KAPITEL SECHZEHN – BALL DER LÜGEN

Vignette

Die Hölle war ein langweiliger Ort. Oder eher gesagt: Ihr Zimmer in der Hölle war ein langweiliger Ort. Nachdem sie kurz vor Sonnenaufgang unter die Decke gekrochen war, hatte Amicia so lange und so fest geschlafen wie schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr.

Sie erwachte mit der Sicherheit, dass das alles nun bald vorbei sein würde. Mit geschlossenen Augen blieb sie noch für einen Moment liegen und genoss die Ruhe, die sich in ihrem Verstand eingenistet hatte.

Alles fügte sich auf einmal ineinander. Der Morgenstern war zum Greifen nah und in dieser Nacht gab es eine gute Gelegenheit, damit unbemerkt zu verschwinden. Gleichzeitig hatte sie Lucifer mit seinem eigenen Problem geholfen und so ihr schlechtes Gewissen wenigstens etwas beruhigt.

Noch ganz verschlafen tapste sie durchs Zimmer und holte den Brief von Michaela aus ihrer Tasche. Sie hatte es beinahe geschafft, doch musste sie die Zeilen immer und immer wieder lesen.

Denn da war dieser winzige Funken Zweifel, der einfach nicht weggehen wollte. In ihrem Kopf konnte sie immer noch Lucifers Worte über den Morgenstern hören. Wieso widersprach er nur allem, was sie wusste?

Sorgsam faltete sie den Brief wieder zusammen und verstaute ihn in ihrer Tasche. Lucifers Erzählungen spielten keine Rolle. Er war der Höllenfürst selbst und bekannt dafür zu lügen. Was also hielt ihn davon ab, auch sie hinters Licht zu führen?

Nachdem Amicia geduscht und ihre Aufregung, so gut sie konnte, verbannt hatte, machte sie sich auf die Suche nach Lilith. Noch musste sie einige Stunden in der Hölle verweilen, denn sie wollte wissen, wie es mit den Verrätern weiterging.

Die erste Frau hatte es sich auf dem Balkon in ihrem Zimmer bequem gemacht, vor ihr standen eine Tasse Kaffee und ein riesiges Frühstücksbüffet.

»Schon etwas spät für ein Frühstück, oder?« Sie nahm gegenüber der anderen Frau Platz.

»Die Dämonen haben es eben erst hier hochgebracht«, erklärte Lilith sanft und nippte an ihrer Tasse.

»Wie nett von ihnen.« Tatsächlich hatte Amicia großen Hunger und sie belud sich den Teller. »Aber woher wussten die, dass ich zu dir komme?«

»Das hier ist die Hölle, hier weiß man Dinge einfach. So, wie wir jetzt wissen, wer die Verräter sind.« Traurig seufzte Lilith. »Ausgerechnet Jula. Das tut wirklich weh.«

»Du mochtest sie?«, fragte Amicia zwischen zwei Bissen.

»Wir kennen uns schon sehr lange und haben uns immer gut verstanden. Sie hat sich meist aus dem ganzen Drama herausgehalten, was unser Leben so bestimmt, und stand eigentlich immer hinter Lucifer. So kann man sich in jemandem irren. Dabei sollte es mich nicht einmal wundern, immerhin ist sie eine Dämonin, die können gar nicht anders, als zu betrügen.«

Bei der Erwähnung von Betrug verging Amicia auf einmal der Appetit. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie nicht nur den Höllenfürsten hinterging, sondern auch Lilith. Dabei hatte die erste Frau sie mit offenen Armen empfangen und ihr ein neues Leben bieten wollen.

»Niemand kann sagen, wieso jemand so etwas tut«, brachte sie tonlos hervor und schob den Teller von sich.

»Das spielt doch gar keine Rolle. Gründe, ein Arschloch zu sein, machen dich nicht weniger zu einem.« Abwertend schüttelte Lilith den Kopf. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, heute Nacht wird es vorbei sein.«

»Lucifer hat dich also schon in seine weiteren Pläne eingeweiht?«, wechselte Amicia schnell das Thema.

