In den Bergen oberhalb von Corvesco lebt ein alter Mann. Er heißt Giona und ist Einsiedler. Er verbringt seine Tage damit, sich den Bart wachsen zu lassen. Hin und wieder bringt ihm jemand etwas Brot, eine Suppe oder auch eine Flasche Wein. Er lebt in einer Hütte, die an eine Höhle grenzt, in der Nähe des Tresalti. Er streift durch die Wälder wie eine Bergziege, geht auf die Jagd oder zum Angeln. Aber die meiste Zeit beobachtet er nur, wie die Sonne hinter den Bergen auftaucht und wieder verschwindet.
Giona kommt fast nie hinunter ins Dorf. Wer ihn sehen will, muss im Norden von Corvesco aufsteigen. Für Fremde ist der Weg nicht leicht zu finden. Man muss durch einen Kastanienwald und sich dann durch Tannen und Latschenkiefern schlagen. Links zeichnet sich der Gipfel des Monte Basso ab. Am Ende des Waldes liegt eine Almwiese, wo in der schönen Jahreszeit immer ein paar Hirten sind. An dieser Stelle taucht hinter einem kleinen Felskamm erneut der Tresalti auf.
Um keine nassen Füße zu bekommen, muss man von einem Stein zum andern springen. Und während man das Gleichgewicht sucht, kann es passieren, dass plötzlich, wie aus der Donnerbüchse, ein Ruf ertönt:
»Wer da?«
Contini hielt inne, ruderte mit den Armen und suchte nach einem festen Halt. Der alte Giona blieb doch immer der Gleiche.
»Wir sind das Gesetz«, erwiderte er mit lauter Stimme. »Wir kommen dich holen!«
Hinter einem Felsen tauchte eine verschlissene Mütze der Chicago Bulls auf. Darunter Gionas Grinsen.
»Nicht zu fassen, dass das Gesetz so aussieht …«
Der Alte trug Flanellhose und eine Art Umhang, der aus verschiedenen Fellen zusammengesetzt war. Er hatte ein Jagdgewehr bei sich.
»Hör mal«, rief ihm Contini zu, »du solltest dich nicht genötigt fühlen, deine Gäste ins Wasser fallen zu lassen.«
Giona kicherte und reichte dem Detektiv eine Hand, um ihm zu helfen, ans Ufer zu springen.
»Lange nicht gesehen, Contini! Welchen Ärger hast du diesmal am Hals?«
Der alte Eremit redete ein wenig sonderbar, wie jemand, der es gewohnt ist, sich selbst Sätze laut vorzusprechen, die er in Büchern gefunden oder im Traum gehört hat.
»Es ist eine merkwürdige Zeit«, erklärte Contini. »Schwer zu sagen, was für eine Art von Ärger.«
»Ich wusste, dass du raufkommen würdest, ich hab’s in den Knochen gespürt! Magst du dich mit einem ordentlichen Kaffee stärken?«
Contini folgte dem Alten in seine Behausung. Ein großer Raum, der von dem stets brennenden Feuer in der offenen Herdstelle beheizt wurde. An den Wänden reihten sich Regale mit Büchern und Zeitschriften. In einer Ecke thronte ein altes Radio. Der Tisch war ein Holzbrett auf zwei Fässern, als Sitzgelegenheiten dienten ein alter Sessel, zwei Schemel, ein Strohsack, ein Autositz und ein Holzblock.
Giona kochte in einem kleinen Topf Kaffee. Contini prüfte einen der Schemel auf seine Stabilität, bevor er sich darauf niederließ. Dann zündete er sich eine Zigarette an. Er bemerkte, dass an der Decke ein großer Schinken hing.
»Ich sehe schon, du lässt es dir gut gehen, Alter.«
»Ich kann nicht klagen. Und du? Was machen die Füchse?«
»Die Jungen sind fort.«
»Und Francesca? Hält sie’s noch mit dir aus?«
»Scheint so«, Contini blies den Rauch aus dem Mund. »So wie ich es mit dir aushalte.«
»Das kann man nicht vergleichen! Ich habe einen guten Charakter.«
Der Kaffee war fertig. Giona servierte ihn in zwei Tontassen, dann zündete er sich eine Zigarre an und setzte sich neben Contini.
»Also, mein Junge, erzähl mir von deinem Ärger.«
Contini hatte die Angewohnheit, dem Eremiten seine Probleme zu schildern. Obwohl der Alte fernab der Welt lebte, hatte er ein eigenartiges Gespür, das es ihm ermöglichte, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren.
