»Böse Menschen müssen das Böse aus Haß gegen die Bösen tun.«
Novalis
Zu den schwerwiegendsten Verbrechen, die heute nichts an Aktualität verloren haben, zählen Amok, Terror und Massaker. Die Begriffe überschneiden sich klar und werden meist unscharf gebraucht, obwohl sie sich erheblich unterscheiden. Deshalb ist eine exakte Differenzierung der drei Unterformen dieser »Trias des Schreckens« erforderlich. Als Faustregel gilt, dass Amoktäter in vielen Fällen schwere psychische Störungen aufweisen, wohingegen Terroristen an keinen Behinderungen oder psychotischen Erkrankungen leiden. Bei Massakristen ist als auffälligster Befund meist nur deren psychische Unauffälligkeit zu finden.
Unter Amok wird nach der WHO-Definition eine plötzliche, willkürliche, nicht provozierte Gewaltattacke mit mörderischem oder zumindest erheblich zerstörerischem Verhalten und häufigem Umschlag in eine suizidale Reaktion verstanden. Obwohl der Begriff aus der malaiisch-indonesischen Kultur stammt, stellt die klassische »Raserei« ein interkulturelles Phänomen dar. In Nordeuropa spricht man von »Berserkerei«, in den indianischen Kulturen Nordamerikas von »li`aa«, in Südamerika von »Colerina«. Amok tritt typischerweise als einzelne Episode auf, wird meist amnesiert und verläuft in drei Stadien, welche in einem schlafähnlichen Zustand mit totaler Erschöpfung und Erstarrung oder in der Selbsttötung enden. Amokartiges Verhalten kommt fast ausschließlich bei Männern vor, als Risikoalter gilt die Phase zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr.
Amokläufer leiden häufig an schweren psychischen Störungen, an hirnorganisch verursachten Dämmerzuständen, an Wahnerkrankungen und pathologischen Räuschen, aber auch an narzisstischen Kränkungen und tranceartigen Zuständen. Fast immer kann eine belastende Vorgeschichte mit emotionalen Zurückweisungen, Beleidigungen, Mobbing und Bullying oder anderen kritischen Lebensereignissen nachgewiesen werden. Als typische Amok-Persönlichkeiten gelten nachgiebig-gehemmte, aber auch empfindlich-narzisstische und leicht erregbare Charaktere. Amok, also das »blindwütige Agieren«, ist ein zeitloses Phänomen. Bei den fälschlich als Schulamok bezeichneten Anschlägen handelt es sich nicht um diese pathologische Form, sondern vielmehr um ein geplantes Massaker.
Der Terrorismus ist ein zunehmendes häufiger auftretendes Phänomen mit frühen historischen Wurzeln. Er wird definiert als eine »Gewaltaktion gegen eine politische, religiöse oder soziale Ordnung, um eine Wendung zu erzwingen«. Terrorismus ist kalkulierter Einsatz von Gewalt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Bei den Tätern handelt es sich meist um eine kleine Gruppe mit hierarchischer Gliederung. Terrorismus weist viele Überlappungen mit organisierter Kriminalität und Sektenwesen auf, die Motive liegen in nationalistischen, ideologischen, z. T. sogar staatlich geförderten Ideen. Terrorismus ist eingebunden in einen soziokulturellen oder religiösen Kontext. Das Wesen des Terrorismus verändert sich bei wandelnden Bedingungen und globalen Konstellationen dramatisch. Heute sind vor allem die suizidterroristischen Attacken angestiegen, d. h., die Täter nehmen den eigenen Tod bewusst in Kauf.
Im Gegensatz zum klarer werdenden Bild von der Psyche der Amokläufers konnten über jene der Terroristen erst in jüngster Zeit fundiertere Kenntnisse gewonnen werden. Zuvor war es kaum möglich, wissenschaftliche Untersuchungen an Terrorattentätern durchzuführen, nicht nur, weil die meisten bei den Anschlägen ums Leben kamen. Da sich Terroristen psychisch nicht gestört fühlen und jegliche Form der eingeschränkten Verantwortung von sich weisen, verweigern sie die Zusammenarbeit mit Psychologen, in denen sie zudem Repräsentanten des verhassten »Systems« sehen. So haben nur wenige Psychoexperten Gelegenheit gehabt, Mitglieder von terroristischen Vereinigungen zu interviewen.
