Wenn das „Heiligenstädter Testament“ und die zweite Sinfonie widersprüchliche Geschichten über Beethovens Innerstes erzählen, was können wir dann sicher aus der dritten Sinfonie, der „Eroica“, ableiten? Sie wurde ursprünglich als eine Hommage an Napoleon geschrieben, den Beethoven zu dieser Zeit fast bis zur Abgötterei verehrte, und sie sollte dessen Namen im Titel tragen. Als Napoleon sich am 20. Mai 1804 selbst zum Kaiser ernannte, war Beethoven, wie viele seiner vornehmeren Zeitgenossen, empört und fühlte sich verraten. Ferdinand Ries erlebte die unmittelbare Konsequenz:
Ich war der erste, der ihm die Nachricht brachte, Buonaparte habe sich zum Kaiser erklärt, worauf er in Wut geriet und ausrief: „Ist der auch nichts anders als wie ein gewöhnlicher Mensch? Nun wird er auch die Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize frönen; er wird sich nun höher als alle anderen stellen, ein Tyrann werden!“ Beethoven ging an den Tisch, faßte das Titelblatt oben an, riß es ganz durch und warf es auf die Erde. Die erste Seite wurde neu geschrieben, und nun erst erhielt die Sinfonie den Titel: Sinfonia eroica.
Man nimmt an, dass Ries das Original-Manuskript sah, das anschließend verschwand. Betrachtet man Beethovens eigenartige Haltung gegenüber den autografen Partituren sogar seiner bedeutendsten Werke, überrascht das kaum. Ries bemerkte um dieselbe Zeit:
Beethoven legte gar keinen Werth auf seine eigenhändig geschriebenen Sachen; sie lagen meistens, wenn sie einmal gestochen waren, im Nebenzimmer oder mitten im Zimmer mit anderen Musikstücken auf dem Boden. Ich habe seine Musik oft in Ordnung gebracht; allein wenn Beethoven etwas suchte, so flog wieder alles durcheinander. Ich hätte dazumal sämmtliche Compositionen, die schon gestochen waren, in der Original-Handschrift wegnehmen können; auch würde er sie mir, wenn ich ihn darum gebeten hätte, wohl selbst unbedenklich gegeben haben.
Aber Beethoven war noch nicht damit zu Ende, seine Wut gegen Napoleon auszulassen. Auf der Abschrift der Partitur, die man bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien besichtigen kann, ist Napoleons Name so heftig ausradiert worden, dass dort ein Loch im Papier ist. Ries’ Chronologie ist jedoch falsch. Als Beethoven die Sinfonie nur drei Monate später Breitkopf & Härtel anbot, wies er darauf hin, dass sie den Werktitel „Bonaparte“ habe. Erst als sie im Druck erschien, trug sie den Titel „Eroica“.
Im Lichte dessen, was wir über Beethovens Leben jener Zeit wissen, erscheint es klar, dass der wahre Held der Sinfonie, bewusst oder nicht, niemals wirklich Napoleon war, sondern Beethoven selbst – oder zumindest, dass sich das Werk vornehmlich nicht mit einem individuellen Helden beschäftigt, sondern mit der Natur des Heldentums selbst, wie sie Beethoven angesichts seiner eigenen Erfahrung auffasste. Die „Eroica“ kann also als Beethovens eigene Antwort auf das „Heiligenstädter Testament“ gesehen werden. Falls ihre vier enormen Sätze einem bestimmten Programm folgen – Kritiker des 19. Jahrhunderts scheinen darauf bestanden zu haben –, hat dieses mit dem Heldenmut, der Verzweiflung gegenüberzutreten und sie zu überwinden, zu tun.
