KAPITEL 1

image

Der Aufstieg

image

image

Der Aufstieg

Musik […] ist der Wein der neuen Schöpfung und ich bin Bacchus, der diesen herrlichen Wein für die Menschen aus der Rebe preßt und sie mit dem Geist desselben trunken macht.

LUDWIG VAN BEETHOVEN

Aller Wahrscheinlichkeit nach war der stämmige, dunkle, strubblige kleine Mann, der diese Feststellung äußerte, der erste bedeutende Komponist, der von der Identität eines Gottes ausging – wenn auch des Weingottes. Aber Bescheidenheit war seine Sache nicht. Er war möglicherweise auch der erste Komponist, der wiederholt und bewusst für die Nachwelt schrieb. Warum auch nicht? Er war in guter Gesellschaft. Bei einer anderen Gelegenheit schrieb er:

Ich weiß aber wohl daß Gott mir näher ist wie den andern in meiner Kunst, ich gehe ohne Furcht mit ihm um, ich hab ihn jedesmal erkannt und verstanden, mir ist auch gar nicht bange um meine Musik, die kann kein bös Schicksal haben, wem sie sich verständlich macht, der muß frei werden von all dem Elend, womit sich die andern schleppen.

image

Beethovens Geburtshaus in Bonn

Dies war eine deutliche Behauptung. Obwohl es so scheint, war Beethoven aber nicht arrogant. Er sprach über seine eigene Erfahrung, als Lebenskünstler und als Mann, der den Unterschied zwischen wahrer Freude und bloßem Vergnügen kannte. Auf die eine oder andere Weise verkünden viele seiner Werke diese Freude; doch vieles war das Produkt unermesslichen Leidens. Grob vereinfacht kann sein Leben als heldenhafter Kampf gegen das Elend gesehen werden, in dem der Trotz der Unterwerfung wich und letztlich einer transzendenten Sicht, die eine solche Auffassung beinahe gegenstandslos macht. In seiner Musik kommen wir der Lösung des alten Paradoxons, in dem eine unaufhaltsame Gewalt auf einen unbeweglichen Gegenstand trifft, so nahe, wie es nur geht. Über eindreiviertel Jahrhunderte nach seinem Tod bleibt Beethoven der gigantischste Kämpfer der Musikgeschichte.

Er wurde 1769, 1770 und 1772 in der kleinen deutschen Stadt Bonn im Rheinland geboren (es war ein Merkmal seiner Einzigartigkeit, dass er nicht ein-, sondern dreimal geboren wurde). Der erste Ludwig wurde tatsächlich 1769 geboren, starb aber wie so viele Kinder in dieser Zeit schon nach wenigen Wochen. Der zweite folgte ungefähr 20 Monate später, wahrscheinlich am 16. Dezember 1770 geboren und mit Bestimmtheit am nächsten Tag getauft; der dritte existierte nie wirklich außer in der lebenslangen Verwechslung des zweiten Ludwigs. In vorgerücktem Alter schrieb er an einen alten Freund:

Du wirst mir eine freundschaftliche Bitte nicht abschlagen, wenn ich Dich ersuche, mir meinen Taufschein zu besorgen. […] Solltest Du auch selbst es der Mühe wert halten, der Sache nachzuforschen und es Dir gefallen, die Reise von Koblenz nach Bonn zu machen, so rechne mir nur alles an. Etwas ist unterdessen in acht zu nehmen, nämlich daß noch ein Bruder früherer Geburt vor mir war, der ebenfalls Ludwig hieß (nur mit dem Zusatze Maria), aber gestorben ist. Um mein gewisses Alter zu bestimmen, muß man also diesen erst finden, da ich ohnedem schon weiß, daß durch andre hierin ein Irrtum entstanden, da man mich älter angegeben, als ich war. Leider habe ich eine Zeitlang gelebt, ohne selbst zu wissen, wie alt ich bin. Ein Familienbuch hatte ich, aber es hat sich verloren, der Himmel weiß wie. Also, laß Dichs nicht verdrießen, wenn ich Dir diese Sache sehr warm empfehle, den Ludwig Maria und den jetzigen, nach ihm gekommenen Ludwig ausfindig zu machen. Je bälder Du mir den Taufschein schickst, desto größer meine Verbindlichkeit.

Es war weder das erste noch das letzte Mal, dass er diesen Gefallen von einem Freund erbat; und jedes Mal focht er die Richtigkeit des Beweises energisch an, wenn er erbracht wurde. Wenn Beethoven selbst Schwierigkeiten mit seinem Alter hatte, hatten andere, auch Personen, die ihn kannten, Probleme mit seinen Namen – dem ersten, letzten und mittleren. Er war wahlweise bekannt als Ludwig, Louis, Luis und Luigi und nahm so vier Nationalitäten an, während sein Familienname von Zeit zu Zeit als Betthoven, Bethofen oder sogar Bephoven erscheint und „van“ oft durch „ von“ ersetzt wird („van“ ist niederländischen Ursprungs und bietet nicht das aristokratische Gewicht des deutschen „von“). Es gab sogar einen vierten Ludwig van Beethoven, den Großvater des Komponisten – ein sehr geschätzter Kapellmeister, der vielfach als Vorbild des jungen Beethoven diente, wie es der Vater ausdrücklich nicht war.

Johann Beethoven, ein trinkfreudiger Hofmusiker (er war Tenor und unterrichtete Gesang und Klavier), sah in seinem offensichtlich talentierten Sohn die Chance auf weltliche Erlösung für sich selbst und machte sich rücksichtslos an den Versuch, einen zweiten Mozart hervorzubringen. Von Anfang an musste Beethoven einen hohen Preis für die Ambitionen seines Vaters zahlen. Mehr als ein Besucher sah den kleinen Jungen weinen, als er übte. Wiederholt wurde er in den Keller gesperrt und/oder auf Nahrungsentzug gesetzt. Wenn der betrunkene Johann nach Mitternacht aus der Kneipe kam, schüttelte er oft den schlafenden Jungen wach und zwang ihn ans Klavier, wo er bis zum Morgengrauen üben sollte. Das ist zumindest, was in seriösen Biografien aus fast zwei Jahrhunderten erzählt wurde. Vieles davon mag wahr sein; es ist jedoch Tatsache, dass es keine verlässlichen schriftlichen Quellen zur Bestätigung gibt. Als Lehrer und Ratgeber war Johann kein Leopold Mozart, und Beethoven, obwohl auffallend begabt, kein Wolfgang Amadeus – er wurde aber ein für sein Alter hervorragender Pianist sowie ein achtbarer Violinist.

Als Ludwig acht Jahre alt war (aber angekündigt als sechs), richtete sein Vater ein Konzert in Köln ein, um seinen Sohn und eine andere Schülerin, die Altistin Johanna Averdonk zu präsentieren. Es war ein Reinfall, von dem nicht ein Bericht, ob privat oder öffentlich, überlebt hat. Welche Strafe den Sohn auch getroffen hat (das ist ebenfalls nicht überliefert), das offensichtliche Scheitern des Konzerts war ein Armutszeugnis für die Lehrtätigkeit des Vaters, die tatsächlich auf Instrumentalunterricht beschränkt war. Jedes Anzeichen des frühen Antriebs des Jungen zu komponieren, ab seinen frühesten Improvisationen, traf auf wütende Schelte oder sogar Bestrafung des Ungehorsams. Sogar in seiner Kindheit waren Beethovens Starrköpfigkeit und Widerstand tief verwurzelt, die in seiner Reifezeit deutlich wurden. Im Laufe der folgenden fünf Jahre bekam er Unterricht in Cembalo, Pianoforte, Violine, Bratsche, Orgel und Horn durch eine bunte Sammlung ortsansässiger Lehrer. Erst 1781 erhielt er durchgehenden systematischen Kompositionsunterricht, und zwar von Christian Gottlob Neefe, einen relativ neuen Ankömmling in Bonns Musikbetrieb, der auch Beethovens alleiniger Klavierlehrer wurde.

