»Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig,
als dass sie wirklich gefährlich werden können.
Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.«
Primo Levi, Holocaust-Überlebender
Stellen Sie sich vor, Sie erhalten die Einladung, an einem wissenschaftlichen Experiment mitzuwirken. Man versichert Ihnen, dass alles mit sauberen Dingen zugehe, dass Ihnen dabei nichts wehtut und Sie keinerlei Schaden erleiden, dass das Ganze rechtlich abgesichert und, es sei besonders betont, hoch wissenschaftlich sei. Selbstverständlich erhalten Sie ein angemessenes Honorar. Das Ganze interessiert Sie, Sie fühlen sich geehrt, Ihre Neugier ist geweckt. Eigentlich wollten Sie schon immer bei so etwas dabei sein, wollten wissen, wie es bei den Experimenten, von denen man so viel liest, in Wirklichkeit zugeht. Nun wollen Sie sich gerne testen lassen und Ihr Können demonstrieren.
Das Institut, in welchem das Experiment durchgeführt wird, ist sehr seriös. Es handelt sich ja um eine hoch angesehene Universität. Sie werden freundlich empfangen und in einen klinisch sauberen Raum, den sie »Labor« nennen, zur Instruktion begleitet. Die Wissenschaftler, die das Experiment genau geplant haben, machen einen sehr kompetenten und absolut sicheren Eindruck, schließlich sind sie alle ja Experten ersten Ranges. Diese bedanken sich für Ihre Bereitschaft, sich bei einem wissenschaftlichen Versuch, der für den Fortschritt wichtig sei und sicher auch internationale Beachtung finden werde, zur Verfügung zu stellen. Man erklärt Ihnen, dass es um den Zusammenhang von Bestrafung und Lernerfolg gehe. Man wolle beweisen, dass Schüler bessere Leistungen erbringen, wenn sie bei Fehlern unmittelbar bestraft werden. Sie seien nun, so sagt der Versuchsleiter, als »Lehrer« eingeteilt und müssten einen »Schüler« korrigieren. Dieser habe einfache Aufgaben zu lösen, nämlich Wortpaare richtig zusammenzusetzen. Wenn ihm dabei ein Fehler passiere, müssen Sie ihm einen Stromschlag verabreichen. Dieser werde bei jedem Fehler ein wenig, konkret um 15 Volt, erhöht, damit der Lerneffekt verbessert werde. Die Auswirkung von dosierten Stromreizen sei im Übrigen bei jedem Menschen etwas anders, der eine sei empfindlich, der andere spüre nichts, der Dritte stecke selbst stärkere Reize weg. Sie fühlen sich geehrt, der Gruppe der Lehrer zugeteilt zu werden, die Rolle des Schülers wäre nach Ihrem Empfinden für Sie nicht ganz adäquat.
Wichtig sei, und das mögen Sie nicht falsch verstehen, dass Sie sich genau an die Anordnungen des wissenschaftlichen Versuchsleiters halten. Dieser gebe Ihnen vor, wie Sie die Elektroreize einsetzen und mit welcher Stärke Sie diese – auch das sei wissenschaftlich exakt berechnet – zum Einsatz bringen müssen.
Sie werden wie die anderen Teilnehmer an Ihren Laborplatz geführt. Dieser ist zweckdienlich eingerichtet, weist eine technische Ausstattung mit vielen Kabeln und einem Computer-Bildschirm auf und erweckt geradezu einen klinisch sauberen Eindruck. Sie sitzen vor einer Glaswand, hinter der zwischenzeitlich der »Schüler« auf einem bequemen Stuhl Platz genommen hat. Er grüßt Sie durch die Glaswand freundlich und signalisiert: »Wir werden es schon richtig schaffen.« Man erklärt Ihnen, dass die Versuchsperson nun »verkabelt« werde, und macht Sie selbst mit Ihrem Gerät vertraut. Dabei ist Ihnen ein wenig mulmig, Sie hätten sich eigentlich nicht darauf einlassen sollen, wären lieber gar nicht hier, geben diese Schwäche aber keinesfalls zu und sehen, wie eifrig die anderen bei der Sache sind. Es dauert noch drei Minuten bis zum Beginn des Experiments, Sie haben alles verstanden und sind bereit. Das Ganze dient ja einer guten Sache, dem Fortschritt der Wissenschaft, und die Experten wissen ja, was sie tun.
