Süße Träume

Am nächsten Tag mietete Salviati sich eine Wohnung.

Er hatte es satt, noch länger in Linas Wohnung zu bleiben; die Nachbarn hätten Verdacht schöpfen können. Außerdem hatte er seine Coups immer in Ruhe vorbereitet, weit weg von den Städten und vom Geld.

Lina hatte den Wagen in der Garage zurückgelassen, die Autoschlüssel hingen neben der Tür. So konnte sich Salviati frei vom einen Ende des Tessins ins andere bewegen. Beim Durchblättern einer Ausgabe des Cerca & Trova hatte er ein Wohnungsangebot oberhalb von Rivera auf dem Monte Ceneri entdeckt. Es war ein modernes Gebäude, von einem Erlen- und Nussbaumwäldchen umgeben, so als wolle man dessen Anblick verbergen. Nichts deutete auf das Werk eines Architekten hin, und wer es errichtet hatte, hatte sich offenbar an keinerlei Bebauungsplan gehalten.

Salviati besah sich nicht einmal die Möbel, sondern bedauerte lediglich den Zustand des Gartens. Der Immobilienmakler erklärte ihm, dass die Wohnung bis Ende Juni vermietet gewesen sei. Danach stand sie leer. Salviati zahlte für drei Monate im Voraus. Kaum hatte er sich von dem Makler verabschiedet, setzte er sich vor die Tür und rief – wie er es seit nunmehr vier Tagen tat – bei Matteo Marelli an. Er verlangte, sofort mit Lina zu sprechen.

»Ich weiß nicht«, antwortete Marelli, »ich weiß nicht. Sie sollten nicht mich fragen!«

»Wen dann? Ich will wissen, wie es Lina geht. Sonst …«

»Es geht ihr gut, es geht ihr gut«, unterbrach ihn Marelli,

»Hör zu, Marelli, das ist die letzte Gelegenheit!«

»Ja, natürlich! Und was unser Geschäft betrifft …«

»Willst du etwa am Telefon darüber sprechen?«

»Nein, natürlich nicht.« Marelli hüstelte, »aber ich habe Ihnen eine Liste mit allen Filialen der Gesellschaft zusammengestellt, um die sich unser Geschäft dreht. Das wird sicherlich hilfreich sein, um …«

»Zuerst will ich meine Tochter sprechen.«

Salviati beendete das Telefonat. Seine Sorge wuchs. Obwohl, das musste er zugeben, die Gelegenheit günstig schien. Vor allem der Umstand, dass man eine Nebenfiliale ins Visier nehmen und trotzdem sicher sein konnte, dort zehn Millionen zu finden. Allerdings musste zuvor eine Reihe von Punkten geklärt werden …

Aber was tue ich da? Er merkte, dass er sich innerlich bereits mit der Idee des Überfalls anfreundete. Das war das Übelste an Forsters Niederträchtigkeit. Salviati hatte Jahre gebraucht, um sich aus dem Umfeld zurückzuziehen und sich einen Broterwerb zu suchen. Und nun? Auch wenn alles gut ging, wusste er nicht, ob er am Ende den Mut finden würde, zur alten Madame Augustine zurückzukehren.

 

»Ich bin sicher«, erklärte Renzo Malaspina, »dass Marelli ein Einzelgänger ist.«

»Auf jeden Fall ist er kein Profi«, meinte Contini.

»Das denke ich auch. Sagen wir, er ist jemand, der zupackt.«

Sie saßen in Continis Büro, das Fenster zum See weit geöffnet. Der Detektiv hatte seinem Mitarbeiter ein Glas Weißwein gebracht und ein wenig Platz auf dem mit Krimskrams beladenen Schreibtisch geschaffen. Malaspina war offiziell arbeitslos, aber er erledigte tausend kleine Arbeiten. So half er gelegentlich auch Contini. Er leerte sein Glas und sagte:

Malaspina und Contini, einer dem andern gegenüber, boten einen Anblick, der einem in den Augen wehtat. Der Detektiv trug Jacke und Hose aus weißem Leinen, Malaspina dagegen eine kurze violette Hose und ein eng anliegendes orangefarbenes T-Shirt, das seine Muskelpracht kaum verbarg.