Die erste öffentliche Beachtung des Talents und der Leistungen des Jungen erfolgte zwei Jahre später in einem Brief an Cramers Magazin der Musik:

Louis van Betthoven [sic], Sohn des obenangeführten Tenoristen, ein Knabe von 11 Jahren, und von vielversprechendem Talent. Er spielt sehr fertig und mit Kraft das Clavier, ließt sehr gut vom Blatt, und um alles in einem zu sagen: Er spielt größtentheils das wohltemperirte Clavier von Sebastian Bach, welches ihm Herr Neefe unter die Hände gegeben. Wer diese Sammlung von Präludien und Fugen durch alle Töne kennt, (welche man fast das non plus ultra nennen könnte,) wird wissen, was das bedeute. Herr Neefe hat ihm auch, sofern es seine übrigen Geschäfte erlaubten, einige Anleitung zum Generalbaß gegeben. Jetzt übt er ihn in der Composition, und zu seiner Ermunterung hat er 9 Variationen von ihm fürs Clavier über einen Marsch in Mannheim stechen lassen. Dieses junge Genie verdiente Unterstützung, daß er reisen könnte. Er würde gewiß ein zweyter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen.

Wir finden abermals den Vergleich mit Mozart sowie den (sicher unbeabsichtigten) Fehler in der Angabe von Beethovens Alter. Wie sich herausstellte, war Neefe selbst der Autor des Briefes.

In einem Punkt stimmten alle Lehrer Beethovens überein: Er war kein einfacher Schüler. Bereits in seiner Kindheit war seine Haltung gegenüber der Tradition etwas völlig Neues in der Musik, und sie sollte später der Geschichte eine neue Richtung geben. Mit aller Rücksichtslosigkeit eines Genies nahm er vom Erbe seiner Vorgänger nur, was ihm im Hinblick auf sein eigenes inneres Erleben sinnvoll erschien. Den Rest verwarf er. Indem er ihm das Wohltemperierte Klavier gab, hat Neefe möglicherweise mehr für Beethovens zukünftige Entwicklung getan als alle seine anderen Lehrer zusammen. Interessanterweise entdeckten Haydn und Mozart in Wien Bach zur gleichen Zeit, dank des gelehrten Barons van Swieten (der der Widmungsträger von Beethovens erster Sinfonie werden sollte). Das Wohltemperierte Klavier blieb, wie viele der Bach’schen Werke, erstaunlicherweise rund 40 Jahre lang nach seiner Vollendung unveröffentlicht und kursierte nur in Abschriften.

Außer einem kurzen Besuch in Holland anlässlich des Todes eines Verwandten blieb Neefes Empfehlung zu reisen für vier weitere Jahre unbeachtet. In der Zwischenzeit machte Beethoven schnell Fortschritte. Innerhalb eines Jahres war er ein bewährter Vertreter Neefes als Hoforganist und wurde als stellvertretender Cembalist in das Hoforchester des Kurfürsten aufgenommen. 1784, mit nicht einmal 14 Jahren, wurde er zum zweiten Organisten ernannt. Als Beethoven 16 wurde, war der Kurfürst von seinen Fähigkeiten so beeindruckt, dass er eine Reise nach Wien finanziell unterstützte, damit er bei Mozart studierte (der zu diesem Zeitpunkt 31 Jahre alt war und in die Komposition von Don Giovanni vertieft war). Als Mozart ihn das erste Mal hörte, reagierte er angeblich kühl. Beethoven, davon unbeeindruckt, bat Mozart, ihm ein Thema zu geben, über das er improvisieren könne. Mozart kam der Bitte nach, und Beethoven tat, was er am besten konnte. Mozarts Aufmerksamkeit war sogleich gefesselt. Er hörte mit wachsendem Erstaunen zu und schlich zur Türschwelle eines angrenzenden Raumes, wo einige Freunde saßen. „Auf den gebt Acht“, flüsterte er, „der wird einmal in der Welt noch von sich reden machen.“ So lautet die oft erzählte Anekdote, obwohl es keine Augenzeugenberichte gibt, die dies untermauern. Auch wenn es sie gäbe, sind solche Berichte nicht verlässlicher als Anekdoten. Von seinem Freund und Schüler Ferdinand Ries hören wir beispielsweise, dass Beethoven es sehr bedauerte, Mozart nie spielen gehört zu haben. Von seinem Freund und Schüler Czerny erfahren wir andererseits, dass er Mozart öfter gehört habe.

image

Beethoven spielt 1787 im Hause Mozarts

Hätte es Beethovens erhoffte Unterrichtsstunden mit Mozart gegeben, wüssten wir zweifellos mehr darüber. So aber erfuhr Beethoven, binnen zweier Wochen nach seiner Ankunft in Wien, dass seine Mutter ernsthaft erkrankt war. Sie lebte noch drei Monate, bevor sie im Alter von 40 Jahren der Tuberkulose erlag. Da sein Vater immer tiefer in den Alkoholismus versank, übernahm Beethoven mit 16 Jahren die volle Verantwortung für die Familie: seinen Vater, zwei jüngere Brüder namens Carl und Johann und eine neugeborene Schwester, die noch vor Ablauf des Jahres starb. Am 15. September 1787 schrieb er an Josef Schaden, mit dem er kürzlich Bekanntschaft gemacht hatte:

hochedelgebohrner

insonders werther freund! was sie von mir denken, kann ich leicht schließen; daß sie gegründete ursachen haben, nicht vortheilhaft von mir zu denken, kann ich ihnen nicht widersprechen; doch ich will mich nicht eher entschuldigen, bis ich die ursachen angezeigt habe wodurch ich hoffen darf, daß meine entschuldigungen angenommen werden. ich muß ihnen bekennen: daß, seitdem ich von augspurg hinweg bin, meine freude und mit ihr meine gesundheit begann aufzu hören; je näher ich meiner vaterstadt kam, je mehr briefe erhielte ich von meinem vater, geschwinder zu reisen als gewöhnlich, da meine mutter nicht in günstigen gesundheitsumständen wär; ich eilte also, so sehr ich vermochte, da ich doch selbst unpäßlich wurde; das verlangen meine kranke mutter noch einmal sehen zu können, sezte alle hinderniße bej mir hinweg, und half mir die gröste beschwerniße überwinden. ich traf meine mutter noch an, aber in den elendesten gesundheitsumständen; sie hatte die schwindsucht und starb endlich ungefähr vor sieben wochen, nach vielen überstandenen schmerzen und leiden. sie war mir eine so gute liebenswürdige mutter, meine beste freundin; o! wer war glücklicher als ich, da ich noch den süßen namen mutter aussprechen konnte, und er wurde gehört, und wem kann ich ihn jetzt sagen; den stummen ihr ähnlichen bildern, die mir meine einbildungskraft zusammensezt? So lange ich hier bin, habe ich noch wenige vergnügte stunden genoßen; die ganze zeit hindurch bin ich mit der engbrüstigkeit behaftet gewesen, und ich muß fürchten, daß gar eine schwindsucht daraus entstehet; dazu kömmt noch melankolie, welche für mich ein fast eben so großes übel, als meine krankheit selbst ist. denken sie sich jetzt in meine lage, und ich hoffe vergebung, für mein langes stillschweigen, von ihnen zu erhalten. die außerordentliche güte und freundschaft, die sie hatten mir in augspurg drey k(a)r(o)lin zu leihen, muß ich sie bitten noch einige nachsicht mit mir zu haben; meine reise hat mich viel gekostet, und ich habe hier keinen ersaz auch den geringsten zu hoffen; das schicksaal hier in bonn ist mir nicht günstig.

sie werden verzeihen, daß ich sie so lange mit meinem geplauder aufgehalten, alles war nöthig zu meiner entschuldigung. ich bitte sie mir ihre verehrungswürdige freundschaft weiter nicht zu versagen, der ich nichts so sehr wünsche, als mich ihrer freundschaft nur in etwas würdig zu machen. ich bin mit aller hochachtung

ihr gehorsamster diener und freund

l. v. beethowen.

kurf-kölnischer hoforganist.

