Ein inneres Lächeln

»Ich fühle mich wie jemand, der zu spät kommt«, sagte Kommissar Emilio de Marchi.

»Es ist niemals zu spät«, erwiderte Contini.

De Marchi hob den Kopf und sah ihn an.

»Hören Sie, ich bin nicht hier, um mich zu amüsieren.«

»Ich auch nicht.« Contini schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wieso ich hier bin.«

Kommissar de Marchi hatte die Heizung in seinem Büro auf die höchste Stufe gedreht, als ob er dem Frühling nicht trauen würde. Aber auf seinem blanken Nacken schimmerten ein paar Schweißperlen.

»Das will ich Ihnen sagen. Sie sind hier, weil uns ein paar Gerüchte zu Ohren gekommen sind.«

»Gerüchte? Seit wann kümmert sich die Polizei um irgendwelches Gerede?«

»Seitdem in diesen Gerüchten von einem Detektiv die Rede ist, der schon früher gern Ärger gemacht hat, und von einem ehemaligen Profidieb. Seitdem es heißt, dass diese beiden ziemlich viel Zeit miteinander verbringen.«

»Wir sind Freunde. Wir haben nichts verbrochen.«

»Nichts? Ganz sicher nicht?«

Contini breitete die Arme aus, als wollte er sagen: Beweis mir das Gegenteil. De Marchi schnaubte und spielte mit dem Feuerzeug auf seinem Schreibtisch. Contini hatte recht: Es war nichts vorgefallen. Jean Salviati war bereits seit ein paar Wochen zurück in der Provence und verhielt sich ruhig. Wirklich schade, dass sie von dieser seltsamen Freundschaft

»Contini, erklären Sie mir, wie es kommt, dass Sie mit einem ehemaligen Dieb und Betrüger befreundet sind.«

»Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht, weil wir so verschieden sind … nun ja, vielleicht brauch ich den Gegensatz. Es ist etwas, das mir hilft, wissen Sie?«

»Ich bin ganz gerührt, Contini.«

»Aber es stimmt! Jean Salviati lässt mich gewissermaßen besser begreifen, was ich will und wer ich bin.«

»Eine philosophische Freundschaft also.«

»Sie lächeln darüber, Kommissar, aber …«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Sagen wir, ein inneres Lächeln.«

»Contini.« De Marchis Tonfall wurde drohend.

»Sie nehmen mich nicht ernst, aber schauen Sie, es gibt keinen Grund zur Sorge. Jean ist nach Frankreich zurückgekehrt. Und eigentlich haben wir nichts gestohlen, oder?«

De Marchi schnipste mit dem Feuerzeug, einmal, zweimal und ein drittes Mal. Dann sah er den Detektiv an und schnipste ein weiteres Mal mit dem Feuerzeug. Er war nervös, aber Contini hatte recht. Sie hatten nichts gestohlen.

 

Sie hatten sich bei Salviati zu Hause wiedergesehen, auf dem Monte Ceneri. Er kam ihr ein wenig schüchtern vor und ungeschickt bei der Wortwahl. Er hatte sie auf der Schwelle in die Arme geschlossen. Lina, hatte er gesagt. Lina. Dann hatte er sie ins Wohnzimmer geführt, eine Flasche Rotwein entkorkt. Ein drittes Mal hatte er Lina gesagt. Daraufhin hatte sie sich nach seinem Befinden erkundigt, und er hatte den Fröhlichen gespielt. Aber Lina merkte, dass ihm eigentlich zum Weinen zumute war. Ihrem Vater. Dem großen Dieb und harten Kerl. Nun stand er vor ihr, mit von Falten zerfurchtem Gesicht und zitterndem Kinn.

De Marchi nickte.

»Ein bewegendes Treffen?«

»Ja.«

Sie war nicht gerade gesprächig, Salviatis Tochter. Abgesehen davon, dass de Marchi nicht wusste, was er sie fragen sollte.

»War es wegen Contini, dass Sie sich wiedergesehen haben?«

»Nein, mein Vater ist meinetwegen nach Lugano gekommen. Er hat nur die Gelegenheit genutzt, um Contini wieder zu treffen.«

»Die beiden sind alte Freunde.«

Das war keine Frage. Lina schwieg. De Marchi seufzte.

»Und Matteo Marelli?«

»Matteo Marelli was?«

»Haben Sie ein Verhältnis mit ihm?«

Lina lächelte. Der Kommissar kam einer sarkastischen Antwort von ihr zuvor.

