»An sich ist nichts weder gut noch böse,
das Denken macht es erst dazu.«
William Shakespeare
Am warmen Spätsommerabend des 3. September 1913 saß der Hauptlehrer Wagner mit seiner Familie und einer verwitweten Nachbarin friedlich im Garten seines Hauses. Die Gespräche bewegten sich um die Kinder, die Schule und den Unterricht. Wagner war gefasst und freundlich wie immer. Niemand konnte auch nur im Entferntesten ahnen, welch furchtbare Gedanken im Hirn des Mannes vor sich gingen. Gegen 21.00 Uhr verabschiedete sich Wagner von der Nachbarin und ging mit seinen Angehörigen zu Bett.
In derselben Nacht ermordete er beim Einbruch der Morgendämmerung seine Frau und seine vier Kinder. Er benutzte ein langes, schon seit Jahren in seinem Besitz befindliches Dolchmesser sowie einen Totschläger. Wörtlich hieß es im Polizeibericht:
»Morgens kurz vor der Tat richtete er sich im Bett auf, machte seine Frau durch Schläge mit dem Totschläger auf den Kopf bewusstlos und tötete sie sodann durch zahlreiche tiefe Stiche in Hals und Brust, die zu einer Durchschneidung der großen Halsblutgefäße und zu einer schweren Verletzung des Herzbeutels, des Herzens und der Lunge führten. Nach dem Ergebnis der gerichtlichen Obduktion der Leiche muss der Tod wohl sehr rasch eingetreten sein. Aus dem Umstande, dass die Getötete auch an Armen und am linken Daumen Verletzungen hatte, ist zu schließen, dass sie Abwehrbewegungen ausgeführt hat; ob mit oder ohne Bewusstsein, war nicht festzustellen. Wagner selbst versichert, dass sie gestorben sei, ohne zum Bewusstsein gekommen zu sein. Die Lage, in der die Leiche gefunden wurde (das linke Bein hing über den Bettrand heraus), gestattet kein sicheres Urteil darüber, ob etwa irgendein Kampf stattgefunden hat. Doch liegt für mich kein Grund vor, den Angaben Wagners irgend zu misstrauen. Nur mit Nachthemd und Socken bekleidet, ging er sodann – ich folge hier immer seiner eigenen Schilderung – mit dem Dolche in der Hand zunächst in das Schlafzimmer seiner beiden Knaben Robert und Richard, die er durch mehrere schwere Lungen-, Herz- und Halswunden tötete. Aus dem Obduktionsprotokoll geht hervor, dass auch hier ein rasches Ende durch Verbluten eingetreten sein muss. Dann ging er durch die Küche hindurch in das Schlafzimmer seiner beiden Töchter Klara und Elsa und tötete auch diese durch Stiche in das Herz und den Hals, die den raschen Tod unzweifelhaft zur Folge hatten. Ob die in den Akten sich findende Annahme, dass die ältere Tochter Klara Wagner beim Empfang der schweren Wunden bei Bewusstsein war, zutrifft, mag dahingestellt bleiben. Auch ein in tiefem Schlaf Befindlicher macht Abwehrbewegungen, wenn man ihm plötzlich starken Schmerz zufügt. Die anfängliche Äußerung Wagners, er habe auch bei den Kindern oder einem der Kinder vor dem Dolch den Totschläger zur Betäubung angewandt, hat er später selbst als unsicher bezeichnet; bestimmt wisse er nur, dass er seine Frau vor dem Totstechen betäubt habe, um ihr jeden Widerstand unmöglich zu machen. Den Leichnamen zog Wagner die Bettdecke (er hatte sämtliche Familienmitglieder in ihrem Bett liegend während ihres Schlafes ermordet) über Gesicht und Körper«.
