KAPITEL ZWANZIG – ERZENGEL

Vignette

In ihrem Kopf herrschte absolute Leere, als sie ihn erblickte. Obwohl ihr letztes Treffen erst wenige Tage her war, hatte sich etwas an ihm verändert, sodass sie ihn kaum noch wiedererkannte. Es dauerte einen Moment, bis sie es verstand, dieser Funke in seinen Augen, der ihr immer entgegengeblitzt hatte, war verschwunden.

Stattdessen schlug ihr nun Eiseskälte entgegen. Kein Hass, keine Ablehnung, keine Verachtung, nur Kälte, so, als wäre da nichts anderes mehr und niemals etwas gewesen.

»Was hast du angestellt, Amicia?«, brummte dieser tonlos und schritt langsam auf sie zu. »Es war deinen Verrat also nicht wert.«

Immer noch konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, sie war viel zu durcheinander und aufgewühlt. Irgendwie hatte sie gehofft, dass die Worte einfach aus ihrem Mund strömen würden, dass sie einfach sagen konnte, was sie meinte, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Doch leider war dem nicht so.

»Sprich oder verschwinde wieder«, forderte Lucifer sie auf und diesmal war mehr als nur Kälte zu erkennen. Dieser kaum spürbare und doch ganz sicher anwesende Funke schaffte es, sie aus ihrer Starre zu lösen.

»Stimmt es denn, dass der Morgenstern in der Lage ist, Gott zu verletzen, vielleicht sogar zu töten?«, wisperte sie atemlos.

»Bis du ihn mir gestohlen hast, hatte ich nicht einmal gewusst, dass dieser dumme Splitter irgendeine Macht hat«, knurrte Lucifer, wandte sich um und verschwand in einem der Zimmer. Da niemand sonst sich rührte, nahm Amicia an, dass sie ihm folgen sollte. Erschrocken zuckte sie zusammen, als Lilith hinter ihr die Tür mit einem lauten Knall schloss.

Unsicher blickte die Gefallene sich in dem kleinen Salon um und versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Auch auf die Entfernung konnte sie immer noch Lucifers Präsenz fühlen, die sanft wie Federn über ihre Haut strich und sie durcheinanderbrachte.

»Erzähl mir alles«, verlangte dieser. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt stand er am Fenster und blickte hinaus. Sogar jetzt war er immer noch beunruhigend und einschüchternd, doch davon durfte sie sich nicht ablenken lassen.

So schnell und emotionslos wie möglich fasste Amicia zusammen, was geschehen war. Alles! Von ihrem ersten Treffen mit Faniell bis zu ihrem kurzen Gespräch mit Michaela. Mehrmals musste Amicia den Kopf über ihre eigene Dummheit schütteln. Wie hatte sie die ganzen Lügen nicht sehen können? War sie wirklich so dumm?

Auch der Höllenfürst schien zu begreifen, auf welche Dummheiten sie hereingefallen war. »Ich hatte dich für deutlich klüger gehalten.«

»Ich mich eigentlich auch«, gestand sie leise.

»Wieso um alles in der Welt sollte ich den Himmel angreifen und unseren Vater töten?« Mit geschlossenen Augen schüttelte er den Kopf. »Kennst du mich nicht besser?«

»Ja, jetzt schon«, schluchzte sie unterdrückt auf. »Aber davor warst du einfach ein anderer, der Höllenfürst, der Verführer, der …«

»Nach allem, was wir durchgemacht haben. Wir haben dich in unsere tiefsten Geheimnisse eingeweiht, dich in der Hölle willkommen geheißen. Lilith hat dir vertraut. Ich habe dir vertraut. Und nicht ein einziges Mal kam dir die Idee zu fragen, ob in den nächsten drei Monaten ein Angriff auf den Himmel ansteht?« Mit jedem Wort war er lauter geworden, doch die letzte Frage war nur ein düsteres Flüstern.

»Wieso hättest du mir die Wahrheit sagen sollen?« Ein besseres Argument fiel ihr einfach nicht ein.

»Wieso hätte ich dich anlügen sollen?«, schoss er zurück. »Nicht ein einziges Mal habe ich dir gegenüber gelogen oder etwas zurückgehalten. Die ganze Zeit habe ich mit offenen Karten gespielt.«

»Du hast mir misstraut«, erinnerte sie ihn mit schwacher Stimme.

