Michaelas Angebot hallte immer noch im Raum wider. Alle Blicke waren erwartungsvoll auf Amicia gerichtet, so, als müsste sie sofort eine Antwort geben. Doch das konnte sie nicht. Nicht in diesem Moment, nicht unter diesen Umständen.
Hektisch sprang sie auf und stolperte beinahe über die Beine ihres Stuhls. Ohne auf die besorgten Rufe zu achten, eilte sie aus dem Raum und den langen Flur entlang. Erst als reine, klare Stille sie umgab, blieb sie stehen.
Verzweifelt raufte Amicia sich die Haare. Wieso zögerte sie auf einmal? Das war es, was sie immer gewollt hatte. Ihr Fall war ein Unfall gewesen – nein, der Wunsch Gottes – und jetzt hatte sie endlich getan, wozu sie auserkoren worden war. Wieso also konnte sie nicht hierher zurückkehren und die vielen unglücklichen Jahre auf der Erde vergessen?
Der Grund dafür kam just in diesem Moment um die Ecke und trat mit verschlossener Miene auf sie zu, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Schweigend blickte er sie an, was sie als Einladung verstand, um zu sprechen.
»Was soll ich ihr antworten? Wie kann ich ihr überhaupt noch in die Augen schauen, sie haben mich betrogen, ausgenutzt und hintergangen? Und jetzt soll einfach alles vergessen sein?« Ihre Stimme erstarb und sie schüttelte den Kopf.
»Nimm dir das nicht zu sehr zu Herzen«, murmelte er sanft und trat direkt vor sie hin. »Unser Vater spielt dieses Spiel sehr gern, du bist bei Weitem nicht die Einzige, die ihm zum Opfer gefallen ist.«
»Das mit dem Morgenstern und dir war auch nicht sonderlich nett.«
»Das ist nur die Spitze des Eisberges.« Sanft nahm er sie am Arm und führte sie zu einer Marmorbank, die in einiger Entfernung an der Wand stand. »Was ich dir jetzt erzähle, ist das größte Geheimnis des Himmels und ich vertraue darauf, dass du mich diesmal nicht verraten wirst.«
Wortlos nickte sie. Das aufgeregte Klopfen in ihrer Brust musste sie erst mal ignorieren, denn sie durfte in seine Worte nicht zu viel hineininterpretieren.
»Du warst nicht der erste Engel, dessen Fall inszeniert wurde. Nur habe ich mich freiwillig dazu entschieden, aus dem Himmel auszuscheiden. Die Hölle geriet etwas aus den Fugen, die Dämonen brauchten jemanden, der sie in Schach hielt. Also wurde beschlossen, dass einer von uns Erzengeln diese Aufgabe übernehmen würde. Nach sehr vielen Streitereien und schlimmen Worten ist die Wahl auf mich gefallen.« Trocken lachte er über sein eigenes Wortspiel.
»Warst du einverstanden mit dieser Entscheidung?«, murmelte sie leise.
»Nicht wirklich, am Ende war klar, dass es entweder Michaela oder ich werden würde. Aber ich konnte nicht zulassen, dass meine Schwester hier oben ihre Stellung verlor. Also habe ich mich geopfert, was sie mir allerdings sehr übel genommen hat. Danach war sie nicht sonderlich nett zu mir und mir wurden alle weiteren Besuche hier im Himmel untersagt. Ich sollte ›in dem Bett schlafen, welches ich mir gemacht hatte‹.«
»Das tut mir leid, Lucifer.«
»Das muss es wirklich nicht. Inzwischen habe ich mich damit abgefunden, dass es so am besten ist. Das, was ich heute erfahren habe, bestätigt mich noch einmal darin. Ich gehöre einfach nicht hierher.«
Der Drang, die Arme um seinen Hals zu schlingen und sich an ihn zu schmiegen, brachte Amicia beinahe um. Doch sosehr sie es sich auch ersehnte, diese Art ihres Zusammenseins war vorbei.