Die „Eroica“ war ein wichtiger Meilenstein, nicht nur in Beethovens Leben, sondern in der Musikgeschichte überhaupt. Nie zuvor war Musik so offensichtlich und überwältigend in der individuellen Erfahrung ihres Komponisten verwurzelt; niemals hatte sie solch epische Ausmaße angenommen (der erste Satz allein ist so lang wie viele gesamte Sinfonien des 18. Jahrhunderts). Auch waren unerschütterlicher Verstand und leidenschaftliches Gefühl noch nie mit solch zwingender Logik vereint worden. Die Skizzenbücher, in denen Beethoven sich langsam und mühevoll zur letzten Wahrheit und Kraft der „Eroica“ tastete, bilden selbst eine Art heldenmütiges Dokument. Trotz der Größe seines Genies war Beethoven kein Komponist wie Mozart oder Schubert, aus denen die zündenden Ideen mit Leichtigkeit herausflossen. Von Anfang an war er ein Ringer, ein Mann, der wusste, dass man den Mut zu versagen haben musste, um das Ziel zu erreichen. Einige seiner frühen Entwürfe sind in der Tat verblüffend gewöhnlich. Aber langsam, mühselig beugt er das nicht viel versprechende Material zu seiner Bestimmung. Für Beethoven waren Kampf und Komposition fast Synonyme. Was die „Eroica“ so heroisch macht, ist ihre Manifestation des unbeugsamen Triumphs des menschlichen Willens.
Ein Komponist, der den Lauf der Musikgeschichte ändert, trifft zwangsläufig auf Widerstand, und mit der „Eroica“ begann Beethovens bis dahin treues und enthusiastisches Publikum zu zaudern. Der Kritiker der Allgemeinen musikalischen Zeitung sprach vielen aus der Seele, als er schrieb:
Diese lange, für die Ausführung äußerst schwierige Komposition, ist eigentlich eine sehr weit ausgeführte, kühne und wilde Phantasie. Es fehlt ihr gar nicht an frappanten und schönen Stellen, in denen man den energischen, talentvollen Geist des Schöpfers erkennen muss: sehr oft aber scheint sie sich ganz ins Regellose zu verlieren. Der Schreiber gehört gewiß zu Hrn. v. Beethovens aufrichtigsten Verehrern, aber bei dieser Arbeit muß er doch gestehen, des Grellen und Bizarren allzuviel zu finden, wodurch die Uebersicht äußerst erschwert wird und die Einheit beinahe ganz verloren geht.
Die reine Länge und Dichte des Werks verwirrte manch einen sonst wohlgesinnten Hörer, und ein ähnlich großangelegter Bauplan wurde ein Merkmal von Beethovens Schaffen allgemein. Es war nicht nur das wankelmütige Wiener Publikum, das Mühe hatte, Beethoven durch seine neueste, kompromisslose Phase zu folgen. Auch enge Musikerkollegen wie der Violinist Schuppanzigh beispielsweise waren ratlos ob der drei großartigen Streichquartette, die Beethoven 1806 für den russischen Grafen Rasumowsky schrieb. Wieder war die Spannbreite der Werke beispiellos (das erste beträgt beinahe zweimal die durchschnittliche Länge eines Haydn-Quartetts), ebenso wie die ununterbrochene emotionale Intensität. Mit 35 Jahren schrieb Beethoven bereits, wie er einmal sagte, „für eine spätere Zeit“. Er schrieb reine Musik, direkt aus dem Herzen und verfeinert mit schonungsloser Dichte und geistiger Kontrolle. Mit einem Ausmaß, von dem kein vorhergehender Komponist zu träumen gewagt hätte, schrieb er nicht für die Spieler seiner Zeit, sondern darüber hinaus. Als Schuppanzigh sich beschwerte, dass eine Passage in einem der Quartette unspielbar sei, war Beethoven ungerührt: „Glaubt er, ich denke an seine elende Geige, wenn der Geist zu mir spricht?“
Graf Andrej Rasumowsky (1752–1836)
Wie Athleten und Wissenschaftler seit Jahrhunderten überschritt Beethoven die Grenzen des Möglichen über das Bekannte hinaus. Er beschleunigte wissentlich die musikalische Entwicklung. Natürlich können heute Musiker alles spielen, was er komponierte, ohne einen Hauch von Waghalsigkeit. Die technischen Herausforderungen Beethovens bedeutender Quartette sind jedoch nichts im Vergleich mit der emotionalen und geistigen Erfahrung, die sie vermitteln sollen. Im langsamen Satz des zweiten „Rasumowsky-Quartetts“, der allein fast eine Viertelstunde dauert, scheint er von seiner eigenen inneren Einsamkeit mit einer Unmittelbarkeit zu sprechen, dass sich der Zuhörer fast indiskret vorkommt.