Dies war aber nur der erste Teil der Bluttat, die in die Kriminal- und Psychiatriegeschichte eingehen sollte. Wagner warf nach dem Massaker das blutige Nachthemd in sein eigenes Bett, wusch und kleidete sich, holte sich drei Schusswaffen, 500 Patronen und zwei Eisenkolben, legte vor die Korridortür seiner Wohnung eine Schiefertafel mit der Aufschrift »Ausflug nach Ludwigsburg« und machte sich mit Fahrrad und Zug nach Mühlhausen auf, wo er gegen 23.00 Uhr ankam. Dort legte er mit seinem Feuerzeug an vier Stellen Brand, wartete, bis die ersten Personen vor die Häuser flüchteten, schritt voll bewaffnet durch die Hauptstraße und schoss wahllos auf alle sichtbaren Personen männlichen Geschlechts, »meist aus der Entfernung weniger Meter, gleichgültig, ob sie ihm auf der Straße in den Weg liefen oder am Fenster ihrer Wohnung sichtbar wurden«. Er tötete acht Menschen, verwundete zwölf schwer und erschoss in seinem Blutrausch auch zwei Stück Vieh, ehe er von zwei beherzten Männern niedergeschlagen und so schwer verletzt wurde, dass ihm der linke Unterarm amputiert werden musste. Er gab zu verstehen, dass er die Absicht gehabt habe, sich selbst zu töten, was ihm nun leider unmöglich geworden sei. Es sei ihm recht, wenn er geköpft werde, weil er nicht mehr leben wolle.
Als Beweggrund seines Handelns nannte er bei der Vernehmung am 6. September gegenüber dem Richter eine zwölf Jahre zurückliegende sittliche Verfehlung, nämlich Unzucht mit Tieren. Dieser sodomistische Fehltritt habe ihm schwere Gewissensbisse bereitet. Aus Äußerungen und Anspielungen der Bürger in Mühlhausen habe er schließen müssen, dass sie um seine sittlichen Verfehlungen wissen. Die Schadenfreude, die sie dabei an den Tag gelegt hätten, habe ihn sehr erbittert, und so habe er beschlossen, Selbstmord zu begehen und seine Familie mitzunehmen, um sie vor der Schande zu bewahren. Aber auch an Mühlhausen, wo ihm seine Verfehlungen passiert und von den Einwohnern vorgehalten worden seien, wollte er sich rächen. In seinen späteren autobiografischen Texten stand als zentraler Satz: »Dass ich mich des Geständnisses gleich entledige: Ich bin Sodomit … es ist glücklich heraus, aber viel mehr will ich dazu nicht sagen; eure Lüsternheit wiegt auch keine Minute Selbstverachtung auf«. Die Untersuchungen konnten keinerlei Hinweise finden, dass sich Wagner vor Jahren tatsächlich einmal an einer Kuh vergangen hätte, jedenfalls war keinem Menschen etwas davon bekannt geworden.
Wagner wurde von zwei berühmten Psychiatern, Prof. Robert Gaupp aus Tübingen und Prof. Robert Wollenberg aus Straßburg, begutachtet. Beide Experten diagnostizierten einen Verfolgungswahn und erklärten Wagner für schuldunfähig, was ihnen heftige Kritik einbrachte. In einem Zeitungsartikel wurde Gaupp gar als »psychiatrisches Rindvieh« beschimpft. Das Strafverfahren wurde eingestellt und Wagner in die Heil- und Pflegeanstalt Winnental eingeliefert, wo er bis zu seinem Tod am 27. April 1938 in einer Einzelzelle blieb. Er führte dort umfangreiche Korrespondenzen durch, schrieb eine Reihe von Dramen, beteiligte sich an Literaturpreisen und empfing Besuche. Besonders häufig kam Prof. Gaupp, der großes Interesse an »Wagner und seiner Psychose« fand und auf dessen Fall seine berühmt gewordene Lehre vom Wahn aufbaute.