»Aber du schon.« Er wandte ihr den Kopf zu und blickte ihr direkt in die Augen. »Du warst bereit, meinen Zorn und meine Rache und deinen möglichen Tod in Kauf zu nehmen, um alles hier zu retten. Sogar jetzt bist du nicht wirklich wütend auf die Engel, sondern verwirrt.«
Verzweifelt rieb Amicia sich übers Gesicht. Seine Worte ergaben durchaus Sinn, doch leider fühlte sie sich dadurch auch nicht besser. »Aber wie kann ich ihnen vertrauen, dass sie es mir nicht eines Tages noch einmal antun?«
»Meine Geschwister haben so einige Fehler, von unserem Vater mal ganz abgesehen, aber glaube mir, sie handeln niemals aus Bösartigkeit. Wenn Michaela einen Befehl zweihundert Jahre ignoriert hat, dann muss ihr wirklich etwas an dir liegen.«
»Aber wieso kann ich dann nicht einfach Ja sagen?« Seufzend fuhr sie sich durch die Haare.
»Du hast hinter den Vorhang geblickt und jetzt weißt du mehr, als du jemals wolltest. Mit eben diesem Wissen musst du nun leben, ob du das willst oder nicht. Aber das hier ist, wie du immer so schön sagst, dein Zuhause, zu dem du immer zurückwolltest.«
»Du hast recht …«
»Aber?«
»Aber was, wenn meine Aufgabe noch nicht erledigt ist? Wenn du und ich aufeinandertreffen sollten, wie können wir uns dann sicher sein?« Sie kam sich so dumm und schäbig vor, dass sie nach diesem Strohhalm griff.
»Welche Gefahren kann es denn jetzt noch geben? Nicht nur, dass du den Himmel gerettet hast, sondern du hast auch eine Revolution in der Hölle verhindert. Deine Aufgabe ist mehr als erledigt, Geliebte. Jetzt ruh dich auf deinen Lorbeeren aus.«
»Was wirst du nun tun?«, schindete sie noch etwas mehr Zeit.
»Zurück an meine Aufgabe gehen, immerhin muss ich zwei neue Generäle bestimmen und dann die Ordnung in der Hölle wiederherstellen. Damit habe ich sicher ein paar Jahrzehnte zu tun.«
»Dann trennen sich hier unsere Wege also wieder?« Der Gedanke war wie ein Schlag direkt in den Magen.
»So, wie es bestimmt ist, ja. Der Fürst der Hölle und ein rehabilitierter Engel können nun einmal nicht mehr als alte Bekannte sein.« Mit diesen Worten erhob er sich. »Pass gut auf dich auf, Geliebte, und vergiss nicht alles, was du auf der Erde gelernt hast.«
So konnte, so durfte ihr Abschied einfach nicht ablaufen. Dies konnten nicht seine letzten Worte an sie sein.
»Warte!«
Schnell sprang sie ebenfalls auf und holte die Feder aus ihrer Jackentasche, in der sie immer noch sicher verborgen war. »Die willst du sicher wiederhaben.«
»Behalte sie. Dieser kleine Besuch hier oben hat mich daran erinnert, wieso ich nicht mehr mit meinen Geschwistern rede oder zu Besuch komme.«
Langsam senkte sie die Hand wieder.
»Sie soll dich an mich erinnern.« Lucifer legte seine Hände um ihre. »Auch wenn ich immer noch wütend bin, habe ich dir deinen Verrat verziehen. Du warst bereit alles zu riskieren, um zu bekommen, was dir rechtmäßig zusteht, das respektiere ich. Nur hätte ich mir gewünscht, dass es nicht so echt zwischen uns gewesen wäre.«
Worte gab es in diesem Moment nicht mehr. Mit wild pochendem Herzen stellte sie sich auf die Zehenspitzen und zog Lucifer zu einem letzten Kuss zu sich heran. Sie versuchte alles in diese Berührung zu legen, jedes noch ungesagte Wort, jedes Gefühl, welches sie bisher nicht zugelassen hatte.