»Soweit er das denn jemals tut. Heute Abend wird jeder, der Rang und Namen in Pandemonia hat, sich versammeln und dann wird unser lieber Lucifer eine solche Show abziehen, dass niemand sich jemals wieder gegen ihn stellt.«

»Dann bleibt es also spannend.« Langsam rührte Amicia mit einem Löffel in ihrer Tasse. »Was machen wir bis dahin?«

»Nichts.« Lilith schenkte sich mehr Kaffee ein. »Hier unten habe ich nicht viel zu tun und da es weder Empfang noch Internet gibt, kann ich auch nicht viel erledigen. Wenn du schon mal einen wirklich freien Tag haben willst, dann hast du ihn jetzt.«

»Dann werde ich mich noch etwas hinlegen«, ergriff Amicia die Gelegenheit und erhob sich.

Mit erhobenen Augenbrauen betrachtete Lilith den immer noch vollen Tisch. »Keinen Hunger?«

»Heute nicht, aber richte den Dämonen meinen Dank aus«, murmelte die Gefallene schnell und eilte aus dem Zimmer.

Mit einem bangen Gefühl im Bauch warf sie sich aufs Bett und legte den Arm über die Augen. Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als bis zum Abend zu warten und zu hoffen, dass nichts schiefgehen würde.

Nach einiger Zeit hielt es Amicia nicht länger mit ihren eigenen Gedanken aus. Diese führten ein wildes Ballett auf, in dem sich Faniell, Lucifer, Lilith und auch Michaela in der Hauptrolle abwechselten.

Sie sollte diese Zeit besser nutzen, als einfach nur herumzuliegen und zu warten. Ruckartig setzte sie sich auf und holte das Buch hervor. Wenn sie den Morgenstern noch in dieser Nacht aus der Hölle schaffen wollte, dann musste sie ihren Plan genau kennen.

Für Amicia gab es nur einen einzigen Weg aus der Hölle … durch eines der Portale. Lange musste sie nicht suchen, bis sie den passenden Abschnitt im Buch fand. Eigentlich waren die Portale nicht schwer zu bedienen. Man musste nur an den Steinplatten sein Ziel auswählen und durch einen der Bögen treten. Jedoch wurde jedes Benutzen der Portale genau aufgezeichnet.

Sofort wanderten Amicias Gedanken zu den Statuen der alten Dämonen, welche die Portale schützten. Sie musste darauf hoffen, dass diese wirklich nur eingriffen, wenn jemand die Hölle betrat.

Ihr Plan stand. Jetzt musste sie nur noch einen Weg in Lucifers Zimmer finden und den Splitter dort herausholen. Aber wie schwer konnte dies schon sein, immerhin war sie bis an diesen Punkt gekommen.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Überlegungen. Schnell verstaute sie das Buch unter ihrem Bett und ging dann langsam zur Tür. Weder Lucifer noch Lilith würden klopfen, sondern einfach ungefragt eintreten.

Blitzschnell riss Amicia die Tür auf, eine Klinge zur Verteidigung in der Hand. Im Flur war niemand zu sehen, nur ein blutroter Karton lag auf dem Boden. Schnell blickte Amicia sich zu beiden Seiten um, sie konnte gerade noch ein kleines Wesen den Gang entlanghuschen sehen.

Etwas verwirrt hob Amicia den Karton auf und trug ihn in ihr Zimmer. Mit zittrigen Händen löste sie die große schwarze Schleife und hob den Deckel an.

Mit großen Augen nahm Amicia den feinen Stoff heraus. Das schwarze Kleid war einfach umwerfend. Es ging bis zum Boden, hatte lange Ärmel und einen nicht zu tiefen Ausschnitt, der Rock war hoch geschlitzt, sodass man viel von ihrem Bein sehen würde. Doch das Unglaublichste waren die feinen rötlichen Fäden, die in den Stoff gewoben waren. So schimmerte er im Licht wie züngelnde Flammen.