Frau van Beethoven war eine allseits anerkannte Frau. Sie war ein Ausbund an leidgeprüfter Tugendhaftigkeit, aber Herzlichkeit war nicht ihre Art. Wenige konnten behaupten, sie je lachen gesehen zu haben; und sie überschüttete ihren ältesten Sohn nicht mit offenkundiger Zuneigung. Doch war es ihr Einfluss, auf den er (indirekt) den Moralkodex zurückführte, den herauszustellen er sein Leben lang bemüht war und dessen Entstehung in seiner Kindheit er stets anführte, nämlich dass es seit seiner Kindheit sein größtes Glück gewesen sei, etwas für andere zu tun; seit der Kindheit ist sein Eifer, der armen, leidenden Menschheit zu dienen, keinen Kompromiss mit niedrigeren Motiven eingegangen; niemals fände man ihn unehrenhaft etc.

Wie er dies damit vereinbarte, dass er die Missa solemnis an mehrere Verleger gleichzeitig verkaufte, ist eine Sache, über die er kein Wort verlor. Aber das ist zu weit vorgegriffen.

Nach einer Zeit voller Armut, Krankheit und Anfällen von Depression begann Beethoven ernsthaft, seine Stärken zu entdecken. Er schloss neue Freundschaften – darunter der erste in einer langen Reihe einflussreicher Adliger, Graf Waldstein – und etablierte sich als konkurrenzloser Klavier-Virtuose. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich Neuigkeiten von seinem Können bis weit über die Grenzen Bonns und Umgebung hinaus verbreiteten. Carl Ludwig Junker, der ihn in Mergentheim während eines Besuchs des kurfürstlichen Hoforchesters hörte, lobte seine Tugenden in einem Brief an die Musikalische Correspondenz in den höchsten Tönen:

Noch hörte ich einen der größten Spieler auf dem Klavier, den lieben guten Bethofen; von welchem in der speierischen Blumenlese vom Jahr 1783 Sachen erschienen, die er schon im 11. Jahr gesetzt hat. Zwar ließ er sich nicht im öffentlichen Konzert hören; weil vielleicht das Instrument seinen Wünschen nicht entsprach […]. Indessen, was mir unendlich lieber war, hörte ich ihn phantasiren, ja ich wurde sogar selbst aufgefordert, ihm ein Thema zu Veränderungen aufzugeben. Man kann die Virtuosengröße dieses lieben, leisegestimmten Mannes, wie ich glaube, sicher berechnen, nach dem beinahe unerschöpflichen Reichthum seiner Ideen, nach der ganz eigenen Manier des Ausdrucks seines Spiels, und nach der Fertigkeit, mit welcher er spielt. Ich wüßte also nicht, was ihm zur Größe des Künstlers noch fehlen sollte. Ich habe Voglern auf dem Fortepiano […] oft gehört […] und immer seine außerordentliche Fertigkeit bewundert, aber Bethofen ist ausser der Fertigkeit sprechender, bedeutender, ausdrucksvoller, kurz, mehr für das Herz: also ein so guter Adagio- als Allegrospieler. Selbst die sämmtlichen vortrefflichen Spieler dieser Kapelle sind seine Bewunderer, und ganz Ohr, wenn er spielt. Nur er ist der Bescheidene, ohne alle Ansprüche. Indes gestand er doch, daß er auf seinen Reisen, die ihn sein Kurfürst machen ließ, bei den bekanntesten guten Klavierspielern selten das gefunden habe, was er zu erwarten sich berechtigt geglaubt hätte: Sein Spiel unterscheidet sich auch so sehr von der gewöhnlichen Art das Klavier zu behandeln, daß es scheint, als habe er sich einen ganz eigenen Weg bahnen wollen, um zu dem Ziel der Vollendung zu kommen, an welchem er jetzt steht.

Dieser „liebe, leisegestimmte Mann“, „der Bescheidene“, war nicht ganz 22 Jahre alt. Fast genau ein Jahr später verließ er Bonn, um sich dauerhaft in Wien niederzulassen. Junkers rosarote Beschreibung sollte bald überholt sein.

Ein Pianist ohne Rivalen in Bonn zu sein, war eine Sache; ein solcher in Wien zu sein, eine ganz andere. Als Beethoven dort in der zweiten Novemberwoche 1792 ankam, beherbergte die Stadt mehr als 300 Berufspianisten und mehr als 6000 Klavierschüler. Beethoven war entschlossen, sie alle zu besiegen, und verhehlte diese Tatsache nicht. Er hatte einen großen Wetteifer und nahm an einer Reihe Klavierduelle teil, oder fädelte diese teilweise sogar ein, in denen er die Wiener Pianisten von ihren Hochsitzen stürzte, einen nach dem anderen. Unter diesen befand sich Josef Gelinek, der kaum wusste, wie ihm geschah:

In dem jungen Menschen steckt der Satan. Nie habe ich so spielen gehört! Er fantasiert auf ein von mir gegebenes Thema, wie ich selbst Mozart nie fantasieren gehört habe. Dann spielte er eigene Compositionen, die im höchsten Grade wunderbar und großartig sind, und er bringt auf dem Clavier Schwierigkeiten und Effekte hervor, von denen wir uns nie haben etwas träumen lassen.

Ein anderer Virtuose, Daniel Steibelt, war so gedemütigt von der pianistischen Tracht Prügel durch Beethovens Hände, dass er aus dem Raum flüchtete, bevor Beethoven geendet hatte, und anschließend jede Zusammenkunft ablehnte, bei der Beethoven ebenfalls zugegen sein könnte.

Wie von Junker festgehalten, war Beethovens Spiel etwas Neues; und es entfachte eine neue Form der Kritik, eine neue Art der Erfahrung für den Zuhörer. Sogar Mozart, der weniger als ein Jahr vor Beethovens Ankunft in Wien gestorben war, hätte nie zu folgender Prosa veranlasst:

[…] schwelgte er einmal im unermeßlichen Tonreich, dann war er auch entrissen dem Irrdischen; der Geist hatte zersprengt alle beengenden Fesseln, abgeschüttelt das Joch der Knechtschaft, und flog siegreich jubelnd empor in lichte Ätherräume; jetzt brauste sein Spiel dahin gleich einem wild schäumenden Cataracte, und der Beschwörer zwang das Instrument mitunter zu einer Kraftäußerung, welcher kaum der stärkste Bau zu gehorchen im Stande war; nun sank er zurück, abgespannt, leise Klagen aushauchend, in Wehmuth zerfließend; – wieder erhob sich die Scala, triumphirend über vorübergehendes Erdenleiden, wendete sich nach oben in andachtsvollen Klängen, und fand beruhigenden Trost am unschuldsvollen Busen der heiligen Natur. – Doch, wer vermag zu ergründen des Meeres Tiefe? Es war die geheimnisreiche Sanscrittsprache, deren Hieroglyphen nur der Eingeweihte zu lösen ermächtigt ist!

So schrieb der Komponist Ignaz von Seyfried über Beethovens „Duell“ mit seinem engsten Konkurrenten, dem hochgeschätzten Joseph Wölfl.

Ein Brief an die Allgemeine musikalische Zeitung eines anderen Augenzeugen liefert einen leidenschaftsloseren Bericht, der das Bild vervollständigt:

Ich will mich bemühen, Ihnen das Eigene Beyder anzugeben, ohne an jenem Vorrangsstreite Theil zu nehmen. Beethovens Spiel ist äußerst brillant, doch weniger delikat, und schlägt zuweilen in das Undeutliche über. Er zeigt sich am allervortheilhaftesten in der freyen Phantasie. Und hier ist es wirklich ganz außerordentlich, mit welcher Leichtigkeit und zugleich Festigkeit in der Ideenfolge B. auf der Stelle jedes ihm gegebene Thema, nicht etwa nur in den Figuren variirt (womit mancher Virtuos Glück und – Wind macht) sondern wirklich ausführt. Seit Mozarts Tode, der mir hier noch immer das non plus ultra bleibt, habe ich diese Art Genusses nirgends in dem Maaße gefunden, in welchem sie mir bey B. zu Theil ward.