Lucifer schlang die Arme um ihre Hüfte und zog sie an seine harte Brust. Ein letztes Mal genoss sie das Feuer, welches über ihre Haut leckte und sie völlig in Brand setzte.
Langsam lösten sie sich voneinander, doch sie konnte einfach nicht zurücktreten. Ihr fehlte die Kraft, sich aus seiner Umarmung zu lösen. Bis in alle Ewigkeit wollte sie hier bei ihm stehen bleiben, umgeben von der himmlischen Stille und einem Frieden, wie sie ihn noch nie erlebt hatte.
Jedoch hatte sie ihre Wahl bereits getroffen, genauso wie Lucifer.
Dies war der schlimmste Abschied, den sie jemals erlebt hatte. Mit einem Ruck trat sie zurück und löste sich endgültig von ihm. »Leb wohl.«
»Leb wohl, Geliebte.«
Heiße Tränen brannten in ihren Augen, als sie sich umdrehte und den langen Gang entlangschritt. Die ganze Zeit lauschte sie, ob er sich hinter ihr bewegte, doch als sie einen Blick über ihre Schulter warf, war der Höllenfürst bereits verschwunden.
Die vier Erzengel warteten immer noch bewegungslos auf sie. Irgendwie hatte Amicia es geschafft, sich so weit wieder zu sammeln, dass sie tatsächlich ein Lächeln zustande brachte. »Ich will wieder nach Hause kommen.«
***
Sechs Wochen später war im Himmel beinahe wieder so etwas wie Normalität eingekehrt. Die meisten der Engel waren aus der Schwebe zurückgekommen und langsam ging alles wieder seinen gewohnten Gang.
Niemand fragte, wieso Amicia auf einmal wieder Teil des Himmels war, aber sie konnte die Blicke auf sich spüren. Im Endeffekt war es ihr auch völlig egal, sollten sie alle doch denken, was sie wollten.
Sowie der Alltag wieder in den Himmel eingekehrt war, hatte auch Amicia sich eine neue Aufgabe suchen müssen. Doch leider war bisher noch keine für sie gefunden worden, stattdessen verbrachte sie ihre Tage damit, durch die Gegend zu streifen und ihren Gedanken nachzuhängen.
Die Freude, endlich wieder hier zu sein, war recht schnell abgeklungen, als die Realität in ihren Verstand gesickert war. Denn leider herrschte im Himmel absolute Langeweile.
Jeder Engel hatte seine ganz klare Aufgabe und er tat nichts anderes, als ebendieser nachzugehen. Tagaus, tagein. Als sie erneut einen festen Körper bekommen hatten, waren sie wieder an ihre Tätigkeiten gegangen, ohne auch nur nachzufragen, was geschehen war.
Im Himmel gab es kein Chaos, keine Veränderung, keine neuen Eindrücke, nur denselben Alltag, der gleichbleibend wie die Wellen an einem Strand dahinrollte. Und in all dieser Ordnung hatte Amicia keinen Platz.
Obwohl sie immer noch ein Kriegerengel war, hatte Michaela sie noch nicht wieder in die Truppen berufen. Das konnte zum einen daran liegen, dass ihre Flugkünste nicht mehr dieselben wie früher waren und zum anderen daran, dass sie wieder einmal ein Außenseiter war.
Seufzend ließ Amicia sich auf eine Bank fallen und blickte die Straßen rauf und runter. Es war gerade erst Mittag und sie war schon einmal durch die ganze Stadt gewandert. Es gab nichts Neues zu sehen, nur immer dasselbe.
Davon konnte man glatt Kopfschmerzen bekommen, wenn ihr himmlischer Körper dies zulassen würde. Manchmal vermisste Amicia den Hunger oder das Bedürfnis nach Schlaf, weil sie dann einfach etwas anderes fühlen würde.
