»Im Schlechtesten der Menschen steckt noch so viel Gutes
und im Besten noch so viel Böses,
dass keiner befugt ist, zu urteilen und zu verurteilen.«
Robert L. Stevenson
Das Urteil stand fest, ich konnte es an der einheitlichen starr-düsteren Miene der acht Geschworenen lesen, es lautete: lebenslang. Dabei hatte der Prozess noch gar nicht begonnen. Die Grausamkeit des Verbrechens, die Kaltblütigkeit in der Tötung einer jungen Mutter und die berechnende Art des Täters ließen aber keine Alternative zu. Der 28-jährige Mann hatte seine in den frühen Morgenstunden nach Hause kommende Gattin um eine Aussprache gebeten. Dann servierte er ihr einen Kaffee, welchen er zuvor mit einer tödlichen Dosis sogenannter »K.-o.-Tropfen« versetzt hatte. Den schlaffen Körper der bald eingeschlafenen Frau schleppte er in die mit heißem Wasser gefüllte Badewanne, und fügte ihr dort mit einem Fleischermesser mehrere tiefe Schnitte an den Handgelenken, den Ellenbeugen und in der Halsregion zu. Schließlich drückte er den in pochenden Strahlen dunkles Blut auswerfenden Körper unter das Wasser und wartete, bis keine Blasen mehr aufstiegen. Dann setzte er sich neben die einem Bluttrog ähnelnde Badewanne, aus der der Kopf der Leiche allmählich wieder aufstieg, rauchte zwei Zigaretten, habe nach seinen Aussagen mit der Toten Zwiesprache gehalten und ihr immer wieder über die Haare gestreichelt, ehe er zum Telefonhörer griff und seine Tat meldete. Beim Eintreffen der Beamten bat er diese, so leise wie möglich zu sein, um die zwei im Nebenzimmer friedlich schlafenden Kleinkinder nicht zu wecken. Die Anklage ging von einem mit seltener Brutalität durchgeführten Beziehungsmord aus und stützte sich auf das gerichtsmedizinische Gutachten, das drei unabhängig voneinander jeweils zum Tod führende Ursachen feststellte: Vergiftung, Verbluten und Ertrinken.
Der intellektuell einfach strukturierte, verstockt und unwillig wirkende Angeklagte erzählte beim Prozess zögernd seine Geschichte. Er hatte bald nach seiner Geburt beide Eltern verloren, war dann in verschiedene Heime und zu Pflegeeltern gekommen, sei in der Kindheit viel herumgeschubst und geschlagen worden, habe nie jemanden gehabt, der ihn mochte, sei in der Schule als »Rabenkind« und »Findling« verspottet worden, habe trotz guter Schulleistungen keine Lehre machen dürfen und sei schließlich zur Fremdenlegion gegangen. An dieser Stelle kämpfte der gefühlsmäßig wenig betroffen wirkende, in der Ausdrucksweise unbeholfene Mann sichtlich mit den Tränen, was ihm peinlich zu sein schien.
Obwohl die Geschworenen schon zuvor geäußert hatten, dass sie bei einem solchen Verbrechen nicht wieder rührselige Geschichten von böser Mutter und schlimmer Kindheit hören wollten, schien mir ihre Miene nicht mehr ganz so hart und entschlossen, sondern ein etwas milderes Urteil, vielleicht 25 Jahre, widerzuspiegeln.
Nach mehrmaliger Aufforderung durch den Richter erzählte der Angeklagte über seine Erlebnisse bei der Fremdenlegion, berichtete emotionslos und widerwillig über Gräueltaten, Hinrichtungen und harte Strafen, über eigene Aburteilungen und Todesängste und seine damaligen Träume von einem einfachen Leben in der Heimat, von einer eigenen Familie und von seinem Gefühl unfassbaren Glücks, als er tatsächlich eine Partnerin fand und heiraten konnte. Die Geschworenen zeigten sich jetzt offener, stellten immer mehr Fragen und hatten sichtlich Interesse, sich nicht nur mit der Tat, sondern auch mit dem Schicksal des Täters auseinanderzusetzen. Ihr Gesichtsausdruck schien eine Spur milder, ich las darin 20 Jahre Haft.