»Das habe ich. Aber nicht, weil ich dachte, dass du mit ein paar abtrünnigen Engel zusammenarbeitest, sondern weil du es sechshundertfünfzig Jahre allein auf dieser Welt ausgehalten hast. In all der Zeit habe ich nichts von dir gewusst, dabei spüre ich jeden anderen Gefallenen, sobald er hier auf der Erde ankommt.«

Für einen Moment wandte Amicia den Kopf ab und blickte aus dem Fenster. Sie ertrug den Anblick seiner angespannten Muskeln einfach nicht mehr. »Ich wollte doch nur wieder nach Hause kommen, zu einem Ort, an den ich gehöre.«

Leise schnaubte Lucifer, sagte jedoch nichts weiter.

»Hättest du nicht dasselbe getan?«, fragte sie leise. »Einen Weg nach Hause zu finden, zurück an den Ort, an dem man geboren wurde?« Aus ihrer Jackentasche holte sie die Feder, die sie bisher nicht aus der Hand gelegt hatte.

»Nein, auch wenn ich noch Erinnerungen an den Himmel habe, will ich dort niemals wieder hin. Vielleicht bin ich dort geboren worden, aber es war auch der Ort, der mich verstoßen hat. Ich habe keine falsche romantisierte Vorstellung, denn ich erinnere mich immer noch an die Wahrheit, so, wie du es auch tun solltest.«

Sie schluckte schwer. »Sonst gibt es keinen Ort, an den ich gehöre.«

»Wir beide wissen, dass das nicht stimmt. Du hast niemals nach einem neuen Zuhause gesucht, sondern dem kaputten hinterhergeweint.« Blitzschnell wirbelte er herum, aus seinen Augen schoss dasselbe Feuer, welches sie gewohnt war. »Dir hat nur der Mut gefehlt, etwas Neues zu probieren. Deshalb haben diese Engel dich ausgewählt. Nicht wegen deiner Loyalität, sondern wegen deiner Blindheit.«

Tief schnitten seine Worte in ihr Fleisch, rissen die Wunden auf, die nur knapp verheilt waren. Es war kein schönes Gefühl, seine eigenen Dummheiten so vor Augen geführt zu bekommen, doch diesmal musste Amicia sich dem stellen.

»Du hast recht. Aber leider habe ich nicht die Macht, die Vergangenheit zu ändern, also muss ich etwas tun, um die Zukunft zu beschützen.«

Einige Herzschläge lang blickte Lucifer sie einfach nur ausdruckslos an, dann brach ein dunkles Lachen aus ihm heraus. »Auch nach all dem bist du immer noch mehr Engel, als ich es jemals war. Oder vielleicht auch nicht.«

Seine Worte ergaben keinen Sinn für sie, doch das war gerade egal. »Wirst du mir helfen?«

»Wieso sollte ich? Wenn der Himmel vor die Hunde geht, wird mich das nicht wirklich betreffen.«

»Weil ich dich darum bitte«, murmelte sie leise und mit gesenktem Blick.

Erneut schwieg er, dann nickte Lucifer langsam. »Danach will ich dich nicht mehr sehen.«

Amicia schluckte den Schmerz herunter, der wie ein Blitz durch ihren Körper schoss. »Versprochen.«

Wortlos schritt er an ihr vorbei und verließ den Salon. So schnell sie konnte, folgte die Gefallene ihm, den Kopf immer noch zu Boden gerichtet. Im Flur warteten Lilith und Jakob, beide mit einer Mischung aus Sorge und Wut im Gesicht.

»Wir gehen«, informierte der Höllenfürst die Wartenden kurz und ging, ohne auch nur einen Moment zu zögern, zur Tür.

Unsicher blieb Amicia stehen und blickte zwischen den beiden anderen hin und her. Erneut würde sie gehen, aber diesmal hatte sie die Chance, sich richtig zu verabschieden. »Danke für einfach alles.«

Schnaubend wandte Lilith sich ab und ging zu Lucifer, der ungeduldig neben der Tür wartete. Doch Jakob kam zu ihr und zog sie in eine kurze Umarmung. Fest kniff Amicia die Augen zusammen und versuchte ihr Bestes, um die Tränen zurückzuhalten.

Bevor sie noch völlig zusammenbrach, löste Amicia sich von dem Menschen und eilte, so schnell sie konnte, zur Tür. Lucifer war bereits nach draußen gegangen, wo auf einmal ein Wagen aufgetaucht war.

Die erste Frau blickte sie nicht an, stattdessen hielt sie ihren ausdruckslosen Blick auf die andere Straßenseite gerichtet. »Pass gut auf dich auf«, wisperte sie so leise, dass Amicia es beinahe nicht gehört hätte, dann schloss Lilith die Tür.