Gleichzeitig graute es ihr vor ihren Träumen, denn sie wusste ganz genau, wer ihr dort begegnen würde. Manchmal reichte es schon, dass sie die Augen schloss und sofort erinnerte sie sich an diesen letzten bittersüßen Kuss, der sie wohl bis in alle Ewigkeit verfolgen würde.
Ein junger Engel trat neben sie und räusperte sich leise. »Michaela erwartet dich.«
Schon halb laufend rief Amicia ihm einen Dank zu und eilte durch die Straßen. Vielleicht war der Erzengel zur Vernunft gekommen und sie würde endlich wieder Teil des himmlischen Heeres werden.
Doch in Michaelas Arbeitszimmer wartete eine Person auf sie, mit der Amicia nun so gar nicht gerechnet hatte. Lilith wirkte in dieser Umgebung wie ein Pfau unter weißen Tauben. Mit ihrem üblichen königlichen Ausdruck im Gesicht taxierte sie Michaela, die ihr gegenübersaß. Als Amicia eintrat, erhob sich der Erzengel sofort. »Setz dich, bitte!«
Unsicher blickte der Engel zwischen den beiden hin und her. »Was geht hier vor?«
»Nun, Lilith hat mich auf etwas sehr Ungünstiges aufmerksam gemacht«, murmelte Michaela zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Anscheinend bist du immer noch bei ihr angestellt.« Mit saurer Miene schob sie Amicia einen Ordner zu.
Verwirrt nahm diese ihn entgegen und schlug ihn auf. »Arbeitsvertrag«, stand da in fetten Buchstaben.
»Ja, Engelchen, ein Vertrag, den du dir vorher mal hättest durchlesen sollen«, sprach Lilith zum ersten Mal. »Jeder meiner Verträge ist ein kleines Kunstwerk, darauf ausgelegt, dass er mir die meisten Vorteile einbringt. Wenn du nun einen Blick auf Seite achtzehn werfen würdest, dort stehen die Bedingungen für deine Kündigung.«
Schnell überflog Amicia diesen Absatz. »Da steht nur, dass ich kein Recht auf Kündigung habe.«
»Exakt. Unser Arbeitsverhältnis kann ausschließlich von mir beendet werden und falls du dich erinnerst, habe ich das nicht getan. Also schwing deinen Hintern wieder auf die Erde hinunter, du hast schon genug deiner Urlaubstage verloren.«
Entsetzt blickte Amicia auf den Vertrag vor sich. »Ist das dein Ernst?«
»Und wie es das ist. Du hast das unterschrieben und nun schuldest du mir 150 Jahre Dienst. Also pack deine Sachen.«
Leise räusperte Michaela sich. »Wie auch die Dämonen legen wir sehr viel Wert auf Verträge. Dieser ist bindend und du schuldest Lilith deine Arbeit. Deshalb wirst du auf die Erde zurückkehren und die Zeit abarbeiten.«
»Du willst mich wieder fallen lassen?«, kreischte Amicia und pfefferte die Blätter auf den Tisch.
»Natürlich nicht.« Abwehrend hob der Erzengel die Hände. »Du bleibst weiterhin ein Engel … selbstverständlich. Lilith wäre damit zufrieden, wenn du deine verbliebene Arbeitszeit in Teilzeit abarbeiten würdest. Dreihundert Jahre.«
Nur sehr langsam konnte Amicia sich wieder beruhigen. Das alles kam einfach aus dem Nichts, vor allem, da sie sich einfach nicht erklären konnte, wie die erste Frau in den Himmel gelangen konnte. »Na gut, wenn du das sagst.«
»Perfekt.« Zufrieden klatschte Lilith in die Hände und erhob sich. Ihr dunkelrotes Kleid passte so gar nicht zu der cremefarbenen Einrichtung in dem himmlischen Zimmer. »Dann lass uns mal aufbrechen, ich habe in den nächsten paar Monaten unendlich viel zu tun und brauche dafür meine Leibwächterin.«
Schnell kam Amicia ihrer unausgesprochenen Aufforderung nach und erhob sich ebenfalls. Die ganze Situation kam ihr unwirklich vor, wie ein geheimer Traum, der endlich in Erfüllung ging.
