Contini saß allein an einem Ecktisch. Über ihm sandte eine Neonleuchte alle drei Sekunden einen violetten Lichtstrahl aus. Neben ihm, an der Wand, hing ein Poster mit dem Gesicht von Elvis Presley. Contini nahm einen Schluck Whiskey und beobachtete, wie Elvis’ Augen violett wurden, dann in der Dunkelheit verschwanden, dann wieder violett wurden.
Er hoffte, nicht allzu lange warten zu müssen.
Der Hot Rock Club war ein Lokal im Niederdorf, dem Fußgängerviertel in der Zürcher Innenstadt. Von außen wirkte es wie eine unbedeutende Kneipe, wer tagsüber vorbeikam, fand es immer geschlossen vor. Es gab kein Fenster, durch das man einen Blick ins Innere hätte werfen können, kein einziges Schild, außer die Aufschrift: Live Music – 22.30–04.00. Tatsächlich griff gegen zwei Uhr morgens ein Fettkloß mit wässrigen Augen in die Tasten, neben der Bühne, auf der sich die Mädchen darboten.
Die Gäste waren hier und dort verteilt, nie mehr als zwei an einem Tisch. Vor der Bühne befand sich, umrahmt von einer blau schimmernden Neonröhre, eine Freifläche für die, die tanzen wollten. Auf der Bühne brachte etwa alle halbe Stunde eines der Mädchen eine Nummer: meistens ein Striptease, aber nicht zu übertrieben, eine Kostprobe, sozusagen.
»Willst du mir nicht ein bisschen Champagner spendieren?«, fragte das Mädchen auf Deutsch.
Contini verstand die Frage, denn er hörte sie bereits zum siebten Mal. Sie war eine ganz Dünne, mit hellblondem, fast weißem Haar. Contini schüttelte den Kopf und machte ein Zeichen, wie um zu sagen: später. Aber er wusste, dass er bald Position beziehen musste. Einer vom Wachpersonal, der versteckt im Schatten stand, hatte ihn bereits seit einigen Minuten im Visier.
Summertime. Contini erkannte das Stück, das der Fettkloß spielte. Aber zwischen einem Ton und dem nächsten klafften weite Lücken, waren spontan irgendwelche Schnörkel eingefügt, einzig zu dem Zweck, das Süppchen zu strecken.
Beim nächsten Song, den Contini nicht kannte, setzte sich eine andere Frau zu ihm an den Tisch. Diesmal schien es jedoch die richtige zu sein. Sie hatte schwarzes, schulterlanges, offenes Haar, zwei dunkle Augen und einen dunklen, mediterranen Teint. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und flüsterte etwas auf Deutsch. Contini schüttelte den Kopf. Die Frau fragte:
»Do you want to dance?«
»Wie heißt du?«, fragte Contini auf Italienisch.
»Ich heiße Viola«, antwortete die Frau ebenfalls auf Italienisch.
Der Detektiv musterte sie ein paar Sekunden, dann murmelte er:
»Wieso nicht?«
Auf der Tanzfläche waren zwei weitere Paare. Eines bestand aus einem sehr braun gebrannten Mann um die vierzig und einer Blondine mit spitzen Brüsten und atemberaubenden Beinen. Er schob sie vorsichtig über die Tanzfläche, wie ein Butler, der die Teekanne des guten Services in der Hand hält. Das andere Pärchen war klassischer: er um die sechzig, mit buntem Hemd, sie eine Mulattin, die aussah, als würde sie jeden Augenblick in Gelächter ausbrechen.