»Jedenfalls scheint mir der schwache Punkt an der ganzen Geschichte gerade dieser Marelli zu sein«, sagte Contini. »Forster direkt anzugreifen, ist schwierig.«

»Was hat eigentlich dein Freund Salviati vor?«

»Ich weiß nicht. Ich hoffe, dass er so lange stillhält, bis ich Marelli zu fassen bekomme. Ich glaube, dass er uns zu Jeans Tochter bringen kann.«

»Ich habe rausgefunden, wo er wohnt, in Massagno«, erklärte Malaspina, während er vorsichtig sein Glas auf dem Schreibtisch, zwischen einer Kaktuspflanze und einem Schnappmesser, abstellte. »Aber er ist in dem Viertel lange nicht mehr gesehen worden. Es heißt, er habe irgendeine größere Sache am Laufen.«

»Das glaube ich gern! Noch etwas Wein?«

»Danke.« Malaspina hielt sein Glas hin. »Ich halte weiter nach ihm Ausschau. Ich bin sicher, er wird früher oder später auftauchen. Er kann schließlich nicht vollkommen von der Bildfläche verschwinden, oder?«

»Nein«, Contini schüttelte den Kopf. »Aber diese Entführung ist merkwürdig …«

»Wie meinst du das?«

»Marelli besitzt die Informationen über die Banktransfers, schön und gut. Aber warum überlässt man ihm die Organisation von Linas Entführung? Weshalb hat sich Forster nicht jemanden ausgesucht, der geeigneter ist?«

Hinter dem Fenster zerfiel der See in unzählige glitzernde

»Marelli ist ein Betrüger. Aber kein Entführer. Warum also diese Geschichte? Warum scheint es, als wisse Marelli, wo Lina versteckt ist, und als liege es in seiner Macht, Telefongespräche zu versprechen?«

»Hm«, Malaspina kratzte sich am Kopf. »Bisher gab es jedenfalls noch keinen Anruf.«

»Auch das ist merkwürdig. Jean verliert allmählich die Geduld. Wieso lassen sie ihn nicht mit seiner Tochter sprechen?«

Malaspina antwortete nicht. Ein grausiger Gedanke ging den beiden Männern durch den Kopf, als habe eine Wolke den See verdunkelt.

»Hoffentlich geht es Lina gut«, sagte Contini und erhob sich. »Gehen wir was essen?«

Malaspina nickte. Er war ein wortkarger Mensch, genau wie Contini, und vielleicht war er gerade deshalb in der Lage, in zwielichtige Tessiner Kreise einzudringen und Informationen zu sammeln. Sicher trug auch die Tatsache, dass er zwei Meter groß war und über hundert Kilo wog, dazu bei.

Sie aßen bei Piero, einem schlichten Restaurant im Stadtzentrum von Lugano. Contini mochte die beinahe ländliche Atmosphäre, die karierten Tischdecken und den Hauswein, der in Karaffen serviert wurde. Sie aßen das Tagesgericht. Pasta mit einer Soße aus Paprika und Zwiebeln, die mit etwas Tofu und Pesto verfeinert war. Piero versicherte, dass es eine leichte Mahlzeit sei.

»Leicht?«, fragte Contini und strich die Serviette glatt. »Na, wenn du es sagst …«

Malaspina goss sich ein großes Glas Merlot ein und sah mürrisch auf den Teller. Er sagte kein Wort. Bevor er sich mit Luca Forster anlegte, würde er auf jeden Fall mindestens noch ein Rindersteak verdrücken. Malaspina verkehrte bereits seit einigen Jahren in dem Milieu und kannte sich aus.

 

Kein Anruf.

Lina schien sich in nichts aufgelöst zu haben.

Salviati durfte nicht länger warten. An diesem Abend würde er, in Tesserete, zum Angriff übergehen.

Am Nachmittag suchte er einen seiner alten Kontakte auf. Er hieß Giovanni, nannte sich Gengio und besaß ein Lager in der Gegend von Molino Nuovo. Er war ein schmächtiger, flinker Typ, der den Eindruck erweckte, als könne er an zwei verschiedenen Orten gleichzeitig sein und dabei jeweils drei verschiedene Gespräche führen.

»Zum alten Leben zurückgekehrt!«, rief er, als Salviati ihm sein Anliegen erklärt hatte. »Und mit ganz neuen Seiten! Das war früher nicht dein Stil, oder?«

»Nein«, Salviati sah sich um. »Aber ich muss meinen Stil ändern.«

»Also werd ich dir ein paar Dinge erklären, die dir nützen könnten!«

In dem schwachen Licht des Lagers wirkte der Raum noch tiefer. In langen Regalreihen drängten sich allerlei Behältnisse und mit Tüchern abgedeckte Gerätschaften.