»In einer Woche meldest du dich wieder hier oben, dann habe ich auch wieder einen Platz für dich im Heer«, verkündete Michaela noch zum Abschied. »Oh, eine Sache noch. Da du nun schon mal hier bist, Lilith, wärst du so nett und würdest Lucifer den Morgenstern zurückbringen? Bei seinem plötzlichen Aufbruch hat er ihn hier vergessen.«
Mit pikierter Miene nahm die erste Frau den Splitter entgegen und ließ ihn in ihre Tasche gleiten. »Wenn sonst nichts mehr ansteht, würde ich jetzt wirklich gern gehen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, stolzierte sie davon.
Ein letztes Mal blickte Amicia zu dem Erzengel, der ihr ein ehrliches und freundliches Lächeln schenkte. Mit einem seltsam leichten Gefühl in der Brust trat auch sie nach draußen, wo Lilith mit verkniffenem Gesicht neben der Tür wartete.
»Lass uns endlich von hier verschwinden. Viel zu hell hier oben, da bekommt man ja Kopfschmerzen.« Mit einem theatralischen Seufzer setzte sie eine große Sonnenbrille auf und ging los.
»Wie bist du überhaupt hierher gelangt?« Amicia hatte Probleme, mit ihrer Chefin Schritt zu halten. Die Massen der Engel teilten sich vor Lilith, alle Augen waren aufgeregt auf sie gerichtet.
»Inzwischen solltest du mich doch recht gut kennen, ich bekomme immer meinen Willen. Da finde ich auch ohne große Probleme in den Himmel. Auch wenn ich ganz sicher nicht wiederkommen will.«
Endlich bekam Amicia sie am Arm zu fassen und beide Frauen blieben stehen. »Wieso tust du das alles? Ist dir dieser Vertrag wirklich so viel wert?«
Leise seufzte Lilith und schob die Sonnenbrille auf ihre Nasenspitze. »Der ist mir völlig egal, ganz im Gegensatz zu dir. Sosehr du es dir auch einredest, du gehörst hier einfach nicht hin. Ich konnte nicht mit dem Gedanken leben, dich hier verrotten und wieder zu einem dümmlichen Schaf werden zu lassen.« Abschätzig betrachtete sie eine kleine Gruppe Engel, die mit gesenktem Kopf an ihnen vorbeieilten.
»Aber das hier ist mein Zuhause, meine Familie, der Ort, an dem ich geboren wurde«, gab Amicia wenig überzeugend zurück.
»Ich bin im Paradies geboren und das war nun wirklich nicht mein Zuhause. Denn ich habe mir mein eigenes geschaffen und du solltest das auch tun.«
Stürmisch schmiss Amicia sich der ersten Frau um den Hals und drückte sie fest an sich. »Danke, dass du gekommen bist.«
Für eine Sekunde erwiderte diese die Umarmung, dann löste sie sich schnell wieder. »Apropos Paradies, gibt es das eigentlich immer noch?«
»Natürlich, wenn du schon mal hier bist, kann ich dich gern hinbringen.«
»Besser nicht. Am Ende treffe ich noch auf meinen Ex und seine Neue. Das wollen wir alle ganz sicher nicht, denn es könnte blutig enden.« Mit einem bösen Lächeln schob sie die Sonnenbrille wieder hoch und setzte ihren Weg fort.
***
Amicia verließ den Himmel auf demselben Weg, auf dem sie ihn auch betreten hatte – durch ein verstecktes Portal am äußersten Ende der Stadt. Eine Anspannung, die sie bisher nicht einmal gespürt hatte, fiel von ihren Schultern ab, als sie in die deutlich dunklere Hölle eintrat.