Viola schmiegte sich an Contini. Sie trug ein hautenges, glänzendes Kleid, das die Schultern frei ließ und weit oberhalb der Knie endete. Er, in seinem zerknitterten Leinenanzug mit der schmalen schwarzen Krawatte, wirkte wie ein Bandoneon-Spieler, der sich im Lokal geirrt hatte. Viola sprach mit leiser Stimme direkt in sein Ohr:
»Gefällt’s dir hier?«
Contini verstand das geschickte Manöver. Violas Hände auf dem Rücken, ihr Mund am Hals, ihr Becken, mit dem sie sich an ihn drückte. Er versuchte, sie an den Rand der Tanzfläche zu schieben und fragte:
»Bist du die Bekannte von Jean Salviati?«
Wer in der Schweiz lebt, kennt den Reichtum. Auch wer kein Geld hat. Das Geld ist überall, sieht einem aus den Schaufenstern entgegen, flattert mit den Kreditkarten aus den Geldautomaten. Für jemand, der in der Schweiz lebt, ist es unmöglich, an einer Bank vorbeizukommen und nicht zu denken, dass dort drinnen Beute wartet. Die Leute begnügen sich mit einem Traum: im Lotto zu gewinnen oder eine Million Franken zu rauben. Hin und wieder hat einer sechs Richtige. Und hin und wieder raubt einer eine Bank aus.
Anna legte ihre Theorie mit Feuereifer dar. Ihr Mann sah sie an und sagte:
»Du bist verrückt.«
»Aber es stimmt«, erwiderte sie, »ich hab’s mir schließlich nicht ausgedacht.«
An diesem Morgen waren sie zeitig aufgestanden. Es war Ende August und ein neues Schuljahr stand bevor. Filippo hatte beinahe täglich eine Lehrerkonferenz, während Anna sich mit dem Katalog der jüngsten Neuerwerbungen der Öffentlichen Bibliothek herumplagte. Aber beim Frühstück, während sie in ihrer Ovomaltine herumrührte, ließ Anna ihrer Phantasie freien Lauf.
»Das ist ein Überfall!«, hatte sie gerufen, während ihr Mann eine Orange auspresste. Er, noch im Schlafanzug, hatte sich umgedreht und gefragt:
»Findest du das lustig?«
»Es ist ein illokutionärer Akt«, erklärte Anna, während sie ein Stück Schwarzbrot mit Butter bestrich.
Filippo seufzte nur.
»Es ist eine bestimmte Form der Aussage, die die Sprachwissenschaftler ›illokutionär‹ nennen«, sagte Anna. »Also ein sprachlicher Ausdruck, durch den eine Handlung vollzogen wird, ganz einfach indem dieser Ausdruck zur Anwendung kommt.«
Filippo sah sie an, als habe sie gerade ein Gedicht auf Swahili aufgesagt.
»Das ist doch ganz einfach!«, beharrte Anna. »Wie wenn der Pfarrer oder Standesbeamte sagt: Ihr seid Mann und Frau, und dann sind die beiden verheiratet.«
»Quäl mich nicht …«, murmelte Filippo.
»Du hast keinen Sinn für Humor! In den sechziger Jahren hat der berühmte Bankräuber Horst Fantazzini einen Haufen Banken ausgeraubt, ohne eine einzige Waffe zu gebrauchen. Er musste sich nur an den Auszahlungsschalter lehnen, die Bankangestellte anschauen und freundlich sagen: Das ist ein Überfall. Sie händigte ihm das Geld aus und er machte sich in aller Ruhe aus dem Staub.«
Filippo sah von seinem Teller auf und sagte:
»Davon hab ich noch nie gehört. Wo hast du das gelesen?«
»Ich habe ein bisschen über Banküberfälle recherchiert. Weißt du, ich kann es kaum glauben, dass wir im Begriff sind, etwas Unrechtmäßiges zu tun.«
»Ja,« Filippos Miene verfinsterte sich, »auch ich kann es kaum glauben.«
»Sag bloß, du bereust es. Wir tun es schließlich für Jean.«
»Ich weiß, ich weiß … aber du wirst zugeben, dass so was nicht alle Tage passiert. Ein Typ, den wir aus dem Urlaub kennen, klingelt an der Tür und sagt: Ich bin ein Dieb, man hat meine Tochter entführt, wir müssen eine Bank ausrauben.«
»Hm, schon … aber du glaubst ihm doch, oder?«
»Natürlich. Ich will keinen Rückzieher machen. Aber weißt du, Anna, die machen ernst! Das ist kein Spiel, und wenn was schiefgeht …«