»Es gibt verschiedene Möglichkeiten«, sagte Gengio, »aber ich vermute, du willst auf Nummer sicher gehen. Außerdem muss man schauen, wie man sich Zutritt verschaffen kann, ob ein zusätzlicher Bruch nötig ist, oder …«

»Gengio.«

»Was denn?«

»Der Reihe nach. Vor allem will ich kein Risiko eingehen. Das heißt, ich will nicht, dass beim Opfer irgendwelche Nebenwirkungen auftreten.«

»Glaubst du etwa, ich bin ein Pfuscher? Die einzige Gefahr besteht bei Überdosierung und … na ja, es können natürlich

»Was ist das für Gas, Lachgas?«

»Hab ich auch da, wenn du willst, aber heutzutage gibt es Besseres. Um eine narkotische Wirkung zu erzielen, braucht man eine zu hohe Konzentration im Verhältnis zur Luft, beinahe siebzig Prozent. Nein, in der Regel empfehle ich Chlormethan, Cyclopropan, Halothan, Enfluran oder Isofluran.«

Während Gengio die Betäubungsmittel aufzählte, war er in eine Ecke des Lagers getreten. Dort stand ein Holzregal, das mit einem alten Tuch verhangen war. Gengio schob es beiseite, und Salviati sah eine Reihe weißer Gefäße neben kleinen Stahlflaschen und einigen batteriebetriebenen Zerstäubern, wie sie Asthmatiker verwenden.

»Ich kann dir Flasche und Zerstäuber zusammen verkaufen«, erklärte Gengio. »Zuerst verteilst du das Gas mithilfe des Zerstäubers im Raum. Das Opfer wird dadurch nicht ganz einschlafen, aber zumindest leicht betäubt sein. Nachdem du dir Zugang verschafft hast, halte ihm einen Mullbausch vors Gesicht und beende dein Werk. Du musst nur daran denken zu lüften, sonst läufst du Gefahr, selbst einzuschlafen. Ich kann mich an einen erinnern, den sie mal am Morgen, am Fußende eines Bettes gefunden haben …«

»Gengio.«

»Was denn?«

»Der Reihe nach. Woher weiß ich, welche Konzentration die richtige ist?«

»Das ist ja das Gute!« Gengio hüpfte beinahe vor Vergnügen. »Bei diesen flüssigen Mitteln genügt eine Konzentration von 0,5 bis 1,5 Prozent. Du kannst sicher sein, dass es wirkt und dass das Opfer nichts merkt. Und was die Verteilung angeht … ich geh jetzt mal systematisch vor, oder?«

Gengio zwinkerte Salviati zu, der nickte und ein Lächeln andeutete.

Salviati versuchte, sich die Informationen zu merken. Coups, die mithilfe von Anästhetika durchgeführt wurden, hatten nie zu seinem Repertoire gezählt. Zu plump, zu aggressiv. Aber nun befand er sich im Krieg und musste mit allen Mitteln kämpfen. Er kaufte eine Stahlflasche, die bereits mit einem Betäubungsmittel gefüllt war, sowie eine Ersatzflasche. Im letzten Augenblick nahm er noch eine Ausziehleiter mit: Er hatte beinahe vergessen, dass das Fenster im zweiten Stock lag.

»Gut, dann bleibt mir nichts weiter, als dich nochmals zu ermahnen«, sagte Gengio, während er ihn zum Ausgang begleitete. »Denk dran. Wenn ein Gitter vor dem Fenster ist, musst du es aufbrechen, sobald du das Gas versprüht hast. Denn es wirkt sofort. Wenn du drin bist, legst du den Atemregler an den Mund des Opfers und …«

»Gengio.«

»Hab verstanden. Hab schon verstanden! Ich wette, es gibt gar kein Gitter vor dem Fenster.«

Salviati lächelte.

»Weißt du was, Gengio?«

»Was denn?«

»Ich muss gestehen, dass du mir all die Jahre gefehlt hast.«

 

Contini überquerte die Via San Gottardo, stieg ein paar Stufen hinauf und befand sich in der Via Motta. Er schlenderte sie entlang wie ein Tourist, der sich zufällig nach Massagno verirrt hat. Er kam immer mehr zu der Überzeugung, dass

Ihm schien, dass Salviati zunehmend unruhiger wurde. Aber zehn Millionen zu rauben, um Lina zurückzubekommen, war der reine Wahnsinn, das wusste Contini. Die italienische Schweiz ist kein Ort, an dem sich die Idee, eine Bank auszunehmen, einfach so von einem Traum in Wirklichkeit verwandeln lässt.

Massagno klammert sich so eng an das große Lugano, dass man den Übergang von der einen Gemeinde in die andere nicht bemerkt. Dennoch ist Massagno nicht Lugano. Und im Grunde ist es stolz darauf. Abschüssige Straßen, gepflegte Gärten und eine Gemeindeverwaltung, die wie eine Glucke über die sechstausend Einwohner wacht … und dennoch, dachte Contini, während er in die Via Foletti einbog, dennoch lebt Matteo Marelli hier. Ein Betrüger mit räuberischen Ambitionen. Ein Frauenentführer. Was hat er inmitten von Zweifamilienhäuschen und blitzblanken Sportanlagen zu suchen?