Das Experiment startet, es läuft wie am Schnürchen, der Schüler löst seine Aufgaben einwandfrei. Als ihm dann endlich ein erster Fehler unterläuft, verabreichen Sie – gespannt, was jetzt passiert – den ersten Elektroreiz. Sie sehen, dass dieser bei der Versuchsperson noch nicht viel auslöst. Diese lächelt beinahe entschuldigend zurück und winkt Ihnen zu. Der Versuchsleiter fordert Sie auf, die Stromdosis laut Skala zu steigern, was Sie selbstverständlich sofort befolgen. Die Reaktion Ihrer Versuchsperson ist beim zweiten Mal nicht mehr so fröhlich, diese scheint unangenehm berührt. Kurz schießt Ihnen der Gedanke ein, dass der sogenannte Elektroreiz eigentlich ein Stromstoß ist. Der Versuchsleiter fordert Sie mit ruhiger Stimme auf, die Dosis zu erhöhen, und sagt: »Bitte, fahren Sie fort.« Sie blicken etwas verunsichert auf die anderen Lehrer und sehen, dass diese ohne jegliche Irritation mitmachen, da können Sie sich ja kaum entziehen. Der Versuchsleiter kennt seinen Plan genau, er weiß sicher, was er tut. Befriedigt stellen Sie fest, dass Sie eine gut geeignete Versuchsperson sind und die an Sie gerichteten Erwartungen erfüllen.
Der Schüler hinter der Glasscheibe zuckt beim nächsten Stromstoß, es sind 75 Volt, zusammen, was Sie kurzfristig irritiert. Der Versuchsleiter versichert, dass die Schüler auch völlig freiwillig mitmachen und zudem für das bisschen Schmerz eine recht hohe Bezahlung erhalten. Sie zaudern etwas. »Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!«, hören Sie die Stimme des wissenschaftlichen Leiters. Das zerstreut Ihre Bedenken. Der Schüler arbeitet nun fehlerlos, Ihre Dressur hat anscheinend besten Erfolg.
Unvermittelt macht er einen wirklich unnötigen, völlig überflüssigen Fehler. Sie ärgern sich. Jetzt hat er einen ordentlichen Stromstoß verdient, es geschieht ihm recht. Es stört Sie nicht sonderlich, dass der Schüler laut aufschreit, warum hat er sich auch so dumm angestellt. Beim nächsten Fehler denken Sie an das fette Honorar. Schemenhaft nehmen Sie wahr, dass der Schüler unwillig ist und am liebsten aufhören möchte. Später wollen Sie Ihren Freunden erzählen, dass das Ganze »irgendwie gruselig und irgendwie lustig« gewesen sei. Als die Versuchsperson beim nächsten, stärkeren Stromstoß – immerhin sind es jetzt 150 Volt – aufspringt und brüllt, sie wolle am Experiment nicht mehr teilnehmen, blicken Sie verunsichert auf die anderen Lehrer, die noch recht sicher zu sein scheinen, also werden Sie auch nicht ausscheren. Zudem hören Sie die jetzt unerbittlich klingenden Worte des Versuchsleiters: »Sie müssen unbedingt weitermachen!«
Der nächste Schrei des Schülers ist markerschütternd. Er fleht Sie durch die Scheibe an, um Himmels willen aufzuhören, das Experiment müsse beendet werden. Ein paar sogenannte Lehrer hätten, so werden Sie später erzählen, in dieser Situation sogar weiche Knie bekommen und mittendrin aufgehört. Nicht aber Sie, im Gegenteil, Sie haben geradezu gespannt auf den nächsten Fehler gewartet. Sie sind nun bei der Stromspannung von 200 Volt angelangt. Als Sie sehen, wie die Versuchsperson zusammenzuckt und dann mit Händen und Füßen krampft, die Zähne zusammenbeißt und ein rot-blaues Gesicht bekommt, fällt Ihnen plötzlich das Wort »Elektroschock« ein und Sie müssen an Jack Nicholson und – wie heißt der Film, ach ja – Einer flog über das Kuckucksnest denken.
Jetzt haben Sie ein ungutes Gefühl, mit Psychiatrie und Zwangsbehandlung wollen Sie nichts zu tun haben. Sie spüren in sich leichte Übelkeit und wollen hinaus. Während des Aufstehens beruhigt Sie der Versuchsleiter und sagt, das Experiment sei gleich zu Ende, und fügt sanft hinzu, dass das Honorar nur jenen Kandidaten, welche bis zum Schluss mitgemacht hätten, ausbezahlt werde. Sie lassen sich wieder auf Ihren Sitz fallen, blicken widerwillig auf das erschöpft und mitgenommen wirkende Gegenüber hinter der Glaswand. Der letzte Elektroreiz hat es in sich gehabt, das ist fast an die Grenzen gegangen. Aber jetzt kann man doch nicht mehr aussteigen, das hieße, ein Weichei zu sein und sich für ein »richtiges Experiment« zu schwach zu fühlen. Welche Blamage, dass Sie sich bewusst angemeldet und entschlossen einen Vertrag unterzeichnet haben. Außerdem, Sie haben nichts zu verantworten, das ist Sache der Wissenschaftler.