Im Karton befanden sich zusätzlich noch passende Schuhe und Schmuck. Etwas überfordert ließ Amicia sich aufs Bett fallen, das Kleid immer noch in den Händen, und starrte einfach nur ins Nichts.

Dies war ein weiteres Geschenk von Lucifer, da war sie sich ganz sicher. Und eine unausgesprochene Einladung, mit ihm auf den Ball zu gehen. Lange saß Amicia einfach nur so da und starrte vor sich hin. Erst als das Licht schon langsam weniger wurde, kam wieder Leben in sie.

Dies war ihr letzter Abend, den sie mit Lucifer verbrachte. Schon bald würde sie die Hölle und auch die Erde hinter sich lassen. Wieso sollte sie diesen Abend dann nicht einfach genießen und alles andere wenigstens für ein paar Stunden vergessen?

Das Kleid passte wie angegossen, natürlich tat es das. Einige Male drehte und wendete Amicia sich vor dem großen Spiegel und versuchte sich jedes noch so kleine Detail einzuprägen. Bald würde die Sonne untergehen und der Ball beginnen.

Amicia hatte keine Ahnung, ob es gegen die Etikette verstieß und sie jemanden beleidigen würde, als sie die beiden Klingen um ihre Oberschenkel schnallte. Beide passten sehr gut zu ihrem Kleid und schienen es sogar noch zu vervollständigen.

Als sie in den Flur hinaustrat, fühlte sie sich wie eine ganz andere Person. Nicht Amiciell, der Engel, der brav tat, was der Himmel von ihm verlangte. Nicht die Gefallene, die keine Freunde und kein Zuhause hatte. Sie war Amicia, sie war sie selbst.

Lilith wartete bereits in ihrer ganzen Schönheit auf sie. Das hautenge Kleid betonte ihre grandiose Figur und war über und über mit kleinen Kristallen besetzt. Ihr Haar trug sie locker hochgesteckt, sodass ihr schlanker Hals betont wurde.

»Du siehst umwerfend aus«, rief sie Amicia entgegen. »Dieses Kleid ist der Wahnsinn, genauso wie du.«

»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben«, sagte Amicia lachend und strich sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht. »Danke Lilith, für alles.«

Sie versuchte, in ihre Worte all die Dinge einzuschließen, die sie nicht laut aussprechen konnte.

Königlich nickte die erste Frau. »Jetzt bleibt uns nur noch zu hoffen, dass dieser Abend schnell und möglichst unblutig vonstattengeht.«

»Ich verspreche gar nichts.« Lucifer trat aus seinem Zimmer und zwischen die beiden. »Was habe ich nur für ein Glück mit meinen Begleitungen, die beiden schönsten Frauen der ganzen Hölle.«

»Dein Geschleime kannst du dir sparen, einen Tanz bekommst du trotzdem nicht mit mir.« Mit hoch erhobenem Kopf schritt Lilith zur Treppe.

»Es wird auch getanzt?«, fragte Amicia atemlos.

Lucifer reichte ihr den Arm und führte sie. »Natürlich, dies ist immerhin ein Ball. Zumindest soll er es am Anfang sein.«

»Was danach passiert, will ich sicher noch gar nicht wissen«, murmelte sie leise und blickte zum Höllenfürsten hoch.

An diesem Abend trug er einen Smoking, der seine umwerfende Erscheinung nur noch mehr unterstrich. Das Herz flatterte ihr aufgeregt in der Brust und zum ersten Mal ließ sie es auch zu.

Diesmal ging es nur wenige Stockwerke nach unten, dann betraten sie einen Flur, den Amicia nicht kannte. Schon aus der Ferne konnte sie laute, lustige Musik hören und den Klang von vielen verschiedenen Stimmen.

»Der Ball hat schon angefangen.«

»Ein guter Gastgeber kommt immer zu spät. Außerdem erhöht das die Spannung und sorgt für einen besonderen Auftritt.« Ein arrogantes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab.