Nach allen Untersuchungen gibt es keine Hinweise, dass eine typische Terroristenpsyche existiert und dass Terroristen psychisch wirklich krank sind. Sie sind keinesfalls dumm oder schwer psychopathisch, sondern in der Regel intelligent und gebildet. Von ehemaligen Kollegen, von ihren Vermietern oder Mitstudenten wurden die späteren Attentäter oft als freundlich, zurückhaltend und unauffällig beschrieben. Fanatischer Aktivismus ist kaum jemandem aufgefallen. Man kann lediglich ableiten, dass die Akteure häufig unter gestörtem Selbstwertgefühl leiden und unter bestimmten gruppendynamischen Bedingungen zum polarisierend-absoluten Denken neigen, überwertige Ideen entwickeln, im Laufe der Zeit einen zunehmenden Realitätsverlust erleiden und aus dieser Haltung heraus zu extremen Gewalttaten bereit sind.
Ähnlich wie Amokläufer sind Terroristen von ihrer psychosozialen Situation und ihrem Schicksal oft enttäuscht, haben eher gesellschaftspolitische als persönliche Kränkungen erlitten und sind auf unterschiedlichste Weise frustriert worden. Meist fehlen ihnen Lebensziele und Lebenssinn. In den erhobenen psychologischen Profilen von Terrorattentätern zeigen sich chronische Identitätskrisen, gestörte Partnerbeziehungen, hohes Aggressionspotenzial sowie Neigung zu Egozentrizität und Allmachtsgefühlen, somit Faktoren, die in verschärfter Form auch bei Serienkillern zu finden sind. Es ist aber zu fürchten, dass viele Terrorakte von psychisch nicht gestörten Menschen völlig rational geplant werden, womit wir wieder bei der bösen Tat im Sinne dieses Buches angelangt sind.
Bei Attentätern aus fremden Kulturen erweisen sich nach den vorliegenden Untersuchungen persönliche Entfremdung in der spätadoleszenten Entwicklung, gesellschaftliche Marginalisierung, Probleme in der psychosozialen Identitätsfindung, Sehnsucht nach bedeutungsvollem Leben, selbstaufopfernder Heroismus und die Steuerung über gleichgesinnte »Brüder«, die mit internationalen Terrororganisationen locker vernetzt sind, als Risikofaktoren.
Bei der psychologischen Analyse der Einzelfälle kann man bei Terroristen folgende innerpsychischen Abläufe finden:
Um eine traumatisierende Erziehung überstehen zu können, wird eine Gefühlsanästhesie entwickelt, welche die spätere Grausamkeit erklärt. Frühe Spaltungen führen zu Dissozialität, welche wiederum in Radikalisierung mündet. Wenn jemand in einem pathologischen Milieu aufwächst, können sich Gefühle fehlender Geborgenheit dominieren, wodurch die Sehnsucht nach einer starken Gruppe wachsen kann. Demütigungen führen oft zu ohnmächtiger Wut, in welcher die Basis für Hass und blinde Aggressivität liegt. Diskriminierungen bewirken Kränkungsreaktionen, gegen die durch Streben nach einer narzisstischen Position angekämpft wird. Nicht selten begegnen potentielle Terroristen der eigenen Unsicherheit durch Fanatismus, welcher häufig in eine »gerechte Idee« mündet, für die man sogar sein eigenes Leben aufgeben will. Dazu passe die Worte von Friedrich Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft: »Der Fanatismus ist nämlich die einzige Willensstärke, zu der auch die Schwachen und Unsicheren gebracht werden können«.