Die Idee, welche den Hauptlehrer Wagner zu seiner Tat getrieben hat, muss korrekterweise als krank und nicht als böse bezeichnet werden. Wenn wir von der Psychopathologie des Bösen sprechen, dürfen wir aber die »Bösartigkeit« mancher Symptome nicht unberücksichtigt lassen. Ähnlich wie bei einer malignen Erkrankung im körperlichen Bereich können auch psychische Störungen von bösartiger Natur sein, was aber nichts mit moralischer Wertung zu tun hat, sondern den Krankheitscharakter der psychischen Symptomatik anspricht. Psychiatrische Erkrankungen können einen guten, also in der Ausheilung mündenden Verlauf nehmen oder in bösartiger Form zur Katastrophe, Chronifizierung oder gar zum Tod führen. Die Symptome können eher harmlos und »benigne« oder schwerwiegend und »bösartig« sein. Eigenartigerweise fällt es uns weit weniger schwer, von einer bösartigen körperlichen als einer derart beschriebenen psychischen Erkrankung zu sprechen.
Wir können zwischen bösen, fanatischen und kranken Ideen unterscheiden. Bei bösen Ideen setzen wir ein hohes Maß an freiem Willen voraus, das heißt, die Idee ist trotz ihrer Verwerflichkeit nicht Folge von krankhaften Gedankengängen oder von schweren emotionalen Einflüssen. Vielmehr entspringt sie einer normalen Psyche und unserem freien Denken und wird somit zur Grundlage dessen, was im Strafrecht als »böser Wille« bezeichnet wird. Bei kranken Ideen, wie sie Wagners Bluttat zugrunde liegt, ist hingegen keine freie Willensbildung mehr möglich. Der Betroffene ist seiner pathologischen Vorstellung mehr oder minder hilflos ausgeliefert und kann sich nicht mehr frei entscheiden. Während beim Fanatismus noch eine gewisse Korrektur und Selbststeuerung möglich ist, dominiert der Wahn das Denken, Fühlen und Wollen in absoluter Weise. Diese schwerwiegende, auch als Paranoia bezeichnete Erkrankung führt zu einer Fehlbeurteilung der Wirklichkeit, welche mit absoluter Gewissheit verteidigt wird. Die wahnhafte Idee kann vom Betroffenen nicht korrigiert werden, selbst wenn sie klare Widersprüche zur objektiven Realität aufweist und mit dem Urteil gesunder Mitmenschen nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Charakteristisch am Wahn ist die unerschütterliche Überzeugung, an der ohne ausreichende Begründung festgehalten wird. Der Wahnkranke weiß, dass es so und nicht anders ist. Seine Begründung lautet: »Es ist so, es gibt überhaupt keinen Zweifel«.
Wahnhaft zu empfinden und zu denken heißt, Dinge ohne jeglichen Anlass miteinander in Beziehung setzen. Wagner interpretierte das ganz normale Sprechen und Lachen der Mitbürger als Wissen und Tuscheln über sein Geheimnis. Diesen Gedanken behält der in seinem Denken tatsächlich »Verrückte« mit nicht korrigierbarer Gewissheit bei. Oft wird das Böse zum Inhalt dieses bösartigen Symptoms, etwa beim Verschuldungs-, Versündigungs- oder Besessenheitswahn. Ähnlich einer Krebserkrankung wuchert der Wahngedanke immer hemmungsloser, nimmt den Organismus der Seele weitgehend gefangen und beherrscht die Ideen, Vorstellungen und schließlich auch das Handeln der erkrankten Person. In »wahnhafter Wehrlosigkeit« ist diese der Paranoia ausgeliefert, sie kann gar nicht mehr anders handeln, sie ist nicht mehr zurechnungsfähig.