»Um es kurz zu machen, die Sache ist die, dass ich im Begriff bin, eine Bank auszurauben.«
Giona hob die Augenbrauen. Dann kratzte er sich am Kopf. Schließlich sagte er:
»Da braucht man was Stärkeres.«
Er zog eine Schnapsflasche hervor und erklärte, es handle sich um ein Wunderelixier, das in einem Kloster im Herzen der Alpen destilliert worden sei.
»Genau das Richtige bei ersten Anzeichen von Wahn. Trink, mein Junge, und du wirst sehen …«
»Ich habe es ernst gemeint.«
»Ernst?«
Contini nickte.
»Du bist also im Begriff, eine …«
»Ja.«
»… Bank auszurauben?«
»Genau.«
Giona goss sich einen Schluck Schnaps in den Kaffee.
»Man kann dich einfach nicht allein lassen, was?«
Contini seufzte. Manchmal kam einem Giona wirklich wie ein verrückter Alter vor. Vielleicht war er es auch, und vielleicht hatte er es deshalb so faustdick hinter den Ohren. Er erzählte ihm von Jean Salviati, von Forsters Erpressung und dem Plan, der Junker-Bank zehn Millionen zu stehlen. Giona unterbrach ihn nicht. Zum Schluss murmelte er:
»Warum hast du mir nicht eher davon erzählt?«
»Was hättest du mir schon sagen können?«
»Nicht so einfach …« Giona stocherte mit dem Schürhaken in der Feuerstelle. »Wenn ihr es nicht geschafft habt, die Tochter zu befreien, und wenn dieser Forster ernst macht …«
»Er macht ernst. Den Briefen nach, die Jean bei ihm zu Hause gesehen hat, muss er Geldprobleme haben.«
»Und deshalb will er eine Bank ausrauben.«
»Ja.«
»Das heißt, er will, dass ihr es tut. Und wenn ihr euch weigert?«
»Jean sagt, dass er zu allem fähig ist. Und er hat Lina in seiner Gewalt.«
»Hat er keine Angst, angezeigt zu werden?«
»Von wem? Von einem pensionierten Dieb und einem Detektiv? Außerdem haben wir keinerlei Beweise in der Hand.«
»Hm.« Giona scharrte die Glut zusammen und schob ein Holzscheit beiseite. »Jedenfalls hat diese Geschichte etwas Geheimes.«
»Und das wäre?«
»Ihr seid eine Art Bande. Eine Gruppe von Amateuren … wie viele seid ihr?«
»Wir sind zu fünft. Ich, Jean, Francesca und die beiden Cortis, Filippo und Anna.«
»Eine Gruppe. Aber alles geht von dir und dem Dieb, von Salviati, aus. Von euch beiden.«
»Von uns? Es ist Forsters Schuld! Ohne ihn wäre Jean in der Provence.«
»Aber er ist zurückgekehrt. Und er hat dich aufgesucht. Jetzt würdest du gern die Flucht ergreifen, aber du kannst nicht.«
»Ich …«
Contini brach den Satz ab. Giona hatte recht. Er wollte ihn nicht, diesen Überfall. Er spürte, dass es ein Fehler war. Aber er hatte sein Gefühl von Anfang an zum Schweigen gebracht.
»Du hast recht. Ich will es nicht. Aber ich will Jean helfen.«
»Er hat das Startzeichen gegeben, du hast reagiert. Jetzt arbeitet ihr zusammen. Du bist nicht mehr Contini, Junge. Denk dran: In dieser Geschichte bist du Contini und Salviati.«
»Was willst du damit sagen?«
»Und dennoch bleibst du auch Contini und Francesca. Du hast es mit Salviati und Forster zu tun, eine alte Geschäftsbeziehung, die sich zerschlagen und diese Geschichte nach sich gezogen hat. Und auf eurer Seite hast du Filippo und Anna. Ein weiteres Pärchen.«
»Entschuldige, Giona, ich weiß nicht, worauf du hinauswillst …«
»Diese Dinge funktionieren wie eine Glocke …« Giona sprach leise, den Blick starr auf das Feuer gerichtet, er schien kurz davor einzuschlafen. »Wie der Klang einer Glocke, ein Klang, den du nicht zerstören kannst …«
Contini betrachtete ihn aufmerksam. Er verstand kein einziges Wort.
