»Jeder Vater ist Laios, Erzeuger des Ödipus.«
Franz Werfel
Der 32-jährige Familienvater Christoph L. wollte sich einen gemütlichen Fernsehabend machen. Die Tagesarbeit war erledigt, seine Frau war zur wöchentlichen Chorprobe gegangen, die drei Kinder waren bereits zu Bett gebracht worden. Obwohl er sich sonst beim Programmdurchlauf nie für »alte Schinken« interessierte, blieb er diesmal bei einem Heimatfilm aus den 1960er-Jahren hängen. Es handelte sich um die Verfilmung des Romans Via Mala von John Knittel mit Gert Fröbe und Christine Kaufmann in den Hauptrollen. Das düster-gewalttätige Familiendrama aus dem schweizerischen Kanton Graubünden erzählt die Geschichte eines Sägemüllers, welcher in der einsam-harten Bergwelt zum aggressiven Trinker und Familientyrannen geworden war.
Christoph L. fühlte sich durch die den Film beherrschende Gewalttätigkeit, die permanente Angst und die schwermütige Stimmung, die alles überwältigenden Schuldgefühle und die tragische Geschichte, vor allem aber durch die Figur des Vaters seltsam angesprochen. Dieser hielt die Angehörigen wie Sklaven, demütigte und schlug sie, gab ihnen keinerlei Unterstützung, stahl den Kindern das letzte Geld, ging stets mit ungeheurer Brutalität vor und ermordete seine kleinen Zwillingstöchter. Christoph L. sah, wie der rohe, grausame Mann seine Familie im tiefen Hochgebirgswinter im einsamen Berghof im Stich ließ und zu seiner Geliebten in ein Häuschen im Tal zog. Die Ausschweifungen und alkoholischen Exzesse des Despoten, seine schweren Aggressionen und sadistischen Quälereien, aber auch die Hilflosigkeit und Verzweiflung der Opfer lösten bei Christoph L. Betroffenheit und Bedrücktheit aus. Der in eine unentrinnbare Katastrophe mündende Verlauf der Tragödie schien in ihm etwas anzurühren, etwas, das tief in seinem Inneren saß, mehr als nur einen Stachel, ein nicht verarbeitetes Problem, das er lange verdrängen konnte, ihn aber nie ganz losgelassen hatte.
Mit steigendem Interesse und wachsender Unruhe verfolgte L., wie sich die geknechtete Frau mit den Kindern entschloss, den Tyrannen zu töten, wie der älteste Sohn die Verantwortung übernahm und wie sich der Zuschauer immer unerbittlicher die Frage stellen musste, wer Opfer und wer Täter ist und welche Schuld schwerer wiegt, die moralische oder die rechtliche …
Christoph L. fand in der Nacht keinen Schlaf. Am nächsten Tag verabschiedete er sich schon früh von seiner Gattin und teilte ihr mit, dass er seinen erkrankten Vater besuchen wolle. Dieser hatte sich vor Jahren von der Familie getrennt und lebte allein in einer 500 Kilometer entfernten Stadt. Christoph L., von Beruf Schreinermeister und in der Freizeit Sportschütze, nahm eine seiner Waffen, fuhr zügig und ohne eine einzige Rast zu seinem Vater. Während der Anreise verständigte er ihn telefonisch von seinem Besuch. Er wolle mit ihm eine Erbschaftsangelegenheit besprechen. Nach der Ankunft lud er den alten Mann zu einer kleinen Spazierfahrt ein. Bei einer Feldhütte setzten sie sich nieder und begannen das Gespräch. Nach wenigen Minuten zog Christoph L. seine Waffe und tötete den Vater mit mehreren Schüssen. Die Leiche deckte er mit Zweigen zu, machte sich auf den Heimweg und verständigte auf halber Strecke die Polizei …
Bei den Einvernahmen führte er aus, dass er durch die Tat sich und die ganze Familie vom Vater befreien wollte. Dieser sei hartherzig, rücksichtslos und tyrannisch gewesen, habe die Kinder nie geliebt und die Mutter gequält. Christophs erste Erinnerung befasse sich mit einem Vorfall, bei dem der Vater die Mutter geschlagen und diese dann aus dem Mund geblutet habe. Die Kinder habe er wegen Kleinigkeiten hart bestraft und sie ständig entwertet. Tagtäglich habe man von ihm gehört: »Du bist nichts, du kannst nichts und du wirst nie etwas sein!« Schon als Kind habe sich Christoph geschworen, dass er den Vater umbringen werde: »Bereits mit fünf Jahren hatte ich solche Gedanken, daran erinnere ich mich genau!«