Die gerichtspsychiatrischen Gutachter diskutieren oft über den Einfluss von wahnhaften Gedanken auf die freie Willensbildung. Manche meinen, dass allein das Handeln unter dem Einfluss einer kranken Idee noch keinen Entschuldigungsgrund darstelle. Worin liegt der Unterschied zwischen der moralischen Verantwortlichkeit zweier Täter, von denen der eine jemanden aus begründeter Eifersucht tötet und der andere sich den Betrug nur einbildet, ihn also lediglich »wähnt«? In beiden Fällen hätten sie das Verbotene des Tötungsaktes erkannt. Vor allem amerikanische Psychiater argumentieren damit, dass allein ein krankes Motiv noch keine Schuldunfähigkeit rechtfertige, da ja dann die allgemeine Rechtsordnung zugunsten privater Moralvorstellungen aufgegeben würde. In der europäischen Psychiatrie geht man hingegen von der Annahme einer »wahnhaften Wehrlosigkeit« aus, das heißt, man unterstellt einem von Wahngedanken beherrschten Menschen, dass er weder in seiner Willensbildung noch in seiner Selbstkontrolle wirklich frei sei, sondern nicht anders handeln könne.
In der wahnhaften Welt zeigen sich oft dämonische Urbilder – sogenannte Archetypen –, beispielsweise Teufel, Geister, Zauberer und Hexen, welche den Erkrankten durch Gedankenbefehle oder negative Energien beeinflussen. Je mehr Gegenbeweise von der gesunden Umgebung erbracht werden, desto mehr klammert sich der Wahnkranke an seine Idee. Er zieht sich mehr und mehr in seine wahnhafte Wirklichkeit, seine Wahnwelt zurück, wodurch er als eigenbrötlerisch und verschroben, als irgendwie unheimlicher Sonderling erscheint:
Ein 38-jähriger Mann, wegen Drogenproblemen und Schizophrenie in Frührente und sozial völlig isoliert lebend, fühlte sich in seinem nach außen abgeschotteten Wohnhaus von übernatürlichen Kräften beeinträchtigt und von ihm gegen seinen Willen zugesendeten Gedanken bedrängt. Sein Denken werde durch Strahlen gelenkt, sein Gehirn durch Wellen zermartert. Diese Symptome interpretiert er als das böse Werk seines weit entfernt wohnenden Bruders, der ihn gedanklich beeinflusse und ihm seine Lebensenergie raube. Im Verhör gab er an, in »reiner Notwehr« zur Waffe gegriffen, seinem Bruder aufgelauert und ihn aus nächster Nähe erschossen zu haben. Bei der Untersuchung saß keinesfalls ein hassvoller Mann vor mir, sondern das, was man als »Häufchen Elend« bezeichnet: ein gebrochener, leidender Mann, der seine Tat als Notwehr, als einzige Chance gegen eine bedrückende Macht sah. Er wurde in eine Anstalt für psychisch kranke Rechtsbrecher eingewiesen. Trotz umfassender psychiatrischer Behandlung entwickelte er seine Wahnidee weiter: Er spüre ganz deutlich, wie ihm sein geistiges Potenzial und die Lebenskraft nun vom Sohn des Getöteten entzogen werden.
Ein schreckliches Verbrechen steht in unserer emotionalen und rationalen Bewertung im Spannungsfeld zwischen den beiden Polen »krank« und »böse«. Verunsichert und wohl auch verängstigt fragen wir, ob der Plan zu einem grauenhaften Verbrechen tatsächlich einem gesunden Hirn entspringen kann, ob solche Ideen nicht Ausfluss einer krankhaften Geistesaktivität sein müssen und ob Krankheit tatsächlich so Schreckliches hervorbringen kann. Reflexartig sprechen wir bei vielen kalten Verbrechen von irren Straftätern, geisteskranken Mördern und seelenlosen Psychopathen. Wir glauben, die Motive für die Verbrechen in perversen Fantasien und abartigen Persönlichkeitszügen zu finden und vermuten den eigentlichen Ursprung der bösen Ideen in den Abgründen der Seele und in den dunklen Geheimnissen des Unterbewusstseins.