»Der Klang einer Glocke ist immer zweifach – Ding Dong. Wenn du einen Schlag hörst, musst du auf den zweiten, den Gegenschlag, warten. So funktioniert diese Geschichte, so seid ihr, du und Salviati. Und so musst du denken.«
»Aber was soll ich tun?«
»Nichts. Pass auf, dass dir der zweite Schlag nicht entgeht. Und … ach ja, hattest du nicht gesagt, Forster wolle dich mit diesem Marelli sprechen lassen?«
»Ja, er hat es versprochen. Aber bisher hat er nichts von sich hören lassen.«
»Marelli war mit Lina zusammen, stimmt’s?«
»Ja. Ich dachte, er würde sie bewachen. Aber dann hat sie uns diesen Hilferuf geschickt und geschrieben, dass Matteo mit ihr zusammen gefangen sei.«
»Habt ihr Forster nach einer Erklärung gefragt?«
»Er meinte, Marelli habe nichts mehr mit der Sache zu schaffen. Und dann ist da noch eine Sache, die mich nachdenklich stimmt: dass nämlich Marelli und Jeans Tochter schon vor der Entführung miteinander telefoniert haben.«
»Was bedeutet das?«
»Vielleicht war die Entführung am Anfang nur vorgetäuscht. Vielleicht kannten sich die beiden und haben versucht, Jean reinzulegen … bis Forster sie reingelegt hat.«
»Lina und Matteo. Begreifst du? Lina und Matteo. Nur er kann dich zu ihr führen … nur er kann den Überfall verhindern. Du musst mit Marelli sprechen.«
»Aber was kann er mir schon sagen, wo doch beide Gefangene sind!«
»Der Glockenschlag, mein Junge, du musst auf den zweiten Schlag der Glocke hören …«
Filippo Corti wusste, dass es vor einem Haufen Jugendlicher um die fünfzehn wenig Ausreden gibt. Wenn du nicht absolut schlagfertig bist, kriegen sie dich unter. Es gibt eine Menge Faktoren, die das Klima einer Klasse bestimmen. Wenn die Gruppe einen oder mehrere Anführer hat, muss man darauf achten, was es für Typen sind und wie sie zur Autorität stehen.
Und wenn diese Autorität am Abend zuvor mit der Ehefrau diskutiert hat, spät ins Bett gegangen ist und schlecht geschlafen hat, kann es sein, dass sie heftige Kopfschmerzen verspürt. In so einem Fall wird’s heiter.
»Das ist nicht schwer, Sheila«, sagte Filippo zu dem Mädchen, das aufgestanden war. »Ich habe dich gefragt, was eine chemische Reaktion ist, etwas, das ständig im alltäglichen Leben passiert … denk scharf nach!«
»Mir passiert das nie«, murmelte Sheila und sah dabei auf ihre Schuhspitzen.
Die Klasse brach in Gelächter aus, ein Lachen, das schmerzlich in Filippos Kopf dröhnte.
»Schluss jetzt! Ruhe! Hilft man so einer Klassenkameradin?«
Sheila gehörte zu den ganz Stillen. Filippo mochte sie, auch wenn sie ein bisschen begriffsstutzig war.
»Entschuldigung, Herr Oberlehrer«, sagte sie und sah auf. »Vielleicht weiß ich, was eine Chemiereaktion ist.«
»Eine chemische Reaktion.«
»Und was hab ich gesagt?«
»Egal«, Filippo fasste sich an die Schläfe. »Sag mir, was es ist.«
»Das ist, wenn die Elemente sich mischen.«
Irgendwer musste ihr vorgesagt haben.
»Was für Elemente?«
»Ich weiß nicht … Dinge oder Gegenstände. Oder Personen, also die Lebenselemente.«
Filippo zog die Augenbrauen hoch.
»Die Lebenselemente?«
Sheila senkte den Blick wieder zu den Schuhen. Filippo strich sich mit einer Hand durch den Bart und rief sich die Definition ins Gedächtnis zurück.
»Eine chemische Reaktion ist die Umwandlung von Materie ohne messbare Veränderung der Masse. Und was geschieht dabei genau?«
»Die Atome verändern sich!«, rief einer in die Klasse.
Filippo zog eine Grimasse. Er hätte ein Aspirin nehmen sollen.
»Doch nicht die Atome! Bei der Umwandlung verändern eine oder mehrere Reagenzien ihre Struktur und ursprüngliche Zusammensetzung und bringen die Produkte hervor. Aber aufgepasst: Die chemische Reaktion führt nicht zu einer Veränderung der Materie als solcher, sie betrifft nur die verschiedenen Verbindungen der Atome untereinander. Habt ihr das verstanden?«
Niemand antwortete. Filippo seufzte. Er sah aus dem Fenster. Dann drehte er sich um, und in diesem Augenblick erkannte er hinter der Scheibe in der Tür das gebräunte Gesicht Jean Salviatis. Die Verabredung, dachte er. Scheiße, er war mit ihm verabredet gewesen!