Nach der Geburt des zweiten Kindes geriet die Ehe in eine Krise. Seine Frau, die ebenfalls unglücklichen familiären Verhältnissen entstammte, sei nicht mehr bereit gewesen, Tag und Nacht auf die Kinder aufzupassen, und habe gesagt, das Leben bestehe nicht nur aus Windeln und Schnullern. Sie habe ihn zurückgewiesen und laut überlegt, ob sie sich von ihm trennen solle. Die Kinder, so habe sie gesagt, würde sie dann bei ihm zurücklassen. Sie sei manisch geworden, sei jeden Abend ausgegangen, habe sich anfangs mit Freundinnen, später auch mit Freunden getroffen und sei oft erst in den Morgenstunden zurückgekehrt. Häufig sei sie alkoholisiert, manchmal sogar bekifft gewesen. Obwohl er einen 40-Stunden-Job erledigen musste, habe er sich während der Nacht der weinenden Kinder angenommen und versucht, diesen ein so guter Elternteil zu sein, wie er ihn sich selbst als Kind gewünscht hätte. Mehrere Zeugen bestätigten, dass man ihn zuletzt bei den Kindern gesehen habe und er ein liebevoller, fürsorglicher Vater gewesen sei. Mir kam vor, als sei die Haltung der Geschworenen nicht mehr einheitlich, manche blickten zweiflerisch vor sich hin. Zwei junge Männer, die angegeben hatten, Kinder im selben Alter zu haben, schienen dem Angeklagten sogar ein gewisses Verständnis entgegenzubringen. Ich tippte auf die Mindeststrafe für Mord von 15 Jahren.
Dann traten die Zeugen auf: junge, Kaugummi kauende und bis in den Nacken hinauf tätowierte Burschen, die vor dem Richter betont lässig posierten, die Hände in den Hosentaschen hielten und aus ihrem Widerwillen gegen die Fragen keinerlei Hehl machten. Ob sie sich denn tatsächlich mit der Ermordeten öfter getroffen hätten, ob diese wirklich viel getrunken und Drogen genommen hätte, ob sie nie von den Kindern und ihrem Mann erzählt habe und ob – dafür gebe es manche Hinweise – sie tatsächlich sexuelle Kontakte mit ihnen gehabt hätte? Die Antworten lauteten: »Ist das etwa strafbar? Warum nicht, sie hatte ja einen miesen Drecksmann … Sie hat es ja gewollt … Sie war steil drauf.«
Die Geschworenen betrachteten nochmals die Fotos vom Tatort und vom Opfer, nahmen noch wahr, dass der Angeklagte auf das Recht des letzten Wortes verzichtete, und zogen sich zurück. Als sie nach auffallend kurzer Beratung ihren Wahrspruch verkündeten, lautete dieser zur allgemeinen Überraschung und zum großen Missfallen der Berufsrichter nicht auf Mord, sondern auf Totschlag, für welchen der Täter zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt wurde.
Wie böse war die Tat des unglücklichen Familienvaters nun wirklich? War es ein eiskalter Mord, war es eine primitive Rache oder vielleicht ein Schritt der Verzweiflung? Handelte es sich beim Täter um einen abgebrühten, durch die Fremdenlegion geschulten Killer, um einen im Erwachsenenalter neuerlich traumatisierten Menschen mit tragischer Kindheit oder um einen durch die Eifersucht zermürbten Ehemann, der die ihm widerfahrenen Kränkungen nicht mehr ertragen hat? Ist seine Tat nur ein gemeines, durch und durch böses Verbrechen, oder ist der Täter vielleicht selbst ein kleines Stück zum Opfer geworden? Wie böse ist die böse Tat, wie hätten Sie als Geschworene(r) entschieden?
Nachdem es bereits schwierig ist, das zu beschreiben, was mit dem Ausdruck des Bösen gemeint ist, ist es nahezu unmöglich, das Böse zu quantifizieren und eine böse Tat mit der anderen zu vergleichen. Es gibt dafür keinen Maßstab, die Bösartigkeit ist nicht messbar. Dazu kommt, dass jeder Mensch das Böse anders beurteilt und als Opfer unterschiedlich darauf reagiert. Selbst in der Wertung der Mutter des Bösen, des Krieges, gehen die Meinungen auseinander. Sie reichen vom »präventiven« über den »notwendigen« und »gerechten« bis zum »heiligen« Krieg.