»Showtime.« Amicia erwiderte sein Lächeln.

Ein Funken Verwunderung zeigte sich in Lucifers Augen, dann vertiefte sich sein Grinsen nur noch mehr. Seine rauen Finger wanderten einen Moment über ihren Rücken, als er den Arm um sie legte.

Neben der Tür zum Ballsaal wartete Lilith auf sie. Unruhig klopfte sie mit dem Finger gegen ihre Hüfte, anscheinend stand ihr der Sinn so gar nicht nach diesem Abend.

»Seid ihr beide bereit?« Lucifer reichte der ersten Frau seinen freien Arm.

»Mehr als nur bereit, es endlich hinter mich zu bringen«, brummte diese und nahm ihren Platz an seiner Seite ein.

Wie von Geister- oder eher Dämonenhand öffneten sich die Türen und gaben den Blick auf den riesigen, hell erleuchteten Ballsaal frei. An den Wänden und von der Decke hingen prunkvolle Kronleuchter, in denen blutrote Kerzen brannten. Auf der goldenen Tanzfläche drehten die Dämonen in prachtvollen Kleidern ihre Runden, während in einer Ecke ein kleines Orchester spielte.

Dieses stoppte sofort, als Lucifer mit seinen Begleitungen eintrat. Alle wandten sich ihnen zu und Lilith drückte den Rücken durch. Mit hoch erhobenem Kopf schritt sie neben dem Höllenfürsten durch den Saal, bis sie in der Mitte stehen blieben.

»Eine wunderschöne Nacht, meine Freunde«, rief Lucifer in die Stille. »Es ist nun schon lange her, dass wir uns hier versammelt haben, um eine Nacht des Überflusses zu erleben. Nun ist es wieder an der Zeit dafür.«

Während er seine Rede hielt, ließ Amicia den Blick durch die Menge gleiten. Auf den ersten Blick sahen alle Dämonen menschlich aus, doch weiter hinten konnte sie einzelne Gestalten erkennen, die weniger gut auf die Erde passten. Sie alle lauschten ihrem Fürsten aufmerksam, keiner wagte es, den Blick abzuwenden.

Es dauerte nicht lange, bis sie alle Generäle entdeckte hatte. Sie standen in einiger Entfernung voneinander, keiner achtete auf den anderen. Alle hingen an Lucifers Lippen.

»Auf eine ereignisreiche Nacht!«, beendete Lucifer seine Ansprache, der lauter Jubel folgte. Ein kleines Wesen mit vier langen Hörnern auf dem runden Kopf brachte ein Tablett mit Champagnergläsern.

Mit einem Lächeln nahm Amicia ein Glas entgegen, der kleine Dämon erwiderte die Geste und huschte dann weiter durch die Menge. Auch sie hob ihr Glas zum Toast und nahm wie alle anderen einen Schluck.

»Und nun lasst uns feiern«, rief Lucifer aus und gab dem Orchester ein Zeichen, wieder aufzuspielen. Am Arm führte er Lilith und Amicia von der Tanzfläche in eine etwas ruhigere Ecke.

»Wie geht es nun weiter?«, fragte Letztere mit aufgeregter Stimme. Immer wieder huschte ihr Blick durch den Saal, damit sie genau wusste, wo sich die beiden Verräter aufhielten.

»Feiern«, gab Lucifer locker zurück. »Viele Leute haben sich auf diesen Ball gefreut und ich will ihnen den nicht sofort vermiesen.«

»Sehr nett von dir«, brummte Lilith. »Dann werde ich mich mal unter die Menge mischen und schauen, wie es einigen der anderen geht.« Mit hoch erhobenem Kopf stolzierte sie davon.

»Sie gehört hier unten noch weniger rein als du, nicht wahr?«, fragte Amicia leise.

