5. Kraft finden für die Veränderung

„… ohne mich könnt ihr nichts tun.“

(Johannes 15,5)

Viele Christen und viele Kirchengemeinden fühlen sich überfordert. Es gibt immer so viel zu tun und der Terminkalender ist immer ein wenig zu voll. Es gibt zu viele Nachrichten, die eine Reaktion erfordern, und zu viele Menschen, die auf einen Termin warten. Bei vielen Pfarrern oder Gemeindeleitern kann man beobachten, dass sie einen ganz besonderen Gesichtsausdruck bekommen, wenn ein Gastprediger dazu ermutigt, mehr zu tun: „Ich habe jetzt schon Mühe, die Dinge am Laufen zu halten. Wie können Sie noch mehr von mir erwarten?“

Wo findet eine christliche Gemeinschaft die Kraft dazu, über Generationen hinweg geduldig an Wesensmerkmalen wie Barmherzigkeit, Versöhnungsbereitschaft und Friedfertigkeit zu arbeiten? Wo finden Christen die Ressourcen, die sie befähigen, in einer Welt wachsender Anforderungen gegen den Strom unserer Gesellschaft anzuschwimmen? Woher kommt die innere Kraft für das Bestreben, der Gemeinschaft, in der wir leben, zu dienen oder die Welt zu verändern, ohne dass wir ausbrennen, korrupt werden, alle Illusionen verlieren oder abgelenkt werden? Woher bekommen wir die Fähigkeit, beständig die Bausteine (z. B. Kindergruppen, Glaubenskurse oder neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens) anzubieten, die nötig sind, um Kirche und Gemeinde für die nächste Generation von Kindern und Erwachsenen zu bauen?

All diese Bemühungen erfordern Energie, die über einen langen Zeitraum hinweg kontinuierlich eingesetzt werden muss. Woher aber kommt diese Energie? Von der rein menschlichen Sicht aus betrachtet bin ich nur deshalb heute Christ, weil uns mein damaliger Ortspfarrer vor fast 50 Jahren als neu zugezogener Familie einen Besuch abstattete; weil meine Ortsgemeinde Kinder für wichtig genug hielt, um einen Kindergottesdienst anzubieten, in dem Ehrenamtliche ihre Zeit zur Verfügung stellten; weil es eine Pfadfindergruppe gab, geleitet von Leuten, die in junge Menschen investieren wollten; weil der Pfarrer sich die Mühe machte, Konfirmandenunterricht zu geben17; weil es einer jungen Mutter wichtig war, mit drei Teenagern einen Jugendkreis zu beginnen und ihn über zehn Jahre aufrechtzuerhalten; weil die Diözese Veranstaltungen für junge Leute anbot, bei denen sie sich mit ihrem Glauben auseinandersetzen konnten – und so weiter. Als ich erwachsen war, habe ich mich einmal mit Herrn Wharton zum Essen getroffen – eben jenem Pfarrer der Gemeinde, in der ich von meinem dritten Lebensjahr an aufgewachsen bin. Ich fand es bewegend, als er nach dem Essen sein altes Besuchsdienstbuch auspackte und den Eintrag nachschlug, der davon erzählte, wie er eine Familie besucht hatte, die gerade erst in die Gemeinde gezogen war. Ich fand meinen Namen in diesem alten Notizbuch: ein Zeichen der Zuwendung und der Offenheit neuen Menschen gegenüber, ein Zeichen für ein Leben voller Gebet und geprägt vom Dienst am Nächsten.

Aber diese fordernde Arbeit an Wachstum und Veränderung kann nicht durchgehalten werden, wenn wir nicht in Verbindung mit der Quelle allen Lebens und aller Kraft stehen: mit Jesus Christus selbst, der mit seinem Leben die Kirche erfüllt. Wir sind berufen, „Jesus‘ people“ zu sein und immer mehr zu werden wie er. Wir sind berufen, „Jesus‘ people“ zu sein und das zu tun, was Jesus getan hat: an der Kirche bauen und die Welt verändern. Und wir sind noch auf eine dritte Weise berufen, „Jesus‘ people“ zu sein: Wir werden in unserer Nachfolge genährt und gehalten, wenn wir Zeit mit unserem Herrn verbringen. „Und er setzte zwölf ein, die er auch Apostel nannte, dass sie bei ihm sein sollten und dass er sie aussendete …“ (Markus 3, 14). Wenn die Verbindung zum auferstandenen Jesus echt und anhaltend ist, dann werden wir als einzelne Christen und als ganze Kirche wie der Hase in der Duracell-Werbung: Wir gehen mit nicht nachlassender Vitalität immer weiter und weiter.

Die Jünger sammeln sich um den Herrn, um erfrischt, erneuert und gestärkt zu werden, und um dann wieder ausgesandt zu werden und sich mit der Welt zu beschäftigen, die sie umgibt. Dieser Rhythmus zieht sich durch die gesamten Evangelien hindurch. Alle vier Evangelien legen Zeugnis ab von dem Versprechen des Auferstandenen, auch weiterhin mit den Jüngern zu sein – wenn sie sich versammeln genauso wie wenn sie hinausgehen, um ihren Auftrag zu erfüllen. Und dieser Rhythmus galt nicht nur für die Zeit des Wirkens Jesu vor seiner Auferstehung. Er soll vielmehr Teil der Erfahrung sein, die die Kirche in jeder Generation von neuem macht. Er ist der Herzschlag christlichen Lebens. In diesem Kapitel wollen wir uns genauer mit dem Gedanken beschäftigen, dass das Leben von Kirche und Gemeinden durch den auferstandenen Jesus aufrechterhalten wird. Was genau heißt das und wie kann es in die Praxis umgesetzt werden?