Ein bekannter deutscher Psychiater eröffnete seine Ausführungen über die Psyche eines von ihm begutachteten Serientäters mit der Feststellung, dass er bei diesem keine psychische Krankheit und keine schwerwiegende Charakterabnormität habe finden können, und schloss daran die Frage an: »Ich weiß nicht, ist das ganz furchtbar oder ganz wunderbar«. Er wollte damit wohl zweierlei zum Ausdruck bringen, nämlich, dass auch mit normalem menschlichen Verstand böse Taten ausgedacht, geplant und durchgeführt werden können und dass man den psychisch Kranken mit der Zuschiebung des Bösen Unrecht tun, ihr Leiden kriminalisieren und sie weiter stigmatisieren würde.
Die Idee als geistige Vorstellung bündelt unsere Aufmerksamkeit und setzt ihre Kraft in alle Richtungen frei. Ideen für das Gute wie für das Böse entfalten eine enorme Wirkung. Die Idee ist ein Einfall oder Gedanke, eine Vorstellung oder eine Absicht, die allem Handeln zugrunde liegt. Ideen können Kraft und Stärke spenden, sie können aber auch zur Grundlage von Verbrechen und zum Ursprung des Bösen werden. Frei nach Hegel könnte man sagen, dass die Idee ein grundlegender Prozess des sich entfaltenden Bösen ist. Am Anfang vieler böser Taten, der meisten Verbrechen und jeder kriegerischen Auseinandersetzung steht eine Idee, die zunächst als edel und gerecht empfunden wird, die Menschen oft begeistert, dann überwertigen Charakter annimmt und schließlich fanatisch wird.
Eine derartige fixe Idee liegt dann vor, wenn jemand von einer bestimmten Vorstellung geleitet ist. Das Denken des Betroffenen kreist ständig um diese dominierende Überzeugung, er ist davon besetzt und beginnt, für seine Vorstellung zu kämpfen. Berechtigte Einwände werden nicht mehr beachtet, konträre Ansichten nicht gewürdigt, Widerspruch wird als feindselig erlebt. Hinter dem missionarischen Eifer werden alltägliche Aufgaben unwichtig, die Idee beherrscht das Leben und das Verhalten des Betroffenen, welcher dadurch etwas eigentümlich wird. Im Unterschied zum Wahn fehlt aber die Überzeugung der absoluten Gewissheit, auch bleibt die Realitätskontrolle lange erhalten.
Der als »Axtmörder« bekannt gewordene 39-jährige Reinhard S. entwickelte, nachdem er bei Aktiengeschäften das gesamte Familienvermögen verloren hatte, die überwertige Idee, dass er seinen Angehörigen etwas Gutes tue, wenn er sie von der Schmach befreie. Deren Tötung sei ein respektvoller Akt, eine Tat aus »reiner Liebe«. In jahrelanger Beschäftigung mit nihilistisch-philosophischem Gedankengut hatte er sich zur Erkenntnis durchgerungen, dass es »kein Leid gibt, wenn alles zerstört ist«, dass »den Menschen alles erspart bleibt, wenn der Tod kommt«, und dass der Mensch »nur vor der Geburt und nach dem Tod völlig leidfrei« sei. In der festen Überzeugung, eine gute Tat zu begehen, erschlug er mit einer Axt seine geliebte Tochter, seine Frau, seine hunderte Kilometer entfernt wohnenden Eltern und den Schwiegervater. Bei den Fragen nach seinen Motiven bezog er sich auf das Gedankengut des Philosophen Émile Cioran (1911–1995), eines der radikalsten Kulturkritiker der Nachkriegszeit. Dessen vom Nihilismus geprägte Weltsicht macht das Bewusstsein der Endlichkeit für die Angst vor dem Tode verantwortlich. Deshalb müsse der Mensch ein Überbewusstsein entwickeln, das ihn aus der tödlichen Gefangennahme durch das Bewusstsein befreie. Das Überbewusstsein lag für Reinhard S., in dessen psychischem Befund sich nicht die geringsten Hinweise für eine schizophrene oder manisch-depressive Krankheit fanden, in der Meinung, dass er Wertewelt und Schicksal seiner Lieben zu bestimmen hätte. Seine böse Idee kann wohl als Überkompensation seines Schamgefühls und seiner Unfähigkeit, zu seinem Versagen zu stehen, interpretiert werden. Die fanatische Idee ist an ganz bestimmte Persönlichkeitszüge gebunden.
