Manche sagen, dass Orte ihre eigenen Erinnerungen bergen.
Salviati fand das nicht. Die Erinnerungen sind in den Menschen, in ihren Blicken. Oder in ihren Sachen. Linas Wohnung war klein und roch ungelüftet. Das Bett ungemacht, eine Milchpackung auf dem Küchentisch, eine rot-gelb karierte Decke auf dem Sofa. Schmutzige Gläser auf dem Glastischchen im Wohnzimmer.
Auf dem Teppich vor dem Fernseher lagen eine Platte von John Coltrane, ein Buch über Meditation und eine DVD mit Hugh Grant. Salviatis Blick schweifte langsam durch die Räume, auf der Suche nach etwas Auffälligem, nach etwas, das nicht hierhergehörte.
Aber es herrschte einfach nur Unordnung. Nichts Besonderes.
Eine Menge Papiere auf dem Schreibtisch. Belege, offene Rechnungen, Eintritts-, Kino- und Konzertkarten. Nirgendwo Geld, außer zwanzig Franken in der Nachttischschublade.
Salviati setzte sich an den Küchentisch. In der Wohnung gab es weder Zeichen eines Kampfes noch Zeichen eines freiwilligen Aufbruchs. Allerdings war die Milch abgelaufen. Und die Geranien auf dem Balkon waren verwelkt. Lina hatte nicht damit gerechnet fortzubleiben.
Hatte Luca Forster ihr etwas angetan?
Keine voreiligen Schlüsse, dachte Salviati, während er die Wohnung verließ. Er hatte Werkzeug dabei, um sich Zugang zu verschaffen, aber die Tür war nicht abgeschlossen gewesen. Er verließ die Wohnung, wie er sie vorgefunden hatte, und trat auf die Straße. Die Haustür war vollkommen unbewacht. Um hineinzukommen, hatte sich Salviati einer mit Einkaufstüten bepackten Bewohnerin angeschlossen, die er gegrüßt und der er in den Aufzug geholfen hatte.
Er lief die Straße am Cassarate hinunter. Seit Jahren war er nicht mehr in der italienischen Schweiz gewesen. Aber unterwegs erkannte er die Straßen, den Geruch der Stadt wieder. Es gab mehr Autos, mehr fremde Stimmen und Gesichter. Einschließlich meinem eigenen, dachte er. Er blieb stehen und sah auf den Fluss. Ein roter Ball war ins Wasser gefallen, unterhalb eines kleinen Wasserfalls. Strömung und Gegenströmung hielten ihn an einem Punkt fest.
Salviati ließ sich in den Bann ziehen. Reglos fixierte er den Ball, bis alle Gedanken aus seinem Kopf verschwunden waren.
Dann trank er auf der Terrasse eines Restaurants, wenige Meter vom Cassarate entfernt, ein Bier. Mittlerweile war alles ziemlich klar: Forster saß am längeren Hebel. Und solange Salviati nicht herausfand, wo Lina war, musste er nach dessen Pfeife tanzen.
Es war ein warmer Tag, Schwüle lastete auf dem Asphalt. Die Sonne brachte die Autodächer auf dem Parkplatz des Padiglione Conza zum Glühen.
Salviati überquerte die Kreuzung am Ende der Via Cassarate und ging zu Fuß in Richtung Innenstadt. Er hatte auf Forsters Brief schlicht geantwortet: Ich bin in Lugano. Und Forster hatte ihm für denselben Abend gegen sechs Uhr ein Treffen in einer Wohnung in Paradiso vorgeschlagen.
Als er das Stadtzentrum erreichte, war es vier. Er bemerkte, dass die Busstation neu war. Eine moderne Angelegenheit, Plastik und geometrische Formen. Er studierte den Fahrplan, suchte eine Linie heraus, die gegen fünf nach Paradiso fahren würde. Dann vertrieb er sich die Wartezeit und schlenderte ein wenig durch die verkehrsfreie Innenstadt. Er versuchte sich zu beruhigen. Die Straßen waren nicht übermäßig belebt. Ein paar blonde Touristen, einige Pärchen mit einem Eis in der Hand. Flip-Flops. Bermudas. Sonnenbrille. Kleine Jungs auf Rollern. Verschwitzte Angestellte, Krawatten, die wie Hundeleinen wirkten.
Später, als Salviati das Haus erreichte, das Forster angegeben hatte, war er noch immer ruhig, frei von Gedanken. Er hatte den passenden inneren Zustand gefunden, die Sinne angespannt, die Gefühle unter Kontrolle.
Das Haus lag auf einem Hügel zum See hin. Salviati überquerte eine Fußgängerbrücke, die über einen mit Johanniskraut und Polyantha-Rosen bepflanzten Garten führte. Die Wohnungstür wurde sofort geöffnet. Salviati erkannte Eltons affenartiges Gesicht. Er begrüßte ihn herzlich. In einem anderen Leben hätten sie gemeinsam Hehlereigeschäfte abgewickelt.
»Salviati, sehr erfreut, Sie wiederzusehen«, sagte Elton. »Ich sehe, Sie sind zu früh.«
»Ja.«
»Ich werde nachschauen, ob Signor Forster bereit ist …«
»Sag ihm, er soll kommen!«, tönte Forsters Stimme von innen.
