Er arbeitete für einen Hersteller von Sicherungssystemen für Banken und Registrierkassen. Matteo erinnerte sich gut an ihn. An seine feuchtglänzenden, klugen Augen, an seinen Tick, sich jedes Mal, wenn er sich in einer Scheibe spiegelte, zu kämmen.
»Ich denke, wir werden uns heute mit einem neuen Gedanken vertraut machen«, sagte er immer, »und zwar mit der Bank als Erfahrungsbereich.«
Die Bank als Erfahrungsbereich? Warum nicht? Es kommt auf den Blickwinkel an …
Dieses Ausbildungsseminar für Sicherheitskräfte hatte sich am Ende als nützlicher erwiesen, als gedacht. Zunächst hatte Matteo erkannt, dass die Wachschutz- und Security-Branche nichts für ihn war. Darüber hinaus hatte er einige wertvolle Freundschaften geschlossen.
Matteo Marelli hätte sich niemals träumen lassen, eine Bank auszunehmen, normalerweise gab er sich mit kleinen Betrügereien ab. Aber er hatte nichts dagegen, einen Coup im größeren Stil zu wagen. Deshalb saß er im Clayton Pub von Viganello bei einem Bier mit Jean Salviati zusammen.
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte Salviati, »ich kenne niemanden mehr.«
»Aber Sie müssen mir helfen«, wiederholte Matteo.
Salviati warf ihm einen durchdringenden Blick zu.
»Sie werden es am Ende nicht bereuen«, fuhr Matteo fort. »Wie dem auch sei …«
»Es reicht. Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen.«
Matteo war voller Bewunderung. Der Alte saß da, sonnengegerbt und unbeweglich wie eine Eiche, ohne jemals der Versuchung nachzugeben, ihn zu beschimpfen oder zu ohrfeigen. Und dennoch schien er eher ein hitziges Gemüt zu haben. Aber ein guter Dieb muss so sein, oder nicht?
»Es ist ganz einfach, Herr Salviati. Ich habe viele Freunde in dem Umfeld und kann eine Menge Informationen sammeln. Aber ich kann sie nicht nutzen, Sie dagegen schon.«
»Ich bin Gärtner.«
»Herr Salviati …«
Schweigen. Salviati holte seine Pfeife hervor und fing an, sie zu stopfen.
»Sagen Sie, was Sie vorhaben.«
»Sie wissen, dass man in öffentlichen Lokalen nicht mehr rauchen darf.«
»Ich rauche nicht. Ich stopfe meine Pfeife.«
»Verstehe.«
Besser dem Alten nicht widersprechen, dachte Matteo. Er zog sein Bierglas heran, beugte sich über die Tischkante und senkte die Stimme.
»Wir wollen keine große Junker-Filiale in Zürich oder Lugano überfallen. Das wäre unmöglich, oder zumindest ziemlich riskant.«
Er schwieg einen Augenblick und wartete auf eine Reaktion. Aber Salviati stopfte bloß weiter Tabak in den Pfeifenkopf. Das Clayton war ein dunkles und lautes Lokal. Sie saßen neben dem Billardtisch, vor einem zur Straße gelegenen Fenster.
»Wenn wir eine Nebenfiliale wählen, hätte das den Vorteil … wie sagten Sie?«
»Zehn Millionen«, murmelte Salviati. »Sie wollen einer Nebenfiliale zehn Millionen Franken abknöpfen?«
»Genau das ist der Punkt! Ich habe herausgefunden, dass ein Transfer stattfinden soll. Die Junker-Bank hat vor Kurzem einen wichtigen Berater übernommen, einen Privatbankier, der seine eigenen Kunden mitbringt. Dabei handelt es sich natürlich um die Sorte von Kunden, die eine Menge Bargeld in Umlauf bringen. Es gibt da einen Industriellen aus Norditalien …«
»Einen Industriellen?«
»Sagen wir, einen Geschäftsmann, was immer man unter ›Geschäft‹ verstehen mag. Um bei dem Berater seines Vertrauens zu bleiben, hat dieser Industrielle die Bank, bei der er zuvor war, verlassen und wird nun Wertpapiere und Geld an die Junker-Bank überführen.«
Am Billardtisch, einem von denen, die noch mit Münzeinwurf funktionieren, war eine Partie im Gange. Einer der Spieler hatte ein durchdringendes Lachen, das alle Stimmen übertönte und hin und wieder zu ihnen an den Tisch drang.