Er hatte an diesem Morgen um zehn begonnen und ganz vergessen, dass er um acht Salviati vor der Junker-Bank treffen wollte. Eilig brachte er die Stunde hinter sich und gab als Hausaufgabe für die kommende Woche auf, mindestens drei Beispiele für eine chemische Reaktion zu finden.
Als es klingelte, war Salviati verschwunden. Filippo fand ihn am Ausgang, auf einer Bank vor der Schule.
»Tut mir leid, dass ich reingekommen bin«, sagte er, »ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist.«
»Ob alles in Ordnung ist?«, wiederholte Filippo und setzte sich neben ihn. »Was meinst du damit?«
»Man kann nie wissen. Heute Morgen warst du nicht da.«
»Ich hab’s vergessen. Aber was dachtest du, das passiert sei?«
»Man kann nie wissen.«
Filippo wurde allmählich unruhig.
»Es ist jedenfalls gar kein Problem. Du kannst ruhig zu mir in die Schule kommen, wenn du willst. Noch haben wir … noch haben wir …«
Er unterbrach sich. Er brachte es nicht über die Lippen. »Noch haben wir keine Bank ausgeraubt.« Filippo machte seiner Frau Vorhaltungen, aber auch er selbst konnte diese Geschichte nicht richtig ernst nehmen.
»Nicht so wichtig. Es war nichts Dringendes. Wir haben Zeit bis Dezember.«
Filippo erhob sich. Er durfte Salviati nicht böse sein. Es war nicht seine Schuld, dass sie in zwei verschiedenen Welten lebten. Er deutete auf den Parkplatz und sagte:
»Komm, mein Wagen steht dort.«
»Hast du eine Videokamera aufgetrieben?«, erkundigte sich Salviati, als sie im Auto saßen.
»Ja, auch wenn du mir noch nicht verraten hast, wozu wir sie brauchen.«
»Wir müssen Informationen sammeln.«
»Und dein Plan? Wann erklärst du ihn uns?«
Filippo gab sich alle Mühe, so zu sprechen, als sei alles normal. Als würden sie nicht über einen Banküberfall, sondern über einen Vortrag in der Pfarrgemeinde reden.
»Ich habe darüber nachgedacht, als ich draußen vor deinem Klassenzimmer stand.« Salviati deutete ein Lächeln an. »Es kam mir in den Kopf, als ich dich sprechen hörte.«
»Und was habe ich gesagt?«
»Ach, irgendwas über Chemie. Aber bevor ich mit euch darüber spreche, muss ich noch ein paar Dinge überprüfen. Dann vereinbaren wir ein Treffen.«
»Einverstanden. Wo willst du jetzt hin?«
»Zur Bank.«
»Okay.«
Filippo galt als geduldiger Mensch. Vielleicht weil er an der Oberschule unterrichtete. Vielleicht auch wegen seines Bartes, der seinen Gesichtsausdruck manchmal nur erahnen ließ. Aber innerlich verspürte er hin und wieder das Bedürfnis, sich gehenzulassen. Eine patzige Antwort zu geben. In diesem Augenblick hätte er Jean am liebsten an den Schultern gepackt und ihm gesagt: Ich tue etwas Illegales, für dich, ist dir das klar, etwas Illegales, ich, der ich mit fünfzehn einen Comic gestohlen habe und seitdem nie wieder auf die Idee gekommen bin zu …
Aber die aufschäumende Wut verpuffte, noch ehe er ihr Ausdruck verliehen hatte. Filippo konnte seinen Zorn zurückhalten, immer er selbst bleiben. Er verlor nicht gern die Kontrolle.
»Weißt du, Jean, diese Geschichte mit dem Bankraub gibt viel Anlass zum Nachdenken.«
»Fühlt ihr euch der Sache nicht gewachsen?«, fragte Salviati prompt.
»Es ist nicht so einfach für uns. Am Anfang haben wir alles als ein Spiel betrachtet, ich habe all diese Bücher über Banküberfälle gelesen. Aber dann hat Anna mir klargemacht, dass … na ja, dass wir hier sind und dass es ernst ist.«
»Ich bin euch sehr dankbar.«
»Das wissen wir, und …«
»Ich werde euch nicht aktiv mit reinziehen, versprochen.«
»Ich weiß. Es ist nur, dass wir an so was nicht gewöhnt sind.«
»Daran gewöhnt man sich nie. Halt hier an.«
Sie waren vor der Junker-Bank. Das Gebäude wirkte massiv, aber unscheinbar. Ziegelwände, helles Foyer. Davor ein kleiner Garten mit einer Platane und einem Bänkchen. Links die Hauptstraße. Salviati befahl Filippo, in einer Seitenstraße, Richtung Daro, zu parken. Dann deutete er auf die Platane vor der Bank.