Der Weinstock und die Reben

Im Johannesevangelium fördert Jesus unser Verständnis von Kirche durch eine Reihe lebendiger Bilder, die alle an andere Stellen des Evangeliums anknüpfen und die christliche Gemeinschaft direkt an Jesus selbst festmachen. Die meisten dieser Bilder sind Teil einer Serie von sieben Aussprüchen, die alle mit den Worten „Ich bin“ beginnen. Bei dem ersten und dem letzten dieser einfachen, aber kraftvollen Bilder geht es darum, wie die Jünger Bestärkung und Kraft für ihr gemeinsames Leben als Christen finden. Es ist kein Zufall, dass beide der von Jesus gebrauchten Bilder in Verbindung zum Abendmahl stehen.

Im ersten der sieben „Ich bin“-Worte in Johannes 6 nennt Jesus sich das Brot des Lebens (Johannes 6,35). So wie die Israeliten auf ihrem Weg durch die Wüste durch das vom Himmel fallende Manna mit Nahrung versorgt wurden, so ernährt Jesu seine Jünger auf ihrem Weg durch die Welt. Die Kirche ist also, um es kurz zu sagen, eine von Jesus mit Nahrung ausgestattete Gemeinschaft:

„Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“

(Johannes 6,35)

Johannes 15 ist das zentrale Kapitel der letzten Reden Jesu und steht ziemlich genau in der Mitte dessen, was er über die Gabe des Geistes sagt. Hier gibt Jesus uns das letzte große Bild des Evangeliums, danach folgt die Passionsgeschichte. Jesus ist der Weinstock und wir, die Kirche, sind die Reben. Dieses Bild zeigt uns mehr als alle anderen, wie die Kirche in ihrem Prozess, Jesus ähnlicher zu werden, und in der Umsetzung von Gottes Auftrag erhalten und gestärkt wird. Christen können sich die Kraft zur Veränderung nicht antrainieren oder durch eine bestimmte Technik erwerben. Sie bekommen sie, wenn sie ganz nah bei Christus bleiben. Vermutlich sind Ihnen die folgenden Worte geläufig. Versuchen Sie trotzdem, sie langsam, Satz für Satz zu lesen – als Worte, die Jesus spricht:

„Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.

Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt.

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.

Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.“ (Johannes 15,1-8)

Klar und schön steht dieses vielschichtige Bild vom Weinstock und den Reben an einem Ehrenplatz im Herzen der letzten Rede Jesu im vierten und zuletzt aufgeschriebenen der Evangelien. Ein Bild der Kirche in Verbindung mit ihrem Herrn.

Ich liebe diese Textstelle aus vielerlei Gründen. Ganz besonders wichtig ist mir der Ausdruck „Frucht“, mit dem beschrieben ist, was aus dem Leben der Kirche und aus dem der Jünger herausströmen soll. Das Bild ist tief verwurzelt im Alten Testament. Der Prophet Jesaja beschrieb das Volk Israel als Gottes Weinberg. Gott kommt, um nach den Früchten Recht und Gerechtigkeit zu schauen, findet aber nur Leid und Blutvergießen. Die gleichen Bilder werden in den anderen Evangelien im Gleichnis vom Weinberg (Markus 12,1-12) und an vielen anderen Stellen in der Bibel aufgegriffen.

Was meint Jesus mit Frucht? In der biblischen Tradition meint Frucht genau das, was wir bisher miteinander erarbeitet haben. Gemeint sind unser Wesen und unser Handeln. Nicht entweder nur das eine oder nur das andere, sondern beides.

Wie wir bereits gesehen haben, konzentriert sich Paulus bei der Beschreibung der Früchte des Geistes in Galater 5 auf die Entwicklung des Charakters und auf ein verändertes Leben:

„Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit; …“

(Galater 5,22-23)

Aber gleichzeitig steht die Metapher in der Bibel für die Veränderung der Gesellschaft, so wie es in Jesaja 5 bei der Frucht, die der Herr sucht, vornehmlich um Recht und soziale Gerechtigkeit geht. Sie wird allerdings auch dort verwendet, wo es um das Vergrößern der Anzahl der Jünger geht, also um den Aufbau der Kirche. In Matthäus 9 benutzt Jesus eine etwas andere Metapher aus der Landwirtschaft: Die Ernte, die eingefahren werden muss. Dieses Bild bezieht sich hauptsächlich auf diejenigen, die sich der Kirche anschließen und Teil des Reiches Gottes werden sollen, und nicht auf Ernte in Form eines besseren Charakters oder der Veränderung der Gesellschaft:

„Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.“

(Matthäus 9,37-38)

Wenn die Jünger in Jesus bleiben und er in ihnen, so wie die Reben eines Weinstocks, dann werden sie Früchte tragen in Form eines veränderten Wesens, einer wachsenden Kirche und einer verwandelten Gesellschaft. Eine Frucht kann nicht von den anderen getrennt werden und jede einzelne von ihnen kann nur wachsen, wenn die Verbindung zwischen Weinstock und Rebe stimmt.