»Die Herkunft des Geldes ist ungewiss. Normalerweise kann es eine Bank so nicht einziehen. Aber Sie wissen ja, bei der Junker-Bank verlangen sie nicht immer genaue Kontrollen. Sie wollen sich schnell vergrößern und sind zu Risiken bereit. Außerdem, mein lieber Salviati, werden wir es sein, die den Ort der Überführung wählen!«
Salviati hatte die ganze Zeit mit düsterer Miene auf seine Pfeife gestarrt. Doch bei diesen Worten hob er erstaunt den Blick.
»Wir werden wählen? Was soll das heißen?«
»Es wird eine ganze Reihe von Transfers geben, ein Kunde, bei dem es insgesamt um über hundert Millionen geht. Das meiste in bar, Euros oder Franken, die in verschiedene Junker-Filialen gebracht werden: jedes Mal eine Summe im Wert zwischen fünf und zehn Millionen Franken. Wir müssen nur den richtigen Ort aussuchen, uns das Geld schnappen und abhauen. Ganz einfach.«
Schweigen. Salviati legte die Pfeife auf den Tisch.
»Ganz einfach, was?«
»Natürlich! Wir können alles vorbereiten, sodass …«
»Genial, stimmt’s?«
»Ja. Die Sache ist …«
Matteo spürte, wie ihm die Worte im Mund erstarben. Die Stille wurde von einem Lachen übertönt, das vom Billardtisch herüberkam.
»Hören Sie, Marelli. Ich bin gezwungen, Geduld zu üben, was nie meine Stärke war. Ich gehe auf die Erpressung ein, das wissen Sie. Aber die Entscheidungen fälle ich, ist das klar?«
»Ich … ja natürlich. Ich wollte nur …«
»Sie geben mir alle Informationen, die Sie haben. Ich werde die Sache unter die Lupe nehmen. Danach werd ich mich mit diesem Bastard von Forster in Verbindung setzen, und dann sehen wir weiter …«
»Einverstanden. Aber …«
»Aber jetzt, bevor ich irgendetwas unternehme, will ich mit meiner Tochter sprechen.«
»Jetzt?«
»Ganz richtig gehört.«
»Das geht nicht! Ich weiß nicht, wo sie sie versteckt haben. Ich weiß gar nichts!«
Salviati erhob sich langsam. Er stützte sich auf den Tisch und beugte sich zu Matteo vor.
»Glauben Sie wirklich, dass ich zehn Millionen Franken für Sie raube, ohne vorher mit meiner Tochter gesprochen zu haben?«
»Natürlich nicht! Ich verspreche Ihnen, die Sache in die Hand zu nehmen! Morgen früh wird sie sich bei Ihnen melden. Haben Sie ein Natel?«
»Ein was?«
»Ein Mobiltelefon, ein Handy.«
»Ich hab mir eins gekauft.« Salviati wühlte erst in einer, dann in der anderen Tasche, tastete dann sein Hemd ab. »Wo ist denn …?«
Schließlich fand er es im Tabakbeutel. Ein rot-weißes Modell.
»Ich habe auch einen Vertrag mit der Nummer bekommen«, sagte Salviati. »Aber ich will keine Anrufe von einer Nummer empfangen, die nicht sauber ist.«
»Auch ich verstehe was von meinem Handwerk, Herr Salviati.«
Fast heimlich, wie zwei Schuljungen, tauschten sie ihre Telefonnummern aus und Matteo zahlte die Rechnung. Dann sagte er:
»Ich gehe jetzt. Haben Sie zufällig die Absicht, mir zu folgen? Ich sage Ihnen gleich, dass es zwecklos ist. Ich habe dafür gesorgt …«
»Gehen Sie zum Teufel und lassen Sie mich in Ruhe!«
Salviati bestellte noch ein Bier und blieb im Dämmerlicht des Clayton sitzen, rings um ihn Stimmengewirr, kurze Billardstöße. Matteo stieß dagegen einen Seufzer der Erleichterung aus, als er die Straße erreichte.
Viganello besteht aus wenigen steilen Straßen, wenigen Straßenlaternen und einigen Eckkneipen. Die meisten Lokale hatten Tische auf den Gehweg gestellt. Matteo lief zügig. Hin und wieder sah er sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand ihm folgte.