Nach einer in hohem Maße respektvollen Diskussion von Wölfls Spiel bemerkt er, dass „Wölfl durch sein anspruchsloses, gefälliges Betragen über Beethovens etwas hohen Ton noch ein besonderes Übergewicht erhält“.

Carl Czerny, später Beethovens Schüler und ein großer Kenner des Klavierspiels, war vom Gegensatz zwischen Beethovens und Mozarts Spiel sehr beeindruckt:

Mozart’s Schule: Ein klares, schon bedeutend brillantes Spiel, mehr auf das Staccato als auf das Legato berechnet; geistreicher und lebhafter Vortrag. Das Pedal selten benützt und niemals nothwendig.

Beethoven’s Manier: Charakteristische und leidenschaftliche Kraft, abwechselnd mit allen Reizen des gebundenen Cantabile ist hier vorherrschend. […]

[Er] entlockte dem Fortepiano durch ganz neue kühne Passagen, durch den Gebrauch des Pedals, durch ein ausserordentlich charakteristisches Spiel, welches sich besonders im strengen Legato der Accorde auszeichnete, und daher eine neue Art von Gesang bildete, – viele bis dahin nicht geahneten Effekte. Sein Spiel […] war […] geistreich, grossartig, und besonders im Adagio höchst gefühlvoll und romantisch. Sein Vortrag war, so wie seine Compositionen, ein Tongemälde höherer Art, nur für die Gesammtwirkung berechnet.

Wie so oft war das Ergebnis emotionaler Sprengstoff. Dies traf besonders zu, wenn Beethoven improvisierte:

Seine Improvisation war höchst glanzvoll und packend: gleichgültig in welcher Gesellschaft er sich gerade befand, verstand er es, eine solche Wirkung auf jeden Hörer hervorzubringen, daß häufig genug kein Auge trocken blieb, manch einer aber in lautes Schluchzen ausbrach. So etwas Wunderbares war in seinem Ausdruck, abgesehen von der Schönheit und Originalität seiner Ideen und seines feurigen Stils, sie wiederzugeben. Wenn er eine Improvisation dieser Art beendet hatte, brach er meist in ein lautes Gelächter aus und machte sich über die Gemütbewegung der Hörer lustig, die er ihnen verursacht hatte.

Zu keiner Zeit seines Lebens war Beethoven ein einfacher Zeitgenosse. Er war sicherlich kein Diplomat. Und in seiner Leidenschaft und Überschwänglichkeit konnte er gegenüber den Klavieren so unbedacht sein wie zu seinen Freunden. Einer von diesen war der Komponist Antonín Reicha. Er sollte Beethoven umblättern, war aber damit beschäftigt, an den Klaviersaiten zu ziehen, die rissen, während die Hämmer zwischen den kaputten Saiten steckten. Beethoven bestand darauf, bis zum Ende weiter zu spielen, und so sprang Reicha vor und zurück, befreite einen Hammer da, wendete dort eine Seite um … Er hatte mehr zu tun als Beethoven!

image

Beethovens Broadwood-Flügel

Sogar in seiner Jugendzeit war Beethoven viel mehr als nur Pianist und Klavier-Komponist. Er hatte zwei imposante Kantaten geschrieben und viel Kammermusik, in der dem Klavier keine Rolle zufällt. 1795 – Beethoven war nun 24 – wurde er beauftragt, die Tänze für den jährlichen Wohltätigkeitsball im berühmten Redoutensaal zu komponieren. Damals wie heute überrascht die Tatsache, dass es für ihn weitaus einfacher war, solche Musik zu schreiben, als selber zu ihr zu tanzen. Auf der Tanzfläche machte er keine gute Figur.

Wie in keiner anderen Stadt der Welt wurde in Wien in jenen Tagen fast wie besessen getanzt. Der Tanz war in der Tat eines der Dinge, die den Ruf der Stadt als Festung der (nicht immer) vornehmen Frivolität begründeten. Ball- und Tanzsäle waren fast so gegenwärtig wie die zahlreichen Kaffeehäuser, Schenken und Bierhallen. Sie wurden von Angehörigen aller Schichten frequentiert, die oft maskiert waren, um ihre Identität zu verbergen, da, wie ein rechtschaffener Historiker verkündete, viele solcher Etablissements, ungeachtet ihres schicklichen Äußeren, Institutionen für anrüchige Zwecke schlechthin waren. Prostitution war auf jeder Ebene weit verbreitet, was der junge Beethoven missbilligte. Vergnügungen auf den Straßen und in den Theatern wurden von Gauklern, Puppenspielern, Seiltänzern, Akrobaten und dergleichen dominiert. Der vorherrschende Geschmack galt mehr dem Trivialen als dem Gehaltvollen, Eskapismus statt Philosophie, Pläsier statt Erziehung. Gab es aber Wirklichkeitsflucht, gab es auch viel, vor dem man entfliehen musste. Unter der Oberfläche der Ausgelassenheit lag die Arbeit eines unbarmherzigen Polizeistaats. Dissidenten wurden gemeinhin verhaftet, verprügelt und eingesperrt, während Hunderte Spione der Regierung fast jede Ebene der Gesellschaft infiltriert hatten.

Beethoven hatte wenige Illusionen über die Gesellschaft, in die er eingetreten war. Im Sommer 1794 schrieb er an einen Freund in Bonn:

Hier ist es sehr heiß; die Wiener sind bange, sie werden bald kein Gefrorenes mehr haben können: da der Winter so wenig kalt war, so ist das Eis rar. Hier hat man verschiedene Leute von Bedeutung eingezogen; man sagt es hätte eine Revolution ausbrechen sollen – aber ich glaube, solange der Österreicher noch brauns Bier und Würstel hat, revoltiert er nicht. Es heißt, die Tore zu den Vorstädten sollen nachts um zehn Uhr gesperrt werden. Die Soldaten haben scharf geladen. Man darf nicht laut sprechen hier, sonst gibt die Polizei einem Quartier.

Zu gegebener Zeit würde Beethoven selbst seine Stimme erheben, aber für den Moment schwieg er. Er hatte keine Angst und war im Ganzen zufrieden mit seiner Situation. Er hatte keinen grundlegenden Streit mit dem Adel, aus dem seine wertvollsten Förderer stammten, sowohl gegenwärtig als auch zukünftig; und er schätzte das Zugehörigkeitsgefühl mindestens ebenso hoch wie seine Karriere. In vielerlei Hinsicht gaben ihm die vornehmen und aristokratischen Familien, die ihn willkommen hießen, ein Gefühl von Behaglichkeit, Sicherheit und Wertschätzung, die er in seiner eigenen Familie selten erfahren hatte. Es gab auch ein merkwürdiges, unausgesprochenes Bündnis zwischen den repressiven Behörden und der breiteren Kulturlandschaft. Wie in vielen despotischen Regierungen schätzte die Polizei die beruhigende Wirkung, die die Künste haben konnten, vor allem die Theater. So unwahrscheinlich es sein mag, war es die Polizei, die die Schließung eines der Haupttheater Wiens verhinderte. Aus ihrem offiziellen Memorandum: „Das Volk ist an die Schaubühne gewöhnt. Das Theater an der Wien besonders ist die Lieblingsunterhaltung der höheren und der mittleren Stände. Selbst die niederen Stände nehmen Anteil. In Zeiten wie die gegenwärtige, wo so mannigfaltige Leiden den Charakter der Menschen verstimmen, muß die Polizei mehr als jemals zur Zerstreuung der Staatsbürger auf jedem sittlichen Wege mitwirken. Die gefährlichsten Stunden des Tages sind die Abendstunden. Unschädlicher werden sie nicht ausgefüllt als im Theater“ – es sei denn zuhause, beim Musizieren mit Freunden. Hierzu lieferte Beethoven, sogar mehr als im Ballsaal, bereitwillig die erforderlichen Mittel. Einiges seiner Kammermusik, die er für Blasinstrumente sowie für Bläser und Streicher gemeinsam schrieb, ist weitaus interessanter und fesselnder als seine Tanzmusik. Auch dies war Unterhaltung; aber hier gab es echte musikalische Konversation, in der musikalische Ideen begonnen, ausgetauscht und entwickelt wurden, alles mit einer meisterhaften Verteilung der instrumentalen Klangfarbe.