Das lateinische Wort fanaticus bedeutet wie das französische fanatique so viel wie »göttlich inspiriert«. Tatsächlich glauben die meisten fanatischen Menschen, im Besitz einer höheren, besseren und auf jeden Fall richtigen Idee zu sein. Der fanatische Mensch ist von einem Gedanken, einer Vorstellung oder Überzeugung geradezu besessen. Es genügt ihm aber nicht, seine Vorstellungen für absolut wahr zu halten, sondern er zeigt sich gegenüber allen Menschen, die seine Ansicht bezweifeln oder relativieren wollen, völlig intolerant. Mit missionarischem Eifer versucht er, Andersdenkende zu überzeugen, verteidigt seine Idee kämpferisch und ist keinem vernünftigen Argument zugänglich. Bernhard Verbeek meint in seinem Werk Die Wurzeln der Kriege: »Die subjektive moralische Gutheit fanatisierter Menschen kennt offenbar keine Grenzen«. Der Ausdruck »Kampffanatiker« beschreibt diesen Persönlichkeitstypus sehr treffend. Obwohl er in anderen Bereichen durchaus vernünftig denken und urteilen kann, ist seine fanatische Vorstellung jedem kritischen Reflexionsvermögen entzogen. Fanatische Ideen findet man in politischen und religiösen Fragestellungen, in extremistischen Ideologien, in Fundamentalismus und Rassismus. Charles Manson, dessen vor 50 Jahren verübte bestialische Morde noch heute die Öffentlichkeit berühren, hatte die fanatische Idee entwickelt, dass die schwarze Rasse die weiße auslöschen solle. Weshalb er mit seinen Killern auszog, »um zu zeigen, wie man Weiße tötet«. Fanatismus ist viel mehr als überschwängliche Begeisterung, wie sie etwa jedem Sport- oder Popfan eigen ist. Die fanatische Idee ist emotional hochgradig besetzt und nimmt immer weitere Teile des Denkens, Fühlens und Handelns in Besitz. Bereits Voltaire hat die Gefährlichkeit fanatischer Ideen erkannt, wenn er sagt: »Bedenkt, dass Fanatiker gefährlicher sind als Schurken. Einen Besessenen kann man niemals zur Vernunft bringen, einen Schurken wohl!«
Ein berühmtes literarisches Beispiel von einer ausufernden Idee, die zur Grundlage zahlreicher Verbrechen wird, ist die Geschichte des Pferdehändlers Hans Kohlhase aus Cölln an der Spree. Als ihm auf einer Reise zur Leipziger Messe im Jahr 1532 zwei Pferde als Pfand für die Durchreise abgenommen wurden, versuchte er vergeblich, gegen dieses Unrecht juristisch vorzugehen. Er entschloss sich nach langem Kampf, auf gewaltsamem Weg zu seinem Recht zu kommen, erklärte 1534 die Fehde und brannte in Wittenberg mehrere Häuser nieder. Er beging im Kampf um sein Recht weitere Verbrechen, wurde ergriffen und am 22. Mai 1540 in Berlin öffentlich gerädert. Die Novelle von Kleist rückt das Problem der Wiederherstellung verletzten Rechts durch offenkundige Rechtsbrüche, also die Bekämpfung des Bösen durch Böses in den Mittelpunkt. In Anlehnung an die Kleist’sche Erzählung wird heute in der Psychiatrie von einem »Kohlhaas-Syndrom« gesprochen, wenn jemand gegen eine tatsächliche oder vermeintliche Benachteiligung mit immer drastischeren Mitteln vorgeht und schließlich im Querulantentum endet.