Würde Salviati Ruhe bewahren? Vor einem Schnellimbiss tat Matteo so, als binde er sich die Schuhe zu. Wenn es Salviati gelingt mir zu folgen, dachte er, geht alles in die Hose. Aber die Straße war leer. Matteo bog nach rechts ab und begab sich in den höher gelegenen Teil Viganellos, wo er den Wagen geparkt hatte.
Während der Fahrt dachte er an die zehn Millionen der Junker-Bank. Eine gewaltige Summe! Selbst mit Forster geteilt, selbst abzüglich aller Kosten. Er nahm die Autobahn in Richtung Norden. Man musste aufpassen, durfte sich keine Fehler leisten. Salviati war zu seiner Zeit einer der Fähigsten gewesen, aber wie würde er mit all dem technischen Fortschritt zurechtkommen?
Es war halb elf Uhr abends. Matteo hatte eine lange Reise vor sich: von den Lichtern Luganos bis zu den dunklen Pfaden des Bavonatals. Bei Bellinzona fuhr er von der Autobahn ab, nahm die Kantonsstraße nach Locarno und fuhr weiter ins Maggiatal. Als er Sonlerto erreichte, war es beinahe Mitternacht. Noch immer in Gedanken versunken, schlug er einen Pfad durchs Gebüsch ein. Weiter oben sah er ein Licht in den Bergen.
Gut, dachte er, Lina ist noch wach.
Oberhalb der Sennhütte gab es nichts mehr. Sie war der höchste bewohnte Punkt in einem der wildesten Täler des Tessins. Mithilfe einer Taschenlampe folgte Matteo der schwachen Spur eines Pfades. Dann verlor sich die Spur. Matteo musste sich durch einen Wald schlagen.
Die Corói-Alm war seit Jahren verlassen. Die Natur eroberte das Terrain zurück, und die Sennhütte war von allen Seiten umwuchert. Wenn man die Gaslampe vor der Tür ausschaltete, war sie von unten praktisch nicht zu sehen. Um sie zu erreichen, musste man genau wissen, wo sie lag.
Die Idee, dass Lina sich dort oben versteckt hielt, stammte von Forster, der die Hütte für alle Eventualitäten ausgestattet hatte. Matteo wollte lieber nicht darüber nachdenken, für welche Zwecke sie bereits verwendet worden war. Forster hatte Angst, Lina könne es sich anders überlegen: Er hatte Matteo befohlen, sie nicht aus den Augen zu lassen. Am Anfang wollte er ihm sogar einen zweiten Wächter an die Seite stellen. Zum Glück war es Matteo gelungen, ihn unter dem Vorwand, dass es Lina damit nicht gut gehen würde, davon abzubringen.
»Wo warst du?«
»Ich habe Jean Salviati getroffen.«
Lina saß mit einem Buch am Feuer. Sie trug einen Pulli und Jeans. Das kastanienfarbene Haar fiel ihr auf die Schultern und glänzte im Licht. Als sie von ihrem Vater sprechen hörte, hob sie abrupt den Kopf. Matteo berichtete ihr in allen Einzelheiten von dem Treffen.
»Aber wie hat er reagiert«, wollte sie am Ende wissen, »hat er nicht nach mir gefragt?«
»Ich habe ihm gesagt, dass es dir gut geht.«
Lina sah sich um.
»Wenn du meinst …«
Die Sennhütte hatte nicht gerade viel Komfort zu bieten. Steinfußboden, ein Holztisch, ein paar Stühle, zwei Feldbetten und eine Feuerstelle. In einem mit Rigipswänden abgetrennten Raum befanden sich ein Waschtisch und eine Toilette.