Nicht lange, bevor er die „Rasumowsky-Quartette“ schrieb, hatte Beethoven seine dritte Abweisung durch eine Frau erlebt, die er zu heiraten gehofft hatte. An diesem Punkt seines Lebens schien er gewissermaßen alles innerhalb der Familie halten zu wollen – ihrer, nicht seiner. Nachdem er eine Gräfin verloren hatte, Giulietta, verliebt er sich nun in eine andere, ihre Cousine Josephine. Noch später würde er sich in ihre Schwester Therese verlieben.
Josephine, zu einer unglücklichen Heirat gezwungen und seit Kurzem verwitwet, hatte nach der Geburt ihres vierten Kindes einen Nervenzusammenbruch erlitten. Ungefähr zu dieser Zeit begann sie mit Klavierunterricht bei Beethoven, dessen ritterlicher Instinkt sich schnell in eine intensive romantische Leidenschaft verwandelte. Ob sie je offen seine Gefühle erwiderte, werden wir wohl nie wissen. Aber aus einem typisch unbeholfenen Brief, der seinen jüngsten Seelenzustand erklärt, ist kein Zweifel ersichtlich, dass er dies glaubte (Unterstreichungen von Beethoven):
Josephine Brunsvik
Es ist nun Wahr, ich bin nicht so thätig als ich hätte sein sollen – aber ein innerer Gram – hatte mich lang – meiner sonst gewöhnlichen Spannkraft beraubt, einige Zeit hindurch als das Gefühl der Liebe in mir für sie angebetete J. zu keimen anfing, vermehrte sich dieser noch – sobald wir einmal wieder ungestört beysammen sind, dann sollen sie von meinen wirklichen Leiden und von dem Kampf mit mir selbst zwischen Tod und leben, denn ich einige Zeit hindurch führte unterrichtet seyn – Ein Ereigniß machte mich lange Zeit an aller Glückseeligkeit des Lebens hienieden zweiflen – nun ist es nicht halb mehr so arg, ich habe ihr Herz gewonnen, o ich weiß es gewiß, welchen Werth ich drauf zu legen habe, meine Thätigkeit wird sich wieder Vermehren, und – hier verspreche ich es ihnen hoch und theuer, in kurzer Zeit werde ich meiner und ihrer Würdiger da stehn – o mögen sie doch einigen Werth drauf legen, durch ihre Liebe meine Glückseeligkeit zu gründen – zu Vermehren – o geliebte J., nicht der Hang zum andern Geschlechte zieht mich zu ihnen, nein nur sie ihr ganzes Ich mit allen ihren Eigenheiten – haben meine Achtung – alle meine gefühle – mein ganzes Empfindungsvermögen an sie gefesselt – als ich zu ihnen kam – war ich in der festen Entschlossenheit, auch nicht einen Funken Liebe in mir keimen zu laßen, sie haben mich aber überwunden – ob sie das wollten? – oder nicht wollten? – diese Frage könnte mir J. wohl einmal auflösen – Ach himmel […] – Lange – Lange – Dauer – möge unsrer Liebe werden – sie ist so edel – so sehr auf wechselseitige Achtung und Freundschaft gegründet. – selbst die große Ähnlichkeit in so manchen sachen, im denken und empfinden – o sie laßen mich hoffen, daß ihr Herz lange – für mich schlagen werde – das meinige kann nur – au[f]hören – für sie zu schlagen – wenn – es gar nicht mehr schlägt – geliebte J. leben sie Wohl – Ich hoffe aber auch – daß sie durch mich ein wenig glüklich werden – sonst wär ich ja – eigennüzig
Liebesbriefe bringen selten das Beste ihres Schreibers zum Vorschein, sprachlich gesehen, aber Beethovens Briefe an Josephine zeigen ihn höchst unartikuliert. Niemand wusste besser als er selbst, dass Worte nicht seine Stärke waren, aber im Falle dieser besonderen Briefe grenzt das Undeutliche an Zusammenhangslosigkeit:
warum giebt es keine Sprache die das Ausdrücken kann was noch weit über Achtung – weit über alles ist – was wir noch nennen können – o wer kann Sie aussprechen, und nicht fühlen daß so viel er auch über Sie sprechen möchte – das alles nicht Sie – erreicht – nur in Tönen – Ach bin ich nicht zu stolz, wenn ich glaube, die Töne wären mir williger als die Worte – Sie mein Alles meine Glückseeligkeit – Ach nein – auch nicht in meinen Tönen kann ich es, obschon du Natur mich hierin nicht karg beschenktest, so ist doch zu wenig für Sie. Stille schlage nur armes Herz – weiter kannst du nichts –. Für Sie – immer für Sie – nur Sie – ewig Sie – bis ins Grab nur Sie – Meine Erquickung – mein Alles o Schöpfer wache über Sie – Seegne ihre Tage – eher über mich alles ungemach nur Sie – Stärke seegne tröste Sie […] – wäre auch Sie nicht die mich wieder an das Leben angekettet auch ohne dieses wäre sie mir alles –
Wie waren Josephines Gefühle für den Mann, der diese innigen Ergüsse schrieb? Ihre Zuneigung und Bewunderung sind über jeden Zweifel erhaben. Auch wenn ein undatierter Brief, der vermutlich um dieselbe Zeit verfasst wurde, eine gewisse Verwirrtheit ihrerseits vermuten lässt, scheint seine Aussage im Ganzen unmissverständlich:
Meine ohnedieß, für Sie enthousiastische Seele noch ehe als ich Sie persönlich kannte – erhielt durch Ihre Zuneigung Nahrung. Ein Gefühl das tief in meiner Seele liegt und keines Ausdrucks fähig ist, machte mich Sie lieben; noch ehe ich Sie kante machte ihre Musick mich für Sie enthousiastisch – Die Güte ihres Characters. ihre Zuneigung vermehrte es – Dieser Vorzug den Sie mir gewährten. das Vergnügen Ihres Umgangs, hätte der schönste Schmuck meines Lebens seyn können liebten Sie mich minder sinnlich – Daß ich diese Sinnliche Liebe, nicht befriedigen kann – zürnen Sie auf mich – Ich müßte heilige Bande verletzen, gäbe ich Ihrem Verlangen Gehör – Glauben Sie – daß ich, durch Erfüllung meiner Pflichten, am meisten leide – und daß gewiß, edle Beweggründe meine Handlungen leiteten –
Dieser Brief überzeugt nicht ganz. Die „heiligen Bande“, die sie erwähnt, betreffen ein Keuschheitsgelübde, das sie beim Tod ihres ungeliebten Ehemanns abgelegt zu haben behauptet. Aber solch ein Gelübde erscheint unwahrscheinlich im Lichte dessen, was wir von ihrem Charakter und Verhalten sowohl vorher als auch nachher wissen; und ihr scheinbar keusches Unbehagen gegenüber Beethovens Sinnlichkeit kann nicht so aufrichtig sein, wie sie es klingen lässt. Aus Thereses Tagebüchern ist deutlich, dass beide Schwestern zu Phasen der Promiskuität tendierten, in denen Josephine sich „rückhaltlos und ohne Bedenken“ hingab. Es wäre schön zu glauben, dass Beethoven keine Kenntnis davon
Als sich die Beziehung zwischen Beethoven und Josephine abkühlte, nahm seine Intimität mit ihrer Schwester Therese stetig zu. Während dieser Zeit scheint er sich zumindest teilweise mit seiner Taubheit abgefunden zu haben. Auf einer Skizzenseite der „Rasumowsky-Quartette“ hatte er mit Bleistift geschrieben „Kein Geheimnis sei dein nichthören mehr, auch bei der Kunst“. Danach produzierte er ein Meisterwerk nach dem anderen, von denen viele eine Art triumphierender Gelassenheit ausstrahlen. Dazu zählt das epische Violinkonzert D-Dur von 1806. Selten feierte ein großes Werk eine unheilvollere Premiere. Der Solist, Franz Clement, spielte das Konzert offenbar vom Blatt und unterhielt das Publikum zwischen den Sätzen, indem er auf einer Saite seiner umgedrehten Geige spielte. Aber es sollten noch schlimmere Premieren folgen.
