Die bösen Gefühle

»Emotionen sind kein Luxus,
sondern ein komplexes Hilfsmittel im Daseinskampf.«

António R. Damásio

Der bereits Verwesungsspuren aufweisende, in einer verwahrlosten Wohnung aufgefundene männliche Leichnam war übel zugerichtet. Die Gerichtsmediziner zählten 63 Stichverletzungen, davon sieben im Gesicht, und acht lange, tiefe Schnittwunden. Die Tathandlung mit einem einschneidigen Messer musste mit großer Kraft und Wucht erfolgt sein, da das linke Schläfenbein, der zweite Brustbeinwirbel sowie das linke Schulterblatt mit der Klinge durchstoßen worden waren. Noch nach dem bereits eingetretenen Tod wurden mehrere Stiche gegen den Kopf des Opfers und in beide Augenhöhlen geführt. Schließlich wurde dem Toten das komplette Genitale abgetrennt und auf das Gesicht gelegt.

In Anbetracht der brutalen Verstümmelung des Körpers vermuteten die Kripobeamten einen starken Mann als Täter. Sie dachten an einen Sadisten, einen homosexuellen Sexualmörder, jedenfalls an einen starken, dem Opfer körperlich überlegenen Mann. Groß war dann das Erstaunen, als sie die Täterschaft überführten. Vor ihnen stand eine zarte Person, ein schlankes, blasses, 18-jähriges Mädchen, ein zitterndes Kind, wie die Ermittler meinten. Es handelte sich um Sabine K., die Freundin des Toten, die ihnen bei der Einvernahme ihre Geschichte erzählte:

Sie habe Patrick, so hieß der Getötete, vor zwei Jahren kennengelernt. Er habe ihr am Anfang sehr gefallen, sei anders gewesen als die anderen, habe erwachsener und erfahrener gewirkt. Besonders imponiert habe ihr seine betont außenseiterische Rolle und sein überlegen wirkendes Auftreten – etwa, wie er seine Arbeitslosigkeit und seine vielen Schulden locker und lässig genommen habe. In der Gruppe sei er sehr stark und dominant aufgetreten, habe sich als »überzeugter Skinhead« gegeben. Sie habe sich gefreut, dass er sich für sie interessiert und sich in sie verliebt habe, und sei stolz auf ihn gewesen: »Es hat mir getaugt, dass er so auf männlich tat …«

Bald nachdem sie mit Patrick zusammengezogen sei, habe sie seine andere Seite kennengelernt. Er habe an ihr herumgestänkert und ihr Vorwürfe wegen ihrer früheren Freundschaften gemacht, habe kein gutes Haar mehr an ihr gelassen, sie als »Schlampe« und »Drecksau« bezeichnet und gedroht, ihr »den Schädel einzuschlagen«, habe sie erniedrigt und gedemütigt. Sein Verhalten sei sehr wechselnd gewesen, er habe lieb und nett sein können, dann sei seine Stimmung ohne Anlass plötzlich umgeschlagen.

Sie habe sadistische Veranlagungen entdeckt. Er habe sich im Internet immer Bilder von Tierquälereien und Menschenfolter oder sadistische Pornoszenen angesehen. In alkoholisiertem Zustand habe er mit Bier und Wein nach ihr geschüttet, ihr Dosen nachgeworfen, sie mit Handschellen fesseln wollen und gedroht, ihr sämtliche Haare abzuschneiden. Er sei zunehmend eifersüchtiger geworden, habe jeden Bekannten, mit dem sie gesprochen habe, beschimpft und sogar körperlich attackiert. Aus reiner Eifersucht habe er ihr untersagt, eine Lehre zu machen und ihr angekündigt, sie stattdessen auf den Strich zu schicken.

Vor einiger Zeit habe er einem Plüschtier, einem Hasen, an den sie sich so oft geschmiegt habe, den Kopf ausgerissen und einen Bleistift ins Auge gesteckt, habe dabei gelacht und gefragt, mit wem sie denn jetzt kuscheln werde. Er habe ihren Hund getreten und geschlagen und gesagt, dieser sei »gleich ungezogen« wie sie selbst. Immer häufiger habe er seine Wut an einem Meerschweinchen, das sie ihm geschenkt habe, ausgelassen. Er habe das Tier gegen die Wand geworfen und dieses zuletzt, nur um ihr wehzutun, absichtlich erfrieren lassen.