Auf der Skala mit den Stromdosierungen ist eine Linie eingezeichnet, neben der die Worte »300 Volt, Lebensgefahr« stehen. Der Versuchsleiter sagt, man sei nun bald am Ende. Zum Experiment gehöre auch, die Wirkung sehr hoher Dosen zu prüfen. Er fordert Sie auf, eine Stromstärke knapp bei der roten Linie zu wählen und auf den Knopf zu drücken. Sie tun dies widerwillig, blicken aber nicht mehr hin, Sie wollen nicht sehen, was dieser Stromstoß bei der Versuchsperson auslöst. Als Sie es dann nach einiger Zeit doch wagen, hinzusehen, bemerken Sie erleichtert, dass sich diese noch bewegt, also noch lebt. Der Schüler schreit und bettelt nicht, er ist ganz still, er sieht also auch ein, dass das Experiment so sein muss. Es ist Gott sei Dank nichts passiert, der Versuchsleiter hatte recht. Nun weist der darauf hin, dass man das Experiment noch zum Abschluss bringen müsse und der letzte Stromstoß von 330 Volt, er liegt oberhalb der roten Linie, kurz zu verabreichen sei. Es komme jetzt der Höhepunkt, um den es eigentlich gehe. Sie nehmen wahr, dass mehrere Lehrerkollegen aufspringen und sich weigern, den Knopf noch einmal zu drücken, einige verlassen unter Protest oder schweigend das Labor. Der Versuchsleiter ersucht sie, zu bleiben. Jetzt seien schon einige Teilnehmer gegangen, bitte nicht auch noch Sie, sonst können wir das ganze Experiment vergessen. Sie fühlen sich miserabel, sind voll Angst und Depression, möchten in Ohnmacht fallen, hören aber wie durch einen Schleier die unerbittlichen Worte: »Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!« Was tun Sie jetzt? Drücken Sie nun, so frage ich Sie, ein letztes Mal?
Die bedrückende Antwort lautet, dass es etwa zwei Drittel von uns tun würden. In seinem berühmten Experiment zur Gehorsamkeitsbereitschaft wies der amerikanische Psychologe Stanley Milgram nach, dass 65 Prozent der Versuchspersonen bereit sind, unter autoritären Bedingungen selbst Tötungsbefehle auszuführen. Dabei handelt es sich nicht um selbstunsichere, unreife, psychopathische oder sadistische Menschen, sondern um normale Durchschnittsbürger. Wenn sich der Mensch unterordnen lässt und die Macht autorisiert ist, wird jegliches kritische, autonome Denken ausgeschaltet. Das eigene Verhalten wird unwichtig, man ist nur Teil eines Ganzen, das Handeln dient einem höheren Zweck, der unter allen Umständen zu erfüllen ist, auch wenn dahinter das Böse in seiner reinsten Form steht. Milgram kommentierte die Ergebnisse seines Experiments, bei dem die »Schüler« professionelle Schauspieler waren, die ihre Schmerzen und Zuckungen den nichts ahnenden »Lehrern« nur vorgespielt hatten, im Harper’s Magazine 1974 folgendermaßen:
»Die rechtlichen und philosophischen Aspekte von Gehorsam sind von enormer Bedeutung, sie sagen aber sehr wenig über das Verhalten der meisten Menschen in konkreten Situationen aus. Ich habe ein einfaches Experiment an der Yale-Universität durchgeführt, um herauszufinden, wie viel Schmerz ein gewöhnlicher Mitbürger einem anderen zufügen würde, einfach weil ihn ein Wissenschaftler dazu aufforderte. Starre Autorität stand gegen die stärksten moralischen Grundsätze der Teilnehmer, andere Menschen nicht zu verletzen, und obwohl den Testpersonen die Schmerzensschreie der Opfer in den Ohren klangen, gewann in der Mehrzahl der Fälle die Autorität. Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer Autorität fast beliebig weit zu folgen, ist das Hauptergebnis der Studie, und eine Tatsache, die dringendster Erklärung bedarf.«
Das Milgram-Experiment wurde kurze Zeit später vom amerikanischen Psychologen Philip Zimbardo an der Stanford University auf erschreckende Weise bestätigt. Er teilte in einer künstlich geschaffenen Gefangenenhaus-Situation 24 Freiwilligen nach dem Zufallsprinzip die Rolle der »Wärter« oder der »Gefangenen« zu. Die Wärter, welche in einer erstaunlich kurzen Zeit immer aggressiver und brutaler wurden, nützten ihre Machtbefugnis rücksichtslos bis zu sadistischen Quälereien aus. Sie misshandelten die »Gefangenen« in einem so bedrohlichen Ausmaß, dass der auf zwei Wochen angesetzte Versuch nach sechs Tagen beendet werden musste. Die Häftlinge versanken innerhalb kurzer Zeit in der von extremer Feindseligkeit und Aggressivität geprägten Atmosphäre in Hilflosigkeit, Selbstentwertung und Depressionen. Zimbardo sah mit den Ergebnissen seines Versuches, den er später als »Luzifer-Experiment« bezeichnete, Milgrams Ergebnisse bestätigt und resümierte: »Am dramatischsten und qualvollsten war für uns die Beobachtung, mit welcher Leichtigkeit sadistische Verhaltensweisen bei Individuen hervorgerufen werden konnten, die keine sadistischen Typen waren«.