»Dort musst du hin und die Videokamera im Rucksack mitnehmen. Richte sie auf den Eingang und bewege sie dann nicht mehr.«
»Auf den Eingang? Willst du wissen, wer rein- und rausgeht?«
»Nicht den ganzen Tag. Du musst um halb acht am Morgen hier sein, wenn das Wachpersonal und die anderen kommen. Sie fangen alle ungefähr zur gleichen Zeit an: der Kassierer, die Sekretärin, der Direktor und die drei Angestellten.«
»Aber hattest du nicht gesagt, das Geld käme an einem Sonntag? In dem Fall …«
»Ich weiß, es wird nur der Direktor und einer vom Wachpersonal dabei sein. Aber du sollst alle filmen. Auch wenn sie wieder rauskommen. Und wenn der Direktor sich entfernt, musst du den Rucksack drehen und ihn verfolgen.«
»Aber wie soll ich das machen? Wenn ich nicht durchgucken kann, werde ich den falschen Ausschnitt wählen.«
»Das lässt sich nicht vermeiden. Aber wenn du dir alles noch mal anschaust, kannst du die Position korrigieren. Du darfst nicht zu stark zoomen. Du wirst sehen, dass es dir nach ein paar Tagen gelingt.«
»Woll’n wir’s hoffen.«
»Nicht zu viele Tage in Folge. Leg Pausen ein. Lass dir ruhig ein paar Wochen Zeit. Komm her, nimm eine Zeitung und setz dich auf das Bänkchen, wie jemand, der zu früh zu einer Verabredung kommt. Du könntest Anna sagen, dass sie dich abholen soll, dann sieht es so aus, als würdest du auf sie warten.«
Salviati sprach in kurzen Sätzen und behielt dabei die Bank im Blick. Filippo hatte ihn noch nie so gesehen. Er war nicht länger der Gärtner von Madame Augustine, ein sympathischer Dorfbewohner aus der Provence, mit dem man gemeinsam einen fröhlichen Sommerabend verbrachte.
»Ich zeige dir, wie du die Kamera im Rucksack anbringen musst, und das erste Mal werde ich dich begleiten. Wichtig ist, dass du natürlich bleibst. Schaffst du das?«
»Bestimmt. Das ist nicht schwer, oder?«
»Nein, wenn du ruhig bleibst. Aber du darfst nicht an den Überfall denken. Du tust nichts Verbotenes. Setz dich hin, stell deinen Rucksack ab und lies die Zeitung.«
Diese leise gesprochenen Worte, dieser starre Blick, nahmen Filippo die letzten Zweifel. Salviati war ein Profi. Das war eine kriminelle Handlung. Er ließ sich hier auf etwas ein, das er sein Leben lang nicht vergessen würde. Einer Bank zehn Millionen stehlen! Das passierte ihm, Filippo Corti. Lehrer für Naturwissenschaften, Bellinzona-Fan und Liebhaber von Thrillern. Tja, eine Weile lang würde er keine mehr sehen, so viel stand fest!
»Keine Sorge, Jean. Das schaffe ich schon.«
»Gut. Es ist sehr wichtig für das Gelingen des Plans.«
»Vertrau mir!«
»Ich vertraue dir …« Salviati sah ihn an. »Und ich danke dir.«
Während er von Bellinzona in Richtung Daro nach Hause fuhr, überlegte er, wann er Anna von diesem Auftrag erzählen sollte. Er lächelte bei dem Gedanken an ihre Reaktion. Sie würde aufgeregt und ziemlich erschrocken sein. In letzter Zeit geschah etwas zwischen ihm und Anna. In gewisser Weise waren sie sich nähergekommen. Auch wenn sie häufiger stritten, oder vielleicht gerade deswegen.
Sie waren sich nicht auf dieselbe Weise nahe wie bei einer langen Reise im Auto oder ausgestreckt nebeneinander auf einem Handtuch am Strand. Nein, es war eine viel aufregendere Nähe. Als befänden sie sich ganz oben in einer Achterbahn und blickten auf den Rummel zu ihren Füßen, bevor sie Arm in Arm kopfüber hinabsausten.