Der Höllenfürst zuckte mit den Schultern. »Sie ist kein Dämon, keine Gefallene, kein Engel und auch keine Seele. Sie ist einfach Lilith. Absolut einzigartig.«

»Darin ist sie auch wirklich gut.« Kurz stockte Amicia und dachte über seine Worte nach. »Sind heute auch andere Gefallene da?«

»Einige, aber sie halten sich bei solchen Veranstaltungen meist zurück. Irgendwann, wenn endlich alles wieder etwas ruhiger geworden ist, stelle ich dich dem ein oder anderen vor. Vielleicht kennst du ja sogar jemand.«

»Vielleicht.« Amicia wandte den Blick ab und nahm einen großen Schluck Champagner. Bisher hatte sie sich nur sehr wenige Gedanken um die anderen Gefallenen gemacht. Sie war dazu erzogen worden, diese für tot zu halten.

»Was für ein großartiges Fest«, erklang eine Stimme hinter ihr – süß wie Zuckerwatte. Von den Generälen hatte Brunna den tiefsten Eindruck bei Amicia hinterlassen und zwar keinen positiven.

Nun lauerte die Dämonin auf Lucifer, ein verführerisches Lächeln auf den Lippen. Ihre ganze Konzentration lag auf dem Höllenfürsten, Amicia blendete sie dabei ganz aus.

»Guten Abend, Brunna«, begrüßte Lucifer sie etwas kühl. »Hoffentlich amüsierst du dich gut.«

»Oh, selbstverständlich. Vor allem, wenn du mir einen Tanz schenkst«, hauchte sie.

»Das tut mir sehr leid, aber ich bin die ganze Nacht vergeben.« Mit einem breiten Grinsen nahm er Amicia am Arm und führte sie von der anderen Dämonin weg.

»Deshalb bin ich also hier, um dir die Speichellecker vom Leib zu halten.« Amicia wehrte sich nicht gegen seine Berührungen, auf dem Weg zur Tanzfläche stellte sie ihr Glas ab.

»Die gute Brunna will sicher an etwas anderem lecken«, gab er tonlos zurück. »Außerdem bist du hier, weil ich dich hier haben will.«

Ihre Wangen glühten und sie musste für einen Moment den Kopf senken. Das Orchester spielte ein neues Lied und Lucifer legte die Arme um sie. Langsam wiegten sie sich zum Takt der Musik und der Rest des Saales verschwand aus ihrer Wahrnehmung.

Das Herz pochte schnell in ihrer Brust, ihr ganzer Körper schien zu vibrieren. Sie war Lucifer so nah wie schon lange nicht mehr und sofort wanderten ihre Gedanken zurück zu den Küssen.

»Hast du dir die Hölle so vorgestellt?«, fragte er sanft und riss sie aus ihren ungeordneten Gedanken.

»In meinem Kopf gab es etwas mehr Schwefel und Feuer, aber ansonsten bin ich sehr beeindruckt.« Sie hob den Kopf und blickte ihm in die Augen.

»Irgendwann zeige ich dir mal das Feuer.« Mit einem zufriedenen Grinsen zog er sie näher zu sich heran.

»Ich kann es kaum erwarten.«

An diesem Abend fühlte Amicia sich wild und frei. Solange es draußen dunkel war, wollte sie vergessen, wer sie wirklich war, und sich dem hingeben, worauf sie Lust verspürte.

»Das würde mir sehr gut gefallen. Hast du nach dem Ball noch etwas vor?«

Sein Blick verdunkelte sich vor Lust. »Jetzt schon«, knurrte er.

Ein so befreites Lachen, wie sie es noch niemals erlebt hatte, brach aus Amicia heraus. Ihr war es völlig egal, ob sie jemand hörte und dass sie sich gerade mitten unter ihren eigentlichen Feinden befand. Sie fühlte sich so gut wie noch nie in ihrer Existenz.