Das Arbeitszimmer hatte drei vollkommen weiße Wände. Die vierte war eine Glasfront zum See. Die Sonne blendete in den Augen, sie wirkte beinahe unwirklich in der von der Klimaanlage eiskalten Wohnung.
»Salviati«, sagte Forster. »Wir haben uns eine Weile nicht gesehen.«
Er war eine stattliche Erscheinung, mit tiefschwarzem Haar und einem Schnauzbart, der ihm ein vornehmes Äußeres verlieh. Salviati hatte ihn schlanker in Erinnerung.
»Du hast abgenommen«, stellte Forster fest, als sie sich die Hand gaben.
Obwohl sie ungefähr das gleiche Alter hatten, wirkte Salviati mit seinen bereits leicht ergrauten Schläfen einige Jahre älter.
»Was ist das für eine Geschichte mit meiner Tochter?«
»Setz dich, damit wir darüber reden können.« Forster deutete ein verkniffenes Lächeln an. Seine Stimme war angenehm, ohne jeglichen Akzent.
In dem Zimmer befanden sich lediglich ein Schreibtisch und zwei Stühle. Keine weiteren Gegenstände, kein Nippes. Auf dem Schreibtisch ein Packen weißes Papier, ein Bleistift, ein Füller.
Salviati nahm Platz und wiederholte:
»Was ist das für eine Geschichte mit meiner Tochter?«
»Ich weiß, dass du dich aus dem Geschäft zurückgezogen hast …«, sagte Forster.
Salviati sah ihn an.
»Dir ist bekannt, dass deine Tochter Schulden bei mir hat, und zwar in Höhe von … Elton?«
Elton war an der Tür stehen geblieben. Bevor er zu sprechen begann, trat er einen Schritt näher, um in Salviatis Blickfeld zu gelangen.
»Zweihundertdreiundzwanzigtausend Franken, soweit ich weiß, ohne Zinsen.«
»Reisen«, kommentierte Forster, »Glücksspiele, Hotels, Casinos und …«
»Forster«, sagte Salviati.
Forster hob die Hand.
»Ich komme zur Sache. Du brauchst nicht zu glauben, dass du sie einfach so zurückbekommst. Aber schließlich haben wir schon einige gemeinsame Geschäfte gemacht. Erinnerst du dich?«
Salviati erwiderte nichts. Die Lider halb geschlossen, sah er aus, als würde er gleich einschlafen. Aber Forster kannte ihn gut und fuhr eilig fort:
»Ich habe einen Hinweis auf eine ganz lukrative Sache, aber mir fehlen die Mittel, das Ganze zu organisieren. Dir dagegen nicht. Du erledigst also für uns die Arbeit, und wir streichen deiner Tochter die Schulden. Okay?«
»Wo ist meine Tochter?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Was habt ihr mit ihr gemacht?«
»Nichts. Sagen wir, sie ist mein Gast, so lange, bis wir unser Geschäft abgewickelt haben.«
»Und wenn ich zur Polizei gehe?«
Diesmal war es Forster, der keine Antwort gab. Nach einiger Zeit meinte Salviati: »Du bist ein Bastard.«
»Ich weiß. Aber ich will das Geld.«
»Welche Garantie habe ich?«
»Wir sind Geschäftsleute. Ich will bloß das Geld.«
»Und wenn Lina dich anzeigt, sobald sie frei ist?«
»Wir wissen beide, dass sie das nicht tun wird.«
»Du kannst nicht sicher sein, dass mir gelingt, was du von mir verlangst.«
»Nein. Aber du kannst es probieren. Sieh mal, Salviati, ich will dich nicht übers Ohr hauen. Im Gegenteil wird am Ende, angesichts der Summe, auch für dich etwas herausspringen, zusätzlich zu …«
»Leck mich am Arsch«, murmelte Salviati, in einem Ton, als ließe er eine Bemerkung über das Wetter fallen.
Forster senkte den Kopf, wie zur Entschuldigung. Dann griff er nach dem Füller auf dem Schreibtisch und betrachtete ihn eingehend.
»Jedenfalls ist es ein sehr guter Plan«, sagte er schließlich. »Elton kümmert sich um die ganze Angelegenheit, er steht in Kontakt mit der Person, die die Idee hatte. Der alte Salviati hätte nicht gezögert.«
»Der alte Salviati hat nicht nach anderer Leute Plänen gearbeitet. Und sich schon gar nicht erpressen lassen.«
»Den Plan kannst du selbst ausarbeiten. Wir geben dir die Informationen.«
»Und was soll ich für euch tun?«
»Du sollst die Junker-Bank um zehn Millionen Franken erleichtern.«
Schweigen. Forster hob den Blick, ließ den Füller los. Salviati starrte ihn an, schloss die Augenlider.
»Zehn Millionen Franken …«, flüsterte er. »Zehn. Millionen. Die Junker-Bank. Das ist also deine Idee. Deshalb hast du meine Tochter entführt.«
»Hör zu, Salviati, das Ganze ist machbar. Mein Informant …«
»Tu mir den Gefallen«, Salviati hob die Hände, »tu mir den Gefallen, und sage nichts mehr.«
»Aber …«
»Es reicht!«
Schweigen. Salviati schloss die Augen. In seinem Inneren wuchs von Minute zu Minute die Gewissheit, dass es keinen Ausweg gab.