Hier stoßen wir auf eine Merkwürdigkeit. Wie der größte Teil der sie umgebenden Welt hat die Kirche zur Beschreibung von Scheitern und Erfolg die Sprache der industriellen Revolution übernommen. Wir mögen es, über großartige Visionen kontinuierlichen Wachstums zu sprechen, über steigende Erträge und wachsende Fähigkeiten. Und wir stellen uns vor, dass diese Dinge irgendwie automatisch eintreten. Das ist rein mechanisch gedacht. Wenn wir nur die richtigen Systeme anwenden oder die richtigen Programme durchführen, wenn wir das richtige Rezept haben und die richtigen Zutaten nehmen, dann wird als Resultat eine ständig steigende Kurve dabei herauskommen.

Der Haken an diesen Vorstellungen ist, dass menschliche Gemeinschaften nicht im Mindesten so sind wie Maschinen. Sie sind etwas ganz Eigenes und unberechenbar. Veränderungen durch die kleinsten oder schwächsten Personen können manchmal ebenso zu einem Umbruch führen wie dramatische oder tragische Ereignisse. Wenn ein Fußballverein seinen Manager wechselt, dann kann das dramatische Folgen für den Ausgang der Spiele haben, selbst wenn alle Spieler die gleichen bleiben. Moral und Vertrauen sind extrem empfindliche Dinge und können nicht einfach formelhaft erzeugt werden.

Ich persönlich glaube, dass dieses an die Wirtschaft angelehnte Sprechen von kontinuierlicher Expansion und ständigem Wachstum den meisten Institutionen nicht guttut: Es tut weder einer Schule noch einem Krankenhaus noch einem Geschäft gut, Jahr um Jahr auf einem langfristigen Expansionskurs zu sein oder sich auch nur vorzustellen, dass dies möglich ist. Besonders gefährlich scheint es mir aber zu sein, wenn die Kirche sich dieser Wirtschaftssprache bedient und sich vorstellt, dass jede Ortsgemeinde über Jahre hinweg schnelles und kontinuierliches Wachstum vorweisen könnte. Früher oder später wird die Qualität des Gemeindelebens durch die ständig wachsenden Zahlen leiden.

Jesus hat im Zusammenhang mit dem Leben der Kirche zu keinem Zeitpunkt je über Erfolg oder Scheitern gesprochen. Er spricht über „Frucht bringen“ und „keine Frucht bringen“. Und darüber, dass sich die Früchte zeigen werden, wenn die Rebe am Weinstock bleibt. Das aber kann in verschiedenen Gemeinden zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene Weise sichtbar werden, denn das hängt von der Gemeinde selbst und ihrem Kontext ab. Die Fruchtbarkeit kann sich niederschlagen in einem Reifen des Wesens und der Qualität der Nachfolge. Sie kann sich ebenso in steigenden Zahlen oder in der Veränderung der sie umgebenden Gesellschaft zeigen, sowie in einer Kombination von mehreren Faktoren.

Jesus scheint sagen zu wollen, dass Wachstum und Fruchtbringen mit der Zeit zwar normalerweise dazugehören, dass aber kein Wachstum ständig gleichbleibend sein muss. Das Bild vom Weinstock ist viel sanfter und stärkender als die von Banken und Großunternehmen entliehene Sprache. Die Fruchtbarkeit der Weinreben wird abhängig sein von der Jahreszeit. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich – in Gottes wirtschaftlichem Denken – in jeder Ortsgemeinde Zeiten der Fruchtbarkeit abwechseln mit Zeiten, in denen gestutzt und zurückgeschnitten wird. Eine Zeit des Wachstums braucht vielleicht als Gegengewicht eine Zeit der Festigung. Jesus sagt sogar, dass wir eben dann, wenn wir Frucht bringen, auch das Gefühl des Gestutzt-Werdens erleben werden, weil danach die Rebe noch mehr Frucht bringt. Auf eine Zeit des zahlenmäßigen Wachstums einer Gemeinde muss vielleicht in Gottes Haushalterschaft eine Zeit der Festigung folgen. Denn dann haben die neuen Christen Zeit zu lernen, Jesus und der Gemeinschaft, der sie sich angeschlossen haben, ähnlicher zu werden und selbst zu einem Segen für ihr Umfeld zu werden.

Wir sollten also, wie unser Herr, großzügig und behutsam sein, wenn wir nach Früchten Ausschau halten. Sie können sehr unterschiedlich aussehen und mögen nicht immer schnell zu finden sein. Um sie sehen zu lernen, muss manchmal die Wahrnehmung geschult werden. Allerdings sagt Jesus ebenso klar, dass in jeder christlichen Gemeinde – an jeder Rebe des Weinstocks – irgendwann Früchte zu sehen sein müssen, wenn die Rebe in Jesus verwurzelt ist und in ihm bleibt. Wenn wir über mehrere Ernte-Zeiten hinweg keinerlei Früchte entdecken können, dann läuft etwas grundlegend falsch. Die Sprache, in der unser Bild beschrieben wird, macht deutlich, dass auch dies geschehen kann und man damit rechnen muss. Denn nicht jede Rebe bringt Frucht. Und das kann nur eines heißen: Die Rebe ist nicht mehr mit dem Weinstock verbunden und muss abgeschnitten werden.