Mit einem unguten Gefühl im Magen nahm die Gefallene neben Lucifer im Wagen Platz, die ganze Fahrt über sprach keiner von beiden ein Wort, aber mit jeder Ampel, an der sie hielten, wurde Amicia nervöser. Immer wieder blickte sie in den Himmel, so, als könnte sie dort erkennen, was in der Goldenen Stadt vor sich ging.

In irgendeinem Vorort kam der Wagen wieder zum Stehen. Amicia hatte nicht auf den Weg geachtet und hatte so auch keine Ahnung, wo genau sie sich befanden. Immer noch sprach der Höllenfürst kein Wort mit ihr, stattdessen schritt er zu einem alten, halb verfallenen Haus in ihrer Nähe.

Amicia war sich sicher, dass er die Hölle auch ohne eines dieser Portale betreten konnte, doch um sie mitzunehmen, musste er diesen Umweg einschlagen. Noch bevor sie diesen Gedanken beendet hatte, war das Portal bereits offen und Lucifer trat hindurch.

Schweigend folgte sie ihm. Immer noch klopfte ihr Herz viel zu schnell, aber seine harschen Worte hielten sie davon ab, auch nur ein einziges Wort zu sagen.

***

Die Hölle empfing sie mit einem scharfen, warmen Wind, der an ihren Haaren riss. Auf der Erde hätte sie das Wetter als wolkig und sehr düster für den Tag beschrieben, doch hier gab es weder einen Himmel noch Wolken, aber eine seltsame Dunkelheit lag über allem.

Es wunderte Amicia nicht wirklich, dass Hotch dort bereits auf sie wartete. Der Dämon schenkte ihr keinen zweiten Blick, sie musste sich damit abfinden, dass sie für alle Bewohner der Hölle unsichtbar geworden war.

»Bist du bereit?«, riss Lucifer sie aus ihren düsteren Gedanken. Um die Hüften trug er das Schwert, mit welchem er schon die beiden Verräter geköpft hatte, dazu hatte er noch einigen Klingen aus Höllenstahl dabei.

Knapp nickte sie, immer noch kam kein Wort über ihre Lippen. Auch er rührte sich nicht, stattdessen starrte der Höllenfürst sie einfach nur an. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen.

»Bist du bewaffnet?«, fragte er dann endlich, als sie es kaum noch aushielt.

Kurz deutete sie auf ihre beiden Klingen, die sie wie immer am Oberschenkel trug. Sie war sich nicht sicher, worauf er eigentlich hinauswollte.

Lucifer machte eine knappe Handbewegung zu Hotch, der mit saurer Miene auf Amicia zutrat und ihr die beiden Klingen aus Höllenstahl reichte, die sie nach ihrem Verrat hier unten hatte liegen lassen. Erneut zersprang ihr das Herz in der Brust vor Scham, vor Schmerz und vor etwas anderem, was sie einfach nicht benennen konnte.

Nachdem sie die Waffen entgegengenommen hatte, führte der Höllenfürst sie ein Stück von den anderen Portalen weg und einmal um die Mauer herum, in denen sich diese befanden. Vor ihnen öffnete sich eine brache Landschaft. Ein einziger Torbogen stand dort.

Dies war also die Verbindung zwischen der Hölle und dem Himmel. Ein alter, bröckeliger Torbogen, der sich weit abseits von allem befand. Wie oft war dieser in den letzten Jahrtausenden benutzt worden? Wurde er überhaupt jemals benutzt?

Als Lucifer auf das Portal zuschritt, aktivierte es sich von allein. Ein goldener Schein fiel auf das Gestein um sie herum und eine sanfte, warme Brise strich über Amicias Haut.

Für einen Moment stoppte sie in der Bewegung und blickte auf das Portal. Eine ganze Schar der verwirrendsten Gefühle raste durch ihren Körper und raubte ihr den Atem. Eine tiefe Angst, eine kribbelige Vorfreude, eine bleierne Ungewissheit und ganz tief unten die grausame Erinnerung an das letzte Mal, als sie dort gewesen war.

Doch sie konnte nicht zögern, sich nicht umdrehen und einfach wieder gehen. Was auch immer hinter diesem Portal auf sie wartete, es war ihr eigenes Werk, Zeugnis ihres Versagens und sie war bereit, sich dem zu stellen.

Lucifer war der Erste, der hindurchtrat. Sofort wurde seine Gestalt von dem Schein verschluckt und sie stand für einen Moment allein da. Dann schaffte Amicia es endlich, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Warmes Sonnenlicht strich über ihre Haut, ein kurzer Ruck ging durch ihren Körper, so, als würde sie vom Boden abheben. Dann war es vorbei und sie fand sich im Himmel wieder.

