Anita Pedrini war nicht ganz überzeugt. Aber Contini brauchte jemanden, der ihm den Weg bahnte. Wenn er erst mal in der Wohnung war, musste er sich etwas einfallen lassen.
»Sie müssen nichts Besonderes machen, meine Gute. Nur klingeln.«
»Mit dem Finger, so, ja? Oder besser so?«
Contini glaubte, nicht recht zu hören. Sie fragte ihn, mit welchem Finger sie den Knopf drücken sollte!
»Welchen Finger nehmen Sie normalerweise?«
»Oh, ich Ärmste, ich weiß es nicht! Normalerweise denk ich nicht drüber nach, nicht wie jetzt, wo alles gespielt ist!«
Contini seufzte.
»Versuchen Sie es mit dem Zeigefinger.«
»Sicher? Mit dem Zeigefinger?«
»Mit dem Zeigefinger.«
Anita Pedrini betrachtete ihren Zeigefinger, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
»Gut«, sagte sie, »dann nehme ich den.«
Anita Pedrini drückte den Klingelknopf.
Contini beobachtete alles aus seinem Versteck weiter oben im Treppenhaus. Er hoffte, dass Elton nicht Lunte roch und dass Anita Pedrini nicht allzu nervös wurde. Sie hörten das Klingeln in der Wohnung. Vielleicht schliefen noch alle. Oder waren sie gar nicht mehr da? Contini wollte der Frau gerade ein Zeichen geben, nochmals zu klingeln, als er meinte, Schritte zu hören.
»Ich bin’s, Frau Pedrini, Ihre Nachbarin.«
Die Tür ging auf und Eltons kräftige Gestalt erschien.
Anita Pedrini sagte mit dünner Stimme:
»Guten Morgen …«
»Was ist?«, fragte Elton.
Offenbar gab es Situationen, in denen Elton nicht nach Worten suchte.
»Ich Ärmste, am Ende haben Sie noch geschlafen!«
»Nein, ich war wach. Gibt’s ein Problem?«
Elton war auf der Hut. Er trug bereits einen braunen Anzug mit gelben Streifen. Contini fragte sich, ob die feine Kleidung dieses Gorillas nicht genauso trügerisch war wie dessen gedrechselte Sprache. Dahinter verbarg sich bestimmt ein gewaltbereiter und selbstsicherer Elton, der schnelle Entscheidungen treffen konnte. Ohne ein bisschen Grips wird man nicht zum Wachhund von einem wie Forster.
»Nun ja, ich störe so zeitig, weil ich ein Problem in meiner Wohnung habe und dachte, dass Matteo, oder vielleicht auch Sie, wenn es Matteo nicht gut geht, also dass …«
Anita Pedrini verhaspelte sich. Contini hatte sie gebeten, Elton unter dem Vorwand einer undichten Leitung in der Küche in ihre Wohnung zu locken.
»Matteo geht es nicht besonders gut«, erklärte Elton. »Was ist das Problem?«
»Ach, ich Ärmste, also, es gibt da so eine undichte Stelle, ja. Eine undichte Stelle.«
»Eine undichte Stelle?«
»In der Küche.«
»Hören Sie, meine Dame …«
»Das stimmt wirklich!«, versicherte Anita Pedrini. »Ich denk mir das nicht aus!«
An diesem Punkt merkte Elton offenbar, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht dachte er aber auch nur, die Alte sei verkalkt. Jedenfalls trat er einen Schritt vor.
Contini kam ein paar Stufen herunter.
Anita Pedrini, die Ärmste, wich zur Seite und bat Elton in ihre Wohnung. Er trat schweigend über die Schwelle und sah sich um. Contini nahm die letzten Stufen hinab und hoffte, dass sich Elton nicht gerade in diesem Augenblick zu ihm umdrehen möge.
»Ich Ärmste«, sagte Anita Pedrini. »Jetzt weiß ich gar nicht mehr, was undicht war. Ein Wasserhahn … ja, ja, eine undichte Stelle, ich erinnere mich nicht mehr genau …«
Contini glitt in Marellis Wohnung, ohne die Tür zu schließen. Er hoffte, dass Anita Pedrini ihre Rolle der verwirrten Alten weiter so gut spielen würde.
Nun musste er nur noch die Geiseln finden.
Hinter der Wohnungstür lag ein Vorraum, von dem ein schmaler Flur abging, an dessen Ende man ein Wohnzimmer erkennen konnte. An den Seiten vier verschlossene Türen. Contini lief eilig vor zum Wohnzimmer. Schwarze lederbezogene Sitzmöbel, ein Vierzig-Zoll-Fernseher, ein Holztisch. Niemand zu sehen.