»Nicht, dass ich mich in Ihre Angelegenheiten einmischen will. Wir gehen nur ein paar Gerüchten nach.«

»Gerüchten?«

»Nichts Ernstes. Haben Sie ein Verhältnis?«

»Ich weiß es nicht.« Lina lächelte erneut. »Das wird sich zeigen.«

 

Zwischen ihnen herrschte noch Zurückhaltung, eine Art Scheu voreinander. Es war nicht einfach. Lina war eine Vagabundin, an schlechte Gesellschaft und das Leben in Hotels gewöhnt. Spielabende, Kreuzfahrten, ein Lächeln als Tauschwährung. Er selbst war ein kleiner Gauner, der sich, wann immer es nötig war, geschickt aus dem Staub machte. Dennoch hätten sie sich während jener Tage der Gefangenschaft

»Ich bin mir nicht sicher. Es wird sich zeigen. Jedenfalls sind wir nicht zusammen.«

»Kennen Sie ihren Vater?«

»Jean Salviati? Nur flüchtig.«

»Haben Sie jemals mit ihm zusammengearbeitet?«

Matteo sah de Marchi mit beleidigter Miene an.

»Ich verkehre nicht mehr in diesen Kreisen.«

»Salviati auch nicht.«

»Schön für ihn.«

»Und welcher Arbeit gehen Sie nach, Marelli?«

»Ich bin auf der Suche.«

De Marchi sah aus dem Fenster. Auf dem Viale Franscini stockte der Verkehr. Der Lärm der Autos drang gedämpft durch die Doppelglasscheiben. Er drehte das Feuerzeug zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, sah Marelli an und sagte:

»Na dann, viel Glück.«

 

Es war ein Wintertag. Aber es lag bereits ein erster Hauch von Frühling in der Luft. Als habe sich in die Menschen, die Autos und die kahlen Bäume eine geheime Kraft eingeschlichen. Der Himmel schien weniger tief zu hängen, das Licht über den Kastellen wirkte klarer. Lina verließ das Gebäude der Kantonspolizei von Bellinzona und lief in Richtung Piazza Indipendenza.

Sie suchte sich einen Platz in einer Bar, um zu telefonieren. Sie bestellte einen Kaffee und rückte den Stuhl zurecht, um durch die Scheibe auf die Piazza mit dem Obelisken in der Mitte zu sehen.

»Ja bitte.«

»Ich bin’s.«

Salviati presste den Hörer ans Ohr und senkte den Kopf, als wolle er auf diese Weise dem Gespräch mehr Intimität verleihen. Die Bar war praktisch leer, aber es genügte eine Kleinigkeit, um sie abzulenken: das Scheppern der Kasse, das Lachen eines Gastes.

»Wie geht es dir, Lina?«

»Gut. Ich habe mit der Polizei gesprochen.«

»Aha.«

»Kein Problem. Sie haben mir ein paar Routinefragen gestellt. Was macht die Arbeit? Hast du mit dem Garten angefangen?«

»Ich schaue gerade Kataloge durch, um für den Frühling zu bestellen.«

»Schön.«

»Und du? Weißt du schon, was du machen willst?«

»Ich denke drüber nach.«

»Magst du für eine Weile in die Provence kommen?«

»Was soll ich da machen?«

»Ach, eine Arbeit kann ich schon für dich finden. Wenn ich Madame Augustine frage …«

»Lass erst mal. Aber ich würde dich gerne besuchen kommen. Demnächst vielleicht, wenn es etwas wärmer ist.«

»Hier ist immer Platz! Und …«, Salviati zögerte, »wenn Matteo mitkommen will …«

»Oh, danke. Ich würde gern die Villa wiedersehen.«

Nach einiger Zeit wussten sie nicht mehr, was sie sich sagen sollten. Vielleicht war das unvermeidlich. Er wollte ihr nicht zu viele Fragen stellen, und sie wollte nicht zu einfache Antworten geben. Wie auch immer, Lina hatte sich verändert. Sie suchte nach einem Weg, und ihm blieb nichts anderes übrig, als auf sie zu warten.

»Dann grüß mir Matteo!«

»Mach ich. Bis bald!«

Salviati legte den Hörer auf und trat hinaus an den Tisch neben der Tür. Die Luft war noch kühl, aber mit Jacke war es angenehm. Er zündete die Pfeife an und sah auf den Platz. Die Pétanque-Bahn lag bereit für die nächste Spielsaison. Neben dem Souvenirladen, hinter den Platanen, leuchteten schon die bunten Hemden der ersten Touristen auf.

»Ein Weißwein?«, fragte Marcel.

»Danke. Leistest du mir Gesellschaft?«

Madame Augustine war erfreut gewesen, ihn nach monatelanger Abwesenheit wiederzusehen. Er hatte ihr nicht die ganze Wahrheit erzählen, aber immerhin deutlich machen können, dass dergleichen nicht wieder vorkommen würde.

»Es ist ein bisschen windig heute«, sagte Marcel.