Milgram und Zimbardo haben damit bewiesen, dass das Konzept der Banalität des Bösen von Hannah Arendt, der berühmten Philosophin und Holocaust-Forscherin, der Wahrheit sehr nahe kommt. Mit der Untersuchung wurde gezeigt, dass ganz gewöhnliche Menschen, die gegenüber den Opfern keinerlei persönliche Feindschaft empfinden und nur ihre von einer Autorität vorgegebene Aufgabe erfüllen, zu Handlungen in einem Vernichtungsprozess veranlasst werden können. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, wie bei vielen bösen Taten, die Verstärkung durch den finanziellen Anreiz. Allein durch die äußeren Umstände lässt sich das in jedem Menschen schlummernde Böse wecken.
Man hat sich aus Furcht vor dem eigenen Bösen immer wieder gefragt, ob jeder Mensch unter bestimmten Bedingungen zum Verbrecher werden könne und ob ganz normale Menschen zu bösen Taten fähig seien. Ist das Böse, so fragen wir uns, nur den Persönlichkeitsgestörten, den Sadisten und den Psychopathen vorbehalten oder steckt es in jedem von uns? So hat man darüber spekuliert, ob die Massenmörder der NS-Zeit, der Stalin-Diktatur oder des Pol-Pot-Regimes psychisch abnorm gewesen seien oder nicht. Die erstaunliche Antwort ist, dass nach allen wissenschaftlichen Untersuchungen nur fünf bis zehn Prozent der Massenmörder psychisch gestört sind. Bei dieser kleinen Gruppe handelt es sich um sadistische, narzisstische oder emotional instabile Persönlichkeiten, die unter dem Schutz einer Autorität oder dem Schirm eines Krieges die ganze Bösartigkeit ihres Charakters ausleben. Der Rest der Täter sind ganz normale Menschen, Personen wie Sie und ich.
Die Untersuchungen der Hauptkriegsverbrecher vor dem Nürnberger Tribunal brachten entgegen den Erwartungen keine besondere Psychopathologie, keine Hinweise auf psychische Krankheit oder Persönlichkeitsstörungen zutage, sondern höchstnormale Befunde. Als die anonymisierten Psychotests der NS-Verbrecher von erfahrenen Psychologen ausgewertet und diese nach ihrer Einschätzung der getesteten Charaktere gefragt wurden, reichten die Vorstellungen von Bürgerrechtlern bis zu Intellektuellen. Einer der Gutachter äußerte sogar die Meinung, bei den getesteten Personen müsse es sich um Psychologen handeln. Als einzige Auffälligkeit wurde eine geringe Fähigkeit, sich in andere hineinzufühlen, erfasst. Die Psychologen widersprachen sogar der These von Hannah Arendt, wonach es sich bei den Massenmördern um Alltags-Charaktere und »Jedermänner« handle. Das Persönlichkeitsprofil sei nicht nur nicht abnorm, sondern zeige – ganz im Gegenteil – ein hohes Maß an Kreativität und Fantasiebegabung.
Das Paradebeispiel für den erschreckend normalen, keineswegs perversen oder sadistischen Massenmörder ist Adolf Eichmann, der laut Einschätzung der Psychologen in der Einstellung zu Mutter und Vater, zu Frau und Kindern, zu Geschwistern und Freunden »nicht nur normal, sondern höchst vorbildlich« gewesen sei. Karl Adolf Eichmann, geboren 1906 in Solingen, aufgewachsen in Linz, hingerichtet 1962 in Ramla, Israel, war als SS-Obersturmbannführer Leiter des für die Organisation der Vertreibung und Vernichtung der Juden zuständigen Referats des Reichssicherheitshauptamtes und somit (mit)verantwortlich für die Ermordung von sechs Millionen Menschen. Er war kein Psychopath und kein Monster. Das wirklich Beunruhigende an seinem Persönlichkeitsbefund war die Unauffälligkeit. Der Gutachter Adolf Eichmanns stellte fest, dass dieser normal sei: »Normaler jedenfalls als ich es bin, nachdem ich ihn untersucht habe.«
Hannah Arendt sieht die Einzigartigkeit des Holocaust in der ausschließlich bürokratischen Natur des Vorganges und im Fehlen jeglicher moralischen Dimension. Die erschütternde Maschinerie des Tötens wurde durch die Banalität des Bösen motiviert und aufrechterhalten. Aus dem Eichmann-Prozess hat sie die Erkenntnis gewonnen, dass die NS-Täter keine Unmenschen im Sinne von schweren Psychopathen und keine »Nichtpersonen«, also Wesen ohne menschliche Eigenschaften, waren. Sie kam zu dem Schluss: »Eichmann hat sich nie vorgestellt, was er eigentlich anstellt. Seine Handlungen und Entscheidungen waren banal, gedankenlos, vordergründig und ohne teuflischdämonische Tiefe«. Eine solche Realitätsferne und Unbetroffenheit, wie sie bei Eichmann zu sehen waren, können mehr Unheil anrichten als alle die den Menschen vielleicht innewohnenden Triebe zusammen.