»Wenn Sie noch mal nachschauen könnten …«
»Tut mir leid, meine Dame, aber ich habe keine Zeit mehr.«
Eltons Stimme. Contini trat aus dem Wohnzimmer, öffnete irgendeine der Flurtüren und fand sich im Badezimmer wieder. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, die Tür zu schließen, bevor Elton zurück in die Wohnung kam.
Anita Pedrini hatte ihre Aufgabe erfüllt. Aber Contini war im Bad gefangen. Elton konnte ihn jeden Augenblick entdecken.
Während Contini die Situation abschätzte, sah er, wie die Türklinke gedrückt wurde. Hastig schlüpfte er hinter den Duschvorhang. Die Tür schloss sich wieder, und eine Frauengestalt im Nachthemd erschien. Lina Salviati. Contini schob den Vorhang beiseite und flüsterte:
»Pst! Ganz ruhig!«
Lina schnellte herum und riss die Augen auf. Sie hätte beinahe aufgeschrien, aber sie konnte es gerade noch unterdrücken.
»Wer … wer bist du?«
»Contini. Ich bin …«
»Ich weiß, wer du bist. Aber wie bist du reingekommen? Wie hast du es geschafft …«
»Jetzt ist keine Zeit. Wo sind Elton und Marelli?«
Innerhalb weniger Sekunden schafften sie es, eine Art Plan zu entwerfen. Elton war in sein Zimmer zurückgekehrt und telefonierte. Marelli lag vermutlich noch im Bett. Lina hatte die Aufgabe, ihn zu informieren und auf die Flucht vorzubereiten. In der Zwischenzeit würde Contini versuchen, die von Elton verschlossene Eingangstür zu knacken. Das Sicherheitsschloss war nur ein Metallriegel, den man einfach zurückschieben konnte. Für das eigentliche Schloss würde Contini, wie er schätzte, einige Minuten brauchen.
Lina blieb ruhig. Sie wollte nicht voreilig in Begeisterung ausbrechen, solange sie nicht frei war, sie hatte zu große Angst vor einer Enttäuschung. Nach der monatelangen Gefangenschaft kam es ihr vor, als sei sie nachdenklicher und besonnener geworden. Sie holte Kleider und Schuhe aus ihrem Zimmer. Dann ging sie zu Matteo und erklärte ihm, was vor sich ging. Mit einem Ruck richtete er sich im Bett auf.
»Dann sind wir endlich frei! Lina, ist dir das klar?«
»Nein.«
»Aber …«
»Du bist im Schlafanzug, ich im Nachthemd. Die Tür ist noch zu.«
Matteo nickte. Ohne ein weiteres Wort nahm er seine Kleider und verschwand im Bad. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück. In der Zwischenzeit hatte auch Lina sich umgezogen. Sie öffneten die Tür einen Spalt und sahen hinaus in den Flur. Aus dem Wohnzimmer drang düsteres Morgenlicht herein, das mit dem Widerschein der Straßenlaternen verschmolz. Auf der anderen Seite hockte Contini vor der Eingangstür und steckte irgendetwas ins Schloss. Auf dem Boden lag eine Reihe gebogener Metallwerkzeuge.
Contini und Salviati, Salviati und Contini, dachte der Detektiv, während er die Dietriche ausprobierte. Preisgekröntes Unternehmen für Betrügereien, Überfälle und unüberlegtes Handeln. Der eine versucht, sich mit guten Manieren zehn Millionen aushändigen zu lassen. Der andere ist dabei, ein Schloss von innen zu knacken. Der einzige Einbrecher auf der Welt, der versucht, unbemerkt hinauszugelangen …
Der Gedankenfluss wurde durch Schritte auf dem Flur unterbrochen. Contini wandte sich um. Im Halbdunkel zeichnete sich Eltons massige Gestalt ab.
Zwei Sekunden lang rührte sich Elton, vollkommen verdutzt, nicht von der Stelle. Contini schaffte es, aufzustehen und ihm entgegenzutreten. Er hoffte, Elton würde die Dietriche am Boden nicht sehen.
»Guten Morgen«, sagte Contini und hob die Hände. »Wir wollen nicht streiten. Ich würde dir raten …«
Elton ließ ihn den Satz nicht beenden, sondern stürzte sich auf ihn. Contini konnte gerade noch ausweichen: Die Faust streifte ihn an der Schulter. Elton setzte erneut zum Angriff an, und Contini wich bis ins Wohnzimmer zurück. Es sah schlecht aus für ihn. Contini hatte zwar eine Pistole dabei, aber er durfte nicht schießen. Irgendjemand hätte garantiert die Polizei geholt. Und das konnten sie sich nicht erlauben, nicht mehr, da Salviati in diesem Augenblick der Junker-Bank zehn Millionen abknöpfte.