Sie erkannte die Stelle nicht, an der sie rausgekommen waren, wohl jedoch ihre Umgebung. Die gepflasterten Straßen waren von hellen Sandsteinhäusern gesäumt, überall blühten weiße Blumen, die einen süßlichen Duft verströmten. Warmes Sonnenlicht erhellte jeden noch so kleinen Winkel.

Unterdrückt stöhnte Lucifer. »Ich hatte ganz vergessen, wie schrecklich grell hier oben alles ist. Kein Wunder, dass man da irgendwann blind wird.«

Sie ignorierte seinen Kommentar und blickte sich genauer um. Eigentlich sollte es in den Straßen vor Engeln nur so wimmeln, die ihren Aufgaben nachgingen, doch niemand war zu sehen. Lediglich einige einsame Federn schwebten durch die klare Luft.

»Das sind zu viele«, flüsterte Amicia ängstlich. Je länger sie hinschaute, desto mehr winzige, kaum sichtbare Federn konnte sie entdecken. Der Boden war inzwischen komplett bedeckt. »Wieso ist hier niemand?«

Anstatt zu antworten, zog Lucifer das Schwert und hielt es kampfbereit in der Hand. Sofort tat Amicia es ihm nach, ihr wachsamer Blick wanderte durch die verwaisten Straßen.

»Wir kommen zu spät«, flüsterte Amicia voller Schuld. Zu lange hatte sie gezögert und nun waren ihre Brüder und Schwestern getötet worden.

»Sieh nicht alles immer so schwarz«, grollte der Höllenfürst. »Der Himmel ist immer noch voller Engel, sie haben nur keine körperliche Gestalt mehr.«

»Du kannst sie in der Schwebe spüren?«

»Vor langer Zeit war ich einmal ein Erzengel, das darfst du nicht vergessen. Einige Talente aus dieser Zeit besitze ich immer noch, so kann ich auch die Verletzten wahrnehmen.« Mit festen Schritten eilte er voran, eine der Straßen entlang, die sie zum Mittelpunkt der Goldenen Stadt bringen würde.

»Was ist hier passiert?«, fragte sie weiter, während sie neben ihm her joggte und versuchte auf jede noch so kleine Bewegung zu achten.

Mehrmals zuckte sie zusammen, als sie im Augenwinkel einer Bewegung gewahr wurde, doch es war nur eine weitere Feder, die im Wind schwebte. Ihre Schritte und ihr leiser Atem waren die einzigen Geräusche in der riesigen Stadt.

»Glaubst du, ihr Weg führte sie zu den Seelen?« Amicia konnte sich einfach nicht zurückhalten. Tief verborgen in der Stadt lag das Paradies, der Ort, an dem die Seelen die Unendlichkeit verbrachten. Die Angst zerrte an ihren Nerven und sie hatte das Gefühl zu platzen, wenn sie nicht sprach und die unnatürliche Stille füllte.

»Wer auch immer dahintersteckt, interessiert sich nicht für die Seelen, immerhin können diese ihnen nicht weiterhelfen. Nein, nachdem sie anscheinend alle Engel aus dem Weg geräumt haben, werden sie sich nun um die nächste Verteidigungsstufe unseres Vaters kümmern.«

»Die Erzengel. Aber das ist unmöglich, niemand kann euch besiegen.« An diesen Gedanken klammerte Amicia sich, in der blinden Hoffnung, dass doch noch nicht alles zu spät war.

»Außer man besitzt eine uralte geheime Waffe, die anscheinend auch Gott vernichten kann«, knurrte Lucifer und beschleunigte seine Schritte nur noch mehr.

Leise keuchend rannten sie durch die Straßen, immer geradeaus, immer weiter, doch ihr Ziel kam einfach nicht in Sicht. Normalerweise war man hier nicht zu Fuß unterwegs, geflogen waren die Strecken viel kürzer.

Endlich lichteten sich die Häuser und gaben die Sicht auf einen großen Platz frei. Vor ihnen erhob sich das Götterhaus, das Zentrum der Goldenen Stadt, der Ort, an dem die Erzengel wohnten und sich der Durchgang zu den Seelen befand.

Erschrocken schrie Amicia auf, als sie auf das Meer aus Federn blickte, welches sich über den Platz ergoss. Hektisch wich sie nach hinten zurück, als sie merkte, dass sie auf einigen stand. Doch ganz egal, wohin sie sich auch wandte, überall lagen Federn. Erinnerungen an die Engel, die vielleicht tot waren.