In den letzten Monaten habe sie versucht, von Patrick wegzukommen und mit ihm Schluss zu machen, habe dies aber nicht geschafft. Da sie keinen Ausweg mehr gesehen habe, habe sie sich erstmals eine Schnittwunde am Handgelenk zugefügt, habe dies mit einem Messer, das ihr Patrick geschenkt habe – mit der späteren Tatwaffe – gemacht. In der Folge habe sie sich in ihrer Verzweiflung öfter selbst verletzt und sich insgesamt zehn große und drei kleinere Verletzungen zugefügt. Einmal habe sie ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen, weil sich eine Narbe entzündet habe. Im Krankenhaus habe sie angegeben, dass sie sich mit dem Handrasenmäher verletzt habe, dies habe man ihr aber offensichtlich nicht geglaubt. Trotzdem sei es im Krankenblatt so festgehalten worden, weil Patrick ihre Version bestätigt habe. Man habe ihr geraten, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, was sie aber nicht getan habe.

Sie könne nicht genau sagen, was sie so an Patrick gebunden habe: Auf der einen Seite habe sie sich beschützt gefühlt und sei stolz auf ihn gewesen, auf der anderen Seite habe er ihr Angst eingeflößt und sie zutiefst verletzt. Ihr Verhältnis sei so zwiespältig gewesen. Er habe ihr gefallen und gleichzeitig habe sie ihn abgelehnt: »Er konnte so lieb sein, aber er war auch so pervers.«

In den letzten Wochen habe sie das Gefühl gehabt, als ob Patrick von ihr weg wolle, was sie aus seinem immer aggressiveren ablehnenden Verhalten schloss. Er habe nur noch mit ihr schlafen wollen und sich sonst nicht mehr für sie interessiert. Ihre immer häufigeren Weigerungen hätten ihn zusätzlich verärgert. Sie habe sich vor ihm geekelt, gleichzeitig aber das Gefühl gehabt, ihn durch ihre Verweigerung endgültig zu vertreiben. Patrick habe sie angeschrien, wenn es so weitergehe, werde er verschwinden: »Du bist eh für nichts mehr zu gebrauchen!« Wiederholt habe er angedeutet, dass eine andere Frau im Spiel sei.

Zum konkreten Tatablauf führte Sabine K. aus, dass sie sich »Gott sei Dank« nicht mehr an alles erinnern könne. Sie habe sich während des Vorfalls nicht berauscht oder benommen gefühlt, sei aber etwas »schwindelig« gewesen. In der Stunde vor dem fatalen Zusammentreffen habe sie über die entwürdigende Unterdrückung, die sie sich gefallen lasse, und ihre Unfähigkeit zur Beendigung der Beziehung gegrübelt. Sie habe aber noch in keiner Weise daran gedacht, Patrick etwas anzutun. Als dieser gekommen sei, habe er mit ihr schlafen wollen. Sie habe sich dagegen gewehrt, er habe sie niedergedrückt, woraufhin sie geschrien habe: »Hör auf!« Sie habe sich sehr erregt gefühlt, alles sei in ihr hochgekommen, sie habe ein Hitzegefühl im Kopf und heftigen Herzschlag verspürt, habe gezittert und nicht mehr richtig gewusst, was sie tue. Sie habe nur noch gedacht: »Sabine, du musst endlich frei sein, du musst wieder leben können!«

Während sich Patrick, der inzwischen von ihr abgelassen habe, mit seinem Handy beschäftigte, habe sie aus dem Rucksack jenes Taschenmesser, das sie von ihm geschenkt bekommen habe, herausgeholt, habe es geöffnet und dann auf ihn eingestochen. Sie könne nicht sagen, wie oft sie zugestoßen habe, sie wolle dies auch gar nicht wissen. Sie habe nur den Gedanken gehabt, sich befreien zu müssen. Vielleicht hätten auch – dies wolle sie nicht bestreiten – Rachegefühle eine Rolle gespielt. Patrick habe ja ihr ganzes Leben zerstört, habe sie hilflos und verzweifelt gemacht und ihr die Zukunft, das hoffnungsvolle Leben, gestohlen. Sie könne beim besten Willen nicht sagen, weshalb sie auf den bereits leblosen Körper und die Augen eingestochen und warum sie das Genitale weggeschnitten habe. Dies müsse mit dem Ekel, den sie bei seinen sexuellen Annäherungen so oft ertragen musste, zu tun haben. »Er hat sich beim Sex so pervers verhalten und war überhaupt so sadistisch veranlagt …«

In der psychiatrischen Untersuchung wurden bei Sabine K. lediglich Hinweise für einen unreifen Charakter, für eine labile Stimmung sowie Neigungen zu »kopflosen Aggressionsausbrüchen« gefunden.

In der testpsychologischen Untersuchung zeigten sich frustrationsintolerante, reizbar-empfindliche und misstrauische Charakterzüge, ferner ein Hang zu Verstimmungszuständen sowie impulsive Tendenzen. Eine schwerere psychische Störung war nicht festzustellen.