»Bleib stehen, wo du bist«, rief Contini und richtete die Waffe auf Elton.
Elton ließ ihm keine Zeit zum Ausreden. Mit gesenktem Kopf stürzte er sich auf ihn, und Contini prallte gegen eine Regalwand. Eine Vase und ein Stapel CDs landeten auf dem Boden, ebenso ein Bücherregal und Contini selbst, dem beim Aufprall die Pistole aus der Hand glitt. Die Walther landete neben seinem linken Fuß. Als er nach dem Aufprall den Kopf hob und sah, dass Elton danach greifen wollte, versetzte er ihr einen Tritt. Die Pistole flog an die Wand.
Vom Regen in die Traufe. Ohne Waffe gegen diesen Koloss. Contini bereute es, Malaspina draußen gelassen zu haben. Aber jetzt war es zu spät. Rasch richtete er sich auf, darauf gefasst, weitere Schläge abwehren zu müssen. Aber Elton beachtete ihn gar nicht mehr und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Die Geiseln! Wenn Elton die beiden Geiseln erwischte, saß er am längeren Hebel. Contini verfolgte ihn humpelnd.
Marelli hatte die Arbeit wieder aufgenommen, die der Detektiv unterbrochen hatte. Wie oft während jener Monate der Gefangenschaft hatte er es bedauert, nicht das richtige Werkzeug zu haben! Elton hatte Alarmanlagen an den Fenstern angebracht, er wusste, dass er bei der Tür Chancen hatte: Um sie zu knacken, brauchte man die richtigen Kenntnisse und das richtige Werkzeug. Matteo erfüllte beide Bedingungen. Es war ihm gerade gelungen, sie zu öffnen, als sich ein Schatten hinter ihm abzeichnete.
»Achtung!«, schrie Contini.
Matteo versuchte sich mit den Armen zu schützen. Aber er war nicht schnell genug. Elton versetzte ihm einen Schlag an die Schläfe, und Matteo spürte ein heftiges Stechen im Kopf. Er wollte zur Flucht ansetzen, prallte gegen den Türpfosten und sank zusammen, während alles um ihn herum schwarz wurde. In der Ferne glaubte er, Linas Stimme zu vernehmen.
Contini warf sich erneut auf Elton.
»Lauf!«, sagte er zu Lina. »Flieht!«
»Nein«, erwiderte sie. »Matteo bewegt sich nicht, er ist …«
»Nimm die Pistole«, unterbrach sie Contini. »Die Pistole im Wohnzimmer!« Lina begriff und entfernte sich. Contini hatte Elton in eine Ecke gedrängt und versuchte, seinen Schlägen auszuweichen. Aber schon bald musste er aufgeben. Der Gorilla warf ihn zu Boden und stürzte hinter Lina her. Contini rannte ihm nach. Als sie ins Wohnzimmer kamen, war niemand zu sehen.
»Wo ist …?«, begann Elton.
Contini bemerkte sie als Erster, versteckt hinter dem Sofa. Mit einem Satz war er bei ihr, kam Elton um Haaresbreite zuvor.
»Hast du die Pistole gefunden?«
»Hier!«
Elton wollte sich auf sie werfen, aber Contini traf ihn mit dem Lauf der Walther an der Schläfe. Elton schnellte herum und setzte zum Faustschlag an. Contini traf ihn erneut, diesmal an der Nasenwurzel, und dann noch einmal über dem Auge und an der Stirn. Elton fiel auf das Sofa. Contini versetzte ihm einen letzten Schlag mit dem Pistolenknauf. Elton sank zusammen.
Contini drehte sich suchend zu Lina um. Aber sie war bereits im Flur, vor der aufgebrochenen Wohnungstür. Marelli lag ausgestreckt am Boden und gab kein Lebenszeichen, der Kopf war verrenkt, ein Bein angewinkelt. Lina kniete neben ihm. Contini überkam plötzlich bleierne Müdigkeit.
Anna Corti war allein. Von ihrem Beobachtungsposten aus hatte sie einen Mercedes vorbeifahren sehen. Zwei Männer auf der Rückbank und zwei vorne. Anna hatte niemanden erkannt. War Jean Salviati dabei? Schwer zu sagen. Der Wagen war im Nu vorbei gewesen.
Und was soll ich jetzt machen? Anna stampfte mit den Füßen auf den Gehweg, um sich aufzuwärmen. Es war halb acht. Der Überfall musste zu Ende sein. Und weshalb war dann niemand da? Warum sah sie nirgends Filippos Audi mit Jean auf dem Beifahrersitz? Und Francesca?