Beethoven erlebte den Großteil seines frühen Wiener Lebens als eine Art Befreiung. Während er in Bonn als inoffizielles Familienoberhaupt sein eigenes Leben verschiedentlich den Bedürfnissen anderer unterordnen musste, konnte er in Wien eine Art aufgeklärter Egozentrik genießen. Nun konnte er sich selbst an erste Stelle setzen; und seine Hauptaufgabe bestand in der Erfüllung dessen, was er zunehmend als sein Schicksal akzeptierte. Hilfreich war natürlich, dass er trotz seines etwas rauen Äußeren und seines provinziellen Benehmens schnell der Liebling der Aristokratie geworden war – der Machtausüber. Er war tatsächlich in aller Munde, zunächst als Pianist, dann immer häufiger als Komponist. Aber er war sich wohl bewusst, dass all dies ihn als Künstler korrumpieren könnte. In seinem Tagebuch ermahnte er sich selbst, sich nicht von der „göttlichen Kunst“, wie er sie jetzt nannte, ablenken zu lassen:

Muth. Auch bei allen Schwächen des Körpers soll doch mein Geist herrschen. […] Dieses Jahr muß den völligen Mann entscheiden. – Nichts muß übrig bleiben.

Das hieß auch, zuzugeben, zumindest theoretisch, dass es trotz seines Genies, wie er frei eingesteht, auch Aspekte seiner Kunst gab, die er noch erlernen musste. In der frühesten Phase seiner Wiener Zeit scheint Beethoven praktisch bei jedem Unterricht gehabt zu haben, wenn auch um zu zeigen, wie wenig er ihn brauchte. An einen von ihnen, den geschätzten Pädagogen Johann Georg Albrechtsberger, erinnert man sich heute vor allem wegen seines grandiosen Urteils über Beethovens Zukunft. An einen Kollegen schreibend warnte er: „Gehen Sie mit dem nicht um, der hat nichts gelernt und wird nie etwas ordentliches machen.“ Der namhafteste unter Beethovens Lehrern zu diesem Zeitpunkt war kein anderer als der bedeutendste und berühmteste Komponist der Welt, Joseph Haydn. Beethoven erklärte einst, „nie etwas von ihm gelernt zu haben“. Seine Musik erzählt jedoch eine andere Geschichte.

Vor Gott war Beethoven aufrichtig bescheiden. Tatsächlich war er aufrichtig gegenüber Fehlern in allem, was er tat oder fühlte. Gegenüber der Menschheit mit ihrem Leiden und ihrer Widerstandskraft empfand er eine leidenschaftliche, wenn auch größtenteils symbolische Liebe. Aber für den Menschen allgemein, seit jungen Jahren vertreten von seinem Vater, empfand er im Ganzen Verachtung, die er kaum verbarg. „Hol’ sie der Teufel“, schrieb er einmal, „ich mag nichts von ihrer ganzen Moral wissen, Kraft ist die Moral der Menschen, die sich vor anderen auszeichnen, und sie ist auch die meinige.“ An anderer Stelle bezieht er sich auf Personen, die sich für seine vertrauten Freunde halten: „Ich betrachte [sie] als bloße Instrumente, worauf ich, wenns mir gefällt, spiele; […] ich taxiere sie nur nach dem, was sie mir leisten.“ Doch in seinem schwindelerregenden Aufstieg zu den Gipfeln künstlerischer Macht und gesellschaftlichem Prestige schien er sich an der Gesellschaft seiner Freunde zu erfreuen, so wie sie an seiner. Nach dem, was man hörte, genoss er Unterhaltung und Gelächter, ob in Kneipen oder Schlössern, und er entdeckte, dass er entgegen allen Erwartungen äußerst anziehend auf Frauen wirkte.

Beethovens Charme war jedoch, wie sein Sinn für Etikette, nicht immer sofort augenfällig – wie sich eine befreundete Pianistin der Lichnowsky-Familie, Frau von Bernhard, später erinnerte:

Wenn er in unser Haus kam, steckte er gewöhnlich erst den Kopf durch die Thür und vergewisserte sich, ob nicht Jemand da sei, der ihm missbehagte. Er war klein und unscheinbar, mit einem hässlichen rothen Gesicht voll Pockennarben. Sein Haar war ganz dunkel und hing fast zottig ums Gesicht, sein Anzug war sehr gewöhnlich und nicht entfernt von der Gewähltheit, die in jener Zeit und zumal in unsern Kreisen üblich war. Dabei sprach er sehr im Dialekt und in einer etwas gewöhnlichen Ausdrucksweise, wie denn überhaupt sein Wesen nichts von äusserer Bildung verrieth, vielmehr unmanierlich in Geberden und Benehmen erschien. Er war sehr stolz; ich habe gesehen wie die Mutter der Fürstin Lichnowsky, die alte Gräfin Thun, vor ihm, der in der Sophaecke lehnte, auf den Knieen lag, ihn zu bitten, dass er doch etwas spiele. Beethoven that es aber nicht.

Eine betagte Gräfin auf Knien vor einem ungehobelten Klavierspieler Mitte zwanzig – noch dazu eine Gräfin, die eine Mäzenin von Mozart, Haydn und Gluck war! Ein anderer Adliger, ihr Sohn Fürst Lichnowsky, gab seinem Personal strikte Anweisungen, dass, falls er und Beethoven je zur gleichen Zeit an der Tür seien, man sich zuerst Beethovens annehmen solle.

Beethovens fast gänzliche Billigung durch die Aristokratie Wiens war so neu wie seine Musik. Haydn, nun Anfang sechzig, hatte im Gegensatz erst kürzlich die Dienerlivree abgelegt, die er jahrzehntelang im Dienste der Esterházy-Familie getragen hatte. Dass Beethoven wirklich charmant war und eine angenehme Gesellschaft sein konnte, ist weithin belegt. Wenn es darum ging, die äußeren Zeichen des Adels zu beobachten, zeigte er jedoch, wie wir gesehen haben, eine fast aggressive Geringschätzung. Ferdinand Ries bemerkte:

Etiquette und was dazu gehört, hatte Beethoven nie gekannt und wollte sie auch nie kennen. So brachte er durch sein Betragen die Umgebung des Erzherzogs Rudolph, als Beethoven anfänglich zu diesem kam, gar oft in große Verlegenheit. Man wollte ihn nun mit Gewalt belehren, welche Rücksichten er zu beobachten habe. Dieses war ihm jedoch unerträglich. Er versprach zwar sich zu bessern, aber – dabei blieb’s. […] Der Erzherzog lachte gutmütig über den Vorfall und befahl, man solle Beethoven nur seinen Weg ungestört gehen lassen: er sei nun einmal so.