Zur Beziehungsstruktur, welche eine maßgebende Grundlage der zur Tat führenden emotionalen Entwicklung ist und die Heftigkeit der Gemütserregung mit erklären kann, war Folgendes zu erheben:

Sabine K. hat in ihrer Partnerschaft mit Patrick eindeutig eine »negative Identität« aufgebaut, indem sie sich mit diesem als gesellschaftliche Außenseiterin solidarisiert hat. Sie hat das Außenseiterische am Verhalten ihres Partners gesucht und sich damit identifiziert. Dies ist wohl als Gegenreaktion auf das äußerlich intakte, gutbürgerliche Milieu, in welchem sie aufgewachsen ist, auf die wohlhabende Situation ihrer Familie und auf die dort vorgelebten Ideale (»gescheit, hübsch, lieb«, wie dies von ihrer Mutter ausgedrückt wird) zu interpretieren. In tiefenpsychologischer Ausdeutung könnte man auch sagen, dass sie nicht nur die andere Seite des Lebens kennen oder jemanden, dem es auch äußerlich schlecht geht, retten wollte, sondern dass das Nichteingehen auf die Erwartungen ihrer Herkunftsfamilie vielleicht eine gewisse Genugtuung bedeutet hat.

Ein anderer Aspekt liegt in der Identifikation mit einem reiferen und betont männlich-aggressiv auftretenden Partner, welcher ihr über den teilweisen Verlust der Vatergestalt, die ihr Sicherheit und Geborgenheit sowie Orientierung vermitteln sollte, hinweggeholfen hat. Auch das bei ihr angesprochene Gefühl, den Partner »retten« zu müssen, ist nicht zu unterschätzen.

Im weiteren Verlauf der Beziehung hat sich dann aber wohl das eingestellt, was man als anal-sadistische Kollusion bezeichnet: Es wurden sowohl in der Person der Sabine K. als auch jener ihres Partners unbewusste Übertragungs- und Beziehungsmuster mit gegenseitig ergänzendem Charakter angerührt. Diese bestanden bei Sabine im Wunsch der intensiven Bindung, nach männlicher Stärke und Sicherheit, bei Patrick im zwanghaften Verlangen, seine Geliebte zu unterwerfen und zu beherrschen. Nach den Schilderungen der Beschuldigten hat Patrick viele Verhaltensweisen gezeigt, durch die er seine Lebensgefährtin abstoßen musste. Gleichzeitig hat er mit aller Macht versucht, sie zu halten oder bei Absetzversuchen wieder zurückzuführen. Bei Sabine kam es in spiegelbildlicher Art zu einem Konflikt zwischen der Bindung an Patrick und dem Wunsch, sich von diesem abzusetzen. Das Leben in dieser ständigen Spannung mündete in eine ausweglos scheinende Situation. Sabine K. wurde von Eifersucht, Rache- und Befreiungswünschen gleichermaßen gepeinigt und war dadurch einem Zermürbungsprozess ausgesetzt. Dieser nahm ihr nicht nur Lebensfreude und Selbstwertgefühl, sondern unterminierte ihre Kräfte zur Selbst- und Impulskontrolle.

Als Sabine K. dann feststellen musste, dass Patrick sich möglicherweise einer anderen Freundin zuwenden wollte, reagierte sie tief gekränkt und verfiel in einen Zustand, der mit anschwellender Tatbereitschaft verbunden war.

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Die Bedeutung von Emotionen und Affekten für das menschliche Verhalten wurde lange Zeit unterschätzt. Verstand und Intelligenz galten als höchste Stufe der menschlichen Entwicklung, während Gefühle als unbestimmt, unbeschreibbar und unkalkulierbar abgetan worden sind. Diese auch in der kriminologischen Wissenschaft verbreitete Meinung hat sich in den letzten Jahren völlig geändert. Man hat erkannt, dass Emotionen das Wesen des Menschen ganz entscheidend bestimmen, dass sie überlebenswichtig sind und dass es auch so etwas wie eine emotionale Intelligenz gibt. Die Wissenschaft geht davon aus, dass verschiedene Grundgefühle – etwa Freude, Trauer, Angst oder Scham – angeboren sind und jedes Gefühl von festgelegten Schaltkreisen des Gehirns gesteuert wird. Sie vermitteln uns den jeweils für das Überleben benötigten Modus, etwa den »Angstmodus« bei Konfrontation mit einer Gefahr und den »Glücksmodus« beim Gedanken an einen geliebten Menschen. Jedes Ereignis, jede Erinnerung, jede Vorstellung hat irgendeine emotionale Bedeutung. Wenn jemand durch Erkrankungen des Gehirns oder schwere Gemütsstörungen von seiner Gefühlswelt abgeschnitten ist, so ist er vom menschlichen Leben abgetrennt.