»Du musst ruhig werden.« Sanft fasste Lucifer sie an den Schultern und drehte sie zu sich um. »Tief durchatmen, Geliebte, du darfst jetzt nicht in Panik verfallen.«

Viel zu schnell atmend blickte sie zu ihm hoch und versuchte sich ganz auf seine Stimme zu konzentrieren. Ein warmes Kribbeln breitete sich in ihr aus, als er ihren Kosenamen aussprach. Durch seine Berührungen floss eine unendliche Ruhe durch ihren Körper und schaffte es, ihren Herzschlag wenigstens etwas zu verlangsamen.

»Ich spüre sie, sie alle sind noch hier.« Lucifers Hände wanderten von ihren Schultern zu ihrem Gesicht. Liebevoll strich er mit den Daumen über ihren Wangenknochen. »Noch ist nichts verloren, wir können sie immer noch besiegen.«

Seine Worte durchdrangen das Rauschen, welches in ihrem Kopf vorherrschte. Langsam und tief atmete sie durch und nickte dann. »Du hast recht. Wie gehen wir weiter vor?«

Sein Blick wanderte zurück zum Götterhaus, das völlig friedlich dalag. »Es gibt nur einen Ort, an dem sie sein können.«

»Was ist mit den Erzengeln?«, fragte sie, während sie vorsichtig auf das Haus zugingen.

»Ich habe da so einen Verdacht. Ein normaler Engel kann einen von uns nicht töten, also werden sie wohl weggesperrt sein«, knurrte er.

Mit einem unruhigen Gefühl blickte Amicia die hohe Holztür hinauf, die den Eingang zum Haus bildete. An diesen Anblick konnte sie sich noch erinnern, es war damals ihr letzter gewesen. Auch die Räume dahinter lagen still und verlassen da, hier gab es deutlich weniger Federn. Sicher waren die meisten Engel auf den Platz geeilt, um das Haus und seine Bewohner zu beschützen.

In der großen Eingangshalle blieben sie stehen. Mehrere Gänge, Türen und Treppen gingen von hier ab und führten in die verschiedenen Stockwerke und Räume. Von den hohen Wänden hallte ihr Atem unnatürlich laut wider.

Der Höllenfürst zögerte nicht eine Sekunde lang, mit sicherem Schritt eilte er durch die Halle und auf eine unscheinbare Holztür ganz hinten im Raum zu. Sie besaß keinen Knauf oder ein Schlüsselloch, trotzdem schwang sie lautlos auf, als Lucifer davorstand. Eine Treppe führte nach unten und verschwand schon bald in der Dunkelheit.

»Wohin führt sie?«, hauchte Amicia ängstlich.

»In die Eingeweide des Hauses. Dort unten gibt es so einige Geheimnisse, von denen die meisten Engel nichts wissen.«

Ihr Magen ballte sich zusammen, als sie ihm die Treppe hinunter in die Schwärze folgte. Tiefer, immer tiefer stiegen sie nach unten, bis Amicia das Gefühl hatte, bald wieder auf der Erde aufzukommen. Sie traute sich jedoch nicht, etwas zu fragen, zu groß war die Angst, dass ihre Stimme Unerwartetes in der Dunkelheit erwecken konnte.

Erleichtert atmete sie durch, als vor ihnen Licht zu erkennen war. Die Treppe führte in einen echten Kerker mit mehreren Zellen, der hier unten versteckt war.

»Lange her, dass ich hier gefangen war«, murmelte Lucifer leise.

Sie schlichen an vielen leeren Zellen vorbei. Wofür waren sie alle? Soweit sie wusste, wurde kein Engel eingesperrt, sie alle fielen.

»Was war das hier einmal?«, wisperte sie leise und beeilte sich, mit dem Höllenfürsten Schritt zu halten.

»Bevor man Engel auf die Erde fallen lassen konnte, musste man sie woanders festhalten«, erklärte er knapp. »Hunderte haben hier ihre Zeit verbracht, bis man wusste, wohin sie kamen.«

Trocken schluckte Amicia. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie schrecklich es sein musste, hier unten in diesem Dämmerlicht gefangen zu sein. So nah dran an seinem alten Leben und doch dazu verdammt, nichts weiter zu besitzen als die Wände aus Stein und das leise Klagen der Mitgefangenen.

Immer weiter schritten sie durch die Katakomben, ein paar Mal gabelte sich der Weg und führte in weitere Tiefen. Amicia wunderte sich, wie groß die Katakomben waren und ob es hier noch einige vergessene Engel gab, die nicht einmal wussten, wie viel Zeit vergangen war.