Erleichtert seufzte Lilith auf. »Das ist so viel besser. Wie haltet ihr es da oben nur aus? Da wird man doch auf Dauer blind, oder ist das so eine seltsame und sehr unpassende Metapher für das Gute?«
Schnaubend schüttelte Amicia den Kopf. »Wofür brauchst du mich denn jetzt eigentlich?«
»Erst einmal ziehst du dich um«, wies Lilith sie an. Angeekelt betrachtete sie Amicias weiße Tunika und passende Hose. »In den Klamotten kann ich dich einfach nicht ernst nehmen!«
In einem ruhigen Raum im Palast tauschte sie die Sachen gegen ein Outfit, das Lilith ihr bereitgelegt hatte. Es fühlte sich unglaublich gut an, wieder normale Kleidung zu tragen. »Also, was steht jetzt an?«
»Als Erstes wirst du einen kleinen Botengang für mich erledigen«, erklärte Lilith geschäftig. »So ein dummer Engel hat mir da etwas anvertraut, von dem ich meine Finger lassen will.«
»Ich soll den Morgenstern zurück zu Lucifer bringen?«, wiederholte Amicia etwas skeptisch. »Ausgerechnet ich?«
»Sei nicht so pikiert, Engelchen. Das ist nun einmal Teil deiner Aufgabenbeschreibung. Also meckere nicht rum, sondern erledige das.« Aus ihrer Tasche holte sie den Splitter, der in ein blütenweißes Tuch gehüllt war.
Etwas widerstrebend nahm Amicia ihn entgegen. Sie war furchtbar nervös bei dem Gedanken, wieder auf Lucifer zu treffen. Auch wenn nur wenige Wochen vergangen waren, kam es ihr vor wie ein ganzes Leben. Und wieso sollte er überhaupt noch mit ihr sprechen?
Trotzdem machte sie sich durch eines der Portale auf den Weg zurück nach Rom. Den Wagen, der bereits auf sie wartete, ignorierte Amicia. Einer der Vorteile ihrer wiederhergestellten Flügel war es eindeutig, dass sie sich nun wieder frei auf der Welt bewegen konnte.
Die Sonne senkte sich bereits hinter den Horizont, als sie über die Dächer der Stadt direkt zu Lucifers Wohnung flog. Es war ein berauschendes Gefühl, den Wind wieder in ihren Haaren zu spüren und die Welt unter sich zu sehen. Für einen Moment löste sie den Zauber, der sie verschleierte, um ihren eigenen Schatten auf den Dächern erkennen zu können, dann setzte sie zum Landeanflug auf die Wohnung an.
Die Türen zum großen Balkon standen offen, leise Stimmen und der Krach eines Fernsehers drangen nach draußen. Es kam Amicia unhöflich vor, einfach so hineinzuplatzen, also musste sie Lucifer herauslocken.
Genau in diesem Moment sagte er etwas, seine Stimme hätte sie auch unter Hunderten wiedererkannt. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus und ihr Herz klopfte nicht wegen des anstrengenden Flugs schneller.
So vorsichtig wie möglich ließ sie den Morgenstern fallen, eine allmächtige Waffe würde bei so was schon nicht kaputtgehen. Das Geräusch war lauter als erwartet und hatte den gewünschten Effekt, es lockte Lucifer aus der Wohnung.
Von ihrem Versteck auf dem Dach aus konnte sie nur seinen Rücken erkennen. Die Sehnsucht wurde in diesem Moment so stark, dass sie ihr kleines Spielchen beinahe beendet und sich ihm einfach gezeigt hätte.
Leise fluchend ging er in die Knie und hob den Morgenstern auf. Langsam schlug er das Tuch zur Seite und enthüllte den Splitter, der im sanften Abendlicht golden schimmerte.
Aus ihrer Jackentasche holte Amicia die winzigen Federn hervor, die sie eben noch geopfert hatte. Leise beugte sie sich vor und ließ diese auf den Höllenfürsten hinuntersegeln. Sofort versteiften sich seine Schultern und Lucifer drehte sich um sich selbst.