»Nur leider muss ich erst einmal meinen Pflichten nachkommen.« Der Funke verschwand aus Lucifers Augen und seine Miene verschloss sich. »So gern ich auch etwas ganz anderes tun würde.«

»Keine Sorge, ich warte auf dich. Kümmere du dich um dein Reich. Ich bin hier.« Sie zwinkerte ihm zu und löste sich von ihm. »Ich suche mal nach Lilith.«

»Tu das, aber sei in fünfzehn Minuten wieder bei mir, dann geht das Schauspiel los«, flüsterte er ihr noch schnell zu.

Mit hoch erhobenem Kinn drückte Amicia sich durch die Menge und ignorierte dabei die vielen Blicke, die sie auf ihrer Haut spürte. Ihr war es egal, was diese Dämonen von ihr oder ihrer Beziehung zu Lucifer dachten. Dies war ihre Nacht und niemand würde sie hier jemals wiedersehen.

»Amiciell?« Ihr wahrer Name riss sie aus den Gedanken. Blitzschnell wirbelte sie auf dem Absatz um und fand sich mit ihrem früheren Leben konfrontiert.

»Babiell?« Es dauerte einen Moment, bis sie die andere Gefallene erkannte. Einen Moment blinzelte Amicia einfach nur verwirrt und blickte den ehemaligen Engel an. »Du bist hier?«

»Wo sollte eine wie ich denn sonst sein?«, lachte Babiell.

Immer noch etwas baff nickte Amicia. Sie und die andere Gefallene hatten vor vielen, vielen Jahrhunderten in derselben Einsatztruppe unter Michaela gedient, doch Babiell war beinahe hundert Jahre vor ihr gefallen.

»Ich hab das von dir gehört«, fuhr diese fort, als hätte es die peinliche Pause gar nicht gegeben. »Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, was mit dir passiert ist und wieso du so lange nicht hergekommen bist. Es ist sehr schön, dich wiederzusehen.«

»Ja, es ist lange her.« Etwas Besseres fiel Amicia einfach nicht ein. In diesem Moment kam sie sich fremd und fehl am Platz vor, ihre alte Mitstreiterin ausgerechnet hier in der Hölle anzutreffen.

»Jetzt, da du hier unten auch ein Zuhause gefunden hast, sollten wir unbedingt mal zusammen etwas trinken gehen. Außer natürlich, deine Arbeit bei Lilith hält dich zu sehr auf trapp.«

»Du weißt davon?«

»Die Hölle ist bei so was sogar noch schlimmer als der Himmel. Leider weiß hier immer jeder absolut alles.« Babiell zuckte mit den Schultern.

»Das merke ich mir. Und wir sollten wirklich mal zusammen ausgehen, sicher ist bei uns beiden in den letzten Jahrhunderten sehr viel passiert«, murmelte Amicia immer noch etwas überfordert.

»Ich freu mich.« Ein extrem gut aussehender Dämon tauchte aus der Menge auf und reichte Babiell den Arm. »Dir noch einen schönen Abend«, flötete diese und ließ sich davonführen.

Es dauerte einen Moment, bis Amicia sich wieder bewegen konnte. Mit vielem hatte sie gerechnet, doch nicht damit, eine alte Bekannte wiederzutreffen. Sie hatte lange nicht mehr an Babiell gedacht, beinahe ewig nicht mehr, immerhin war dies verboten gewesen. Doch nachdem diese aus dem Himmel verbannt worden war, hatte Amicia heimlich geweint.

Da war wieder der leise Zweifel, der sanft an ihr zerrte. Kurz schüttelte Amicia den Kopf, um ihn zu vertreiben. Leise sprach sie die Zeilen des Briefes vor sich hin, als Erinnerung an die einzige Wahrheit, die für sie zählte.

Ihr Zuhause war nicht in der Hölle und auch nicht auf der Erde. Sobald sie wieder sicher im Schoße des Himmels war, würden all diese Zweifel verschwinden – genauso wie ihre verwirrenden Gefühle.