Die amerikanischen Psychologen Arnold A. und Clifford N. Lazarus beschreiben das Wesen von Gefühlen, Emotionen und Affekten wie folgt: »Von allen Lebewesen auf der Erde ist der Mensch das emotionalste. Aus unserer Sprache, unseren Aktionen (Gestik, Bewegungen und Körperhaltungen) und auch aus unserem Gesicht sind häufig unsere Emotionen abzulesen. Wir drücken Ärger, Angst, Schreck, Scham, Freude, Liebe und Trauer aus, aber auch subtilere Emotionen wie Schuld, Neid, Eifersucht, Stolz, Erleichterung, Hoffnung, Dankbarkeit oder Mitleid. Alles Wichtige, was uns passiert, ruft Emotionen hervor. Warum muss das so sein? Von der Geburt bis zum Tod kämpfen wir mit den verschiedenen Anforderungen unserer physischen und sozialen Umgebung. Die vielfältigen Emotionen, die der Mensch ausdrückt, reflektieren die vielfältigen physischen und sozialen Probleme, mit denen wir zurechtkommen müssen. Emotionen und Intelligenz gehen Hand in Hand. Aus diesem Grund ist der Mensch ein hochintelligentes Wesen und auch so emotional …

Unser bemerkenswerter Verstand ist in der Lage, subtile, abstrakte und komplizierte persönliche Bedeutungen zu fühlen in Situationen, in denen wir entscheiden müssen, ob wir in Gefahr oder in Sicherheit sind oder ob wir aus der Situation einen Nutzen ziehen können. Unsere Emotionen sind eng verbunden mit unserem Kampf um Anpassung an Lebensverhältnisse in einer Welt, die Anpassungsfehler selten verzeiht.

Wenngleich der berühmte Schweizer Psychiater Eugen Bleuler gesagt hat: »Was Affektivität ist, wissen wir nicht« und der Berliner Forensiker Hans-Ludwig Kröber meint: »Was ein Affektdelikt ist? – Niemand kann das definieren«, spielen Emotionen, also unsere Grundgefühle und Affekte – unsere Gefühlsäußerungen, in der Entstehung des Bösen eine außerordentlich wichtige Rolle. Denn sie entscheiden darüber, ob wir etwas als lustvoll oder widerwärtig erleben, als richtig oder falsch klassifizieren, als gut oder böse bewerten. Sie bestimmen unsere Grundeinstellung gegenüber Personen und Handlungen, sie lenken unser Wollen und sie haben höchsten Einfluss auf unser Verhalten. Die Emotionen, deren Ursprung in einem der ältesten Teile unseres Gehirns, dem limbischen System, gelegen ist, nehmen nicht nur in der Verhaltenssteuerung eine Schlüsselstellung ein. Sie sind für unser Menschsein so wichtig, dass sie vom reinen Verstand gar nicht getrennt werden können. Bereits Nietzsche hat dies in einer Zeit lange vor der hochwissenschaftlichen Hirnforschung erkannt, wenn er sagt: »Hinter den Gefühlen stehen die Urteile und Wertschätzungen.«

Der komplexe Prozess der Emotionen, der auf verschiedenen physiologischen und psychischen Funktionen abläuft, beeinflusst das Verhalten der Menschen besonders bei Belastungen. Die in solchen Stresssituationen auftretenden Gefühle werden in solche aggressiver und in solche abwehrender Natur eingeteilt. Als sthenische Affekte, die den Organismus in Kampfbereitschaft versetzen, werden Zorn, Wut und Eifersucht bezeichnet. Asthenische Affekte, welche die körperlichen und psychischen Aktivitäten hemmen, umfassen Furcht, Traurigkeit und Schrecken. Bei jeder Aggressionstat sind Affekte in mehr oder minder starker Form beteiligt. Lediglich völlig gemütsarme oder psychisch schwer kranke Menschen können eine andere Person unter Umständen ohne wesentliche Gemütsbewegung töten; vielleicht auch kalte Profikiller, denen es nur um die exakte Ausführung eines »technischen« Auftrages geht.

