte ich noch ein wenig Zeit, um Ärger zu machen. Dieses Ding lag sicher verstaut und gut beschützt im Tresor, da habe ich es einfach mitgehen lassen.«
»Und du hast keine Ahnung, was es ist?« Atemlos beobachtete Amicia den großen Splitter. Als Lucifer ihn ihr einfach in die Hand drückte, keuchte sie vor Schreck auf. Nun konnte sie die Macht ganz genau spüren, wie ein Blitz durchzuckte sie ihren Körper.
»Nein, ich wollte die da oben einfach nur nerven«, lachte Lucifer. »Aber inzwischen bin ich mir sicher, dass das Ding nichts Besonderes ist. Bisher war keiner hier unten und hat danach gesucht.«
Seine Worte widersprachen allem, was sie bisher gehört hatte. Doch in diesem Moment hatte Amicia keinen Zweifel, es zählte nur noch die Scherbe in ihrer Hand. Sie hätte jetzt einfach fliehen, so schnell wie möglich zu den Höllenportalen eilen und schon in ein paar Stunden im Himmel sein können, doch Lucifer hätte sie sicher sofort ausgeschaltet.
Amicia nahm all ihre Kraft zusammen und reichte Lucifer den Splitter zurück. »Dann wird morgen Abend wohl ein Ball stattfinden.«
Ohne der Scherbe einen zweiten Blick zuzuwerfen, legte der Höllenfürst sie wieder zurück ins Regal. Sie prägte sich ganz genau ein, wohin.
»Morgen um diese Zeit wird das alles vorbei sein und ich habe endlich mal wieder meine Ruhe.«
»Ich kann es kaum erwarten. Aber wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, vor diesem großen Abend brauche ich noch etwas Schönheitsschlaf.« Amicia schaffte es kaum, sich das breite Grinsen zu verkneifen. »Gute Nacht, Lucifer.«
»Gute Nacht, Geliebte.«
Mit einem Gefühl des Triumphes verließ Amicia sein Zimmer. Endlich hatte sie den Morgenstern gefunden.