Ein seltsames Murmeln zerriss auf einmal die Stille. Hektisch blickte Amicia sich um und suchte nach der Quelle, doch um sie herum gab es nur leere Zellen. Erneut drang das Gemurmel an ihr Ohr, doch sie konnte keine genauen Worte ausmachen.

»Hier ist jemand«, wisperte sie mehr zu sich selbst und trat noch einen Schritt näher an Lucifer heran.

»Genau nach denen suchen wir ja«, brummte er und beschleunigte seine Schritte.

An der nächsten Gabelung bogen sie nach rechts ab und folgten den immer lauter werdenden Geräuschen. Langsam konnte Amicia mehr ausmachen, es waren verschiedene männliche Stimmen und eine weibliche.

Endlich erreichten sie die Stelle, an denen die Engel gefangen gehalten wurden. Aus den Zellen fielen lange Schatten in den Gang, die unnatürlich verzerrt wirkten.

»Na, sieh sich das einer an.« Ein breites Grinsen erhellte Lucifers Gesicht. »Wenn ich gewusst hätte, dass dieser Anblick auf mich wartet, hätte ich mein Handy mitgenommen.«

»Du!«, grollte Michaela, die sich in der ersten Zelle befand. Mit vor Wut verzerrtem Gesicht rannte sie zu den Gitterstäben. »Wer hat dich hier reingelassen?«

»Ich habe mich selbst reingelassen, Schwesterchen. Ebenfalls eine Freude, dich zu sehen«, grollte dieser zurück.

»Luc, Gott sei Dank«, erklang eine andere Stimme eine Zelle weiter. Raphaels Miene zeigte deutliche Erleichterung. »Holst du uns hier raus?«

»Wir brauchen seine Hilfe nicht.« Anscheinend hatte Michaela sich wieder im Griff, denn ihre Stimme wurde erneut ausdruckslos. »Das hier geht ihn rein gar nichts an, es ist eine Angelegenheit des Himmels.«

»Wir können später wieder auf zwei Seiten stehen und uns sinnlos verachten, jetzt müssen wir erst einmal hier raus!«, mischte sich eine dritte Stimme ein. Schnell fuhr Amicia herum, ein weiterer Engel lehnte erstaunlich entspannt an den Gittern, das leichte Licht betonte seine ebenmäßigen Züge und die langen blonden Haare.

»Uriel, schön dich mal wieder zu sehen.« So etwas wie Wiedersehensfreude zeigte sich in Lucifers Gesicht.

»Gut, dass du gekommen bist, Bruder«, gab dieser zurück.

»Das habt ihr Amicia zu verdanken.« Mit dem Kopf nickte der Höllenfürst in ihre Richtung und sie wich sofort einen Schritt zurück.

Sofort richteten sich alle Blicke auf sie und die Gefallene wäre am liebsten im Boden versunken. Während Michaela schnaubend die Augen verdrehte, beäugten die anderen drei Engel sie, als wäre sie ein Tier im Zoo.

»Das ist also die berühmte Amiciell.« Der vierte Erzengel kniete auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt. Sogar in der Dunkelheit schimmerte seine Haut golden, ein starker Kontrast zu seinen pechschwarzen Haaren. Das war dann wohl Gabriel.

»Können wir uns später damit beschäftigen?«, grollte Michaela. »Jetzt müssen wir erst einmal die Verräter aufhalten, bevor noch Schlimmeres passiert.«

Sosehr sie es auch wollte, konnte Amicia sich ihren Kommentar doch nicht verkneifen. »Also geht hier durchaus etwas vor?«

»Erst mal muss uns hier einer rausholen.« Laut klopfte Uriel mit den Fingern an das massive Schloss, welches die Zelle versperrte und bei seinen Berührungen Funken sprühte. »Engel können sie nicht zerstören.«

»Dann ist es wohl an mir.« Lucifer zog eine besonders lange Klinge hervor. »Tretet zurück, das sollte gleich geschafft sein.« Mit Schwung holte er aus und zertrümmerte das Schloss mit einem Schlag. Funken flogen durch die Luft und erhellten für einen Moment die Katakomben mit reinem Tageslicht.

Nach und nach zerbrach der Höllenfürst so die Schlösser, bis alle Erzengel frei waren. Unsicher drückte Amicia sich an eine Wand nicht weit entfernt, unter gesenkten Wimpern beobachtete sie die fünf. Sie fühlte sich wie eine Außenseiterin, die von etwas sehr Geheimem und fast Intimem Zeuge wurde.