Jesus selbst zufolge liegen die Quelle und das Geheimnis dafür, dass eine christliche Gemeinschaft dauerhaft Früchte bringt, nicht in einer bestimmten Technik, einer guten Planung oder den neuesten Ideen. Es liegt nicht vor allem an einer guten Gemeindeleitung oder guter finanzieller Ausstattung oder natürlichen menschlichen Fähigkeiten. Es hängt auch nicht von dem Kontext ab, in den wir gestellt sind. Die Quelle und das Geheimnis dauerhaften Fruchtbringens liegen darin, ob wir eng mit dem Weinstock verbunden bleiben oder nicht: Wichtig ist allein unsere Verbindung zu Jesus. Wenn wir nicht in seiner Nähe bleiben, dann sind wir abgestorbenes Gehölz, das durch keine noch so aufwändige Strategie dazu gebracht werden kann, Frucht zu bringen. Sind wir dagegen in enger Verbindung, dann kann auch die ungeschickteste Gemeindeleitung nicht verhindern, dass wenigstens hier und da Früchte wachsen. Leider gibt es in England eine Reihe von Gemeinden, die nicht gut geleitet werden. Aber in diesen Gemeinden kann man manchmal die Heiligen Gottes finden, die an Jesus, dem Weinstock bleiben und Frucht bringen, indem sie barmherzig handeln, Frieden stiften, die Hoffnung lebendig halten, ihren Glauben an ihrem Arbeitsplatz leben und ein Segen für ihr Umfeld sind.

Wenn die Rebe eng mit dem Weinstock verbunden ist, dann strömt das Leben des Weinstocks durch die Zweige und bringt Frucht, bleibende Frucht in Fülle. Wenn die Jünger Christi und ihre Ortsgemeinden – sprich: die Kirche – in Jesus verwurzelt sind, dann wird das Leben Jesu durch sie strömen und die Früchte werden sichtbar werden: Man wird sie am Charakter, der den Charakter Jesu widerspiegelt, erkennen, außerdem am Einbringen der Ernte und am zahlenmäßigen Wachstum der Ortsgemeinde und daran, dass die Gesellschaft gesegnet ist und verändert wird.

„Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“

(Johannes 15,5)

Und was bedeutet dies in der Praxis? Wie sollen Christen in der Nachfolge und ihre Gemeinden vor Ort so leben, dass sie wie die Reben am Weinstock fest mit Jesus verbunden sind?

Vier Wege

Was also gibt Gott uns an die Hand, damit wir als Kirche mit dem Weinstock verbunden bleiben und Frucht bringen? Es sollte uns nicht überraschen, dass verschiedene Christen zu verschiedenen Zeiten verschiedene Kombinationen von Wegen gefunden haben, um in Verbindung zu bleiben und die Kraft für Veränderung zu finden. Trotzdem ist der Anspruch, dem Wesen Jesu immer ähnlicher zu werden und zu tun, was er tat, für keine Gemeinde verhandelbar. Sicher können wir mit einer gewissen Variationsbreite rechnen, aber es muss gemeinsame Elemente geben.

Um an dieser Stelle weiterzukommen, hilft am besten die in diesem Kontext am meisten zitierte Zusammenfassung, mit der Lukas das erste Mal das Leben der Kirche nach Pfingsten beschreibt. Nach der Predigt des Petrus, so lesen wir, nahmen etwa dreitausend Menschen den christlichen Glauben an. Ist zahlenmäßiges Wachstum der Hauptfokus, kann man dies in der Tat fruchtbar nennen. Aber danach braucht es eine Zeit der Festigung. Denn nun muss diese neue Gemeinschaft von Menschen zu Nachfolgern gemacht und im Glauben an den auferstandenen Christus verwurzelt werden. Lukas sagt uns im nächsten Vers, wie das aussehen kann:

„Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.“

(Apostelgeschichte 2,42)

Dieser Vers aus Apostelgeschichte 2,42 wird oft – losgelöst vom Zusammenhang – als missionarisches oder visionäres Leitbild zitiert. Das ist ein schwerwiegender Fehler, denn für sich allein genommen ist dieser Vers für diesen Zweck völlig ungeeignet. Wir finden hier keinen Hinweis darauf, dass wir Gottes Mission an der ganzen Schöpfung erfüllen sollen, wir finden im Grunde auch nichts über Jesus oder davon, dass wir sein Wesen in der Welt widerspiegeln sollen. Es mag ein wenig hart klingen, aber eine Kirche oder Gemeinde, die all ihre Zeit in diese vier Aktivitäten investiert, wäre letztendlich gar nicht Kirche: Sie würde sich so ausschließlich auf ihr innerkirchliches Leben konzentrieren, dass sie keine Frucht in und für Gottes Welt bringen könnte.

Was uns Apostelgeschichte 2,42 allerdings sehr wohl gibt, ist eine kurze, gut zu merkende und verlässliche Aufzählung der vier Wege oder Gewohnheiten, mit deren Hilfe wir als Kirche und als Einzelne in Jesus, dem Weinstock, verwurzelt bleiben können. Unsere Situation ist anders als die der Jünger zu Jesu Lebzeiten. Wir können ihn nicht nach einer anstrengenden Zeit missionarischer Arbeit am See Genezareth suchen und ihn dort finden. Aber wir können ihn in den Wegen und Möglichkeiten finden, die Gott jeder Generation von Kirche hinterlassen hat: in der Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft, im Brotbrechen und im Gebet.

Der Satz, den Luther mit „Sie blieben aber beständig“ übersetzt, ist es wert, ein wenig näher betrachtet zu werden. Lukas spricht hier nicht ein einmaliges Ereignis am Tag nach Pfingsten an. Genauso wenig meint er einen begrenzten Zeitraum im Leben einer Kirche. Beständig heißt kontinuierlich, über lange Zeit, darin steckt auch etwas von beharrlich, an etwas festhalten oder in Gang halten. Wir reden hier also von ausgeprägten und anhaltenden Gewohnheiten oder Regeln im Leben einer Gemeinschaft, um sicherzustellen, dass wir bei Jesus bleiben und unser Leben in Gott verwurzelt ist. Wenn wir in traditionellen Gemeinden Erneuerung erleben wollen, dann müssen diese Regeln wiederentdeckt und ins Zentrum der Gemeindepraxis gestellt werden. Nichtssagende Praktiken und abgestumpfte Gewohnheiten müssen wieder mit Leben gefüllt werden. Wenn wir starke und beständige neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens wollen, dann müssen wir diese Regeln und Gewohnheiten wieder neu lehren und lernen. Denn ohne sie wird es in christlichen Gemeinschaften kein Wachstum geben und sie werden auch keine Frucht bringen, weil die Kirche nur auf diesen Wegen lernt, in Jesus zu leben.