Die Kindheit sei für Christoph L. ein einziger Horror gewesen. Er habe nie das Gefühl der Geborgenheit gespürt, habe in ständiger Angst vor den Gewalttätigkeiten des Vaters und in nie abklingender Sorge um die Mutter gelebt. Nie habe er aus Furcht vor den Exzessen des Vaters andere Kinder einladen können. Dessen Verhalten sei durch steigenden Alkoholmissbrauch noch brutaler geworden. Christoph habe sich geschämt und sich irgendwie schuldig gefühlt. Das einzige Gefühl gegenüber seinem Vater sei Angst und nochmals Angst gewesen. Auch später habe er sich stets mit dessen Demütigungen beschäftigen müssen. Er wisse nicht, wieso er es nicht geschafft habe, sich vom Vater völlig zu distanzieren. Dieser habe in seinem ganzen Leben einen »Dreh- und Angelpunkt« dargestellt, mit dem er sich immer habe beschäftigen müssen. Der Vater sei furchterregend brutal und tyrannisch gewesen: »Er war einfach ein böser Mensch.«
Als Christoph L. fünfzehn Jahre alt gewesen sei, habe sich der Vater von der Familie getrennt, was alle als sehr befreiend empfunden hätten. Obwohl die Verbindung fast abbrach und die Kontakte zu ihm selten wurden, habe Christoph sehr oft an ihn gedacht. In den letzten Wochen hätten sich seine Grübeleien intensiviert. Er sei depressiv geworden, habe Todeswünsche gehabt, habe schlecht geschlafen und sich ständig mit all dem, was der Vater ihm, seinen Geschwistern und der Mutter angetan habe, beschäftigt. Es sei ihm wieder der Gedanke gekommen, man sollte das Übel eigentlich bei der Wurzel packen und den Vater töten. Seine Gedanken hätten nach dem Film nur noch um die Frage gekreist: »Wie tue ich es?« So habe er sich einen »Sechs-Punkte-Plan« zurechtgelegt, den er am nächsten Tag in die Tat umgesetzt habe.
Der erste Punkt sei die falsche Information seiner Frau gewesen. Er habe ihr gesagt, der Vater habe angerufen und von gesundheitlichen Problemen berichtet. Er habe Christoph gebeten, so rasch wie möglich zu ihm zu kommen.
Der zweite Punkt habe das Auftanken des Autos betroffen, der dritte die Fahrt zum Firmengebäude, um die Waffe zu holen. Der vierte Punkt sei die mehrstündige Fahrt zum Wohnort des Vaters gewesen, an die er sich teilweise gar nicht mehr erinnern könne. Der fünfte Punkt habe die Tötung des Vaters, der sechste die Meldung bei der Polizei beinhaltet. Genau nach diesem Plan sei er dann vorgegangen: »Ich war programmiert, es gab kein Zurück.«
Beim Eintreffen habe er mit dem Vater Höflichkeiten ausgetauscht, ehe dieser begonnen habe, über die Mutter zu schimpfen. Christoph habe ihn eingeladen, hinaus aufs Land zu fahren und dort in Ruhe über das Erbe zu sprechen. Das Gespräch sei dann auf die familiäre Situation in der Kindheit gekommen, Christoph habe über seine Ängste erzählt, der Vater sei irgendwie irritiert gewesen. Sie hätten sich in die Augen geblickt und in diesem Moment habe der Vater gewusst, dass jetzt der Zeitpunkt der Klärung gekommen sei, dass es kein Entrinnen gebe, dass sein Sohn nun »das tun werde, was er tun müsse«. Obwohl sie kein Wort austauschten, hätten beide genau Bescheid gewusst. Es habe eine friedliche, beinahe versöhnliche Stimmung geherrscht.
Er habe seine Waffe gezogen, der Vater habe kein Wort gesagt, dann sei der erste Schuss gefallen. Der Vater sei im Unterleib getroffen worden und habe laut aufgeschrien. Jetzt habe er gezielt fünf bis sechs Schüsse auf den zusammengesunkenen Körper abgegeben, und zwar in Richtung Brust. Er hätte es nicht geschafft, ihm in den Kopf zu schießen. Christoph habe sich anschließend, so eigenartig dies klinge, »völlig frei« gefühlt und ein sehr schönes Gefühl gehabt: »Ich war von einer unendlichen Last befreit.«
Auf die Frage, ob er sich schuldig fühle, meinte Christoph L.:
»Nach dem Gesetz ja, da habe ich eindeutig verstoßen. Dies war für mich aber nicht wichtig, ich wollte ihn töten, um die Familie zu erlösen«. Er sei nicht berauscht oder verwirrt gewesen und habe ganz klar gewusst, was er tue und dass seine Tat ein Verbrechen sei. Er glaube aber, dass in seiner Gefühlswelt etwas nicht stimme, da er als Kind nie Liebe bekommen habe und ohne Liebe aufgewachsen sei. Er könne nicht richtig traurig sein und nicht weinen. Dies habe sein Vater verschuldet, dafür habe er bezahlt. Er habe kein schlechtes Gewissen und sei sich ganz sicher, dass er eigentlich im Namen der Familie gehandelt habe. Nur manchmal zweifle er, ob es keine andere Lösung gegeben hätte. Er denke sich aber, dass er mit dem Vater jetzt »quitt« sei. Dieser habe einen kurzen und schmerzlosen Tod gehabt und sei in Frieden geschieden. Er empfinde jetzt dem Vater gegenüber keine Hassgefühle mehr und sei mit ihm vollkommen ausgesöhnt.