»Aber was hat er dir gesagt? Wann machen wir diesen Überfall?«
»Läuft alles gut.« Matteo zog sich die Windjacke aus, trat an den Kamin und rieb sich die Hände. »Alles in Ordnung.«
»Was soll das heißen, läuft alles gut? Müssen wir noch lange hierbleiben?«
»Na ja, wir sollten’s als eine Art Urlaub auffassen.« Matteo grinste. »Hast du was gegen ein bisschen Urlaub?«
»Nenn es von mir aus Urlaub! Aber hat mein Vater gar nicht von mir gesprochen?«
»Er will mit dir telefonieren.«
»Telefonieren? Und was soll ich ihm sagen?«
»Ganz ruhig.« Matteo legte ihr eine Hand aufs Knie. »Kein Grund zur Sorge. Du rufst ihn in den nächsten Tagen an und sagst ihm, dass es dir gut geht.«
»Aber wie soll ich das machen? Ich müsste ihm einen Haufen Lügen auftischen!«
»Du brauchst nicht …«
»Mein Vater ist nicht dumm, verstehst du?«
»Du brauchst nicht lange mit ihm zu sprechen. Zwei Sätze, mehr nicht.«
»Das schaff ich nicht! Er wird sofort merken, dass …«
»Lina«, Matteo sah ihr in die Augen, »glaubst du an unseren Plan?«
Die Flammen im Kamin waren das einzige Geräusch, die einzige Bewegung in dem düsteren Raum, der nach Holz roch. Bis Lina den Kopf senkte.
»Ich habe Angst.«
»Das ist natürlich.«
»Wir sind hier allein, vollkommen abgeschnitten …«
»Wir sind den Blicken der Welt entzogen. Allein mit unseren Träumen.«
»Das ist nicht zum Lachen.«
»Aber ich meine es ernst.«
»Es steht viel auf dem Spiel, Matteo, hier geht’s darum, eine Bank auszurauben! Und das Ganze, indem mein Vater hinters Licht geführt wird …«
»Ich weiß, Lina, es ist nicht einfach. Aber weißt du was? Das ist unsere Chance, wir müssen sie nutzen.«
»Und derweil sind wir hier in Forsters Hütte eingesperrt.«
»Wie kommt es eigentlich, dass du so viel Schulden bei ihm hast?«
Matteo wandte sich mit leiser, beinahe monotoner Stimme an sie. Linas Antworten wirkten wie ein innerer Monolog, als wäre sie ganz allein, vor dem Kamin, mit sich selbst im Gespräch.
»Darüber gibt es nicht viel zu sagen.« Sie ordnete ihr Haar auf dem Rücken und starrte unentwegt in die Flammen. »Ich wusste nicht, was ich anfangen sollte. Ich hatte ein Sekretärinnen-Diplom und hab in einer Anwaltskanzlei in Nizza gearbeitet, aber ich fand es langweilig.«
»Was hat dein Vater gemacht?«
»Anfangs gehörte er noch dazu. Ich habe Jahre gebraucht, ehe ich es entdeckt habe. Er war immer unterwegs, ein ständiges Kommen und Gehen.«
»Hat er dir nichts erzählt?«
»Als ich erfuhr, dass er ein Dieb war, fand ich es unglaublich. Für mich war es eine schöne Sache, ich dachte nicht an die Gefahren oder ans Gesetz. Es … es war etwas, das mir das Gefühl gab, anders zu sein.«
»Wie anders?«
»Ich weiß nicht … so eine Art Freiheitsgefühl, wie ein geheimes Spiel, eine Sache nur zwischen uns. Natürlich habe ich ihn gebeten, mich mitzunehmen, mich zu unterweisen. Aber er hat sich immer geweigert.«
»Bis er alles an den Nagel gehängt hat …«
»Um Gärtner zu werden! Kaum zu glauben. Mit fünfzig Jahren! Er hat sich in dieses Kaff auf dem Land zurückgezogen …«
»Aber du nicht.«
»Nein. Ich bin in Nizza geblieben und habe Kontakt zu seinen alten Freunden gesucht. Dann die Männer, die Spielabende. Ich habe zu viel ausgegeben. Forster macht eine Menge Geschäfte in Südfrankreich. Ich habe ihn kennengelernt. Als Tochter meines Vaters. Und dann …«
Schweigen.
»Und dann?«, murmelte Matteo.
»Das ist eine langweilige Geschichte.«
Schweigen. Matteo sagte:
»So wie meine. Deshalb müssen wir durchhalten, verstehst du?«
»Ja. Ich … ich gehöre nicht zu denen, die sich drücken.«
»Ich weiß.«
Er strich ihr langsam, mit beruhigender Geste übers Haar. Sie schaute weiter ins Feuer, und er lächelte ihr zu. Schließlich sah Lina auf und erwiderte sein Lächeln. Die Schatten spielten auf ihren Gesichtern. Hin und wieder kam ein Windstoß durch den Kamin, wirbelte ein paar Funken, ein wenig Asche auf und legte sich dann wieder.