Oft steckt in den alten Traditionen kirchlichen Lebens die Weisheit, die uns dabei hilft, solche Gewohnheiten einzuüben. Leider werden diese Traditionen im Kampf darum, als Kirche wieder relevant zu werden, nur allzu häufig als unnütz abgetan und über Bord geworfen. So sollten wir uns z. B. gut in der Bibel auskennen, bzw. sie ganz gelesen haben. Dabei hilft die Tradition des Bibelleseplans, der für eine neue Gemeinde zwar schwierig zu bewältigen ist, aber vor Fehlern und Unausgewogenheit bewahrt. Auch sollen wir uns immer wieder an die Christen der Vergangenheit erinnern, wobei uns Feiertage wie der Reformationstag (31.10.) oder der Stephanustag (26.12.) und kirchliche Namenskalender helfen können18. Durch sie rufen wir uns Menschen ins Gedächtnis, die mit ihrem Leben etwas vom Wesen Jesu widergespiegelt haben.

Die Lehre der Apostel

Lukas’ Worte von der „Lehre der Apostel“ verweisen uns eindeutig auf die Bibel. In der Apostelgeschichte hat die Lehre der Apostel ihre Wurzeln immer in den Schriften des Alten Testamentes. Und die Lehre der Apostel selbst bildet, so wie sie damals aufgeschrieben wurde, das Neue Testament, durch das Christen das Alte Testament lesen und verstehen können. Das Studieren der Schriften ist keine Aktivität des einzelnen Christen, sondern etwas, das wir als Kirche gemeinsam tun müssen. Viel zu oft betrachten wir in unserer individualisierten Welt, in der jeder verschiedene Übersetzungen der Bibel im Regal stehen hat, das Bibellesen fälschlicherweise vornehmlich als eine Beschäftigung, die jeder für sich allein durchführt. Dabei lesen und untersuchen wir die Schriften sowohl des Alten als auch des Neuen Testamentes, wann immer wir uns als Christen und als Kirche versammeln. Das Wort Gottes ist durch die Kraft des Heiligen Geistes in der Gemeinschaft lebendig und gegenwärtig, um diese auszustatten und zu erhalten, um sie herauszufordern und ihr das wahre Leben zu bringen. Der Geist Gottes wirkt durch die Schrift, wo immer sie gelesen und erläutert wird, damit wir neues Leben geschenkt bekommen und zu Jesus Christus, dem lebendigen Wort Gottes, in Verbindung stehen.

Das Brotbrechen

Das Brotbrechen erinnert an Abendmahl bzw. Eucharistie. Die ersten Christen haben sicherlich häufig miteinander gegessen, und dieses gemeinsame Essen war wichtiger Ausdruck ihrer Gemeinschaft. Das sagt Apostelgeschichte 2,46 und auch andere Stellen in der Bibel berichten davon. Aber der Begriff „Brotbrechen“ ist im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte so etwas wie ein Fachausdruck. Er wird in der Emmausgeschichte für den Moment benutzt, in dem die Jünger Jesus erkannten, und auch in der Apostelgeschichte kommt er in den anschließenden Passagen noch einige Male vor. Das Abendmahl ist das Mahl, das uns von Jesus geschenkt ist. Es erinnert die Kirche an sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung als zentrale Ereignisse der Evangelien und den Grund, warum es die Gemeinschaft der Kirche überhaupt gibt. Das Abendmahl ist das Mahl, das wir in Erwartung des großen himmlischen Festmahles feiern. Im Abendmahl bekommt die Kirche das Brot des Lebens, das Manna für die Reise. Hier werden wir bestärkt und bekommen die Fähigkeit, mit dem Weinstock verbunden zu bleiben. Es gibt Gemeinden, in denen das Abendmahl als regelmäßiger Teil des Hauptgottesdienstes am Sonntagmorgen so normal geworden ist, dass es aufgehört hat, heilig und ein Ort der Begegnung zu sein. Ist dies der Fall, dann ist es nötig, das Gefühl für die Gegenwart Gottes neu zu entdecken und aufleben zu lassen. Einige der neuen Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens – nicht alle – tun sich dagegen schwer damit, in dem einfachen Akt des Nehmens, Dankens, Brechens und Teilens die kraftvolle und verändernde Gegenwart Christi zu entdecken.