Diese innerpsychischen Abläufe sind in der folgenden Grafik dargestellt:
Emotionale Verwahrlosung → Gefühlsanästhesie → Grausamkeit
Frühe Spaltung → Dissozialität → Radikalisierung
Pathologisches Milieu → fehlende Geborgenheit → starke Gruppe
Demütigung → ohnmächtige Wut → Hass, Aggressivität
Diskriminierung → Kränkungsreaktion → narzisstische Position
Unsicherheit → Fanatismus → gerechte Idee
Wenn man von der Psychologie des Terrors spricht, sind gruppendynamische Faktoren ganz besonders zu beachten. Terrorismus ist fast immer ein Eskalationsprozess, der durch die Gruppenideologie und die gruppenbezogene Legitimation erzeugt wird. Durch die immer intensivere Einbindung des potenziellen Attentäters in die nach außen abgeschottete Terrorzelle verringert sich sein Kontakt zum Netzwerk der Familie und der bisherigen Freunde. Die Kerngruppe mit ihrer Ideologie, ihrer hierarchischen Gliederung und einem meist charismatischen Führer werden zum Lebensmittelpunkt und -inhalt. Als Mitglieder einer Elitegruppe mit hohem Konformitätsdruck denken die potenziellen Terroristen in einseitigen Klischees und entwerfen ein vereinfachtes Schwarz-Weiß-Weltbild. Sie sind überzeugt, als Minderheit mit Waffengewalt eine bessere Welt zu errichten. Ideen sind ihnen wichtiger als Menschen. Vermutlich haben potenzielle Terroristen durch bestimmte Ereignisse das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Systems, in welchem sie sozialisiert wurden, verloren und entwickeln deswegen solche Bedrohungs- und Hassgefühle, sodass sie terroristisches Agieren als gerechtfertigt ansehen können. Terrorismus kann man auch als Protest gegen Säkularisierung und Pluralismus betrachten.
Die sich in Terrorgruppen entwickelnde Psychodynamik führt nach Otto Kernberg bei den Mitgliedern zu einer sogenannten »narzisstischen Regression«, die durch charismatische Führungsgestalten begünstigt wird. Ideologische Konflikte verdichten sich in der Gruppe zu irrationalen Verschwörungsmythen. Der Glaube an absolute Wahrheiten und Dogmen fördert das eigene Sicherheitsgefühl der Gruppenmitglieder. Terroristen pflegen oft einen geradezu kultischen Messianismus bei gleichzeitig weltlichen Machtansprüchen. Ihren eigenen Tod interpretieren sie in märtyrerhafter Weise als Aufopferung für die Gesellschaft und versprechen sich damit den Eingang in die kollektive Unsterblichkeit.
Oft wird beim Terrorismus die Rolle der Religionen in der Entstehung des Bösen hinterfragt. Bekannt ist das Wort, wonach eine »Kultur der Grausamkeit« durch Schaffung eines »gekränkten, rächenden und unerbittlichen Gottes« entsteht. Tatsächlich müssen die religiösen Lehren oft als Rechtfertigung für das verbrecherische Handeln herhalten. Durch Dämonisierung und Dehumanisierung des Gegners rechtfertigt sich die eigene Grausamkeit. Schließlich werden in der Religion historisch begrenzte Konflikte in die Ewigkeit projiziert: Durch Heilsaussicht lassen sich viele Belastungen besser ertragen. Zudem ermöglicht religiöse Gruppenzugehörigkeit die Mobilisierung zusätzlicher sozialer Unterstützung, eventuell sogar die Bereitstellung eines organisatorischen Netzwerkes.
Die Tötung von anderen wird von den Terroristen vor einem Hintergrund der Bedrohung durch die Verfolgung als »Selbstverteidigung« verstanden. Im Falle weltanschaulich motivierter Attentäter kommen religiöser Eifer sowie Glaube an eine Belohnung im Jenseits und an ein späteres Leben im Paradies hinzu. Die Opfer von Terroranschlägen werden wie bei jeder bösen Tat entmenschlicht. Sie werden willkürlich ausgewählt, werden schutzlos überrascht und haben keine Chance, zu fliehen, zu kämpfen oder um ihr Leben zu betteln. Terroristen sehen sich nicht als Verbrecher, sondern als Kämpfer für eine Idee. Dabei sind sie sich sicher, dass diese in der Gruppe auch nach ihrem Tod weiterleben wird. Nie beurteilen sie ihr Handeln als böse.