Auch der Chef der Geheimpolizei der Roten Khmer, Kang Keng Iev, genannt Duch, wird als »das genaue Abbild der Banalität und Unschuld des Bösen« beschrieben. In einem vom italienischen Journalisten Valerio Pellizzari geführten Interview sagte der 66-jährige frühere Mathematiklehrer, der später zum Christentum übergetreten ist, zu dem von ihm eingerichteten Gefängnis S-21: »Ich und alle anderen, die an diesem Ort arbeiteten, wussten, dass jeder, der dorthin kam, psychologisch zerstört und durch ständige Arbeit eliminiert werden musste und keinen Ausweg bekommen durfte. Keine Antwort konnte den Tod verhindern. Niemand, der zu uns kam, hatte eine Chance, sich zu retten«. Duch schilderte seine Arbeit als bürokratisch: »Jeden Tag musste ich die Geständnisse lesen und überprüfen. Ich las von sieben Uhr morgens bis Mitternacht. Ich hatte keine Alternative, hatte gehorcht, war wie jeder andere in der Maschinerie, wurde in die Ecke gedrängt. Pol Pot, der Bruder Nummer eins, sagte, man solle immer misstrauisch sein, etwas fürchten. Und so kamen die üblichen Anordnungen: Vernehmt sie noch einmal und vernehmt sie besser … Wir sahen überall Feinde, Feinde, Feinde«.
Als sein Cousin eingeliefert wurde, habe er dessen unter Folter erreichtes Geständnis heruntergespielt, was das Misstrauen der Vorgesetzten hervorrief. Obwohl Duch wusste, dass er ein guter Mensch war, tat er so, also ob er sein mit Gewalt erpresstes Geständnis glaubte, und ließ seinen Cousin erschlagen.
Wie kann es sein, dass der freundliche ältere Herr in unserer Straße als Lagerkommandant in einem Konzentrationslager tausende Menschen in den Tod geschickt hat? Wie ist es möglich, dass ein netter Kollege im Krieg an Gräueltaten beteiligt gewesen ist, wie kann ein Sexualmörder völlig unauffällig unter uns leben? Wie kann ein KZ-Kommandant an einem Tag Hunderte von Menschen in einen qualvollen Tod schicken und manche eigenhändig umbringen, um anschließend mit seiner Familie friedlich die Kerzen auf dem Weihnachtsbaum zu entzünden? Wie kann hinter einer fröhlichen Ausflugsgruppe junger Burschen und Mädchen, die miteinander lachen und singen, das Todeskommando von Auschwitz stecken? Wie können, so fragen wir uns, das Gute und das Böse, das Normale und das Abartige in einer Person vereint sein und in so unmittelbarer Form nebeneinander existieren?
Die psychiatrische Antwort lautet, dass in jedem Menschen das Gute und das Böse vorhanden ist und je nach Veranlagung, Erziehungseinflüssen, Lebenserfahrungen und äußeren Umständen in der einen oder anderen Form manifest werden kann. Sofern psychische Krankheiten keine Rolle spielen, muss der Mensch die Fähigkeit zur Spaltung in »ganz gut« und »ganz böse«, in »normal« und »abnorm« besitzen und imstande sein, mit diesem unmittelbaren Nebeneinander zu leben. Es erübrigt sich deshalb die Frage nach einer eindeutigen Unterscheidung in gute und böse Menschen.
Würden Sie, verehrte Leserinnen und Leser, für sich und Ihr Verhalten garantieren, wenn Sie extrem begeistert oder bedrückt, wenn Sie erregt oder eifersüchtig, berauscht oder vom Sog der Masse mitgerissen sind? Sind Sie sicher, dass Sie sich in einem totalitären System der Pflichterfüllung widersetzen oder einen Befehl verweigern könnten, wenn dies Ihre Freiheit oder Ihr Leben in Gefahr bringt?
Der französische Schriftsteller Julien Green, der seinem Wunsch entsprechend in der Pfarrkirche St. Egid in Klagenfurt beerdigt ist, hat in der selbst verfassten Grabinschrift dieses Nebeneinander von Gut und Böse, eingebunden in den christlich-religiösen Kontext, in grandioser Weise vielleicht besser als jeder Psychologe beschrieben:
»Und wäre ich mutterseelenallein auf dieser Welt gewesen, Gott hätte seinen einzigen Sohn herabgesandt, damit er gekreuzigt werde, damit er mich erlöse.
Eine befremdliche Anmaßung, wirst du sagen.