Die Gemeinschaft

Die Kirche Jesu Christi soll durch Wort und Abendmahl gestärkt und erhalten werden. Was uns aber ebenso stärkt, ist das Geschenk der Gemeinschaft. Es geht hier nicht um Bekanntschaften, die sich in einem netten „Hallo“ erschöpfen, sondern um richtige Beziehungen miteinander. Die Apostelgeschichte macht dies im weiteren Verlauf sehr klar: Es geht um das Teilen all dessen, was zur Verfügung steht, es geht um praktische Unterstützung und Liebe, um Fürsorge für diejenigen in der christlichen Familie, die arm sind. In einer solchen Gemeinschaft entstehen starke Freundschaften und emotionale Bindungen, in denen wir von dem Beispiel anderer lernen, unsere Ecken und Kanten abschleifen und erleben können, was es heißt, sanftmütig zu sein, nach Gerechtigkeit zu hungern und Frieden zu stiften. Was heute in vielen Gemeinden für Geschwisterlichkeit gehalten wird, ist ziemlich weit entfernt von dem neutestamentlichen Geschenk eines gemeinsamen Lebens in Christus. Dieses Leben muss wieder neu entdeckt werden, indem man Mahlzeiten miteinander teilt, sich immer wieder neu zu Gruppen zusammenschließt, gemeinsam missionarisch arbeitet (in der Welt um uns herum, aber gemeinsam Seite an Seite), ehrlich und wertschätzend miteinander umgeht und sich die Zeit nimmt, eine gemeinsame Geschichte entstehen zu lassen. In einer beziehungstechnisch verarmten Welt wird eine solche Gemeinschaft wie Wasser auf dürrem Land wirken.

An dieser Stelle können traditionelle Gemeinden und neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens viel voneinander lernen. Die neuen Ausdrucksformen brauchen die Weisheit einer jahrhundertealten Kirche bei ihrem Kampf darum, ihre neuen Gemeinschaften auf angemessene und fantasievolle Weise auf die Lehren der Apostel und das Brotbrechen auszurichten. Traditionelle Gemeinden wiederum können einiges darüber lernen, was es heißt, die Türen und das eigene Leben für andere zu öffnen und lebensverändernde Beziehungen im Herzen dessen entstehen zu lassen, was Kirche bedeutet – denn die neuen Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens entstehen oft aus neuen Ideen heraus, wie man als Gemeinschaft leben und wachsen kann.

Das Gebet

Und schließlich sagt Lukas uns, dass die Kirche in der ersten und in jeder nachfolgenden Generation „im Gebet bleiben“ muss. Das hört sich etwas formaler an, als wenn man einfach sagen würde: Ihr sollt beten. Fürbitte und persönliches Gebet sind wichtig, aber was hier gemeint ist, umfasst mehr. Wieder bezieht sich Lukas auf etwas, das die Gemeinde gemeinsam tut: Er meint den Rhythmus von Gottesdienst und gemeinsamem Gebet, der immer schon das Herz jeder christlichen Gemeinschaft war und sie durch das Kirchenjahr und von einem Kirchenjahr zum nächsten getragen hat. Gemeint sind sowohl das Gebet, das Einzelne sprechen, wenn sie sich mit anderen in kleinen Gruppen treffen, als auch das Gebet im Sonntagsgottesdienst, in dem sich die ganze Gemeinde regelmäßig versammelt und den Rhythmus des Kirchenjahres durchlebt.

Man sollte meinen, dass es für jedes Team, jede Gruppe oder jede Gemeinde von Christen selbstverständlich ist, sorgfältig und regelmäßig darüber nachzudenken, wie das gemeinsame Gebet gestaltet wird. In der Realität ist dies allerdings ziemlich selten. Das gleiche Muster gilt auch für Hauskreise und Mitarbeiterbesprechungen, für sonntägliche Gottesdienste und Treffen und für die Gottesdienste während der Woche. Manchmal sind sie belebend, aber sehr häufig sind sie hohl geworden und benötigen eine Auffrischung. In dem Team, das in unserer Diözese für die neuen Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens zuständig ist, haben wir ein Teammitglied mit dem Auftrag betraut, den Rest von uns daran zu erinnern, miteinander zu beten, wenn wir uns treffen, und füreinander, wenn wir uns nicht sehen. Das hat dazu geführt, dass dem Beten, wann und wo immer wir uns getroffen haben, Gedanken und sorgfältige Vorbereitung gewidmet war – Beständigkeit im Gebet. Das wiederum hat dazu beigetragen, dass wir als Team im Weinstock verwurzelt sind und in Verbindung bleiben mit unserem Herrn.

Frucht bringen

Auf den Vers mit der klaren Zusammenfassung dessen, was Kirche erhält und festigt, folgt eine Textpassage, in der Lukas die vielen verschiedenen Früchte beschreibt, die daraus erwachsen, dass man auf diese vierfache Weise in Gott verwurzelt ist: Es geschahen viele Wunder durch die Apostel. Leben und Besitz wurden miteinander geteilt. Die Gemeinschaft besaß das Wohlwollen der Menschen um sie herum, denn sie waren ein Segen für die Gesellschaft. „Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden“ (Apostelgeschichte 2,47). Und wenn wir weiterlesen, dann entdecken wir, dass die Früchte nicht einfach automatisch da sind, ohne dass jemand etwas dafür tut: Es ist und bleibt wichtig für die Christen, in die Welt hinauszugehen und mit ihrem Leben die Mission Gottes zu erfüllen. Aber die Gemeinschaft der frühen Christen war vom Leben Jesu Christi und vom Leben des Heiligen Geistes durchströmt, weil sie auf vierfache Weise dafür sorgte, dass sie in Gott verwurzelt blieb.