»Was genau ist hier vorgefallen?«, fragte der Höllenfürst ernst. Jegliche Belustigung war aus seinem Gesicht verschwunden, stattdessen war er ganz der Krieger und Herrscher, der in ihm ruhte.

»Sie kamen wie aus dem Nichts, etwa sechs Dutzend abtrünnige Engel. Von jetzt auf gleich haben sie angefangen, alle abzuschlachten, die ihnen vor die Schwerter kamen«, erklärte Gabriel tonlos. »Man war ihnen nicht gewachsen. Innerhalb einer Stunde haben sie jeden dahingerafft, der sich ihnen in den Weg gestellt hat.«

»Aber wie konnten sie euch überwältigen?« Lucifers Blick wanderte suchend durch den Gang, bis er auf Amicia hängen blieb. Mit dem Kopf machte er eine knappe Bewegung und winkte sie zu sich heran.

Zögerlich folgte Amicia seiner Anweisung, aber er hatte recht. Immerhin war er nur auf ihren Wunsch hier, also sollte sie auch alles mitbekommen, was geschehen war.

»Wir wollten kämpfen, aber einer von ihnen hatte diesen Splitter, der uns einfach lähmte.« Raphael schüttelte sich. »So etwas habe ich noch nie erlebt. Kein Muskel wollte mehr reagieren, mein Körper gehörte nicht länger mir.«

»Der Morgenstern«, wisperte Amicia. »Das kann er also.«

»Und sicher noch mehr.« Michaela schüttelte den Kopf. »Dann haben sie uns hier reingesteckt und sind verschwunden. Keine Ahnung, wie viel Zeit seitdem vergangen ist.«

»Gestern warst du noch bei mir«, sagte Amicia leise. Sie kam sich so unendlich fehl am Platz vor, in dieser engen Runde aus Erzengeln.

»Also sind es schon fast vierundzwanzig Stunden.« Ratlos schüttelte Uriel den Kopf. »Wer kann schon sagen, was sie in dieser Zeit alles angestellt haben.«

»Wenn wir noch lange hier herumstehen, dann finden wir es wohl niemals heraus«, knurrte Lucifer.

»Da hast du recht. Danke, dass du uns rausgeholt hast, Lucifer, aber wir brauchen dich nicht mehr. Verschwinde zurück in deinen kleinen Palast und lass das die echten Engel regeln.« Michaela drängte sich an ihm vorbei und knallte dabei ihre Schulter gegen seine Brust. Blitzschnell packte er sie am Arm und hielt sie fest.

Interessiert hob Amicia die Augenbraue. Auf den ersten Blick konnte man nicht sagen, dass die beiden verwandt waren, geschweige denn Zwillinge. In jedem Punkt waren die beiden der reine Gegensatz – vom Körperbau über die Haarfarbe bis zur Körperhaltung. Doch waren sie sich sehr ähnlich. Vor allem da ihre Körpersprache klar zeigte, wie nah sie sich standen.

Lucifer hielt sie nicht länger fest, sondern legte seine Hände beschützend auf Michaelas Schultern. »Diese Verräter haben euch alle ausgeschaltet und sie können es locker wieder tun. Nimm meine Hilfe an, Michaela, bevor es dich den Kopf oder schlimmer noch die Flügel kostet.«

Einige Augenblicke schaute sie nur zu ihm auf, dann nickte sie zackig. »Dieses eine Mal und sobald alles geregelt ist, verschwindest du.«

»Hier hält mich nichts«, grollte der Höllenfürst und trat einen Schritt von seiner Schwester weg. »Geh vor, das hier ist dein Reich.«

»Wir müssen unsere Waffen finden, danach können wir zum Angriff übergehen«, wies sie die anderen an und eilte davon.

Als Amicia ihnen folgen wollte, stellte Lucifer sich ihr in den Weg. Einen Moment blickte er sie einfach nur an, dann streckte er die Hand aus und strich ihr hauchzart über die Wange. »Pass auf dich auf!«

»Du auch«, antwortete sie mit zittriger Stimme, dann löste sie sich schnell wieder von ihm. Viel zu stark pochte das Herz in ihrer Brust, erneut strömte dieses Verlangen durch ihren Körper. Doch daran konnte sie gerade nicht denken, daran durfte sie niemals wieder denken.

Erneut eilten sie durch die dunklen Katakomben bis zu einer ganz anderen schier endlosen Treppe, die sie aus der Dunkelheit ins Tageslicht führte.

Erleichtert atmete Amicia durch, die engen Wände dort unten hatten ihr das Gefühl gegeben, für immer eingeschlossen zu sein.