In jüngerer Zeit wurden mit der Entwicklung der »Skala des Bösen« durch den amerikanischen Psychiater Prof. Michael Stone und der »Skala der Verderbtheit« durch dessen Kollegen Dr. Michael Welner aus New York Versuche gemacht, das Böse wissenschaftlich zu messen. Stone entwickelte nach der Auswertung von 279 Fallgeschichten von Ehepartnern, Eltern und Kindern, die ihre Angehörigen umgebracht hatten, eine Messskala, welche er als Gradations of Evil bezeichnete. Die Skala ist so aufgebaut, dass jede Stufe jeweils die Verderbtheit der vorhergehenden beinhaltet und ein zusätzliches böses Element enthält. Am unteren Ende dieser 22-stufigen Skala sind jene angesiedelt, die in Notwehr, also völlig ungeplant, töten. An oberster Stelle stehen diejenigen mit hohem Planungsgrad und schwerster Aggressionsausübung, wie sie beim Prototyp des psychopathischen Mörders vorliegen, der nur danach strebt, seine Opfer so intensiv und so lange wie nur irgendwie möglich zu quälen und leiden zu lassen. Der auf einer allgemein verständlichen, heftigen Gemütsbewegung beruhende Totschlag wäre somit als viel weniger böse einzustufen als der auf Gewinn abzielende Mord oder eine Tötung aus »niedrigen Beweggründen«, etwa zur Befriedigung der bösen Lust. Je mehr der Wille durch situative Gegebenheiten, emotionale Erregung oder die enthemmende Wirkung von Alkohol und Drogen eingeschränkt und je nachvollziehbarer der Gefühlszustand des Täters für den Durchschnittsmenschen erlebbar ist, desto geringer ist der Grad des Bösen.
Die Stone-Skala zieht somit einen breiten Bogen aggressiver Handlungen gegen andere Personen und deckt das ganze Spektrum von Notwehr bis zum kalt geplanten und durchgeführten sadistischen Mord ab. Am wenigsten böse sind – dies wurde bereits erwähnt – diejenigen Tötungen, die aus Notwehr oder durch rechtlich-moralische Rechtfertigungen erfolgen. Während die Notwehr nicht mit dem bösen Willen in Verbindung gebracht wird, spielt dieser bei der Notwehrüberschreitung schon eine gewisse Rolle und nimmt in seiner Bedeutung zu, wenn der Täter mehr agiert als reagiert. Bei der mit einem schönfärberischen Ausdruck als Euthanasie bezeichneten Tötung von schwer dementen oder unheilbar kranken Menschen, die mit angeblich freiem Willen um den »Gnadentod« bitten, drückt sich unsere Gesellschaft immer mehr um eine moralische Wertung und will in diesem Zusammenhang nicht über das Böse diskutieren. Die Mitleidstötung hingegen ist nach allgemeinem Verständnis auf der Skala des Bösen weit unten anzusiedeln:
Franziska S. stammte aus einem einfachen, aber herzlichen Elternhaus, hatte die Krankenpflegeschule absolviert und über Jahre hinweg im Pflegedienst gearbeitet. Als die von ihrer Umgebung als still, fleißig, hilfsbereit und genügsam wahrgenommene hübsche Frau von einem höheren Beamten geheiratet wurde, bedeutete dies einen sozialen Aufstieg. An der Seite ihres karrierebewussten Mannes spielte sie die Rolle der Hausfrau und Mutter, die für Kindererziehung und Haushalt zuständig war und ihrem beruflich erfolgreichen Gatten den Rücken freihielt. Die Beziehung galt mit dieser klaren Verteilung der Aufgaben als sehr glücklich.
Als der Mann auf dem Gipfel seiner beruflichen Laufbahn schicksalhaft von einem chronischen neurologischen Leiden, einer sogenannten Amyotrophen Lateralsklerose ereilt wurde, pflegte ihn seine Gattin mit jener Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Rolle immer wahrgenommen hatte, wirkte dabei immer ausgeglichen, ergeben und in höchstem Maße fürsorglich. Sie lehnte jegliche Hilfe durch Pflegedienste ab und versicherte ihren Kindern, dass sie keine besondere Unterstützung brauche und gut mit der Aufgabe zurechtkomme, auch noch zu einem Zeitpunkt, als das Siechtum ihren Gatten zur Bettlägerigkeit zwang und er in immer hilfloserem Zustand Betreuung rund um die Uhr benötigte. Zur Erholung wurde Franziska S. in ein Sanatorium gebracht, wo die Ärzte ein Burn-out-Syndrom feststellten, ihr antidepressive Medikamente verschrieben und Schonung empfahlen. Schon nach wenigen Tagen brach Franziska S. die Behandlung ab und nahm die Pflege ihres Gatten wieder auf. Zwei Wochen später erhielt der Sohn zu später Nachtstunde einen Anruf von seiner Mutter, die ihm mit gebrochener Stimme mitteilte, dass sie den Vater erstickt habe, weil sie sein Leid nicht mehr habe mit ansehen können. Sie kündigte an, sich nun selbst das Leben zu nehmen. Beim Eintreffen der Rettung wurde die Frau in bewusstlosem, blutüberströmtem Zustand neben ihrem toten Mann im Bett liegend vorgefunden. Sie hatte versucht, sich durch einen Stich ins Herz zu suizidieren.