Im Dezember 1808 organisierte Beethoven ein lang erwartetes Konzert, in dem er eine Reihe neuester Werke vorstellte. Das Programm dauerte vier Stunden und umfasste die fünfte und sechste Sinfonie, das vierte Klavierkonzert, die Fantasie für Klavier, Orchester, Solisten und Chor („Chorfantasie“), eine Improvisation von Beethoven selbst, die Arie Ah! perfido sowie Teile der C-Dur-Messe. Im Publikum saß der Komponist, Violinist und Dirigent Louis Spohr:
Beethoven spielte ein neues Pianofortekonzert von sich, vergaß aber schon beim ersten Tutti, daß er Solospieler war, sprang auf und fing an, in seiner Weise zu dirigieren. Bei dem ersten Sforzando schleuderte er die Arme so weit auseinander, daß er beide Leuchter vom Klavierpulte zu Boden warf. Das Publikum lachte, und Beethoven war so außer sich über diese Störung, daß er das Orchester aufhören und von neuem beginnen ließ. Seyfried, in der Besorgnis, daß sich bei derselben Stelle dasselbe Unglück wiederholen werde, hieß zweien Chorknaben sich neben Beethoven stellen und die Leuchter in die Hand nehmen. Der eine trat arglos näher und sah mit in die Klavierstimme hinein. Als daher das verhängnisvolle Sforzando hereinbrach, erhielt er von Beethoven mit der ausfahrenden Rechten eine so derbe Maulschelle, daß der arme Junge vor Schrecken den Leuchter zu Boden fallen ließ. Der andre Knabe, vorsichtiger, war mit ängstlichen Blicken allen Bewegungen Beethovens gefolgt, und es glückte ihm daher, durch schnelles Niederbücken der Maulschelle auszuweichen. Hatte das Publikum schon vorher gelacht, so brach es jetzt in einen wahrhaft bacchanalischen Jubel aus! Beethoven geriet so in Wut, daß er gleich bei den ersten Akkorden des Solos ein halbes Dutzend Saiten zerschlug. Alle Bemühungen der echten Musikfreunde, die Ruhe und Aufmerksamkeit wieder herzustellen, blieben für den Augenblick fruchtlos. Das erste Allegro des Konzertes ging daher ganz für die Zuhörer verloren. Seit diesem Unfall hatte Beethoven kein Konzert wieder gegeben.
Abseits des Klaviers war Beethoven ein höchst tollpatschiger Mensch. Ein Augenzeuge, Ferdinand Ries, berichtet:
Beethoven war in seinem Benehmen sehr linkisch und unbeholfen; seinen ungeschickten Bewegungen fehlte alle Anmuth. Er nahm selten etwas in die Hand, das nicht fiel oder zerbrach. So warf er mehrmals sein Tintenfaß in das neben dem Schreibpulte stehende Clavier. Kein Möbel war bei ihm sicher, am wenigsten ein kostbares; Alles wurde umgeworfen, beschmutzt und zerstört. Wie er es so weit brachte, sich selbst rasiren zu können, bleibt schwer zu begreifen, wenn man auch die häufigen Schnitte auf seinen Wangen dabei nicht in Betracht zog. Nach dem Takte tanzen konnte er nie lernen.