Anna beschloss, zur Bank zu laufen. Es waren nur wenige Meter. Vielleicht war etwas Unvorhergesehenes passiert und sie konnte etwas tun. Es gelang ihr nur wenige Sekunden, eine derartige Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Dann überkam sie das Gefühl der Lächerlichkeit. Soll das ein Witz sein? Ich bin Bibliothekarin, eine, die sich nicht einmal mit ihren Klassenkameraden geprügelt hat. Was mach ich hier, mitten in einem Überfall? Wie soll ich irgendjemandem helfen können?
Dennoch lief sie weiter in Richtung Bank. Auch dort schien alles normal zu sein. Ein Sonntag Ende Dezember, mit Weihnachtsbeleuchtung in den kahlen Bäumen. Die Mauern der Junker-Bank wirkten in der eisigen Luft noch grauer und massiver. Anna drehte sich einmal um die eigene Achse. Niemand. Weder Filippo noch Jean noch Francesca.
Was soll ich tun, soll ich versuchen anzurufen? Anna spürte die Angst, die ihre Gedanken lähmte. Für solche Dinge war sie nicht geschaffen. Sie hasste Spannung, selbst bei Fernsehfilmen oder beim Elfmeterschießen am Ende eines Fußballspiels. Umso mehr im wirklichen Leben! Was soll ich tun, was soll ich bloß tun?
Obwohl Jean ihnen ans Herz gelegt hatte, Anrufe auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren, griff sie schließlich zum Handy. Auf dem Display leuchtete der Hinweis auf eine eingegangene Nachricht. Anna las sie eilig.
Liebe Anna, wie geht es dir? Wenn Mama danach ist, essen wir bei uns in den Bergen zu Weihnachten? Bis bald, Lila :-)
Eine SMS von ihrer Schwester, die sonntags früh aufstand. Anna schüttelte den Kopf. Sie schien ihr aus einer anderen Welt zu kommen. Sie löschte die Nachricht und versuchte Jean anzurufen, Francesca, Filippo, Contini … in der Hoffnung, einer von ihnen würde abnehmen. Oder hatten sie sie vergessen?
»Sie werden in der Nähe sein, oder?«
»Sie sind nicht da!«
»Nicht mal Francesca?«
»Ich sag doch, es ist niemand da! Ich habe nur dieses Auto vorbeifahren sehen.«
»Und bist du sicher, dass Salviati drinsaß?«
»Vielleicht war er es. Auf dem Rücksitz. Ich weiß es nicht, ich erinnere mich nicht mehr …«
Contini seufzte und nahm das Handy vom rechten ans linke Ohr. Man kam keinen Augenblick zum Verschnaufen. Gerade hatte er die Angelegenheit in Massagno geregelt, da fiel ihm Anna Corti mit dem gescheiterten Überfall ins Haus. Denn das war es, worum es ging. Irgendetwas an dem Plan war offensichtlich schiefgegangen.
»Aber wo bist du?«, fragte Anna. »Was machst du gerade?«
»Ich bin in Massagno. Es ist jetzt alles ganz ruhig hier.«
Zum Glück war Marelli nicht ernsthaft verletzt: höchstens eine Gehirnerschütterung. Es hätte schlimmer kommen können. Lina hatte ihn ins Krankenhaus begleitet. Offizielle Version: Er war in der Badewanne ausgerutscht. Anita Pedrini war wegen der Kampfgeräusche ein wenig besorgt gewesen. Aber Contini hatte die richtigen Worte gefunden, um sie zu beruhigen.
»Aber … aber Lina ist …«
»Lina ist frei. Jetzt müssen wir an euch denken.«
Warum gingen Jean, Francesca und Filippo nicht ans Telefon? Und vor allem, wo waren sie? Um diese Uhrzeit hätten sie alle zusammen im Audi sitzen müssen. Stattdessen war Anna allein zurückgeblieben.
Was war in der letzten halben Stunde geschehen? Anna wusste es nicht.
»Ich habe die Straße beobachtet und nichts gesehen. Es ist niemand vorbeigekommen, außer diesem Mercedes.«
»Vier Leute, hast du gesagt?«
»Der eine hinten könnte Jean gewesen sein. Er sah ein bisschen so aus, aber auch irgendwie anders. Ich dachte, es liegt vielleicht an der Schminke.«
»Vielleicht.«
Contini telefonierte vom Balkon aus. Malaspina hatte Elton gefesselt, ihn in eines der Schlafzimmer gebracht und bewachte ihn nun. Da Lina und Marelli frei waren, hatte Contini vorgehabt, ihn laufen zu lassen … falls es Jean gelingen würde, an das Geld zu kommen.