Von Anfang an bestand Beethoven bei seinen Beziehungen zum Wiener Adel darauf – weniger durch Erklären als durch sein Verhalten –, dass er gleichgestellt behandelt werde. Wie er später einem seiner fürstlichen Gönner gegenüber bemerkte: „Fürst! was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt. Was ich bin, bin ich durch mich. Fürsten gibt es Tausende. Beethoven nur einen.“ Und die Fürsten wussten dies. Fast ab dem Moment seiner Ankunft in Wien wurde er von den Obersten des Landes begeistert angenommen und gefeiert. Sie waren von seinem Adel des Geistes ebenso beeindruckt wie er selbst. Sie weideten sich an seinem Genie und erfreuten sich an seinem überbordenden Selbstvertrauen. In Anbetracht seiner offenbar unbestechlichen Integrität und seiner fast übermenschlichen Fähigkeit, die Gefühle seiner Zuhörer zu manipulieren, müssen sich viele von seinen Aufmerksamkeiten geschmeichelt gefühlt haben. Dies wäre kaum der Fall gewesen, hätte es seinen respektlosen Sinn für Humor nicht gegeben. Sie liebten seine Witze. Sie liebten die Tatsache, dass er von ihrem Rang so völlig unbeeindruckt war. Sie liebten seine Macht. Trotz all seines Mangels an gesellschaftlichen Umgangsformen machte sich seine Gabe zur Freundschaft fast auf allen Ebenen bezahlt. In der Tat scheint der Beethoven dieser frühen Wiener Jahre zum ersten Mal in seinem Leben fast unmäßig glücklich gewesen zu sein.

ZWISCHENSPIEL I

Beethoven und das Klavier

Einleitung

Beethoven formte fast jedes Medium um, mit dem er in Berührung kam, und kleinere Werke gibt es nur wenige. Sogar in seinen frühesten veröffentlichten Werken, die er komponierte, als er sich noch stark mit der Klassik, vertreten durch Mozart und Haydn, identifizierte, erweiterte er sowohl Länge als auch emotionale Bandbreite der überkommenen Formen. Die drei Klaviertrios Op. 1 und die drei Klaviersonaten Op. 2, alle 1794–95 vollendet, sind weitaus länger als die Sonaten und Trios von Mozart und Haydn im Schnitt. Im Ganzen erfordern Beethovens Sonaten einen Grad an Virtuosität, der weit über die schwierigsten haydnschen oder mozartischen Sonaten hinausgeht, ausgenommen Haydns letzte Sonate Nr. 62 Es-Dur. Während die Sinfonien bei Haydn und Mozart im Schnitt gut unter einer halben Stunde dauern, erstrecken sich Beethovens dritte und sechste Sinfonie bis zu knapp 50 Minuten, während die Neunte um die 70 Minuten dauert. Was die Form betrifft, wie so viele andere Dinge, etablierte Beethoven schon früh seine Unabhängigkeit und griff auf die Tradition nur zurück, wo es ihm gefiel. Er verwendet die klassische „Sonatensatzform“ mit noch größerer Freiheit und Eigenart als sein Lehrer Haydn. Die kraftvoll integrierten Einheiten in Beethovens Musik (die Generationen von Musikliebhabern ohne jegliches technisches Verständnis aufgenommen haben) entstammen größtenteils der organischen Beschaffenheit ihrer Entwicklung. Dessen muss man sich beim Hören nicht bewusst sein. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass Beethoven sich dessen selbst nicht bewusst war. Aber der Grad der thematischen Einheit in seinen Werken ist bemerkenswert. Beinahe alle Themen seiner berühmten „Pathétique“-Sonate leiten sich z.B. auf die ein oder andere Weise vom Motiv der ersten vier Noten ab, während das zweite Hauptthema im ersten Satz der „Appassionata“-Sonate im Grunde eine Variante der ersten ist, nur umgekehrt – eine haydnsche Technik, die hier mit beispielloser Ausdruckskraft angewendet wurde.

Nur wenige Komponisten vor Beethoven kommen dem Umfang, der Intensität und dramatischen Gegenüberstellung von Emotionen auch nur nahe, die in all seinen bedeutenden Werken und in vielen seiner unbedeutenderen offenbar sind, und kein Komponist kam an seine Heftigkeit heran. Es ist kaum eine Übertreibung zu behaupten, dass es in Beethovens Musik mehr stechende, peitschende, hämmernde, rhythmisch verzerrende Akzente gibt als in der Musik aller seiner Vorgänger zusammen. Es heißt, Beethovens letzte Tat in dieser Welt war, seine Faust gen Himmel zu schütteln, als er mitten in einem Ungewitter aus dem Koma erwachte. In seiner Musik hatte er fast zeit seines Lebens hin und wieder dasselbe getan. Beethoven war der dramatischste Komponist, der je gelebt hat. Er war zudem der erste, für den die offene Gefühlsäußerung das beständigste Leitprinzip in seiner Musik war. Wo die Auflösung verbundener Gegensätze das oberste (und utopistischste) Prinzip der klassischen Sonate war, ist der Angelpunkt bei Beethoven die Auflösung (oder nicht) eines Konflikts. In seinen größten tragischen Werken, wie der turbulenten „Appassionata“, werden die Spannungen nicht aufgehoben, und Utopia hat keine Chance. In seinen heiteren Spätwerken, wie dem letzten Satz seiner letzten Klaviersonate, werden die Spannungen nicht nur gelöst, sondern ganz ausgelöscht, und wir bleiben in einer Welt transzendenter seelischer Reinheit zurück. Beethovens reife Werke fallen grob in drei Abschnitte, die man gemeinhin frühe (ca. 1790–1803), mittlere (ca. 1803–1815) und späte (ca. 1815–1826) Periode nennt. Weitgehend ist die frühe Periode die, in der er hauptsächlich mit dem Erbe der klassischen Tradition arbeitet; der mittlere Abschnitt umfasst die sogenannte „heroische“ Periode, in der er die großen klassischen Formen Sonate, Streichquartett und Sinfonie derart erweiterte und vertiefte, dass es viele als formale und dramatische Grenzen empfanden, und dehnte die technischen Anforderungen seiner Instrumentalkompositionen auf eine Weise aus, dass sie nur in Reichweite der besten Amateure waren; die späte Schaffensperiode vereint transzendente Spiritualität, eine zunehmende Beschäftigung mit dem Kontrapunkt und eine neue Betonung der formalen und thematischen Einheit innerhalb mehrsätziger Stücke. Aber dies kann nur als Verallgemeinerung angesehen werden, da es in jeder Periode zahlreiche Werke gibt, die die Charakteristika anderer Perioden beinhalten. In jedem Fall sind weder Kunst noch Leben so akkurat.

Musik für Solo-Klavier

Obwohl Beethoven ein Violinist von professionellem Format war, war das Klavier sein Hauptinstrument, und seine Werke dafür, vor allem die 32 Klaviersonaten, bilden das Fundament, auf das sich der Großteil des Repertoires des 19. Jahrhunderts stützte. Der bedeutende Pianist und Dirigent Hans von Bülow nannte Bachs Wohltemperiertes Klavier das Alte Testament der Musik und Beethovens Sonaten das Neue. Wenige würden mit ihm darüber streiten. Mit Ausnahme seiner letzten vier Jahre decken Beethovens Klavierwerke sein ganzes Komponistenleben ab. Sie dienen als eine Art Seelentagebuch und liefern einen Bericht der abenteuerlichsten und einflussreichsten Reise in der Musikgeschichte.

Die Sonaten

Bezeichnenderweise übernimmt Beethoven in den ersten drei Sonaten Op. 2 (wie in den drei Trios Op. 1) bereits die viersätzige Anlage der klassischen Sinfonie. Das ist nicht nur bedeutsam, weil dies von Anfang an zeigt, dass dies ein Mann ist, der in großen Dimensionen denkt, sondern weil er sein ganzes Leben hindurch dazu neigte, das Klavier als Ersatzorchester zu betrachten. Die weiten Abstände zwischen den Händen, der häufige Gebrauch wuchtiger, dicht gesetzter Akkorde im tiefen Register, die nie dagewesenen Extreme von Laut und Leise, die Verwendung der Stille als wichtiges strukturelles und dramatisches Element (ironischerweise haben seine Pausen oft die Wirkung eines Hammerschlags): All dies sind Charakteristika, die wieder und wieder in seinen Klavierstücken auftauchen.