Und dennoch: Ein solcher Gedanke muss schon so manchem Christgläubigen durch den Kopf gegangen sein.
Aber wer, fragst du, wäre dann über ihn zu Gericht gesessen, hätte ihn geschlagen, ihn ans Kreuz geheftet?
Such’ nicht lange: Ich selber hätte das getan. Alles hätte ich getan. Jeder von uns kann dasselbe von sich behaupten. So wie wir sind und aus welchem Winkel der Welt wir auch stammen mögen.
Hat man keinen Juden zur Hand, damit er ihm ins Antlitz speie: Ich bin bereit.
Braucht es einen römischen Beamten, um ihn zu verhöhnen, einen Soldaten, um ihn zu verspotten, einen Henker, um ihn ans Holz zu schlagen, auf dass er dort hängen bliebe, bis ans Ende der Zeiten: Immer wäre ich es selber, ich wäre dazu imstande, all das zu verüben.
Und der Jünger, der ihn lieb hat? Das ist das Schmerzlichste an der Geschichte und zugleich das große Geheimnis: Du weißt es recht gut: Auch diesen Jünger, den findest du in mir.«
Ich erzähle Ihnen eine oder eigentlich zwei Geschichten, wie sie sich in ähnlicher Form hunderte Male abgespielt haben. Die Textpassage über Srebrenica auf der nächsten Seite (11. Juli 1995) wurde mit Erlaubnis des Autors aus Felix Mitterers Drama Der Patriot übernommen und leicht abgeändert.
10. Juli 1995, ein Ort in Mitteleuropa:
Der Montagmorgen hätte friedlicher nicht sein können. Die Morgensonne verlieh dem mittelalterlichen Städtchen das Flair eines Urlaubsortes, das Gezwitscher der Vögel untermalte das Erwachen der Bürger, der wolkenlose Himmel versprach einen schönen Tag und ließ die noch bevorstehende Tagesarbeit leicht erscheinen. Der kleine Goran wurde von seinem Vater zum Kindergarten gebracht. Dies erfüllte ihn mit Stolz und gab ihm das Gefühl, schon bald ein richtiger Mann zu sein, ein Mann wie sein Vater: groß gewachsen und kräftig, trotz seiner Jugendlichkeit sicher im Auftreten, in allen Situationen gelassen, jemand, der alles kann, der in der Firma als Facharbeiter sehr geschätzt wird, der ein beliebtes Mitglied im Fußballverein ist, der sich mit starker Hand um das Geschick der Familie kümmert und der seinen Sohn noch nie geschlagen hat, noch nicht einmal grob zu ihm gewesen ist. Beim Kindergarteneingang umarmt der Vater seinen Jungen, streichelt ihm mit seiner rechten Hand, an deren Rücken die Tätowierung eines kleinen Krebses zu sehen ist, über den Kopf und sagt: »Ich bin die nächsten Tage nicht da, ich fahre heute hinab in meine Heimat. Aber am Donnerstag, da bringe ich dich wieder zum Kindergarten.« – »Was machst du in Jugoslawien? Bleib doch hier, hier ist es viel schöner!«, bittet Goran. Der von anderen Kindern inzwischen umringte Junge hört noch, wie sein Vater leise antwortet: »Ich muss meinen Leuten dort helfen, das ist sehr wichtig …«
11. Juli 1995, UNO-Schutzzone Srebrenica, Bosnien:
Die serbischen Soldaten trennen die Frauen von ihren Männern und Söhnen. Die niederländischen UNO-Soldaten sehen hilflos zu. Ihr Kommandant sitzt währenddessen auf der Toilette, denn er hat Durchfall. Die Frauen schreien, weinen, klammern sich an die Hände ihrer Männer. 2300 Frauen und Kinder sowie die Männer werden in separaten Bussen weggebracht. Die Busse mit den Frauen bleiben immer wieder stehen, junge Frauen werden von Soldaten herausgezerrt, keiner hat sie jemals wieder gesehen.
Ein junger Serbe steigt zu. Er hat einen harten Ausdruck im Gesicht (am rechten Handrücken ist ein kleiner Krebs eintätowiert). Er stinkt nach Alkohol und Zigaretten, er flucht. Unvermittelt zückt er ein langes Messer und hält es in die Luft. Plötzlich beugt er sich vor und zieht mit einer Bewegung die Klinge durch die Kehle eines Babys, das im Arm seiner Mutter schläft. Blut spritzt ans Fenster und auf den Sitz. Schreie füllen den Bus. Der Mann brüllt die Frau an und drückt ihren Kopf nieder:
»Trink, du muslimische Hure, trink das Blut deines Bastards!«
13. Juli 1995, der genannte Ort in Mitteleuropa:
Goran wird von seinem Vater, der gestern Nacht wohlgemut vom Urlaub in seiner Heimat zurückgekehrt ist, wieder zum Kindergarten gebracht. »Was hast du dort gemacht?», fragt Goran.