Aggressionshandlungen, speziell Tötungsdelikte, werden nahezu durchgehend von heftigen affektiven Reaktionen begleitet oder getragen. Besonders ausgeprägt sind Gefühle des Ärgers, der Enttäuschung oder des Hasses bei Beziehungsdelikten, da hier neben den eher oberflächlich anzusiedelnden Emotionen der Kränkung auch tiefere psychologische Schichten mit narzisstischen Ängsten erfasst werden. Zudem ist in der Regel eine lange Vorgeschichte, welche zu einem allmählichen Affektstau und in weiterer Folge auch zu einer Unterminierung der Widerstandskräfte führt, auszumachen. Bei der eigentlichen Tat, welche nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel eintritt, wirken somit vorbahnende emotionale Kräfte und ein erregender Anlass – gewöhnlich ein Streit – zusammen und führen zu einer eruptiven Entladung, welche in Form eines Kontrollverlusts dann kurzfristig einen eigendynamischen, zerstörerischen Verlauf nimmt. Treffend wird als Vergleich für diese Gemütsverfassung der von Kränkungen volle Eimer, den ein letzter Tropfen zum Überlaufen bringt, angeführt.

In der Tatentwicklung und im Tatablauf der Sabine K. sind viele Komponenten eines solchen Gefühlsablaufes erkennbar: Als vorbestehende Bedingung ist ihre verstimmbare, unreife Persönlichkeitsstruktur zu nennen, welche das Aufkommen von selbst- und fremdaggressiven Impulsen und deren Durchbrechen in emotional belastenden Situationen begünstigt. Als belastende Faktoren in der Vergangenheit erwiesen sich die konflikthaften Auseinandersetzungen und Handgreiflichkeiten zwischen den Eltern, welche sie als Kind mit ansehen musste, ferner der Verlust der Vatergestalt und die Überidentifikation mit der Mutter. In den mit tätlicher Aggression besetzten Zwistigkeiten der Eltern war sie hin- und hergerissen, hat aber letztlich wohl Partei für die von ihr sehr idealisierte Mutter ergriffen. Das Bild einer von ihrem Partner geschlagenen Frau hat sich bereits damals bei ihr als unerträglich eingeprägt und eine entsprechende Vulnerabilität in diesem Bereich ausgelöst. Die starke Identifizierung der Mutter war mit der tief verankerten Furcht verbunden, selbst eines Tages Opfer eines gewalttätigen Partners sein zu müssen. Auch in diesem Problembereich war sie somit seit Kindheitstagen übersensibel.

Als Sabine den Vater, zu dem immer ein gutes Verhältnis bestand, verloren hat, ist in ihr wohl der Wunsch nach einem starken, mächtigen Partner erwacht. Aus Partnerschafts- und Familienanalysen ist das Phänomen bekannt, dass Mädchen, die in der Kindheit unter einem gewalttätigen Vater leiden oder dessen aggressives Verhalten miterleben müssen, später einen ebenfalls derart agierenden Freund, Lebensgefährten oder Mann suchen. Im psychoanalytischen Gedankengut wird dies mit dem Abwehrmechanismus der »Identifikation mit dem Aggressor« begründet: Die auf belastenden Erinnerungen oder Erlebnissen beruhende Angst vor einem gewalttätigen Partner wird durch eine Flucht nach vorne bekämpft, durch welche die eigene Angst überwunden werden soll.

Die sich zuspitzenden Probleme im Partnerschaftsverhältnis zwischen Sabine und Patrick sind als tatanbahnender Faktor zu sehen. Sabine hat unter dem lieblosen, unberechenbaren und demütigenden Verhalten ihres Partners sehr gelitten, sah sich von ihm mit Vorwürfen, Eifersuchtsreaktionen und Entwertungen konfrontiert, musste dessen sadistische Symbolhandlungen ertragen und erlebte sich durch ihn auch beruflich in eine unerfüllte Position gedrängt. Als sie nach langem, aufopferungsvollem Erdulden dieser Belastungen nun erfahren musste, dass Patrick von ihr wegstrebte und eine andere Partnerschaft eingehen wollte, war sie doppelt enttäuscht. Das ständige Hin und Her zwischen Unentschlossenheit, Hoffnung, Ablösungswünschen und dem Gefühl, nicht loszukommen, hat einen Zermürbungsprozess ausgelöst und eine resignativ-depressive Verstimmung hervorgerufen, die durch hinzukommende psychosomatische Reaktionen wie Kopfschmerzen und Schlafstörungen verschärft worden ist.

Die Brisanz dieser Situation wurde durch sadistische Symbolhandlungen wie »Köpfen« des Plüschtiers, Quälen der Hausratte und letale Vernachlässigung des Meerschweinchens forciert. Letzter Auslöser war dann das Verlangen von Patrick, mit ihr trotz der ständigen Entwertung ihrer Person und trotz seiner Abkehr noch geschlechtlich zu verkehren.