Die schreckliche Trias, die der bösen Rache, der Suche nach dem bösen Ruhm und in manchen Fällen auch einer fanatischen oder wahnhaften Störung entspringt, wird durch das, was man als Massaker bezeichnet, vervollständigt. Das Wort wird vom altfranzösischen Ausdruck macacre, der so viel wie »Schlachthof« bedeutet, abgeleitet. Heute wird mit dem Begriff der Massenmord unter besonders grausamen Umständen, ein aus Rache oder Hass verübtes Gemetzel oder ein Blutbad bezeichnet. Über die Psyche von Massakristen ist einiges aus den Untersuchungen an NS-Tätern und anderen Kriegsverbrechern bekannt. Das Böse hat hier keine einheitlichen Wurzeln, sondern kann auch von ganz normalen Männern verübt werden. Generell scheinen aber Personen mit niedriger Intelligenz, verrohtem Gemüt und psychopathischen Charakterzügen häufiger vertreten. Dazu kommen regelhaft die verhängnisvollen Einflüsse bösartiger Ideen, oft auch jene hierarchischer Kommandostrukturen und sich gegenseitig verstärkender Gruppeneinflüsse.
Massaker kommen sowohl in friedlichen Zeiten als auch in Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen vor. Wie aus diversen Meldungen entnommen werden kann, ist das Zeitalter der Massaker nicht vorbei. Am 5. Mai 2009 erschoss im türkischen 250-Seelen-Dorf Bilgeköy ein Killerkommando, bestehend aus fünf Männern eines verfeindeten Clans, 44 Menschen, darunter 6 Kinder und 17 zum Teil schwangere Frauen. Die Massakristen schlachteten die zu einer Verlobungsfeier versammelten Menschen regelrecht ab, dies alles, weil die Braut einem Mann aus einer anderen Familie zugesprochen worden war.
Im Krieg versteht man unter einem Massaker die politisch oder ethnisch motivierte Hinrichtung von Zivilpersonen, paramilitärischen Kräften oder Soldaten, die von bewaffneten Einheiten ohne militärische Notwendigkeit außerhalb der eigentlichen Kriegshandlungen verübt wird. Eines der grauenhaftesten Kriegsmassaker wurde am 16. März 1968 von einer Gruppe amerikanischer Soldaten im vietnamesischen Dorf My Lai durchgeführt. Sie ermordeten, nachdem sie zahlreiche Frauen vergewaltigt hatten, 504 Zivilisten, darunter 182 Frauen, 172 Kinder und 60 Greise. In ihrem Blutrausch töteten die Soldaten sogar sämtliche Tiere des Ortes. Das Massaker sollte vertuscht werden, wurde aber nach 18 Monaten über einen ausführlichen Bericht im »Life«-Magazin publik. Nur vier Soldaten wurden vor ein Gericht gestellt, der Befehlshaber wurde 1971 zu lebenslanger Haft verurteilt, aber bereits 1974 begnadigt.
Wie sehr sich die letzten Endstrecken von Amok, Terror und Massaker in Ablauf und Folgen – auch für die Angehörigen – ähneln, verdeutlicht eine erschütternde Beschreibung des Massakers von Srebrenica durch den Dramatiker Felix Mitterer. Sie enthält in wenigen Sätzen all das, was das Böse ausmacht:
»General Mladic’ lenkt in manischer Hochstimmung seinen roten Sportwagen von einem Hinrichtungsplatz zum nächsten. Die serbischen Soldaten bilden eine Gasse, durch die man die Gefangenen treibt. Von links wird mit einem eisernen Knüppel zugeschlagen, von rechts saust eine Axt in den Rücken des Wehrlosen. Aber das dauert alles zu lang. Die Maschinengewehre rattern los. Dann kommen die 15.000 Männer an die Reihe, die schon vor dem Einmarsch der Serben aus Srebrenica geflüchtet waren. Ausgehungert, durstig, übermüdet, wie im Delirium ziehen sie in einer langen Karawane über die Höhen. Aber es warten die Maschinengewehre der Serben auf sie. Wohlgezielte Salven aus dem Hinterhalt töten Tausende. Viertausend von ihnen ergeben sich, werden in Busse und Lastwagen verfrachtet und zu einem Fußballplatz gebracht. Ein amerikanischer Aufklärungssatellit macht ein Foto von dem mit Leichen übersäten Platz. Wenige Tage später fotografiert ein amerikanischer Pilot aus seinem Flugzeug dieselbe Stelle – inzwischen war der Platz umgegraben, bedeckt von frischer Erde.
Ein alter Mann überlebt die Exekutionen. Er sagt vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag als Zeuge aus: ›Ich stehe hier wie ein verdorrter Baum. Ich könnte von meiner Erde leben, mit meinen Söhnen. Aber alle Äste sind mir abgestorben.‹«