Contini war nicht da. Ein paar Telefonate am frühen Morgen hatten das Drehbuch verändert, kurz bevor es in Szene gesetzt werden sollte. Contini war in Lugano, um Lina zu befreien. Und sie waren hier, im Licht der Straßenlaternen, in Bellinzona. Die Hände in den Taschen vergraben, betrachteten sie die Fassade der Junker-Bank.
»Wir sollten uns besser beeilen«, sagte Francesca.
Filippo Corti sah sich um.
»Sieht aus wie eine Geisterstadt.«
»Alle schlafen«, meinte Anna, »außer uns.«
Drei dunkle Gestalten unter dem Bahnhofsvordach. Francesca war in eine grüne Winterjacke mit Kapuze gehüllt. Anna trug Mantel und Schal, Filippo eine Lederjacke. Jeder wusste, was er zu tun hatte.
Anna lief die Straße entlang, auf der Contini den Warnhinweis wegen Bauarbeiten hätte aufstellen sollen. Aber jetzt war der Plan geändert worden, jetzt mussten sie ohne Contini auskommen. Auch Anna hatte nun eine andere Rolle: Sie musste lediglich auf die Autos achtgeben und notfalls Alarm schlagen.
Filippo sollte derweil fahren. Seine Aufgabe war es, den Wagen auf den Straßen der Innenstadt in Bewegung zu halten und um zehn nach sieben, um Viertel nach sieben und dann im Zehnminutentakt an der Bank vorbeizukommen. Außerdem sollte Filippo die Situation in Bellonis Haus im Blick behalten. Salviati und Contini waren in der Nacht dort gewesen, aber etwas kann immer schiefgehen. In diesem Fall musste Filippo Salviati Bescheid geben, der einen nicht genauer erläuterten Ersatzplan bereithielt.
Die Straßen lagen im Dunkeln. Dennoch merkte man, dass es nicht mehr Nacht war, dass die Stadt langsam erwachte. Ein Auto brummte auf dem Zufahrtsweg. Filippo stieg aus dem Wagen und lief zwischen den Häusern von Ravecchia entlang. Er hörte, wie eine Tür aufging, hörte die Nachrichten laufen. Ihm schien sogar, als könne er Kaffeeduft wahrnehmen.
Niemand weiß, was gerade vor sich geht, dachte Filippo, während er sich Bellonis Haus näherte. Eine Frau auf einem Fahrrad kam ihm schwankend entgegen. Eingehüllt in unzählige Kleidungsstücke. Wohin sie wohl unterwegs war? Filippo folgte ihr mit dem Blick. Niemand ahnt, dass wir ausgerechnet am Wochenende eine Bank ausnehmen.
Zuerst war er im Büro vorbeigefahren, um die Pistole zu holen, eine halb automatische Walther PP, die er im Ernstfall mit sich führte. Er trug eine Winterjacke mit Pelzbesatz und einen schwarzen Hut. Danach hatte er Renzo Malaspina angerufen und ihn aus dem Schlaf geschreckt. Mit knappen Worten hatte er die Situation geschildert.
»Ich werd reingehen, zumal ich nicht sicher bin. Aber du musst mir Rückendeckung geben.«
»Du bist nicht sicher?«, murmelte Malaspina.
»Ich weiß nicht, ob ich die richtige Idee habe«, erklärte Contini. »Der Hinweis ist ziemlich schwammig.«
»Schwammig?«
»Hast du schon einen Kaffee getrunken?«
»Hm?«
Sie verabredeten sich für halb sieben am Bahnhof von Lugano.
Contini lief zu Fuß bis zur Seilbahn an der Piazza Cioccaro. Die Stadt war noch schlaftrunken, aber bereit zu erwachen. Die zwischen den Häusern aufgespannte Weihnachtsbeleuchtung wies ihm den Weg. Der Detektiv hatte das Gefühl, sich in einem Traum zu bewegen. Geschweifte Sterne fielen vom Himmel, rote, blaue, gelbe Girlanden wanden sich um die Straßenlaternen, goldene und silberne Lichtblitze in den Schaufenstern, der Widerschein von Glanzpapier und falschem Schnee, von Schmuckkugeln und Kristallen …
Bleib ruhig, dachte Contini. Du lässt dich von deiner Phantasie in die Irre führen. Die schlaflose Nacht und der Gedanke an den Überfall setzten ihm zu. Er war müde, und es gab noch so viel zu klären. Er spürte, dass er auf weitere Glockenschläge achten musste, die sich jedoch, wer weiß wo, in dem ganzen Durcheinander verloren.