Bei der Tat der Franziska S. handelt es sich um einen typischen erweiterten Suizid oder Mitnahmesuizid, der dann vorliegt, wenn andere Personen ohne deren Bereitschaft und Einverständnis in den Verlauf der suizidalen Handlungen mit einbezogen werden. Das unterscheidet den erweiterten Suizid grundsätzlich von den auf dem gemeinsamen Todeswunsch beruhenden, nach gemeinsamer Planung durchgeführten Sonderformen des Suizids, wie Doppelsuizid oder bestimmte Formen des kollektiven Massensuizids, bei dem alle Beteiligten von sich aus den »Freitod« wünschen.
Etwas unterhalb der Mitte der Skala des Bösen sind jene Taten anzusiedeln, bei denen durch eine böse Tat eine noch schlimmere verhindert oder abgewendet wird. Ein eindrucksvolles, allerdings in anderem Zusammenhang geschriebenes Beispiel ist im Schrifttum des SA-Führers Peter von Heydebreck enthalten. Es erzählt die Geschichte vom Liebesverhältnis eines Offiziers, des Leutnants Bewerkron, mit einer jungen Frau, der roten Marie, welche später als Spionin entlarvt und zum Tode verurteilt wurde. Ihr Geliebter musste die Exekution durchführen:
»Bewerkron schlich sich um die Mitternachtsstunde zu dem kleinen Holzhaus, in dem die Gefangene eingesperrt war. Dem Posten sagte er, dass er noch ein Verhör vornehmen müsse. Und dann stand er der roten Marie im Dämmerlicht der armseligen Stube gegenüber. Sie saß auf einer Pritsche und starrte ihn aus großen Augen wie verzückt an: ›Oh, ich wusste, dass du kommen würdest, oh, nun ist alles gut!‹ Sie zog ihn auf die Pritsche und hüllte ihn ganz ein in ihre Liebkosungen, heißer und heißer. Langsam, ganz langsam fanden sie in die Wirklichkeit zurück.
Jetzt musste der arme Bewerkron sein Herz fest in beide Hände nehmen, wenn er sein barmherziges Werk vollenden wollte. ›Höre‹, sagte er, ohne dass seine Stimme schwankte, ›ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass ich dich ganz bestimmt retten werde. Aber vorerst wirst du noch Schweres durchmachen. Man wird dich morgen früh um fünf in den Wald führen und dann soll das – na, das ist dir ja wohl schon gesagt worden. Und nun hör gut zu! Also ich werde das Kommando abgeben. Es lautet: »›Legt – an – – Feuer!‹« Es wird auch geschossen werden, aber dir wird nichts geschehen. Dir wird bestimmt nichts geschehen, daran sollst du, wenn ich später fort bin, immer denken, hörst du?! Meine Leute werden auf das Kommando die Gewehre nach oben reißen und in die Luft schießen. Du verschwindest dann schnell im Busch und bist gerettet.‹ Über der roten Marie lag das Leuchten eines ganz starken Glückes. Sie zog den Kopf des jungen Offiziers an ihre Brust und legte ihre Wange auf sein Haar. Und dann küsste sie ihn zart und vertrauend.