»Jetzt komm schon raus!«, rief er wenig begeistert und sofort bereute Amicia ihre kleine Dummheit.
In Erwartung von etwas Schlimmem sprang sie vom Dach und landete leise hinter ihm. Als Lucifer sich umdrehte, zeigte sich ehrliche Überraschung in seinem Gesicht. »Amicia, was machst du denn hier?«
»Mit mir hast du wohl nicht gerechnet«, murmelte sie leise.
Er wiegte den Morgenstern in der Hand. »Benutzt meine Schwester dich jetzt etwa als Botin?«
»Nein, Lilith schickt mich.« Immer noch schaffte sie es kaum, ihm in die Augen zu schauen. »Teil meiner Jobbeschreibung. Wusstest du, dass ich einen Vertrag unterschrieben habe, denn nur sie wieder lösen kann? Für dreihundert Jahre.«
»Wer, glaubst du, hat ihr das beigebracht?« Ein schmales Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. »Deshalb bist du also wieder hier? Weil du deinen Vertrag noch erfüllen musst.«
»Da wird sehr viel Wert drauf gelegt. Anscheinend arbeite ich jetzt halbtags für die Hölle, während ich nebenbei noch im himmlischen Heer aushelfe.« Als sie es zum ersten Mal laut aussprach, konnte sie ihr Lachen nicht mehr zurückhalten.
Irgendwann ebbte ihr Lachanfall wieder ab und sie hatte sich soweit im Griff, um sprechen zu können. »Es tut mir leid, aber das klingt wie ein schlechter Scherz.«
»Es ist nur die Frage, auf wessen Kosten?« Lucifer drehte eine ihrer Federn in seinen Fingern und betrachtete sie von allen Seiten. »Wie ist es, wieder zu fliegen?«
»Unbeschreiblich, besser noch als in meinen kühnsten Träumen«, hauchte sie atemlos.
»Kann ich sie sehen?«
Mit einem leisen Rascheln öffnete sie die Flügel hinter sich, lange Schatten wurden auf den Boden vor ihr geworfen. Mit ehrfürchtiger Miene trat Lucifer näher an sie heran und strich mit den Fingerspitzen über die weichen Federn. Sofort lief ein Schauder über ihren Körper.
»Sie sind wunderschön«, hauchte der Höllenfürst und blickte ihr dabei tief in die Augen.
»Ein ganz schöner Unterschied zu früher«, murmelte sie leise. Vor ihrem Fall waren ihre Flügel von einem klaren kalten Weiß gewesen, genauso wie die aller anderen. Doch jetzt wurde jede einzelne Feder nach unten hin immer dunkler, bis sie ganz schwarz waren. Aber es kam ihr seltsam passend vor.
»Du bist halt nicht mehr dieselbe.« Das Gefühl des Verlustes erfüllte sie, als er seine Hand zurückzog.
»Da hast du allerdings recht.« Leise seufzte sie. »Jetzt war ich genau da, wo ich immer hatte sein wollen, und war trotzdem nicht glücklich.« Schweigend betrachtete er sie. »Vielleicht hattest du recht und mit der Zeit verschwimmen die wahren Erinnerungen an den Himmel«, fuhr sie unbeirrt fort. »Dies war einmal der schönste Ort für mich und nun ist mir einfach nur noch langweilig und ich komme mir so fehl am Platz vor.«
Bedächtig nickte er. »Sechshundertfünfzig Jahre können einen sehr verändern.«
»Nicht meine Zeit bei den Menschen hat mich verändert, sondern du.« Die Wahrheit kam über ihre Lippen, bevor sie es verhindern konnte.
»Ist das so?« Etwas überrascht hob er eine Augenbraue.