Gerade als sie sich wieder auf die Suche nach Lilith machen wollte, fand die erste Frau sie. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Nur eine alte Bekannte«, winkte Amicia schnell ab. »Ich wollte dich gerade holen kommen.«

»Dafür ist es jetzt zu spät, es geht gleich los.« Sanft packte Lilith sie am Arm und zog sie hinter sich her. »Was auch immer gleich passieren wird, bleib still und zeige keinerlei Regung.«

Knapp nickte Amicia. Mit jedem Schritt, den sie der Mitte des Ballsaals näher kamen, wurde sie nervöser. Die Stimmung im Raum war mehr als nur ausgelassen, viele Dämonen tanzten, der Alkohol floss in Strömen. Niemand schien auch nur zu vermuten, dass sich das schon sehr bald ändern würde.

Lucifer wartete bereits auf sie, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Alle Wärme war aus seinem Gesicht verschwunden und nun wirkte er mehr wie der Höllenfürst, den Amicia bei ihrem ersten Treffen in ihm gesehen hatte.

Es brauchte nur einen einzigen Blick von ihm in Richtung des Orchesters und die Musik verklang. Innerhalb einer Sekunde herrschte Stille im Raum, alle hatten sich ihnen zugewandt. Amicia stellte sich direkt neben Lilith, ihre Hand locker neben ihrer Klinge.

»Meine lieben Freunde, ich habe euch heute Abend nicht nur aus reiner Lebensfreude zusammengerufen«, sprach Lucifer ruhig und klar, doch seine Stimme hallte durch den ganzen Saal.

»Nun bin ich schon länger euer Herrscher, als die Menschen die Welt bevölkern. Ich habe diese Hölle aufgebaut, sie zu dem gemacht, was sie heute ist, mit euch an meiner Seite.« Langsam wanderte sein Blick durch die Menge, so, als wollte er jedem Dämon direkt in die Augen schauen.

»Wir alle wurden nach hier unten verbannt, weit weg von den Menschen dort oben und noch viel weiter weg von der Goldenen Stadt. Sie wollten uns hier einsperren, mit nichts weiter als den armen Resten der Menschheit, die sie uns auch noch irgendwann nehmen werden.«

Zustimmende Rufe erklangen. Nicht wenige der Dämonen nickten, manche sogar mit einem wütenden Ausdruck im Gesicht. Keiner von ihnen hatte eine Ahnung, worum es hier wirklich ging.

»Doch das hat uns nicht aufgehalten. Ich habe uns einen Weg zu den Menschen erkämpft, eine Möglichkeit, mehr von ihnen zu uns zu holen. Ich habe euch erlaubt und geholfen, auf die Erde zu gelangen und dort Chaos zu verbreiten.«

Noch mehr Rufe. Irgendwo weit hinten brüllte jemand Lucifers Namen und schon bald hallten laute Jubelrufe durch den Saal, die Amicia in den Ohren schmerzten. Einige Augenblicke sonnte der Höllenfürst sich in der Anbetung, dann hob er die Hände und sofort herrschte wieder Stille.

»Das alles habe ich für euch getan und habe nie etwas im Gegenzug von euch verlangt – außer einer einzigen Sache: Loyalität! Und doch konnten einige von euch mir nicht mal das geben.«

Dies war der Moment, in dem die Stimmung umschlug. Anstatt der Freude lag nun Schock in den Augen der Dämonen, bei manchen sogar Panik. Einem Gefühl nachkommend schlüpfte Amicia aus ihren Schuhen und spürte den kalten Boden unter ihren nackten Sohlen.

»Ich habe euch alles gegeben, wonach es euch verlangen könnte. Euch mehr Freiheiten zugesprochen, als ihr sonst jemals bekommen könntet, und einige von euch danken es mir nun auf seltsame Art und Weise.« Lucifer brüllte nicht, er hatte seine Stimme nicht einmal erhoben, doch drangen seine Worte bis in den letzten Winkel.

Einige Augenblicke rührte sich niemand, alle hielten den Atem an und warteten, was nun passieren würde.

»Jula, Bruno, wollt ihr beide nicht zu mir kommen und mir euren Verrat erklären?«, fragte der Höllenfürst leise.