Die christliche Kirche hat sich im Laufe der Jahrhunderte auf vielen Ebenen entwickelt und verändert. Zu der Zeit, als Lukas Evangelium und Apostelgeschichte schrieb, war die Kirche eine kleine Minderheitsgruppe und sowohl von Seiten des römischen Reiches als auch von Seiten der Juden von Verfolgung bedroht. Aber die Kirche wuchs und trug so viel Frucht, dass sie zur Mehrheitsreligion des römischen Reiches wurde. Das Evangelium wurde von Missionaren in jeden Teil der Welt getragen und die Kirche fasste in vielen verschiedenen Kulturen Fuß. Bis heute wächst die christliche Kirche und dehnt sich über die ganze Welt aus. Über zweitausend Jahre hinweg haben sich der christliche Glaube und die christliche Praxis verbreitet: über die großen Wasser des Westens und Ostens, durch die protestantische Tradition, die Pfingstbewegung und viele kleinere Strömungen. Die Art und Weise, in der Christen sich versammelt und gemeinsam Gottesdienst gefeiert haben, war immer unterschiedlich und ist dies bis heute geblieben. Wir werden auch in Zukunft keine Kirche haben, die in dieser Hinsicht einheitlicher ist. Und meiner Ansicht nach wären wir auch schlecht beraten, wenn wir versuchten, an einer solchen einheitlichen Kirche zu bauen. Aber die vier Wege, die Lukas in Apostelgeschichte 2,42 aufgezählt hat, bleiben für jede Strömung und Tradition mehr oder weniger zentral. Jeder Christ, jede Ortsgemeinde, jede Diözese oder Landeskirche, jede große Glaubensgemeinschaft muss jahraus, jahrein die Verbindung mit dem Weinstock erhalten, indem sie beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brotbrechen und im Gebet bleiben. Auf diesen vier Wegen wird die Kirche in Gott verwurzelt und wird darin gestärkt, Gottes Mission zu erfüllen.

Dienste und Aufgaben in der Kirche

Alle Christen sind dazu aufgerufen, Gott ihr ganzes Leben lang zu dienen. Seit der Zeit der Apostel allerdings wird es als wichtige Aufgabe betrachtet, das Leben der Kirche so zu ordnen, dass wir gemeinsam mit Gott verbunden bleiben. Die Aufgabe erfordert Liebe und feines Gespür. Gelingt dies nicht, dann besteht, wie wir gesehen haben, die Gefahr, dass die Kirche von ihrem Herrn getrennt wird und aufhört, Frucht zu bringen.

Deshalb hat die Kirche von Anfang an und in gleich welcher Tradition dafür Sorge getragen, dass es eigens ernannte oder ordinierte Diener Gottes gibt, die auf die Gemeinschaft und ihre geistliche Nahrung achten. Sie sollen dafür sorgen, dass Kirche und Gemeinden sich immer wieder Zeit mit Jesus nehmen und sich dann in die Welt aussenden lassen.

Manche dieser Diener Gottes haben die Gabe und Aufgabe, Kirche und Gemeinden dabei zu unterstützen, sich mit ihrem Leben immer weiter auf Jesus einzulassen und ihm immer näherzukommen. Sie sollen die Lehren der Apostel weitergeben, mit den Menschen Abendmahl feiern, an der Gemeinschaft bauen und diese im Gebet anleiten. Sie wurden von Anfang an Älteste oder Presbyter genannt, ein Ausdruck, von dem die Bezeichnung Priester abgeleitet ist. Herzstück ihrer Aufgabe ist es, den Reben dabei zu helfen, nah am Weinstock zu bleiben.

Andere Diener Gottes haben die Gabe und Aufgabe, Kirche und Gemeinden in ihrer Arbeit in der Welt zu leiten. Von Anfang an und bis heute gibt es in der Kirche Menschen, die in den missionarischen Dienst berufen sind: Sie sollen aus der christlichen Gemeinschaft hinausgehen, um anderen das Evangelium zu bringen und neue Gemeinden zu gründen. Die Missionare des Neuen Testamentes sind Paulus, Barnabas und ihre Begleiter. Sie werden Evangelisten oder Diakone genannt.

Aber damit nicht genug, denn Kirche erschöpft sich nicht im Leben einzelner Gemeinden. Eine dritte Gabe und Aufgabe besteht darin, die einzelnen Gemeinden in ein großes Ganzes einzubinden, die Kirche in ihrem missionarischen Auftrag in der Welt Gottes anzuleiten, neue Pfarrer und Pastoren für die Gemeinden in ihren Dienst zu berufen und zu ordinieren, sowie Kirche und Gemeinden in ihrer Interaktion mit der sie umgebenden Gesellschaft zu vertreten.

In der frühen Kirche hießen diejenigen, die diese Aufgabe übernahmen, „episkopos“: Sie wachen über das Leben der Gemeinschaft19. Der in England und Deutschland benutzte Begriff „Superintendent“ ist eine wörtliche Übersetzung. Er bezeichnet in der methodistischen Kirche denjenigen, der für einen Bezirk verantwortlich ist. Das Wort „Bischof“ ist von dem gleichen griechischen Wort abgeleitet: Er leitet eine Diözese oder Landeskirche und achtet darauf, dass sie am Weinstock bleibt und viel Frucht bringt.

Die Lehre der Apostel, die Gemeinschaft, das Brotbrechen und das Gebet sind kein Selbstzweck. Sie sind uns vielmehr von Gott gegeben, damit wir die Möglichkeit haben, in Jesus zu bleiben und Frucht zu bringen in einem verwandelten Leben, einer wachsenden Gemeinde und einer sich verändernden Gesellschaft.