Im Laufe des Aggressionsaktes ist Sabine in das hineingeraten, was man im laienhaften Sinne als »Blutrausch«, fachlich als »Overkill« bezeichnet. In dieser Situation war sie hoch erregt und bezüglich ihres Handlungsziels völlig eingeengt. Da die Serie der Messerstiche nicht einmal vor dem bereits toten Opfer haltmachte, muss man von einem lang dauernden, intensiven Affekt, einem nicht sofort abklingenden Hass ausgehen. Dieser erreichte in der Kastration des Leichnams und im Ausstechen der Augen seinen Gipfel und Abschluss.

Die letztgenannten Manipulationen sind nicht als sadistisches Agieren einer bösartigen Narzisstin, sondern als Symbolhandlungen einer sich von der »männlichen Unterjochung« befreienden, den Sieg über den Geschlechtskampf – als welcher die Tat unter Berücksichtigung archaischer und feministischer Überlegungen auch gesehen werden kann – davontragenden Frau zu interpretieren. Das Abschneiden des Genitales ist als Rache für oft erduldeten sexuellen Ekel zu betrachten. Die Entmannung war ein Triumph über das Männliche, das sie – nicht nur bei Patrick, sondern auch beim Vater – geliebt und gehasst hat. Ebenso hat das Ausstechen der Augen des Getöteten, welches an ritualisierte Handlungen bei Naturvölkern und Totenschändungen im Krieg erinnert, hohe Symbolkraft. Das Auge steht für Strenge, Kontrolle, bindendes Fixieren, Erwartung oder für völliges Durchschauen. Für Sabine K. symbolisierte das Auge wohl jenen Teil in der Persönlichkeit ihres Partners, welcher es ihr unmöglich machte, sich zu lösen und ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Vielleicht wollte sie alles vernichten, was sie für ihren Abstieg verantwortlich machte, vielleicht jenen Teil ihres Lebens, der ihr die Jugend zerstört hat, ausradieren. Sie wollte wohl die Erinnerung an Demütigung und Ekel aus ihrem Gedächtnis löschen und wieder so werden, wie sie früher in den Augen ihrer Eltern gewesen ist: jung, hübsch und lieb.

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Affekte können aber nicht nur abrupt, mit unkontrollierter Heftigkeit und elementarer Wucht, sondern auch »protrahiert«, also verzögert manifest werden. Im Gegensatz zu den als heiß und überkochend erscheinenden akuten Gefühlswallungen wirken die verzögerten wie eine »kalte Wut«. In diesem Fall kann der von quälender Eifersucht oder bohrenden Rachegedanken Betroffene die negativen Gefühle längere Zeit unterdrücken und den Ausbruch verhindern. Dies gibt ihm aber auch Zeit für eine genauere Planung und damit eine weniger blinde Tatdurchführung. Die Aggressivität kann dann viel konkreter ausgerichtet werden. Während der akute Affekt mit einem Sturm vergleichbar ist, der alles hinwegfegt und eine Spur blinder Zerstörung hinterlässt, entspricht die verzögerte Form einer Zeitbombe, deren Einsatz überlegter vorgenommen wird. Wenn es zu einem nicht genau fixierten Zeitpunkt, oft aus einem geringfügigen Anlass, zur Detonation kommt, ist die Wirkung bei erhöhter Treffsicherheit gleich verheerend. Meist sind die Folgen der bösen Kombination aus tödlicher Planung und zerstörerischer Entladung sogar noch schlimmer. Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele:

Der 32-jährige Wolfgang M. wurde von seiner Lebensgefährtin verlassen. In schwerer Eifersucht spionierte er ihr nach und stellte fest, dass sie in die Wohnung eines anderen Mannes gezogen war. Wochen später beschaffte er sich einen Arbeitsanzug und einen Werkzeugkoffer und läutete unter dem Vorwand, im Auftrag des Vermieters eine Reparatur durchführen zu müssen, an der Tür des Nebenbuhlers. Als dieser im Morgenmantel am Eingang erschien, schlug er ihm mit mehreren Hammerhieben den Schädel ein. Er verantwortete sich damit, dass er den neuen Freund seiner Frau nur einmal sehen wollte, bei dessen Anblick aber einen blinden Hass auf kommen spürte und sich gegen die Gewalt der negativen Gefühle nicht mehr habe wehren können. Die Gutachter waren sich nicht einig, ob der Affekt zu einer Aufhebung oder Einschränkung der Schuldfähigkeit geführt oder überhaupt keinen nennenswerten Einfluss auf sein Steuerungsvermögen gehabt habe. Das Gericht war sich nicht klar, ob dem Beschuldigten Mord oder Totschlag zur Last gelegt werden könnte, verurteilte ihn schlussendlich aber unter Beachtung einer allgemein begreiflichen heftigen Gemütsbewegung zu sieben Jahren Haft. Wie man sieht, gibt es für die Urteilenden einen enormen Ermessensspielraum, wenn bei einem Verbrechen starke Emotionen und Affekte im Spiel sind.