»Ja. Vor dir habe ich die Welt schwarz und weiß gesehen, so, wie es mir beigebracht worden war. Doch jetzt muss ich mich der Wahrheit stellen, dass alles eher grau ist. Sehr viele verschiedene Schattierungen davon. Dazu kommen die ganzen Dinge, die mir verschwiegen wurden. Aber du hast mich niemals angelogen.«
»Auch wenn man es kaum glauben mag, ich lüge niemals. Mit der Wahrheit kann man mitunter mehr Schaden anrichten, als man glaubt.«
Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie darauf sagen sollte. Ihr Blick wanderte über den Balkon zu der Stadt, über die sich ein pinker Himmel spannte. »Ich bin auf jeden Fall froh, dass ich noch mehr Zeit hier unten verbringen darf.«
»Lilith wird schon etwas finden, womit sie dich beschäftigen kann«, kommentierte er leise.
»Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt, dass du damals mit mir gekommen bist. Ohne deine Großmut wäre ich jetzt nicht mehr«, wisperte sie.
»Das war keine Großmut, ich habe nur die Chance gesehen, meine Geschwister in einer prekären Lage zu erwischen. Außerdem hätte ich nicht mit dem Gedanken leben können, dass dir etwas geschieht.«
Amicia stützte sich mit den Unterarmen auf der Balkonumrandung ab. »Die Menschen sprechen oft von Liebe, aber bisher habe ich dieses Wort nicht ganz verstanden. In den letzten Monaten haben ich sie endlich einmal selbst erlebt. Liebe für Lilith und Jakob, die mich aufgenommen haben. Liebe für Michaela und die anderen Engel. Liebe für die Menschen, die einfach ihr Leben. Und Liebe für dich. Weil du das erste Wesen bist, bei dem ich mich zu Hause fühle.«
»Ein starkes Wort, welches du da benutzt«, murmelte er leise.
»Ich stehe dazu.« Ein erleichterter Seufzer entfuhr ihr. »Das hatte ich dir schon in der Nacht sagen wollen, in der ich abgehauen bin. Unbeschreiblicherweise habe ich mich in dich verliebt.«
Sie erwartete keine Antwort von ihm und war mehr als nur bereit, einfach wieder zu gehen. Die Worte, die ihr so lange auf der Seele gebrannt hatten, waren endlich gesprochen worden und sie war befreit. Nicht von ihren Gefühlen, aber von der Verdrängung.
»Es ist lange her, dass ich etwas oder jemanden geliebt habe«, sprach er auf einmal, als sie bereit war zu gehen. »Liebe macht einen schwach, angreifbar. Jemanden zu lieben ist in meiner Position das Dümmste, was man tun kann. Aber du bist meine Schwäche, Geliebte, ob ich mir das nun eingestehe oder nicht.«
Einige Herzschläge lang konnte sie nichts anderes tun, als ihn anzublicken. Dann verschwamm ihre Sicht, als ihr die Tränen in die Augen schossen. »Wer hat schon mit diesem Ende gerechnet?«
Kurz wanderte sein Blick gen Himmel, dann trat er auf sie zu und schlang die Arme um ihre Hüften. »Doch was bringt uns die Liebe, wenn wir im wahrsten Sinne des Wortes in zwei Welten leben? Der Höllenfürst und ein rehabilitierter Engel, das wird nicht einfach werden.«
»Einfach war bisher nichts, aber wir haben es trotzdem geschafft. Außerdem haben wir dreihundert Jahre Zeit, um alles herauszufinden. Und wer kann schon sagen, was dann sein wird?« In diesem Moment hätte Amicia es mit dem himmlischen Heer und der ganzen verdammten Dämonenarmee aufgenommen, nur um weiter bei ihm bleiben zu können.
»Dreihundert Jahre klingt nach einem sehr guten Anfang«, brummte er mit einem zufriedenen Lächeln.
Mit einem Ruck zog er sie noch näher zu sich heran und küsste sie mit solcher Inbrunst und Liebe, dass ihr ganz schwindelig wurde vor Glück.
Eine sanfte Brise erfasste die kleinen Federn auf dem Balkon und trug sie über die Stadt hinaus, in der Amicia ihr Zuhause und ihre Liebe gefunden hatte.
ENDE