Ebenso wenig sind die verschiedenen Dienste im Leben von Kirche und Gemeinden ein Selbstzweck oder sind uns gegeben, weil die dazu berufenen Menschen besonders oder eine andere Sorte Christen sind. Sie sind uns geschenkt, damit das Leben von Kirche und Gemeinden so geordnet werden kann, dass wir auch weiterhin in Jesus bleiben und Frucht bringen können in einem verwandelten Leben, einer wachsenden Gemeinde und einer sich verändernden Gesellschaft. Denn Jesus sagt:

„… ohne mich könnt ihr nichts tun.“

(Johannes 15,5)

Am Weinstock bleiben

Es ist keine leichte Aufgabe, das Leben einer Gemeinschaft so zu formen, dass Gott die Mitte bleibt. Aus einer Presbyteriumssitzung kann ohne Gebet nur allzu leicht ein Geschäftstreffen werden. Teamtreffen von Pfarrern können ohne Probleme zu reinen Predigtplan-Besprechungen verkommen. Ein Sonntagsgottesdienst kann auf die Abkündigung wichtiger Informationen und Veranstaltungen reduziert werden, so dass er eher einer schulischen Informationsveranstaltung gleicht als einem Treffen des Volkes Gottes. Es ist durchaus möglich, dass eine Gemeinde eine ganze Weile lang nach diesem Muster funktioniert. Aber irgendwann wird sie feststellen, dass sie verdorrt und kaum Kraft übrig hat für eine Veränderung. Der Weg zur Erneuerung führt bei vielen Gemeinden nicht darüber, mehr zu tun. Sie müssen vielmehr neu mit Jesus, der Quelle allen kirchlichen Lebens, in Verbindung treten. Der Weg dorthin führt über Einkehr, Wort und Sakrament, Gemeinschaft und Gebet.

Als Kirche sind wir im Augenblick unterwegs durch eine Zeit des realen und substantiellen Wandels in unserer Gesellschaft. Um hier den richtigen Weg zu finden, müssen wir auf Gottes Liebe und seine Absichten vertrauen können. Viel zu viele Missstände im Leben der Kirche gehen zurück auf Sorge und Angst. Wir brauchen auch eine klare Vision für die Zukunft. Wir sind dazu berufen, Menschen zu sein, die gemeinsam dem in den Seligpreisungen beschriebenen Wesen Jesu näherkommen und dieses widerspiegeln. Wir sind berufen, geistlich arm zu sein, mit der Welt zu leiden, sanftmütig zu sein, nach Gerechtigkeit zu dürsten, barmherzig zu sein und reinen Herzens, Frieden zu stiften und so anders zu sein, dass wir Widerstand hervorrufen. Wir alle sollen als Nachfolger Christi großzügig und opferbereit sein und ein missionarisch geprägtes Leben führen, wir sollen danach streben, das zu tun, was Jesus tat: an der Kirche bauen und die Welt im Licht der Liebe Gottes verändern. Die Kraft für diese enorme und heilige Berufung finden wir nur dann, wenn wir als Gemeinschaft im auferstandenen Jesus verwurzelt bleiben und zu einem Kanal für seine Gnade und Liebe in der Welt werden.

Das Buch der Psalmen beginnt dort, wo wir mit diesem Buch enden: Psalm 1 zeichnet ein wunderbares und bewegendes Bild vom Leben der Gerechten in der Gemeinschaft. Der Psalm spricht nicht über einzelne Menschen, sondern über die Gemeinschaft des Volkes Gottes innerhalb einer Nation. Die Gerechten sind „wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht“ (Psalm 1,3).

Möge Jesus mit seinem Leben immer gegenwärtig sein, um der Kirche Jesu Christi dabei zu helfen, Frucht zu bringen in einem veränderten Leben und einer sich wandelnden Welt. Mögen wir zusammen immer mehr werden wie „Jesus‘ people“.

Zum Nachdenken und Diskutieren

Wie ist Ihre Gemeinde mit dem Weinstock verbunden?

Wer ist in Ihrer Gemeinde dazu berufen, die Gemeinschaft in der Nähe Jesu zu erhalten, sie in ihrem missionarischen Denken und Handeln zu leiten und die Gemeinde als Ganze zu sehen und zu lenken?

Finden alle vier in diesem Kapitel besprochenen Wege in die Nähe Jesu bei Ihnen Raum?

An welcher Stelle müssen Sie in Ihrem Tun oder Denken neu ansetzen, nachdem Sie sich mit diesem Buch auseinandergesetzt haben?

17 In England findet der Konfirmandenunterricht oft erst im Junge-Erwachsenen-Alter oder später statt, häufig inzwischen als Taufunterricht – entsprechend setzt er eine intensive Bewerbung durch Pfarrer und Gemeinde voraus.

18 Die anglikanische Kirche pflegt das Gedächtnis an prägende Menschen der Kirchengeschichte, „Heilige“, die sie als Vorbilder verehrt und an die sie regelmäßig erinnert. In evangelischer Tradition gibt es entsprechende Bücher, z. B. Jörg Erb, „Die Wolke der Zeugen“, Kassel 1954.

19 Die Struktur der anglikanischen Kirche ist bischöflich geblieben - sie hat die Reformation soz. inhaltlich und theologisch mitvollzogen, aber die Bischofs-Struktur behalten. Die hier geschilderten Ebenen der geistlichen Verantwortung für kirchliche Einheiten sind aber in den evangelischen Landeskirchen ähnlich geordnet. Die Gemeindeleitung heißt Kirchenvorstand, Presbyterium, Kirchengemeinderat o. ä. Die leitenden Geistlichen der mittleren Ebene (Kirchenbezirke, Dekanate, Kirchenkreise etc.) heißen Superintendent, Dekan oder Propst, die leitenden Geistlichen der Landeskirchen heißen Bischof, Präses, Kirchenpräsident o. ä.