Der 21-jährige Michael F. verliebte sich in die Frau seines Bruders, welcher beruflich viel unterwegs war und nur die Wochenenden zu Hause verbrachte. Zwischen den beiden entwickelte sich eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, welche ein abruptes Ende fand, als die Frau von ihrem Gatten schwanger wurde. Nachdem sie dies ihrem heimlichen Liebhaber mitgeteilt hatte, wurde sie von diesem nach einer Aussprache mit dem Messer attackiert und tödlich verletzt. Der Täter schlitzte der bereits toten Frau den Unterleib auf, holte die Leibesfrucht heraus und warf diese aus dem Fenster. Seine Verantwortung mit einem Blackout infolge eines lang hingezogenen Affekts wurde vom Gericht nicht anerkannt. Das Urteil lautete auf lebenslange Haft und Einweisung in eine Anstalt für persönlichkeitsgestörte Rechtsbrecher.

Der 37-jährige Peter H. wartete ein halbes Jahr nach der Scheidung vor dem Arbeitsplatz seiner ehemaligen Gattin. Er war mit Fesselwerkzeug, einem Hammer, zwei Messern und einem langen Stück Stacheldraht ausgestattet. Als seine geschiedene Frau nach der Nachtschicht das Fabrikgebäude verließ, schlug er sie von hinten mit dem Hammer nieder, wickelte den Stacheldraht um ihren Hals und erdrosselte sie. Der Version der Verteidigung, dass der Angeklagte beim Anblick seiner Exfrau durch die zermürbende Kraft seiner Gefühle einen »Nervenzusammenbruch« erlitten habe und deswegen nicht schuldfähig sei, konnte das Gericht nicht folgen und verurteilte ihn zu lebenslanger Haft.

Alle drei Beispiele belegen die große, aber nicht ausschließliche Bedeutung von akuten, heftigen Gemütsbewegungen bei schrecklichen Aggressionsdelikten. Es liegt auf der Hand, dass ein derartiges Tatverhalten nicht nur durch Emotionen und Affekte hervorgerufen wird, sondern auch andere Faktoren eine bedeutsame Rolle spielen. Gefühlswallungen können manches, aber nicht alles entschuldigen, es gibt im vielwurzeligen Motivbündel einer Gewalttat neben Enttäuschung, Eifersucht, Zorn und Wut – auch das Böse.

Mehr noch als akute Emotionen können längerfristige Gefühlseinstellungen und Entwicklungen bösartige Verhaltensweisen auslösen. Während dies bei Neid, Eifersucht, Hass, Wut und Rache gut nachvollziehbar ist, wird die kriminogene Potenz eines scheinbar unbedeutenden, alltäglichen Gefühls maßlos unterschätzt, nämlich jenes von Kränkung und Gekränktheit.

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Die unterschiedlichsten Formen der Kränkungen, von Beschämungen und Entwertungen bis zu Beleidigungen und Demütigungen reichend, zählen zu den wichtigsten, jedoch am wenigsten beachteten Auslösern von bösem Denken und Verhalten. Zwar sind Kränkungen eher ein sozialer Prozess und eine sich zwischen kränkender und gekränkter Person abspielende Interaktion als ein reines Gefühl, doch liefern sie den emotionalen Hintergrund für viele böse Taten. Kränkungen werden in Psychotherapie, Kriminologie und Wissenschaft stiefmütterlich behandelt. Es gibt nicht einmal eine allgemein anerkannte Definition oder eine eigene medizinische Diagnose. Da es sich bei Kränkungsauslösern objektiv meist um Kleinigkeiten handelt, wird deren subjektive, oft lebensbestimmende Bedeutung für den Einzelnen übersehen, was Verdrängung und Tabuisierung zur Folge hat. Kränkungen als nachhaltige Erschütterungen des Selbst und seiner Werte, wie eine Definition lauten könnte, zielen immer auf das innerste Ich ab und lösen stets die menschliche Urangst vor Liebesmangel und Liebesverlust aus. Da die Gekränkten ihr Problem aus Scham oft nicht zur Sprache bringen, entwickelt sich ein innerer Zermürbungsprozess. Dieser kann – nach außen unbemerkt – zu Depressionen und psychosomatischen Leiden, zu Sucht und Verbitterung, aber auch zu Rachegedanken und Hass führen. Gleich dem in der Chaostheorie beschriebenen Modell des Flügelschlages eines Falters in Amazonien, der Wochen später einen Wirbelsturm in Texas auslösen kann, bilden Kränkungen die Wurzeln von Zwietracht, von schweren Verbrechen, von Amok und Terror:

Am 24. März 2015 brachte der damals 27-jährige Andreas L. als Co-Pilot einen Airbus A320 in den französischen Alpen bewusst zum Absturz, indem er das mit weiteren 149 Personen besetzte Flugzeug gezielt gegen einen Berg flog. Die Ermittlungen ergaben, dass Andreas L. in den letzten Jahren wegen Sehstörungen, Angst vor Erblindung sowie Depressivität insgesamt 41 Ärzte aufgesucht hatte und ihm verschiedenste Medikamente, großteils Psychopharmaka, verschrieben wurden. Er wurde zum Teil als psychisch labil und nicht flugtauglich beurteilt und öfters krankgeschrieben. Wie sehr er sich im Vorfeld mit Suizidgedanken beschäftigt hatte, brachte die Überprüfung seines Tablet-PCs zutage. Er hatte sich ausführlich über Selbsttötung informiert und nach Valium, Zyankali und tödlichen Medikamentencocktails gesucht. In seinem Leichnam wurden Reste von antidepressiven und schlafanstoßenden Medikamenten gefunden. Da davon auszugehen ist, dass Depressionen und Angststörungen zwar mit einem erhöhten Suizidrisiko verbunden sind, jenes der Fremdgefährdung aber reduzieren, ist das Hauptmotiv für diese Tragödie wohl im »Fanal eines Gekränkten« zu suchen. Offensichtlich versuchte Andreas L. aus Angst um seinen geliebten Job, seine Probleme zu verheimlichen. So auf sich allein gestellt, dürfte er in seiner depressiven Gestimmtheit nicht nur Aggressionsgefühle gegenüber seinem Dienstgeber, sondern auch gegen die als kalt und mitleidslos erlebte Umwelt, die er in den Passagieren präsentiert sah, entwickelt haben.

Bei großen Untersuchungen von Amokläufern und Massakristen konnten oft keine schwerwiegenden Motive, sondern allenfalls geringfügig wirkende Auslöser ermittelt werden. Durchgehend fand sich aber in den Untersuchungen bei den nach außen meist »cool« wirkenden Tätern eine nicht erkannte Gekränktheit.

Beleidigungen, welche nichts anderes sind als die gesellschaftlich anerkannte Form von Kränkungen, sind in Ländern mit noch hochstehendem Ehrbegriff eine der Hauptursachen von sogenannten Ehrenmorden und Blutrache. In diesen sich manchmal über Generationen hinziehenden Verbrechen wird die ganze destruktive Macht der Kränkung ersichtlich. Fast immer liegt der Anfang in einer Beleidigung der Familie, in unbedeutenden Auseinandersetzungen, in einer kleinen Ungerechtigkeit oder in einem nichtigen Konflikt. Hinter den Rachegedanken stehen immer Verletzungen des Gerechtigkeitsgefühls und empfundene Angriffe auf den Selbstwert. Wie dramatisch die Auswirkungen dieser scheinbaren Bagatellauslöser sind, zeigt eine Schätzung der UNO, nach welcher weltweit noch mehr als 10 000 Ehrenmorde verübt werden und die Blutrache jährlich über 5000 Todesopfer fordert.

Noch dramatischer präsentiert sich die Kränkung als Wurzel von kriegerischen Auseinandersetzungen. Nach der in letzter Zeit besonders von der deutschen Forscherin Evelin Gerda Lindner forcierten Demütigungshypothese lassen sich zahlreiche große Kriege, so der Erste und Zweite Weltkrieg, durch diese erzwungene Erniedrigung mit Verletzung von Stolz, Ehre und Würde der späteren Täter erklären.

So ist es wohl nicht weit hergeholt, wenn man als wesentlichen Auslöser des Ersten Weltkrieges die Beleidigung sieht, welche dem mächtigen Habsburger Reich durch das Attentat auf den Thronfolger im kleinen Serbien widerfahren ist. Ebenso ist ersichtlich, dass Adolf Hitler in der Kriegspropaganda die ihm aus eigenem Erleben bestens bekannten Demütigungsgefühle bei den Massen angesprochen und dadurch ein wesentliches Motiv für das größte Verbrechen der Menschheit geliefert hat. Demütigungen als folgenschwerste Form der Kränkung sind seit jeher fester Bestandteil von Machtausübung, Unterdrückung, Sklaverei, von Kriegsführung, Verbrechen – und des Bösen.