Am nächsten Morgen um halb sechs stand das Kommando auf einer kleinen Waldlichtung. Die Insekten summten und die Vögel sangen und es war eine Lust, zu leben. Am Stamm einer starken Eiche stand die rote Marie. Man hatte ihr weder die Hände gefesselt noch die Augen verbunden. Sie stand da in der Haltung einer Königin und ganz ohne Zeichen von Todesangst. Ihr Blick ruhte leuchtend und unverwandt auf dem sehr blassen Antlitz des Leutnants Bewerkron, der jetzt den Mund öffnete und ganz leise kommandierte: ›Legt – an – – Feuer!w‹ Der Knall der Salve peitschte den Wald. Die rote Marie stand noch einen Augenblick aufrecht am Stamm der Eiche, dann sank ihr Körper langsam zur Seite. Noch während des Falles ruhten ihre Augen gläubig und unverwandt auf dem jungen Offizier …«
Ist, so könnte man mit dem Philosophen Ernst Jünger fragen, der sichere Hieb tatsächlich die Gnade des Henkers?
An derart motivierte Taten schließen in der Skala des Bösen tödliche Aggressionen, die aus emotionaler Erregung oder aus Affekten wie Hass oder Wut resultieren, an. Die in diesem Buch unter den Kapiteln über die bösen Emotionen und die gestörten Beziehungen referierten Beispiele gehören in diese Kategorie. In der Mitte der Stone-Skala werden Taten angesiedelt, die man als »Mord ohne Motiv« bezeichnet. Korrekterweise müsste man von motivisch unklaren Delikten sprechen, da bei fast jeder Tat letztlich doch ein Motiv erfasst werden kann, auch wenn es oft unbewusst und selbst für den Täter lange Zeit unbekannt bleibt. Solche Verbrechen rufen helles Entsetzen hervor, da sie für den Betrachter völlig unbegreiflich sind und man die Motivation des Täters auch nicht in entferntester Weise nachvollziehen kann:
Der 13. Januar 2007 bietet dem Hause der Familie D. im Tessin ein friedliches Bild. Der 17-jährige Sohn Felix, sein Freund Torban, seine Schwester Jana und deren Freundin Aileen essen mit den Eltern zu Abend. Die Stimmung ist gelöst, der Appetit gut, nichts scheint außergewöhnlich. Im Nachhinein fällt den Eltern auf, dass sich die beiden Jungen entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten freiwillig zum Küchendienst meldeten. Niemand ahnte, dass dieser Eifer dazu diente, um an Messer heranzukommen.
Die Jungs ziehen sich in das Zimmer von Felix zurück, sehen sich eine neu erschienene DVD mit dem Film Final Fantasy VII an und brechen dann zu einer Bushaltestelle, wo sich die Dorfjugendlichen häufig versammeln, auf. Dort überredet Felix die Freundin seiner Schwester, ihn und Torban zu begleiten. Die beiden Burschen wandern mit Aileen zu einem abgelegenen Haus, zerren das Mädchen unvermittelt in einen Schuppen, wo sie die 15-Jährige fesseln und knebeln. Diese ist nicht einmal sonderlich überrascht, da Felix und sein Freund sie schon früher gefesselt und mit ihr satanische Rituale zelebriert hatten. Mit den Worten: »Du wirst heute noch Leichen sehen« lassen die Jungs die Gefesselte im Schuppen zurück und klingeln an einer Haustür. Als der Hausherr, der 46-jährige E., die Tür öffnet und die beiden Jungen erkennt, fällt das Codewort »Reno«. Sie ziehen das Messer und wollen E. auf die Knie zwingen. Als sich dieser wehrt, stechen die beiden mit blindem Hass auf ihn ein. Noch während E. im Todeskampf zu Boden sinkt, stürmen die Täter die Treppe hoch und suchen den Sohn der Familie, den ihnen gut bekannten Florian, der sich in Todesangst in einen Raum retten kann. Die beiden Täter stürzen sich auf die in heller Panik aus dem Schlafzimmer kommende Mutter Antje E. und fügen ihr, wie der Gerichtsmediziner später feststellt, 62 Messerstiche zu. Durch die Todesschreie der Frau animiert, tritt ihr Felix ins Gesicht. Während Antje E. stirbt, schickt Felix seinen Freund Torban los, um die Geisel aus dem Schuppen zu holen. Er selbst versucht, in das verbarrikadierte Zimmer, in dem sich Florian aufhält, einzudringen. Als es diesem endlich gelingt, über sein Handy Kontakt mit Polizei und Rettung aufzunehmen, wird ihm zunächst nicht geglaubt. Felix rennt vor dem verrammelten Zimmer im Blutrausch auf und ab, stößt Drohungen aus, spuckt pausenlos herum, wirft sich wiederholt mit großer Wucht gegen den Türstock und hackt mit dem Messer auf die Türe ein.