Ohne Pendler und Studenten war der Bahnhof verlassen.
Contini wandte sich von den Gleisen ab und überquerte den Vorplatz. Unterhalb von ihm lagen die Kathedrale und die Stadt mit ihren hellen Straßenlaternen, den Autoscheinwerfern, dem See, der sich im Schatten verlor. Die meisten Bewohner Luganos schliefen, aber es lag eine Spannung in der Luft, ein Gefühl kollektiver Erwartung. Noch fünf Tage bis Weihnachten. Es war Sonntag, der zwanzigste Dezember. Der Tag des Überfalls.
Filippo Corti fuhr langsam. Er hatte eine scheinbar unbedeutende, in Wahrheit aber entscheidende Rolle. Der Überfall war Salviatis Sache, er würde ihn leiten. Aber Filippo wollte Klarheit darüber, was danach geschah. Die Flucht, die Fahrt mit dem Geld, Forster. Die Aufteilung. Linas Befreiung. Filippo war bereit. Und er konnte es kaum erwarten, dass alles vorbei war.
Es war sechs Uhr fünfzig. Spätestens in zehn Minuten würde Claudio Melato mit einem Leibwächter und einer schwarzen Tasche vor der Junker-Bank eintreffen. Dieser Kerl, Melato, würde mit dem Bankdirektor zusammenkommen, um ihm das Geld zu übergeben. Salviati und Francesca würden dort sein, am Eingang. Filippo sollte in der Nähe bleiben, um notfalls eingreifen zu können. Das war der entscheidende Moment. Wenn sie die erste Hürde nahmen, würde danach alles wie am Schnürchen laufen.
Filippo kannte Salviatis Pläne nicht in allen Einzelheiten und mit all ihren möglichen Auswegen. Er wusste nur, was Salviati ihm ganz persönlich nahegelegt hatte. Er hielt sich deshalb strikt an dessen Anweisungen und fuhr mit Standgas durch die Straßen von Bellinzona. Er hatte die Lederjacke ausgezogen, da es im Auto warm war.
Er kam an Anna vorbei, die ihre vereinbarte Stellung bezogen hatte. Ab sechs Uhr fünfzig sollte sie hier sein, um die ankommenden Autos im Blick zu haben. Nach Salviatis Voraussage würde sie in wenigen Minuten den Nissan von Claudio Melato zu Gesicht bekommen.
Filippo grüßte Anna nicht. Er warf ihr nur einen verstohlenen Blick zu, und sie sah nicht einmal auf. Aber es war, als hätten sie sich umarmt. Als lägen sie am Sonntagmorgen aneinandergekuschelt unter der Decke. An einem jener Tage, an denen das Frühstück zum Mittagessen wird und man nicht zu reden braucht. Man brauchte einfach nichts zu sagen. Beide konzentrierten sich auf kleine Bewegungen. Fahren, von einer Straßenlaterne zur nächsten schlendern. Auf die Uhr schauen. Sechs Uhr fünfundfünfzig. Sich Salviati vorstellen, seine Gesten, sein Gesicht. Sich die schwarze Tasche vorstellen. Voller Geld. Einen anderen Gang einlegen, die Straße Richtung Bahnhof im Blick haben … das war er!
Der graue Nissan!
Anna sah ihn als Erste und kurz darauf, ein wenig entfernt, auch Filippo. Der Nissan bog von der Straße ab und fuhr an der Bank vorbei. Er hielt ein Stück dahinter auf einem Parkplatz, der an eine Mauer grenzte. Filippo schaltete vom Dritten in den Zweiten, um nicht zu früh anzukommen.
Und Salviati? Wo zum Teufel war Salviati?