Amicia war ein wenig überrascht, dass Jula tatsächlich mit hoch erhobenem Kopf aus der Menge trat und direkt auf Lucifer zuging. Doch ihr mutiger Auftritt wurde nicht von dem Zittern ihrer Finger und der Panik in ihren Augen untermauert.

Deutlich weniger selbstbewusst trat nach einigen Augenblicken auch Bruno hervor. Der riesige Mann war in sich zusammengesunken und schaffte es nicht, den Kopf zu heben.

Ausdruckslos blickte Lucifer ihnen entgegen. »Erklärt euch!«

Innerlich hoffte Amicia, dass die beiden einfach schweigen und ihr Schicksal hinnehmen würden. Denn nichts, was sie sagten, konnte sie jetzt noch retten. Jula und Bruno wussten es, die anwesenden Dämonen wussten es und auch Amicia war sich dessen bewusst. Doch anscheinend war die Verräterin nicht so schlau.

»Du hast uns nichts gegeben, sondern uns nur hier unten eingesperrt.« Sie brüllte, doch ihre Stimme zitterte so sehr, dass die Worte schwer zu verstehen waren. »Wir sollten die Erde übernehmen und die Menschen zu unseren Sklaven machen. Doch du bist zu sehr Engel, um das einzusehen. Wir brauchen dich nicht als unseren Wächter, wir sind viele und du bist nur einer.«

Wie viele der anderen zuckte Amicia zusammen, als Lucifer auf einmal zu lachen anfing. Es war ein tiefes, dunkles Geräusch, das durch Mark und Bein ging.

»Du bist noch dümmer, als ich gedacht habe. Ihr seid vielleicht viele, aber ich bin der Einzige mit Macht.« Aus dem Nichts materialisierte sich ein silbernes Schwert in Lucifers Hand. Von der Klinge ging eine solche Kraft aus, dass auch Amicia und Lilith einen Schritt nach hinten auswichen.

Die Erkenntnis, dass sie sterben würde, zeigte sich ganz klar in Julas Augen. Mit einer einzigen Bewegung schwang Lucifer das Schwert und trennte ihren Kopf vom Körper. Für einen Moment stand sie noch gerade da, während ihr Kopf auf den Boden prallte. Dann lösten sich ihre beiden Teile in nichts auf.

Niemand rührte sich, kein Ton war zu hören, nur eine tödliche Stille. Voller Schrecken und Panik blickte Bruno auf die Stelle, an der bis eben noch seine Mitverschwörerin gestanden hatte.

Ein Schauer rann durch seinen Körper, dann setzte er sich auf einmal in Bewegung und rannte, so schnell er konnte, auf die Tür zu. Lucifer verdrehte nur wenig beeindruckt die Augen, doch Amicia würde ihn nicht davonkommen lassen.

Brunos Fluchtweg führte direkt an ihr vorbei. Mit einem breiten Grinsen verpasste sie ihm einen Back Kick direkt in die Brust, der einem Menschen das Brustbein gebrochen hätte, den Dämon jedoch nur nach hinten schleuderte … direkt vor Lucifer.

»Ach, Bruno. Fliehen bringt dir nichts«, murmelte dieser sanft. »Es gibt keinen Fleck in diesem Universum, an dem ich dich nicht finden könnte. Und nun leb wohl!«

Brunos verängstigte Miene war für immer auf seinem Gesicht eingefroren, als sein Kopf über den Boden rollte, bis auch er einfach verschwand.

»Dies ist meine einzige und letzte Warnung an euch alle«, wandte Lucifer sich nun wieder an seine Zuschauer, die alle voller Schock dastanden.

»Zweifelt niemals an mir und meiner Macht. Denn ansonsten werde ich jeden Einzelnen von euch auslöschen, bis nicht einmal mehr eine Erinnerung an euch existiert. Es gibt nur einen einzigen Herrscher der Hölle und das bin ich!«