»Hm …«

Der Wind hatte die Wolken weggefegt, die in den Tagen zuvor etwas Regen gebracht hatten. Salviati war gerade damit beschäftigt, den Boden für einen neuen Rosengarten vorzubereiten. Er hatte ein wenig Eisensulfat unter die Erde gemischt und wollte nach dem Schoppen drei Säcke Düngemittel zur Villa schaffen. Marcel riss ihn aus seinen Gedanken:

»Ein Wunder, dass der noch auf den Beinen ist …«

Es war Monsieur Simon, der alte Dorflehrer. Er fuhr immer mit dem Fahrrad zum Einkaufen; und auf dem Rückweg kurvte er, zwei Taschen am Lenker und eine auf dem Gepäckträger, um die Platanen auf dem Platz. Sein Gleichgewichtssinn war bemerkenswert. Salviati lächelte und zündete erneut die Pfeife an.

Der Überfall war weit weg. Forster würde keinen Ärger mehr machen: Salviati hatte Gerüchte gehört, nach denen er geliefert war, die Schuldner hatten sich auf ihn gestürzt. Aber Salviati wusste aus Erfahrung, dass derartige Operationen einer langen Erholungszeit bedurften. Die Schlagkraft des Überfalls, die Wucht der Ereignisse, die Überraschung und

Ach ja, Elia. Er hatte nicht mehr von sich hören lassen, aber Salviati wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Während Elia seine Flöße zu Wasser ließ oder durch die Wälder streifte, würde er tagtäglich das Bedürfnis verspüren, besser zu begreifen. Derweil rauchte Salviati seine Pfeife, dachte an seine Rosen und trank mit Marcel einen Weißwein. Hinter dem Platz verschwand die Sonne, und er stellte den Jackenkragen auf.

»Gestern war Georges hier«, sagte Marcel. »Er hat erzählt, dass ihr oben bei der Villa einen neuen Brunnen angelegt habt.«

»Ja. Das hatten wir schon länger vor.«

»Es wird euch im Sommer zugutekommen …«

»Hoffen wir’s.«

»Puh … ist ein bisschen windig heute!«

»Ja. Der Wind kommt vom Meer.«

 

Enea Dufaux gönnte sich gerne auch mal außerhalb der Saison ein paar Tage an Bord seiner Lucky. Letztlich steht eine gut ausgestattete Jacht einem Büro in nichts nach. Tagsüber war er auf der Brücke oder legte in einem kleinen Hafen an, am Abend wählte er ein Restaurant an der Küste. Von seiner Kabine aus war er mit der gesamten Welt verbunden: Er konnte seine Geschäfte abwickeln, wie er es von Mailand oder Zürich aus getan hätte.

Der Wind blies vom Meer aufs Land. Dufaux sah auf, um dem Profil der Häuser und der dahinterliegenden Hügel zu folgen. Er hatte das Gefühl, gleichsam den Duft der Provence in sich aufzunehmen, die Stimmen der Frauen zu hören, die zu einem Plausch in den Ladentüren standen.

Er richtete den Blick erneut auf den Computer. Zu viele E-Mails. Alle hatten etwas mitzuteilen. Er löschte ein halbes Dutzend, dann druckte er eine Abrechnung der Junker-Bank aus. Reto Koller hatte auch diesmal den richtigen Riecher gehabt: Dufaux hatte eine bestimmte Summe in die Junker-Bank investiert und dabei auf das Durchsetzungsvermögen der kleinen Bank gesetzt. Er hatte sich als ein guter Kunde erwiesen, mit dem nötigen Geld, einer Zukunft und Potenzialen. Und Koller hatte gute Arbeit geleistet: Den Schweizern konnte man in diesem Punkt vertrauen. Nicht von ungefähr befand sich ein Drittel des weltweiten Offshore-Privatvermögens auf ihren Banken.

Dufaux gähnte und nahm einen Schluck Wein. Bei dem Gedanken an Koller fiel ihm dieses Durcheinander kurz vor Weihnachten ein. Er hatte nicht ganz verstanden, was vorgefallen war, aber es war zu einem versuchten Banküberfall gekommen. Drei arme Schlucker, die sich eine undichte Stelle zunutze gemacht und versucht hatten, Melato in die Quere zu kommen. Die Junker-Bank hatte über die Sache Stillschweigen bewahrt.

Es wäre ärgerlich gewesen, das Geld zu verlieren. Aber Dufaux machte kein Drama daraus. Es amüsierte ihn, wer es sich alles zu Herzen nahm, wer den Finger erhob: Manager, Bankgeheimnis, Hedgefonds. Dufaux agierte in verschiedenen Ländern, und er wusste zu genau, dass die Welt ein Dorf ist. Im Allgemeinen gehörten gerade die Schweizer zu den besonders Ehrlichen … nun ja, außer Koller, zum Glück.

Er inspizierte Kollers Abrechnung, aber nach ein paar Zeilen wurde es ihm langweilig.

Er schwenkte den Wein im Glas, begutachtete die dunkle Farbe und nahm einen kleinen Schluck. Er behielt ihn im Mund, um den verschiedenen Geschmackskomponenten nachzuspüren. Dann schluckte er ihn hinunter und stellte das Glas ab. An der Küste gingen die Lichter an. Die Hügel verloren ihre Konturen, und die Grenze zwischen Strand und Meer verschwand.