Daraus ist naheliegend, dass Beethoven als Dirigent fast katastrophal war. Ignaz von Seyfried hat uns eine unvergessliche Charakterskizze hinterlassen:
Im Dirigiren durfte unser Meister keineswegs als Musterbild aufgestellt werden, und das Orchester mußte wohl Acht haben, um sich nicht von seinem Mentor irre leiten zu lassen; denn er hatte nur Sinn für seine Tondichtung, und war unabläßig bemüht, durch die mannigfaltigsten Gesticulationen den intendirten Ausdruck zu bezeichnen. […] Das Diminuendo pflegte er dadurch zu markiren, daß er immer kleiner wurde, und beim pianissimo, so zu sagen, unter das Tactirpult schlüpfte. So wie die Tonmassen anschwellten, wuchs auch er wie aus einer Versenkung empor, und mit dem Eintritt der gesammten Instrumentalkraft wurde er, auf den Zehenspitzen sich erhebend, fast riesengroß, und schien, mit den Armen wellenförmig rudernd, zu den Wolken hinaufschweben zu wollen. Alles war in regsamster Thätigkeit, kein organischer Theil müßig und der ganze Mensch einem perpetuum mobile vergleichbar. […] Wenn er nun aber gewahrte, wie die Musiker in seine Ideen eingingen, mit wachsendem Feuer zusammenspielten, von dem magischen Zauber seiner Tonschöpfungen ergriffen, hingerissen, begeistert wurden, dann verklärte freudig sich sein Antlitz […].
Angesichts der Tragödien in seinem Privatleben kann man leicht übersehen, dass Freude nicht nur ein zentraler Bestandteil seiner Musik ist, sondern vielleicht sogar das dominante Merkmal. Diese transzendente Freude ist eines der Bindeglieder für seine andauernde Reputation als bedeutendster Komponist überhaupt.
Beethovens Vokalwerke bilden den am wenigsten bekannten Zweig seines Schaffens. Die meisten sind heute nur Kennern vertraut. Er schrieb jedoch fast hundert eigene Lieder, viele Volkslied-Vertonungen, vierzig Kanons, fünf Kantaten, ein Oratorium, zwei Messen und einige andere Stücke für Chor oder kleineres Vokalensemble. Überdies war er ein Erneuerer.
Als Liedkomponist übernahm Beethoven wenig aus der Tradition. Es gab vor ihm natürlich ausgezeichnete deutsche Lieder, darunter eine Reihe von Haydn und Mozart. Aber das Hervortreten des deutschen Liedes als bedeutende Kunstform geschah zu Beethovens Lebzeiten, und er trug viel dazu bei, die Voraussetzungen für diese Entwicklung zu schaffen. Der Anfang des Kunstliedes wird oft bei Schubert angesetzt; aber tatsächlich wurden viele Lieder Beethovens schon vor den Schubert’schen geschrieben. Es ist eine Ironie der Musikgeschichte, dass Beethoven und Schubert beinahe ein Jahr lang in derselben, nicht allzu großen Stadt lebten und arbeiteten, ohne sich je zu begegnen. Beethoven nahm seinen jüngeren Zeitgenossen kaum wahr. Erst auf seinem Sterbebett lernte er einige Schubert-Lieder kennen und war Berichten zufolge sehr ergriffen und begeistert von ihnen. Nur eines von Beethovens Liedern wurde dauerhaft berühmt, das frühe Adelaide, ein italienisch anmutendes Liebeslied von 1795, geschrieben unter Salieris Einfluss. Mit seinem Belcanto-Stil, den Beethoven bald ablegte, ist das Lied unter anderem bemerkenswert für die Stimmungs-, Klang- und Bedeutungsvielfalt, in die er den wiederholten Namen der Geliebten kleidet, Adelaide (A-de-la-i-de ausgesprochen).