»Dinge, die du nicht tun darfst: geraucht, getrunken und mit meinen Freunden Spaß gehabt.« Auf dem Weg sehen sie einen Freund des Jungen, der sich allein auf den Weg gemacht hat. »Darf er mit uns mitfahren?«, fragt Goran. »Ja«, antwortet der Vater, »nehmen wir ihn mit, einem Kind kann doch so viel passieren …«
Die amerikanische Soziologin Troy Duster fand bei Untersuchungen von Vietnam-Kriegsverbrechern Vorbedingungen für den Mord ohne Schuldgefühle heraus. Die allgemeinste Bedingung ist es, den Opfern jeglichen menschlichen Status abzusprechen. Sie werden als minderwertige Rasse, Brut, unnütze Esser, Volksschädlinge, lebensunwerte Existenzen oder – je nach Zielgruppe – als Niggers und Japs bezeichnet. Die Entmenschlichung benützt Ausdrücke wie Rassenschande, Volkshygiene oder Säuberung. Die nächste Bedingung ist es, das Unglück der eigenen Person oder einer Gesellschaft auf das Opfer beziehungsweise auf eine Minderheit zu projizieren. Während es früher Juden und Zigeuner waren, sind es heute Ausländer, Flüchtlinge und Asylwerber. Die dritte Bedingung ist die Entwicklung einer Gruppenmoral, wie sie bei Gangs, Terrororganisationen, jugendlichen Banden, aber auch im Pflegekorps oder in totalitären Systemen gesehen wird. Obwohl diese Gruppenmoral von den Gesetzen der jeweiligen Gesellschaft abweicht, ist sie für die Mitglieder verbindlich. Diejenigen, die sich nicht daran halten, müssen mit Sanktionen bis hin zum Fememord rechnen. Die vierte Bedingung ist die Heimlichkeit, mit welcher die Taten verübt werden. Dies setzt aber oft eine stille Duldung durch die Öffentlichkeit voraus, man denke etwa an den Einsatz der Folter in Guantánamo. Die fünfte Bedingung ist die Existenz einer Zielpopulation, die sechste jene der Motivation, die oft in primitiven Reflexen oder in bösen Ideologien liegt.
Der Zusammenhang zwischen dem Bösen und der Normalität bezieht sich aber nicht nur auf die Frage, wie aus ganz normalen Männern Massenmörder und aus unauffälligen Menschen Schwerverbrecher werden können, sondern wie weit das Böse seinen Schrecken verliert und zur Banalität wird, wie weit sich unsere Hemmschwelle senken lässt und das böse Handeln als normal erlebt wird. Dieser Schritt ist der gefährlichste, da es dann keine Hemmschwelle, keinen Moralinstinkt und kein Gewissen mehr gibt. Die böse Arbeit wird zur Routine, das Verbrechen zur Normalität. Ein Augenzeuge eines der größten Massaker der Nazis hat dies beschrieben: »Ich ging um den Erdhügel herum und stand vor dem riesigen Grab. Dicht aneinandergepresst lagen die Menschen so aufeinander, dass nur die Köpfe zu sehen waren. Von fast allen Köpfen rann Blut über die Schultern. Ein Teil der Erschossenen bewegte sich noch. Einige hoben ihre Arme und drehten den Kopf, um zu zeigen, dass sie noch lebten. Die Grube war bereits dreiviertel voll. Nach meiner Schätzung lagen darin bereits ungefähr 1000 Menschen. Ich schaute mich nach dem Schützen um. Dieser, ein SS-Mann, saß am Rande der Schmalseite der Grube auf dem Erdboden, ließ die Beine in die Grube herabhängen, hatte auf seinen Knien eine Maschinenpistole liegen und rauchte ein Zigarette«. Man stelle sich das Leid, den Schmerz und die Panik der Opfer vor – und der Täter raucht gemütlich eine Zigarette.
Es ist erstaunlich, wie rasch sich der Mensch an diese Normalität des Bösen gewöhnt. Denken wir an die hoch angesehene Arbeit der Henker, denen es nur noch um die möglichst kunstvolle Ausübung ihrer Tätigkeit gegangen ist, denken wir an das sogenannte Kriegshandwerk oder an das ihm zuletzt geradezu langweilig gewordene Agieren eines Serientäters. Der polnische Schriftsteller und Überlebende des Konzentrationslagers Sachsenhausen Andrzej Szczypiorski hat dies in ungemein verdichteter Form dargestellt: »Ich habe Menschen kennengelernt, die arbeitsam und opferbereit andere Menschen umbrachten, uneigennützig, pflichtbewusst und pünktlich ihre Nächsten denunzierten, diese redlich und fleißig folterten und dabei eine vorbildliche Sauberkeit und Sorgfalt an den Tag legten«.