Diktaturen und Kriege sind ohne Ideologie, ohne fanatische und böse Ideen nicht möglich. Dazu könnten unzählige historische Beispiele angeführt werden, etwa die Kreuzzüge, denen der Gedanke zugrunde lag, das Heilige Land aus den Händen der Sarazenen zu befreien. Der Rassenwahn der Nazis leitet sich von Lombrosos Idee vom geborenen Verbrecher und den gesunden Arten ab. Der Ausdruck »Rassenwahn« ist allerdings gründlich falsch, weil es sich bei der NS-Ideologie um kein pathologisches und somit nicht zu verantwortendes Gedankengut, sondern um Ideen, die von gesunden Gehirnen hervorgebracht worden sind, handelt. Dieser Gedanke scheint uns jedoch kaum erträglich.
Doch wir brauchen in der Geschichte nicht weit zurückzugehen. Auch die jüngste Zeit liefert uns Beispiele, wie sich Ideen auswirken und wie sich das Böse entwickelt. Ich nenne das Stichwort killing fields. Die böse Idee des 1998 verstorbenen Schlächters Pol Pot bestand darin, Kambodscha über Nacht in einen Bauernstaat zu verwandeln. Die uralte Kulturnation sollte gewaltsam auf die »Stunde null« zurückgedreht werden, um dort anschließend ein agrarisches Utopia zu schaffen – eine Gesellschaft ohne Intellektuelle, Bürgertum oder Technik, ausgerichtet nur an den Grundbedürfnissen. Zusammen mit dem 2006 verschiedenen »einbeinigen Schlächter« Ta Mok und einer kleinen Gruppe von fanatisierten Ideologen wollte der als »Bruder Nummer eins« bezeichnete Diktator seine wahnwitzige Vorstellung in die Realität umsetzen. In den vier Jahren ihrer von 1975 bis 1979 dauernden Herrschaft rotteten die Roten Khmer ein Viertel der kambodschanischen Bevölkerung aus. Allein im berüchtigten S-21-Foltergefängnis verloren 14 000 Menschen ihr Leben. Umgebracht wurden vor allem Professoren, Ärzte, Mönche und Lehrer. Wenn jemand Brillenträger war, bedeutete dies ein sicheres Todesurteil. Die Opfer wurden fotografiert und dann mit Eisenstangen oder Spitzhacken erschlagen, oft zuvor aufs Grausamste gequält. »Sie haben mich jeden Tag geschlagen und mir Elektroschocks versetzt, haben mich ins Wasser gepresst, bis ich das Bewusstsein verlor«, sagt einer der Überlebenden, der heute 68-jährige Bou Meng, vor dem UNO-Tribunal. Den Gefangenen wurden die Finger- und Zehennägel ausgerissen, es wurden ihnen Plastiktüten über den Kopf gezogen. Babys und Kleinkinder wurden von brutalen Wärtern an den Füßen gepackt, an Bäumen erschlagen. Schätzungsweise bis zu zwei Millionen Menschen verloren durch Exekution, Hungertod und Krankheit ihr Leben für eine durch und durch böse Idee.
Wie sehr normale, fanatische und kranke Ideen ineinander übergehen, zeigt uns das anfangs zitierte Beispiel des Hauptlehrers Ernst Wagner, zu dem wir am Schluss zurückkehren. Wagner, der sich übrigens später als Nationalsozialist der ersten Stunde bezeichnete, hatte schon 1909, als er noch nicht von der Wahnerkrankung erfasst war, einen schrecklichen Gedanken von sich gegeben. Es fällt nicht leicht, zu unterscheiden, ob das zugrunde liegende Denken normal, fanatisch oder krank war, wenn der spätere Massenmörder schreibt: »Wir schiffen zu sehr in übel riechenden Niederungen und müssen jetzt endlich den Ballast auswerfen, um in reiner gesunder Region zu schweben. Ich habe ein scharfes Auge für alles Kranke und Schwache, bestellt mich zum Exekutor … 25 Mio. Deutsche nehme ich auf mein Gewissen und soll es nicht um ein Gramm schwerer belastet sein als zuvor.«