Beethovens bedeutendster Beitrag zur Geschichte des Kunstliedes ist jedoch nicht ein einzelnes Lied, sondern der Zyklus An die ferne Geliebte, Op. 98. Heute erinnert der Begriff Liedzyklus an die großartigen Beispiele von Schubert und Schumann; aber An die ferne Geliebte ist ein Grundstein, wenn auch nicht der erste. Was einen Zyklus von einer bloßen Sammlung von Liedern unterscheidet, ist ein einheitsstiftendes Thema, meist entweder ein Erzählfaden, extern oder intern, oder eine Gesamtstimmung. Zudem sind Zyklen oft um eine sorgfältig ausgewählte Tonartenfolge herum angelegt. In den meisten Liedern seiner unmittelbaren Vorgänger, einschließlich Mozart, liegt die Betonung auf einer volksliedähnlichen Einfachheit mit dem Klavier als untergeordnetem Partner. Die rechte Hand verdoppelt oft die Gesangsmelodie, während die linke einen grundlegenden harmonischen Hintergrund liefert. Der Text dient für gewöhnlich zu wenig mehr, als eine zweckmäßige Stimmung zu erzeugen, illustrative Tonmalerei ist selten. Beethoven gab bei seiner Textwahl sowohl Qualität als auch ausdrucksstarkem Inhalt den Vorzug und war fast besessen davon, den musikalischen Rhythmus dem der Worte anzupassen. In jeder Hinsicht war An die ferne Geliebte bahnbrechend. Niemals zuvor hatte ein Komponist solche Mühen auf sich genommen, gegensätzliche Lieder in ein zusammenhängendes und einheitliches Ganzes einzubinden. Mit den verknüpfenden Klavierzwischenspielen und der Wiederkehr des Eröffnungsliedes am Ende ist An die ferne Geliebte wahrhaftiger „zyklisch“ als die Liedzyklen Schuberts.
Beethovens zahlreiche Volkslied-Vertonungen sind von der Qualität unterschiedlich, die besten sind allerdings ausgezeichnet, und ihre fast völlige Missachtung ist eine Schande. Sie wurden 1809 auf Anfrage des schottischen Verlegers George Thomson begonnen, der bereits Pleyel, Kozeluch und Haydn verpflichtet hatte. Sie haben verschiedene Formen für eine unterschiedliche Zahl von Sängern, doch die meisten sind Sololieder mit Klavierbegleitung, ergänzt durch optionale Violin- und Cellostimme. Zusätzlich zu den vielen schottischen, walisischen und irischen Weisen (alle von Thomson bestellt) erweiterte Beethoven das geografische Netz, um Volkslieder aus Portugal, Spanien, Italien, Russland, Schweden, Polen, Ungarn, der Ukraine und der Schweiz mit aufzunehmen. Thomson weigerte sich, diese zu veröffentlichen, sodass Beethoven anderweitig eine Möglichkeit fand, sie zu verlegen.
Beethovens Kantaten begannen mit grandiosem Umfang. Die Kantate auf den Tod Josephs II. und ihr Pendant Kantate auf die Erhebung Leopolds II. zur Kaiserwürde, beide 1790 komponiert, sind für besondere Gelegenheiten vorgesehen, die offenbar die Fantasie des 19-Jährigen beflügelten. Beethoven hielt so viel von der „Joseph“-Kantate, dass er daraus einen Satz für Fidelio, seine einzige Oper, übernahm. Die Auffassungsgabe des jungen Beethoven für chorische und orchestrale Möglichkeiten war bemerkenswert. Im Eröffnungschor der „Joseph“-Kantate zeigen die klagenden Phrasen im Orchester, die antiphonale Wirkung zwischen Chor und Orchester, wo die Stimmen einsetzen und das Wort „Tod“ ausstoßen, sowie der plötzliche dramatische fortissimo-Ausbruch wundervolle frühe Momente der emotionalen Kraft Beethovens. Der wuchtige letzte Chor der „Leopold“-Kantate gibt einen Ausblick auf das Finale von Beethovens neunter Sinfonie.
Jahre später, 1814, wurde Beethovens Kantate Der glorreiche Augenblick, komponiert für den Wiener Kongress, vor einem Publikum aus Monarchen und Fürsten aufgeführt, die sich versammelt hatten, um Napoleons Niederlage zu feiern – ein Publikum, das in Hinblick auf gesellschaftlichen Glanz beinahe ohnegleichen war. In diesem Fall überragte die Brillanz des Publikums leider den der Kantate, die durch einen minderwertigen Text und eine Partitur, die in ihrem Bombast nur durch Wellingtons Sieg (auch als Schlachtensinfonie bekannt) desselben Jahres übertroffen wurde, wie gelähmt war.