Es gibt ein Verbrechen, das aus allen Kategorien herausfällt und die Dimensionen des Vorstellbaren übersteigt. Es ist das Inzestdrama von Amstetten, die Tat des Josef F. Dieser lockte seine damals 18-jährige Tochter E. am 28. August 1984 in den Keller, wo er sie fesselte, betäubte und in einem Verlies einsperrte. Dort wurde die von Josef F. als abgängig gemeldete Tochter, die sich angeblich einer Sekte angeschlossen hatte, wie eine Sklavin gehalten und in den folgenden Jahren vielfach vergewaltigt. Josef F. zeugte mit ihr sieben Kinder, von denen eines durch Fehlgeburt verstarb und ein 1996 geborener Zwilling von ihm laut Gerichtsurteil ermordet worden ist. Drei Kinder, die nach seiner Version von der Tochter vor ihrer Elternwohnung abgelegt worden seien, wurden von Josef F. heraufgenommen und wohnten seit dem Säuglingsalter als Pflege- beziehungsweise Adoptivkinder bei ihm und seiner nichts ahnenden Frau. Die Tochter E. und drei der Kinder wurden bis zur Befreiung am 26. April 2008 im Kerker belassen.
Man tut sich schwer, bei Kriminaltaten Superlative zu verwenden. Denn Ausdrücke wie größtes Verbrechen, unglaubliche Horrorgeschichte oder monströses Drama bedeuten immer auch eine Potenzierung des Bösen und des menschlichen Leids. Je schwerer und perfider ein Verbrechen ist, desto größer werden zwangsläufig die Traumatisierungen der Opfer sein, auch wenn man Opferschicksale nicht abwiegen und individuelles Leid nicht vergleichen kann. Allein die Vorstellung der grauenhaften Qualen, der zermürbenden Ängste und des unermesslichen Leidens der Opfer ist schwer erträglich. Trotzdem fällt es nicht leicht, beim Drama von Amstetten auf Beschreibungen wie »absolut einmalig« oder »noch nie da gewesen« zu verzichten. Der Fall ist so unfassbar, dass jeder Produzent oder Verleger eine ihm angebotene Kriminalgeschichte mit einem solchen Plot wegen maßloser Übertreibung und völliger Realitätsfremde zurückweisen würde. In dieser Tat kombinieren sich mehrere Verbrechen, von denen schon jedes einzelne Entsetzen hervorruft. Da ist der Inzest, der zur Zeugung von sieben Kindern mit der eigenen Tochter geführt hat, da sind die unzähligen Vergewaltigungen und Einschüchterungen, da ist die Einkerkerung von sieben Menschen über einen unvorstellbar langen Zeitraum, da ist all das, was sich hinter dem kaum mehr bewussten Rechtsbegriff der Sklaverei verbirgt, und da ist ein Kind ermordet worden.
Am erschreckendsten ist aber wohl die Tatsache, dass sich ein in der Gesellschaft angepasst und weitgehend unauffällig lebender Mensch ein unterirdisches Reich geschaffen, dort seine inzestuösen Gelüste über 24 Jahre ausgelebt und mit absolutem Herrschaftsanspruch über das Schicksal anderer bestimmt hat. Josef F. hat vieles von dem, was die Psychoanalyse an unbewussten Begierden, an sadistischen Trieben und verdrängten Inzestwünschen vermutet oder was von tiefenpsychologisch orientierten Philosophen allenfalls im Bereich der »Männerfantasien« geortet wird, rücksichtslos in die Realität umgesetzt. Er hat ein perfektes Doppelleben inszeniert, hat die Rolle des guten Opas offensichtlich genauso überzeugend gelebt wie jene des gemütlosen Tyrannen und hat unter einer lichten Oberwelt ein Reich des Höllenkerkers geschaffen. Auf beängstigend klare Weise demonstriert uns Josef F., dass sich die menschlichen Wesen nicht in Gut oder Böse unterteilen lassen, sondern diese gegensätzlichen Kräfte nebeneinander in ein und derselben Person existieren.
Inzest, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung hat es immer schon gegeben und wir müssen mit der traurigen Gewissheit leben, dass die Dunkelziffer dieser Taten sehr hoch, bei über 90 Prozent, liegt. Zwar gibt es noch schlimmere Verbrechen als jene des Josef F., denken wir an die Gräueltaten der Kriege, an Massenvernichtung und Völkermord. Was seine Taten aber unvergleichlich macht, ist die erschreckende Radikalität, mit welcher der Inzest aus seiner Tabuisierung und Verdrängung herausgeholt wurde, die ungemein lange Dauer des Verbrechens und die Erkenntnis, dass sich dieses nicht in einer unzivilisierten Kultur, in einem abgelegenen Tal, einem einsamen Gehöft oder in einem abgeschotteten System, sondern mitten in einer europäischen Stadt, mitten in unserer Gesellschaft ereignet hat. Das Drama von Amstetten lehrt mehr als alle anderen Verbrechen: Das Böse lebt mitten unter uns.