Zwischenzeitlich hat Torban die zu Tode erschrockene Aileen angeschleppt. Als Felix bemerkt, dass die blutbesudelte Mutter noch schwach atmet, fordert er Aileen auf, ihm jetzt genau zuzusehen. Er geht auf die Sterbende los, sticht ihr heftig in den Kopf und fragt die schockierte Aileen: »Glaubst du es jetzt?«
Als die Polizeibeamten eintreffen, nimmt Felix Aileen als Geisel. Beim Versuch, mit dem Auto der Getöteten zu flüchten, prallen sie in ein anderes Fahrzeug. Die drei Halbwüchsigen bleiben über eine Stunde im verschlossenen Pkw sitzen. Sobald sich ein Beamter nähert, hält Felix der Geisel das Messer an die Kehle und sticht zur Untermauerung seiner Absichten immer wieder in die Sitzpolster, die Fensterscheiben und die Deckenverkleidung. Die beiden Täter hören sich im Radio Musik von N-Joy, zeigen eine lockere Stimmung und unterhalten sich darüber, wie leicht es sich anfühlt, einen anderen Menschen abzustechen. Felix gesteht der starr dasitzenden Aileen seine Liebe und versucht sie zu küssen, fragt den Freund, ob er bereit ist, mit ihm zu sterben und will sich die Klinge selbst in die Brust stoßen. In der immer aussichtsloseren Lage entschließen sich die Mörder, das Messer durchs Fenster zu werfen, und verlassen mit erhobenen Händen den Pkw.
In einem Zeit-Artikel wurde eindrucksvoll die Situation der nichts ahnenden Eltern, die ihre Kinder nach bestem Wissen und Gewissen erzogen hatten, beschrieben. In jenem Moment, als der Vater die unfassbare Wahrheit über die Tat seines Sohnes erfahren musste, habe er nur noch eine einzige Hoffnung gehabt, nämlich, dass dieser verrückt geworden und über Nacht an einer akuten Psychose erkrankt sei. Der Wunsch wurde nicht erfüllt, das psychiatrische Urteil lautete auf »nicht behindert, nicht berauscht und nicht geisteskrank«.
Die bösesten Taten sind jene, die genau geplant, mit eiskalter Berechnung durchgeführt werden und auf einen qualvollen Tod des Opfers zielen. Es gibt in der Kriminalgeschichte einige Verbrechen, die von jedermann als besonders böse empfunden werden. Denken Sie an die grauenhaften Morde des Edmund Kemper, die grausamen Menschenzerstückelungen des Jeffrey Dahmer oder das Verbrechen des Sektenführers Charles Manson. Dieser ließ mit der Absicht, einen Rassenkrieg auszulösen, in der Nacht zum 8. August 1969 durch Mitglieder seiner »Satansfamilie« sieben Menschen, darunter die im achten Monat schwangere Schauspielerin Sharon Tate, regelrecht massakrieren.
Trotz der mit amerikanischem Pragmatismus erfolgten Graduierung des Bösen werden wir böse Taten niemals wirklich quantifizieren können. Neben den religiösen, moralisch-ethischen und gesetzlichen Maßstäben bleibt die subjektive Wertung stets ein entscheidendes Kriterium. Aus der sogenannten Life-Event-Forschung, die den Einfluss von Lebensereignissen und Schicksalsschlägen auf die psychische Befindlichkeit misst, ist folgendes Beispiel berühmt geworden: Zwei alte Frauen werden von einem Schicksalsschlag getroffen. Die eine findet ihren Mann leblos im Bett, die andere ihren Kanarienvogel tot im Käfig liegend. Diejenige, die ihr Haustier verloren hat, verfällt in eine schwere Depression, während die andere den Verlust des Gatten ohne Probleme verarbeitet.
Der letzte, noch nicht abgeschlossene Versuch, das Böse zu messen, ist eine Untersuchung der Einstellung der Bevölkerung zum Bösen durch den New Yorker Psychiater Dr. Michael Welner. Dieser führt über Jahre hinweg eine Befragung im Internet durch, in welcher die User die Frage beantworten sollen, welche Verhaltensweisen sie für verwerflich halten und wie sie diese gewichten würden. In der Depravity-Scale spiegelt sich nicht nur der aktuelle Moralinstinkt, sondern auch der Zeitgeist der Bevölkerung wider. Wir dürfen gespannt sein, welches Gesicht des Bösen das Empfinden der Bevölkerung zeichnen wird.