Ein sehr gutes Beispiel für diesen kraftvollen rhythmischen Einsatz der Stille ist der langsame Satz der vierten Sonate, Op. 7 Es-Dur, ein großartiges Werk und das zweitlängste nach der kolossalen „Hammerklaviersonate“ der späten Jahre Beethovens. Op. 10 ist eine weitere Trilogie, von der Nr. 1 c-Moll und Nr. 2 F-Dur hervorragend ausgeführt und individuell sind, erstere abwechselnd stürmisch und lyrisch, letztere ein Fest des Witzes, guter Laune und lässiger Kunstfertigkeit. Die dritte Sonate aus Op. 10 in D-Dur ist indessen ein Meisterwerk symphonischer Breite, deren vier Sätze Beethovens Souveränität zeigen. Das eigentliche Herz des Werks ist der langsame Satz, eine Studie der Melancholie, die so traurig ist, dass das folgende Menuett in das Licht tritt wie ein Gefangener, der unerwartet aus einem Kerker freigelassen wird, zunächst ungläubig, sich dann allmählich findend und über seine neue Freiheit jubelnd. Das Stück bietet das Drama einer großen Oper in einem Bruchteil der Zeit.

In der „Pathétique“-Sonate, Op. 13, die schon immer zu seinen beliebtesten Werken zählte, zieht Beethoven bei der Verwendung einer substantiellen langsamen Einleitung wieder einmal symphonische Vorbilder heran (besonders Haydns Sinfonien). Der starke, dramatische Eröffnungssatz ist der erste, in dem Beethoven bedeutende Änderungen an der klassischen Sonatensatzform vornimmt. An strategisch platzierten Punkten bringt er wiederholt die langsame Einleitung zurück – oder wesentliche, fragmentarische Entwicklungen davon. Mit seiner schönen, langgesponnenen Melodie erinnert der langsame Satz uns daran, dass der mit dem Schicksal ringende Beethoven auch ein zutiefst gefühlvoller Komponist war, dessen großer, singender Ton auf dem Klavier von jedem bemerkt wurde, der ihn hörte.

Die zwei eher kleinen Sonaten des Op. 14 sind insgesamt leichtere Kost, voll guten Mutes, geistvollen Gesprächsaustauschs und unschuldigen Herumtollens. Sie sind eine rechtzeitige Mahnung nach der Angst der „Pathétique“, dass Beethoven auch ein Meister der leichten Musik war, der geborene Unterhalter, der zufällig auch ein Genie war.

Die Sonate B-Dur, Op. 22, markiert die Rückkehr zum großen Maßstab von Op. 2, Op. 7 und Op. 10 Nr. 3, war aber nie ein Publikumsliebling. Sie wurde 1800 komponiert und kann als Beethovens festlicher Abschied von den formalen Feinheiten der Sonate des 18. Jahrhunderts gesehen werden. Er scheint den Hörern eine lange Nase zu machen, die wegen der Originalität und des Wagemuts der „Pathétique“ aufgebracht waren. Tatsächlich macht er eine Schau daraus, sich von seiner besten Seite zu zeigen, dass der durchschnittliche Zuhörer sich von dieser subtilen und geistreichen Sonate leicht ausgegrenzt fühlt.

Die sogenannte „Trauermarsch“-Sonate As-Dur, Op. 26, ein gänzlich anderer Entwurf, ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Wie Mozarts bekannte A-Dur-Sonate, KV 331, beginnt sie nicht mit dem üblichen Sonatenhauptsatz, sondern mit einem sanften, nach und nach intensivierenden Variationssatz. Diesem folgt ein feuriges Scherzo, das man normalerweise erst an dritter Stelle erwarten würde; dieses ist wiederum gefolgt von einem düsteren Trauermarsch, mit der programmatischen Darstellung von Trommelwirbeln und rituellem Geschützfeuer. Das abwechselnd lyrische und aufgewühlte Finale ist eher von der Art einer Studie, die sich am Ende in Luft auflöst. Keine bedeutende Sonate war bis dahin auf so unkonventionelle Weise angelegt worden.

Die zwei Sonaten aus Op. 27 (die zweite ist die nach wie vor beliebte „Mondschein-Sonate“) sind noch unkonventioneller. Die vier Sätze der Es-Dur-Sonate, Op. 27 Nr. 1 (von denen kein einziger in Sonatensatzform gehalten ist), sind thematisch miteinander verbunden und werden ohne Pause gespielt – ein bis dahin unerhörter Ablauf. Diese Sonate bringt uns den Charakter von Beethovens berühmten Improvisationen sehr nahe. In der „Mondschein-Sonate“ folgt der erste Satz keiner zuvor bestehenden Form, obwohl er Elemente der Sonatensatzform enthält. Der zarte zweite Satz ist eine individuelle Interpretation des klassischen Menuetts und Trios; und erst mit dem stürmischen Finale setzt Beethoven einen Satz gänzlich in Sonatensatzform.

Anders als ihre zahlenmäßigen Nachbarn ist die Sonate D-Dur, Op. 28, eines der relativ vernachlässigten Juwelen Beethovens. Mit dem Beinamen „Pastorale“ (wenn auch nicht von Beethoven selbst) zählt sie zu den sonnigsten aller Sonaten, und das Scherzo ist eines der bestgelaunten. Der Komponist mochte besonders das Andante, aber die meisten Hörer betrachten die übrigen Sätze mit gleichem Wohlwollen.

Von den drei Sonaten Op. 31 (1802) ist die mittlere die bekannteste, die sogenannte „Sturm“-Sonate, deren erster Satz mit seiner wiederkehrenden Einleitung an den gleichen Kunstgriff der „Pathétique“ erinnert. Die revolutionärsten Ansätze sind hier jedoch die lange Pedalisierung mit ihrem absichtlichen „Verschwimmen“ und Mischen der kollidierenden Harmonien – ein ziemlich kühner Streich zu dieser Zeit, der sein Maß an Modernität bis heute beibehält.

Wie auch sonst in Beethovens Schaffen, tragen die zwei Sonaten in g-Moll und G-Dur, Op. 49, eine irreführende Opuszahl. Obwohl sie so zwischen den drei Sonaten Op. 31 und der „Waldstein“-Sonate von 1804 stehen, wurden sie eigentlich 1795–97 komponiert. Ihr Auftreten im Zyklus ist nicht so sehr aus stilistischen Gründen überraschend, sondern wegen ihrer äußersten Kürze (jede hat zwei kurze Sätze) und der Tatsache, dass es die einzigen sind, die recht leicht von Anfängern mit Vorkenntnissen gespielt werden können. Aber wie bei Mozarts „kleinen“ und „leichten“ Sonaten können nur wahre Künstler die Feinheit und das Können offenbaren, die in ihnen liegen. Die g-Moll-Sonate ist historisch von Interesse, da sie das erste Auftauchen, im Menuett des zweiten Satzes, eines Themas markiert, das durch seine Verwendung in Beethovens „Schlager“ von 1799 berühmt wurde, dem Septett Es-Dur, Op. 20.

Die nach der „Mondschein-Sonate“ berühmtesten der mittleren Schaffensperiode sind die Sonate C-Dur, Op. 53 (mit dem Beinamen „Waldstein“, nach ihrem Widmungsträger, Beethovens Mäzen Graf Waldstein), und die f-Moll-Sonate „Appassionata“, Op. 57. In beiden Fällen erreicht die Virtuosität neue Höhen. Die „Waldstein“-Sonate ist vielleicht die erhabenste und größtangelegte aller Sonaten bis dahin und wurde ungefähr zur gleichen Zeit entworfen und ausgearbeitet, als Beethoven die Sinfonie in der „Eroica“ zu bis dato ungeahnten Dimensionen erweiterte. Allein in ihrer Klangwelt erreichen beide Sonaten nie dagewesene Wirkungen, eine der einprägsamsten ist die poetisch „verschwommene“ Pedalisierung im „Waldstein“-Finale. Geistig liegen Welten zwischen den beiden Werken: Die „Waldstein“-Sonate ist eines der freudigsten und heroisch anregendsten Stücke Beethovens, während die „Appassionata“ ein seltenes Beispiel fast absoluter Tragik ist. Nie zuvor war dem Klavier solch ungestüme Leidenschaft anvertraut worden. Tragödie und Aufruhr sind wegen der schmerzlichen Schönheit des langsamen Satzes umso mehr ergreifend, dessen Ruhe durch einen einzigen dissonanten Akkord zerrissen wird, der direkt zur schockierenden Intensität des finalen, todgeweihten Kampfes führt. Beethoven schrieb nun über die Fähigkeiten nicht nur der meisten Pianisten hinaus, sondern des Klaviers selbst. Dadurch beschleunigte er die Entwicklung des Instruments.