Aber wie es schien, war der alte Dieb gescheitert.
Anna Corti war allein und verängstigt, Francesca und Filippo waren verschwunden, Jean war (vielleicht) gesehen worden, wie er mit drei Unbekannten im Auto davonfuhr. Contini befürchtete, dass Forster seine Hände im Spiel hatte. Dann blieb also nur eins …
»Es ist besser, du verschwindest von dort.«
»Na, hör mal«, protestierte Anna. »vielleicht sind sie noch in der Bank!«
»Das halte ich für ausgeschlossen«, Contini sprach leise. »Dann wären sie ans Telefon gegangen.«
»Aber …«
»Wenn sie nicht ans Telefon gehen, heißt das, dass etwas schiefgelaufen ist. In dem Fall ist es besser, du bleibst nicht dort.«
Contini verabredete sich mit ihr um halb neun in Bellinzona. Dann ging er zu Malaspina.
Marellis Wohnung war ziemlich groß: zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Esszimmer und eine Küche. Elton hatte das Esszimmer zu seinem Hauptquartier umfunktioniert, ein Feldbett und seinen Computer mitgebracht. Nun befand er sich dort, an den Heizkörper gefesselt. Malaspina betrachtete ihn, während er eine Tasse Kaffee trank.
Contini wartete ein paar Sekunden, bevor er zu sprechen begann. Dann sagte er:
»Und nun?«
»Bitte?«, sagte Elton.
»Ich will die ganze Geschichte hören.«
»Bitte?«
»Hör mal, Elton, wir könnten jetzt auch die Polizei holen. Ich würde sagen, eine Anzeige wegen versuchten Mordes …«
»Das glaubst du doch selbst nicht!«, erwiderte Elton. »Dann kämt ihr aber selbst ganz schön in Schwierigkeiten!«
»Willst du’s riskieren? Willst du uns wirklich auf die Probe stellen?«
Schweigen. Dann fragte Elton:
»Was wollt ihr von mir?«
»Wir wollen die ganze Geschichte hören«, antwortete Contini. »Also los, was geht in Bellinzona vor sich?«
Salviati sprach nicht. Wichtig war, die Gedanken zu ordnen, jeden Spielstein zu prüfen, bevor man ihn setzte. Die Operation Junker-Bank hatte eine unvorhergesehene Wendung genommen. Jetzt galt es zu kämpfen, um die eigene Haut zu retten.
Jonathan und die anderen hatten ihre Gesichter nicht vor ihm versteckt, ebenso wenig wie sie die Fahrtroute vor ihm verbargen. Zuerst hatten sie im Zentrum von Bellinzona gehalten, wo Jonathan ausgestiegen war, um zu telefonieren. Dann hatten sie die Stadt durchquert und waren auf die Autobahn in Richtung Süden gefahren.
Die Chancen für Salviati standen schlecht. Der Mann neben ihm auf der Rückbank hielt die Pistole gezückt und ließ ihn nicht aus den Augen. Jonathan fuhr langsam, auch er sprach kein Wort. Sie hatten sich ohnehin nichts zu sagen. Sie hatten das Geld genommen und mussten nun, bevor sie es an seinen Bestimmungsort brachten, Salviati loswerden.
Sicher handelten sie in Forsters Auftrag. Salviati hatte mit einem Überraschungsschlag gerechnet. Aber nicht mit dem Eindringen in die Junker-Bank. Er hatte gedacht, sie würden beim Herauskommen oder noch später, bei der Geldübergabe eingreifen. Stattdessen hatten sie die ganze Operation unterbrochen und ihn regelrecht entführt.
Wo brachten sie ihn hin?
Er hatte keine Ahnung. Vermutlich an einen abgelegenen Ort, um ihn unauffällig um die Ecke zu bringen. Danach würden sie Forster das Geld liefern.
Und Lina?
Salviati zwang sich, nicht an seine Tochter zu denken. Contini hatte eine Intuition gehabt: Wenn er sich nicht geirrt hatte, war Lina in diesem Augenblick vielleicht schon frei. Aber wenn er sich geirrt hatte, wenn Forster sie noch immer an einem unbekannten Ort gefangen hielt … nein, er durfte nicht daran denken! Es hatte keinen Zweck. Salviati versuchte, diese Gedanken zu vertreiben, sich auf die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft zu konzentrieren. Als sei die Operation nicht gescheitert. Als seien diese drei mit Pistolen bewaffneten Kerle bloß ein belangloser Zwischenfall.