Die Kantate Meeresstille und glückliche Fahrt ist eine vollkommen andere Sache. Sie wurde 1815 für vierstimmigen Chor und Orchester komponiert und vereint zwei Gedichte von Goethe. Wie Beethoven dem Dichter erklärte, als er ihm die Widmung 1823 sendete, geschah dies, weil beide „mir ihres Kontrastes wegen sehr geeignet [schienen], auch diesen durch Musik mitteilen zu können. Wie lieb würde es mir sein zu wissen, ob ich passend meine Harmonie mit der Ihrigen verbunden!“ Goethe antwortete in solchen Fällen nie. Das Werk ist auf seine Weise ein kleines Meisterwerk, nicht zuletzt aufgrund der Lebhaftigkeit und Sensibilität, mit denen Beethoven die Worte und Klangfarben umsetzte. Der Chorsatz ist vollkommen idiomatisch und zeigt nicht die technischen Herausforderungen, über die sich Sänger später in der Neunten und der Missa solemnis beschwerten. Ein großer Teil des Orchestersatzes ist ebenfalls genial, nicht zuletzt im langen, hypnotischen pianissimo-Anfang, in dem die Sonne auf der ruhigen See glitzert. Mit Ausnahme des Finales der neunten Sinfonie, das ein Sonderfall ist, und der eng verwandten „Chorfantasie“, Op. 80, sind die bedeutenden Chorwerke des reifen Beethoven ein Oratorium und zwei Messen. Christus am Ölberge wurde nach der Heiligenstadt-Krise von 1802 geschrieben, als Haydns großartige Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten den Wienern noch in frischer Erinnerung waren. Es erfreute sich im 19. Jahrhundert als eine im Wesentlichen dramatische Betrachtung des Themas universellen Leidens großer Beliebtheit, aber fiel seitdem weitgehend in Ungnade. Heute erlebt das Oratorium nur wenige Aufführungen. Die Messe C-Dur von 1807 hielt sich weitaus besser, wurde aber unvermeidlich von der späteren und bedeutenderen Missa solemnis überschattet. Beethoven beschrieb beide Werke als „vorzüglich am Herzen“ liegend und war nicht sehr erfreut, als die C-Dur-Messe von Fürst Nikolaus Esterházy als „insuportablement ridicule et detestable (unerträglich lächerlich und scheußlich)“ abgetan wurde, der sie in Auftrag gegeben hatte. Die Nachwelt ließ den Fürsten in einer schmählichen Minderheit stehen.
Beethovens Originalmanuskript der Missa solemnis, „Dona nobis pacem“
Die Arbeit an der Missa solemnis, 1819 begonnen, zog sich hin und wurde erst 1823 vollendet. Beethoven hielt sie für sein großartigstes Werk, und neun Generationen Musikliebhaber bestätigen sein Urteil. Obwohl sie ursprünglich für liturgische Zwecke gedacht (die Inthronisierung des Erzherzogs Rudolph als Erzbischof von Olmütz 1820) und von tiefen religiösen Gefühlen angeregt war, zeugt das Werk von einer Größe und Universalität, die auch von den aufwändigsten kirchlichen Ritualen kaum zu fassen sind. Zusammen mit Bachs h-Moll-Messe steht sie an der Doppelspitze in der gesamten Geschichte des Genres: eine Messe, aber von sinfonischem Ausmaß und sinfonischer Konzeption. Nur ein Genie gigantischen Formats konnte ein Werk von solcher Komplexität und Meisterschaft ersinnen. In seiner berühmten Überschrift des Kyrie sagt Beethoven alles, was er zu sagen wünschte, alles, was gesagt werden muss: „Von Herzen – Möge es wieder – Zu Herzen gehn!“ Es ist ein transzendent emotionales Werk mit einer transzendent spirituellen Absicht. „Bei der Bearbeitung dieser großen Messe [war es] meine Hauptabsicht“, schrieb er, „sowohl bei den Singenden als bei den Zuhörenden, Religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen.“ Dass ihm dies gelang, ist eine historisch belegte Tatsache.