Im selben Jahr wie die „Waldstein“-Sonate, 1804, ist die kurze Sonate F-Dur komponiert, Op. 54, eine der am seltensten gespielten Sonaten. Hier kommt Beethoven auf das zweisätzige Modell der Sonaten Op. 49 zurück. Weitere Ähnlichkeiten gibt es jedoch nicht. Der erste Satz des Op. 54, „In tempo d’un Menuetto“, fordert sowohl technisch als auch musikalisch heraus und hat ein Eröffnungsthema, das vage an schottische Volkslieder erinnert; die Melodie steht offenbar mit dem zweiten Thema der „Appassionata“ in Verbindung. Der zweite Satz dagegen ist eine fast verrücktobsessive Studie des „perpetuum mobile“, die auf das Finale der As-Dur-Sonate, Op. 26, zurückgreift.

Was das Klavier angeht ist die Sonate Es-Dur, Op. 81a (mit dem Untertitel „Das Lebewohl“, im Allgemeinen bekannt unter dem französischen Titel „Les Adieux“), zweifach bedeutsam. Auf oberflächlicher Ebene folgt sie einem programmatischen Konzept, ihre drei Sätze gedenken jeweils der Abreise, der Abwesenheit und der Rückkehr seines Freundes und Schülers Erzherzog Rudolph. Das Wort „Lebewohl“ steht über den drei absteigenden Noten des anfänglichen „Mottos“, das im folgenden Allegro regelmäßig wiederkehrt. Das Werk ist nicht nur eines der gehaltreichsten und unmittelbar ansprechendsten des Zyklus, sondern kennzeichnet auch Beethovens Lebewohl von der Klaviersonate für eine Dauer von fünf Jahren sowie einen Abschied von seiner „heroischen“ mittleren Schaffensphase. Die folgende Sonate – Nr. 27 e-Moll, Op. 90, in zwei Sätzen – datiert von 1814 und steht an der Schwelle zu seiner dritten Schaffensperiode.

Nach Meinung vieler Musiker sind die letzten fünf Klaviersonaten (Op. 101, 106 und 109–111) die bedeutendsten, die je komponiert wurden. Op. 101 A-Dur ist ein bemerkenswert konzentriertes Werk in vier Sätzen, mit einem langsam-schnell-langsam-schnell-Rhythmus, in dem der lyrische, nachdenkliche Anfang später wiederaufgenommen wird, um das erhaben bejahende Fugato-Finale einzuleiten (das Anklänge an den von Beethoven verehrten Händel enthält). Wie alle späten Sonaten ist das Werk höchst ernsthaft; dies schließt aber einige typische selbstironische Späße inmitten des im Ganzen imposanten Finales nicht aus. Der zwanghaft punktierte Rhythmus des Marschs des zweiten Satzes (da-dam da-dam da-dam usw.) scheint geradezu Schumann vorwegzunehmen.

Op. 106 B-Dur, die sogenannte „Hammerklaviersonate“, ist die längste, anspruchsvollste und ehrfurchtgebietendste Sonate, die je geschrieben wurde. Der Beiname ist die deutsche Bezeichnung für das Pianoforte, die Aufschrift „für das Hammerklavier“ erscheint auf den Titelseiten von sowohl Op. 101 als auch 109. Aber zweifellos kommt dem Klavier in dieser B-Dur-Sonate die größere hämmernde Rolle zu. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie die Klaviere zu Beethovens Zeit dies aushalten konnten. Viele mussten es aber nicht: Beethoven schrieb bereits für spätere Generationen und erwartete vom zeitgenössischen Publikum nicht, dass sie seine Musik verstanden. Für viele Musiker bestätigte dies nur ihre Vorstellung, dass Beethoven, isoliert in seiner Taubheit, geisteskrank geworden war. Die sagenhaft schwierige und ausgedehnte Fuge, die das Werk krönt, ist in vielerlei Hinsicht heute genauso gewaltig, elementar und erstaunlich komplex wie je zuvor.

Die letzten drei Sonaten, Op. 109, 110 und 111, führen uns auf geweihten Boden. Jede erschafft ein eigenes Universum, jede spottet aller sinnvollen Beschreibung. Jede nimmt uns mit auf eine spirituelle Odyssee in unerforschte Seelengebiete, in Erfahrungswelten, die wir uns nie zuvor hätten vorstellen können.

Die Variationen

Beethoven schrieb in jedem Lebensabschnitt Variationen, viele als gesonderten, in sich geschlossenen Satz, manche in Sonaten eingebettet. Sie reichen von den gefälligen (einige der Jugendwerke) bis zu den überragenden „Diabelli-Variationen“, Op. 120 – sein letztes großes Werk für Klavier –, und den Variationen in den Sonaten Op. 109 und 111. Eigentümlicherweise zählt ein Variationssatz Beethovens, der am häufigsten gespielt wird, zu den am wenigsten interessanten: die 32 Variationen über ein eigenes Thema in c-Moll. Nur unter den außergewöhnlichsten Händen klingen diese leichten Variationen nach mehr als einer Folge hochklassiger Übungen eines Hanon oder Czerny. Gewinnender und weniger trivial sind die pfiffigen und manchmal amüsanten Variationen über Rule, Britannia und God Save the King; aber es gibt nur drei Variationssätze, die uns den wahrhaft erlesenen Beethoven zeigen. Der erste sind die interessanterweise so genannten Sechs Variationen F-Dur, Op. 34 – interessant, weil nur die letzte der Variationen in dieser Tonart steht (keine zwei Variationen teilen hier eine Tonart). Es folgt der großartige Variationssatz, der zur selben Zeit komponiert wurde (1802) und heute für gewöhnlich als „Eroica-Variationen“ bekannt ist, da das Thema aus dem Finale der „Eroica“-Sinfonie bekannt ist. Allerdings liegt das Klavierwerk zeitlich vor der Sinfonie. Hier gibt es nichts Unerfreuliches, sondern eine Fülle an Erhabenheit, Fantasie, Virtuosität und Humor. Sogar das Thema ist humorvoll, mit seinem neckischen Erklingen der ersten Haupttöne und den rauen Unterbrechungen, wo Beethoven sich über seine eigene Ernsthaftigkeit zu mokieren scheint. Eine der anziehendsten Seiten des Charakters Beethovens ist, dass sein Sinn für Humor plötzlich in den überraschendsten Zusammenhängen auftaucht. Ein auffallendes Beispiel ist sein letztes großes Klavierstück, die „Diabelli-Variationen“, deren Monumentalität einen Überfluss an typischen Beethoven-Scherzen nicht ausschließt. Die Art, in der er sich in der ersten Variation über das belanglose Thema lustig macht, ist hervorragend zu höchster Kunst erhoben. Ein gnadenloserer Schlag ins Gesicht eines kleinen Komponisten durch einen großen wurde nie abgegeben. Die Männer von den Knaben derart getrennt, fährt Beethoven fort, aus diesem „Schusterfleck“ (wie Beethoven den Diabelli-Walzer nannte) ein gigantisches Bauwerk überwältigenden Denkvermögens und emotionaler Bandbreite zu errichten. Laut dem Komponisten selbst ist das Werk auch ein Kompendium von allem, was er über pianistische Technik wusste.