»Oje, wie kann man nur immer so pessimistisch sein. Außerdem meinte Jean, dass wir eine Rolle hinter den Kulissen spielen werden. Letztlich will er im Moment nur, dass wir ein paar Fotos schießen.«
»Das stimmt.« Filippo wischte sich den Mund ab und rutschte mit dem Stuhl nach hinten. »Wann wollen wir das eigentlich machen?«
»Ich dachte am Nachmittag. Wir sollen den Eingang der Bank und alle angrenzenden Straßen fotografieren.«
Anna redete schnell und räumte dabei das Frühstücksgeschirr ab. Sie erinnerte Filippo an ein Kind, das ein Picknick vorbereitet. Er griff nach dem Brotkorb und fragte:
»Und wie willst du es machen? Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass einer die Junker-Bank fotografiert.«
»Ich habe schon über alles nachgedacht«, erklärte Anna, »und mir einen Plan zurechtgelegt.«
Filippo ließ sich auf seinen Stuhl zurücksinken und stellte den Brotkorb ab. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann gab er sich einen Ruck und fragte:
»Du hast dir … einen Plan zurechtgelegt?«
»Ja, ich hab deine Schwester gefragt, ob sie mir Gigi für ein paar Stunden überlässt. Wenn ich so tue, als würde ich das Baby fotografieren, wird niemandem etwas auffallen.«
»Hm …« Filippo spielte mit dem Brotmesser. »Wollen wir’s hoffen.«
»Der Plan ist perfekt!«
»Perfekt?«
»Ja, ganz bestimmt. Ich habe auch eine Tabelle mit den Zeiten vorbereitet. Willst du sie sehen?«
Filippo verdrehte nur die Augen.
Wenn man von der Tramstation Central kommend die Brücke über die Limmat überquert, kann man eine schmale Straße nehmen, die am Fluss entlangführt. Unter Touristen ist es ein bevorzugter Ort für Erinnerungsfotos. Ab einem bestimmten Punkt beginnt die Straße zu steigen, bis sie auf einem Platz, dem sogenannten Lindenhof, endet.
Von dort sieht man auf den Fluss und die Zürcher Altstadt. Man kann auf den Schachbrettern, die auf die Erde gemalt sind, Schach spielen, oder sich auf die Steinmauer setzen und die Aussicht genießen.
Genau das taten Contini und Viola. Nur, dass sie nicht die Aussicht genossen, sondern über Geld redeten.
»Das wird teuer für euch«, sagte Viola.
»Wir können zahlen«, erwiderte Contini »wichtig ist nur, dass keine Fehler unterlaufen. Wir haben nur eine Chance.«
»Wenn euer Mann bereit ist, mach ich mich an ihn ran.«
»Und wenn er sich nicht drauf einlässt?«
»Wer es gewohnt ist zu zahlen, sagt bei einer, die er umsonst haben kann, nicht nein.«
»Wichtig ist, dass ihr zu ihm nach Hause geht. Du darfst dich auf nichts anderes einlassen.«
»Hey, ganz ruhig! Ist schließlich nicht das erste Mal, dass ich so was mach!«
Contini nickte. Er fragte sich, ob sie sein Unwohlsein bemerkte. In der Nacht zuvor hatte er Viola die Idee in groben Zügen unterbreitet und ihr jetzt die näheren Details geliefert. Laut Salviati war sie eine sehr fähige und zuverlässige Person. Auch auf Contini machte sie einen guten Eindruck. Was ihm nicht gefiel, war die Sache selbst.
»Du weißt, dass wir eine Menge riskieren, oder?«, fragte er Viola.
»Was glaubst du denn«, antwortete sie, »aber es sind nur scheinbare Risiken. Dein Freund Salviati hat schon weitaus Schlimmeres organisiert, in den alten Zeiten.«
»Das kann ich mir vorstellen …«
»So ein Auftrag kommt mir übrigens ganz gelegen … jetzt, wo ich bereits an die Rente denken und jedes Räppli beiseitelegen muss!«
Contini wandte sich um und sah auf den Platz. Er lag im Schatten großer Linden, die nach Sommer und erfrischenden Nachmittagen auf dem Land dufteten. Auf den Bänken saßen junge Leute mit einem Buch, einige Pärchen und Alte. Ein Hund scharwenzelte um die Schachspieler herum.
»Was wirst du dann machen?«, fragte Contini.