Irgendetwas stimmte da nicht. Er hielt an und betrachtete die Gebäude einer Mittelschule, in denen sich nichts rührte mitten in den großen Ferien. In einer Ecke versuchten zwei Jungen auf ein Mäuerchen zu springen, ohne die Füße vom Skateboard zu nehmen. Manchmal fühlte Contini sich von der Normalität erdrückt. Die Sonne auf dem Beton, die Rufe der Jungen, die grüne Wiese. Wie war es möglich, zwei Seiten einer Medaille zu leben? Was hatten diese Skateboards zwischen dem Geflüster der Hehler verloren, inmitten der Schakale, die sich auf die Abfälle des Private Banking stürzten?

Vielleicht lag die Antwort hinter der Fassade eines namenlosen zweigeschossigen Gebäudes in der Via dei Sindacatori.

»Oh, ich Ärmste … heute mache ich sauber, entschuldigen Sie«, sagte die Nachbarin von gegenüber, eine Siebzigjährige in Kittelschürze und Hausschlappen. »Sie suchen Matteo?«

»Ja. Contini mein Name.«

»Wie lange genau?«

»Wenn Sie möchten, können Sie eine Nachricht bei mir hinterlassen.«

»Nein, nein, nicht so wichtig. Wir haben nur seit ein paar Tagen nichts von ihm gehört und machen uns ein bisschen Sorgen in der Familie … wissen Sie, ich bin sein Schwager.«

»Schwager?« Die Alte riss die Augen auf. »Ich Ärmste, ich wusste gar nicht, dass Matteo verheiratet ist!«

Contini seufzte.

»Geschieden, leider. Seine Exfrau ist meine Schwester.«

»Ah.«

»Er ist ein guter Freund. Wir haben ein sehr enges Verhältnis. Sagen Sie, da Sie ihn gut kennen, steckt er etwa in irgendwelchen Schwierigkeiten?«

»Aber nein doch! Matteo! Normalerweise geht er nie aus dem Haus, außer wenn er mit so einem Mädchen zusammen ist … oh, ich Ärmste, verzeihen Sie mir!«

»Ich bitte Sie! Schließlich sind sie geschieden.«

»Matteo ist jedenfalls ein guter Junge. Immer freundlich, immer hilfsbereit. Ich dachte, er sei im Urlaub.«

Das war es, was nicht stimmte. Ein junger Mann, der in dieser ruhigen Gegend wohnte, ein beflissener Typ, häuslich … Schon möglich, dass er ein zweitklassiger Verbrecher war, aber Contini konnte sich nur schwer vorstellen, dass sich so jemand mit Forster verbündete, um eine Entführung zu organisieren. Und dennoch …

»Hat er Ihnen, wo Sie zur Familie gehören, nicht gesagt, dass er Urlaub macht?«, fragte die Alte mit einem Anflug von Argwohn in der Stimme.

»Nein, er lebt sein eigenes Leben. Allerdings machen wir uns ein bisschen Sorgen. Er ist ein Einzelgänger, aber vielleicht sollte er öfter mal unter Leute kommen …«

»Hm … ich Ärmste, wissen Sie, Matteo hat diese Probleme gar nicht! Kurz bevor er abreiste, war er immer mit einer zusammen. Ich weiß das, weil die Wände dünn sind. Auch wenn man nicht möchte, kann man gar nicht anders als zuhören, verstehen Sie …«

»Natürlich!« Contini versuchte nachzuhaken. »Vielleicht weiß seine Freundin, wo er hin ist. Haben Sie zufällig gehört, wie sie heißt?«

Die Alte wurde misstrauisch.

»Ich bin schließlich nicht indiskret! Außerdem ist sie nicht seine Freundin! Vielleicht eine Bekannte, oder so …«

»Ach so, natürlich …«

Contini bedankte sich bei der Nachbarin und schickte sich an, die Treppe hinunterzugehen. Aber die Alte konnte die Sache offenbar schlecht für sich behalten. Bevor sie die Tür schloss, rief sie ihn noch einmal zurück.

»Also«, sagte sie mit einem herausfordernden Funkeln in den Augen, »also, dieses Mädchen, mit dem er telefoniert hat, heißt Lina. Ich habe es einmal zufällig gehört, ich Ärmste, Sie wissen ja, dass die Wände …«

»Lina?«

»… dünn sind und … was haben Sie gesagt?«

»Das Mädchen heißt Lina?«

»Lina«, wiederholte die Alte. »Habe ich Ihnen doch gesagt, oder?«

»Natürlich. Ich danke Ihnen. Einen schönen Tag noch!«

Die Alte verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und zog die Tür zu.

Seltsam, dachte Contini später, während er die Via San Gottardo hinauflief, um den Bus zu nehmen. Wirklich seltsam.

Ein Entführer, der mit dem entführten Mädchen telefoniert.

In was für eine Geschichte bin ich da hineingeraten?