Zufrieden schnallte Michaela sich ihr Schwert um die Hüfte. »Uriel, Raphael, ihr beide schaut nach den Seelen, ob sie dort auch etwas angerichtet haben. Alle anderen, ihr kommt mit mir. Ich kann mir schon fast denken, wohin sie gegangen sind.«

»Noch sind wir nicht zu spät«, flüsterte Amicia immer wieder wie ein Mantra, als sie dem Erzengel hinterher durch die verlassenen Flure eilte. Denn wenn sie zu spät gewesen wären, dann würden sie sicher schon nicht mehr hier stehen. Trotzdem geriet sie mit jedem Schritt mehr in Panik.

Im Laufschritt eilten sie mehrere Stockwerke nach oben und dann einen langen Gang entlang. Je weiter sie kamen, desto stärker konnte sie die Energie wahrnehmen. Da war das bekannte Kribbeln des Morgensterns und noch etwas anderes, viel, viel Mächtigeres, durch das sich ihr die Nackenhaare aufstellten.

»Wohin gehen wir?«, musste sie einfach fragen, als sie durch eine weitere riesige Tür eilten, die mit Gold beschlagen war.

»Zu dem Ort, an dem alles begann«, erklärte Gabriel ruhig. »Dort, wo unser aller Vater sich aufhält.«

Amicia stolperte beinahe über ihre eigenen Füße. Es dauerte einen Moment, bis sie endgültig begriff, dass sie auf dem direkten Weg zu Gott selbst waren.

Hinter ihnen waren Schritte zu hören. Flüchtig warf sie einen Blick über die Schulter. Die beiden anderen Engel schlossen zu ihnen auf. Dass sie nun wieder hier waren, hieß wohl, dass es den Seelen gut ging.

Ängstlich wandte Amicia sich wieder nach vorn und konzentrierte sich ganz auf die Aufgabe, die nun vor ihr lag. Was auch immer dort auf sie wartete, es konnte nicht gut sein. Sie hatte keine Ahnung, was es war, aber der Tod war sicher darunter.

Die anderen verlangsamten ihre Schritte, als sie durch eine weitere Tür traten. Der Raum dahinter war deutlich größer, ähnelte mehr einer Halle. Eine lange Marmortreppe führte zu einer einfachen weißen Wand, es dauerte einen Moment, bis Amicia den schmalen Riss genau durch die Mitte bemerkte. Das war keine Wand, es war eine Tür.

Auf der Treppe war eine kleine Armee aus Engeln versammelt. Sie alle sahen aus, als hätten sie einen langen Kampf hinter sich, doch in ihren Gesichtern spiegelte sich der Triumph wider.

Einige von ihnen kannte Amicia von früher, andere Gesichter waren ihr völlig unbekannt. Doch eine Gestalt ragte über alle hinaus: Faniell! Er stand ganz oben auf der Treppe, den Morgenstern erhoben. Er bemerkte nicht einmal, dass die sechs eingetreten waren und Stellung bezogen.

»Legt die Waffen nieder und ergebt euch«, hallte Michaelas Stimme unheilvoll durch die Halle. Das Schwert vor sich erhoben deutete sie direkt auf Faniell.

Dieser drehte sich völlig entspannt um, ein selbstgefälliges Lächeln auf den Lippen. »Sieh an, wir haben Zuschauer. Die Erzengel persönlich werden Teil der großen Veränderung sein.« Sein Lächeln wurde verachtend, als er Amicia und Lucifer bemerkte. »Leider haben sie etwas Ungeziefer mit angeschleppt, doch das kann man schnell vernichten.«

Einige seiner Gefolgsleute sahen dies als eine klare Anweisung und stürzten sich auf den Höllenfürsten und die Gefallene.

Diesmal zögerte Amicia keine Sekunde, sie zog ihre Höllenklingen hervor und stieß sie einem der Angreifer direkt in die Brust. Für einen Moment starrte dieser sie entsetzt an, dann verschwand er ins Nichts.

»Stopp«, rief Faniell seine Truppen zurück, als er bemerkte, welche Waffen sie bei sich hatten. »Dieser Kampf wird wohl noch etwas warten müssen. Bis dahin seid ihr unsere schweigenden Gäste.«

Voller Entsetzen beobachtete Amicia, wie die Erzengel und Lucifer auf einmal ihre Waffen senkten und stocksteif dastanden. Kein Muskel regte sich mehr in ihren Körpern, während Faniells durchgeknalltes Lachen von den Wänden hallte.