»Hm, weiß nicht!« Viola fing an zu lachen. »Ich denk, ich werd zurück ins Dorf … Meine Cousine hat einen Schönheitssalon in Apulien, vielleicht kann ich ihr ein bisschen zur Hand gehen. Irgendwas wird sich schon finden.«
Contini zündete sich eine Zigarette an. Sie hatten bereits alle Punkte geklärt, aber er fühlte sich träge. Er hätte noch Stunden auf diesem Platz bleiben, dem Rauschen der Linden lauschen und auf den Fluss schauen können.
»Und du«, fragte sie, »was machst du? Du scheinst mir nicht in die Szene zu gehören.«
»Nein, das tu ich nicht. Ich helfe Salviati.«
»Es ist sein letzter Coup, stimmt’s?«
»Ja«, Contini schnitt eine Grimasse, »so könnte man sagen.«
»Oh, ich will kein Unglück heraufbeschwören. Alles wird bestens laufen! Wir stehen beide vor unserem letzten Coup, was für ein Zufall. Und für dich ist es der erste.«
Contini deutete ein Lächeln an. Dann erhob er sich und setzte den Strohhut auf, den er auf die Mauer gelegt hatte.
»Ich muss gehen«, erklärte er.
»Ich bleib noch ein bisschen«, meinte Viola. »Wir sehen uns!«
Contini kehrte zurück zum Central. Er nahm die Drei bis Stauffacher und die Acht bis Helvetiaplatz. Dann ging er zu Fuß die Langstrasse hinunter. Er lief bis zur Nummer zweiunddreißig, ohne darauf zu achten, was rings um ihn geschah. Eigentlich war er ein guter Beobachter, er behielt die Leute und die Umgebung gern im Auge. Aber in den letzten Tagen war er ganz von seinen Gedanken in Beschlag genommen.
Er drückte auf die Ladenklingel des Info 3000, und Salviatis Freund, der Informatiker mit den in alle Richtungen abstehenden Haaren, öffnete ihm.
»Oh, wer kommt denn da!«, begrüßte er Contini. »Unser Detektiv! Wie ist es gelaufen?«
»Gut. Wo ist Salviati?«
»Hier lang, hier lang.« Giotto Raspelli führte den Detektiv ins Hinterzimmer. »Wir sind grad dabei, uns verschiedene Videokameras anzusehen.«
Salviati war über eine Art PDA gebeugt. Er hob die Augen und lächelte:
»Elia! Alles klar? Seid ihr einig geworden?«
Contini nickte.
»Wir setzen uns hier grad mit Technik auseinander. Dieses Modell gab es zu meiner Zeit noch nicht. Die Videokamera lässt sich überall verstecken, sie ist so klein wie eine Münze, siehst du? Dreißig mal achtundzwanzig mal achtzehn Millimeter, aber die Aufnahmen sind gestochen scharf. Sieh mal die Bilder, es ist ein hochauflösender TFT-Bildschirm …«
»Aha.« Contini sah nur flüchtig hin. »Dir ist klar, Jean, welcher Vergehen wir uns da schuldig machen?«
Salviati sah zur Decke. Raspelli ließ aus seiner Ecke ein kurzes Lachen vernehmen. Contini sprach mit leiser Stimme:
»Kriminelle Vereinigung, Anstiftung, Einbruch, Eindringen in die Privatsphäre, Firmenspionage, Diebstahl …«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Salviati und wurde mit einem Schlag ernst. »Glaubst du, ich wüsste das nicht? Glaubst du, mir macht es Spaß, Viola in die Geschichte reinzuziehen?«
»Es ist … eine …«, Contini fand das Wort nicht.
»Es ist eine Schweinerei!«, rief Salviati erregt. »Eine Schweinerei, sprich’s ruhig aus! Aber wir haben keine andere Wahl, das weißt du! Ich hab es versucht, du hast es versucht, besser gesagt, du versuchst es noch immer! Aber Lina taucht nicht auf, Marelli ist verschwunden! Meine Tochter ist in Forsters Gewalt, Elia, und wenn er die Geduld verliert …«
Contini schwieg einen Moment lang. Dann sagte er:
»Zeig mir mal diese Videokamera.«