Tötungen eines Elternteils durch Kinder haben einen ganz anderen psychologischen Hintergrund als sonstige Fälle von Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit tödlichem Ausgang. In allen Fällen weisen die Täter erhebliche psychische Probleme auf, meist liegt zudem eine pathologische Familiensituation vor. Nach internationalen Untersuchungen ist die Hälfte jener Kinder, die einen Elternteil töten, psychisch krank, meist leiden sie an einer Schizophrenie. Beim Großteil der restlichen Fälle liegen jahrelange Konfliktsituationen vor, in welchen das erwachsen gewordene Kind sich in einer Art Notwehr oder auch aus Rache zur Tötung hinreißen lässt. Gerade bei der Tötung des Vaters durch den Sohn spielen aber auch tiefenpsychologische Ursachen eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Der allgemeine Begriff Parrizid bedeutet Tötung eines Elternteils und kann unterteilt werden in Patrizid (Tötung des Vaters) und Matrizid (Tötung der Mutter). Derartige Taten sind relativ selten und umfassen zirka zwei bis drei Prozent aller Tötungsdelikte, in Kanada immerhin 6,3 Prozent. Wegen des religiös und kulturell bedingt starken Schutzprivilegs, das Vater und Mutter in unserer Tradition genießen, ist von einer besonders hohen Hemmschwelle für aggressive Handlungen gegen die Eltern auszugehen. Umso mehr erschrecken Tötungshandlungen an den eigenen Eltern, weshalb immer intensiv nach psychischen Störungen, durch welche die Hemmschwelle gegen den Angriff auf die Eltern unterminiert wurde, gefahndet wird. Das Strafrecht hat die Vatertötung in früheren Zeiten sehr hoch sanktioniert. Erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die besondere Situation der Täter von den Gerichten entsprechend berücksichtigt und die Prüfung eines entschuldigenden Notstands oder einer psychischen Beeinträchtigung zum Zeitpunkt der Tat angeregt. Obwohl 85 Prozent der Täter, die einen Elternteil töten, männlichen Geschlechts sind, unterscheiden sich diese in vielen Bereichen deutlich von der Großzahl anderer, besonders jugendlicher Gewalttäter. Während Letztere oft durch verschiedenartige Formen von Delinquenz, durch Verwahrlosung oder dissoziale Verhaltensweisen auffallen, weisen Elternmörder in ihrer Vorgeschichte keine Vorverurteilungen und kaum asoziale Züge auf. Sie stammen meist aus höheren sozialen Schichten als der Großteil delinquenter Jugendlicher und Heranwachsender und sind in der Regel gut gebildet.
Bei Patrizid und Matrizid finden sich im Detail unterschiedliche Motive. Meist lässt sich jedoch für beide Formen ein Ursachenbündel aus Angst, Rache und Flucht beziehungsweise Befreiungswünschen feststellen. Selbst bei psychotisch motivierten Parriziden sind diese Zusammenhänge häufig zu erkennen. Bis zu 60 Prozent aller Elterntötungen werden von psychotischen Kindern begangen, umgekehrt betreffen 20 bis 34 Prozent aller Tötungen psychosekranker Menschen einen Elternteil. Das heißt aber auch, dass 40 bis 50 Prozent jener Kinder, die einen Elternteil töten, nicht psychisch krank sind.
Nachvollziehbar sind am ehesten Fälle, in denen ein Vater, der sich über Jahre als Familientyrann gebärdet, von einem verzweifelten Sohn, der sich in die Rolle des Beschützers gedrängt fühlt, getötet wird. Dieser glaubt, keine andere Möglichkeit zu sehen, die Mutter, die Geschwister und sich selbst von den Quälereien des Vaters zu befreien. Man spricht dann von einer Via-mala-Situation, benannt nach dem bekannten Roman von John Knittel (1934).
Manchmal ist die Kommunikation zwischen Eltern und Kind durch »doublebind«, also Überprotektion und Bevormundung bei gleichzeitiger Ablehnung und Zurückweisung, oder Unberechenbarkeit derart gestört, dass angemessene Ausweichmöglichkeiten und Konfliktlösungen für die Kinder nicht mehr erkennbar sind und eine gewaltsame Lösung als einziger Ausweg erscheint. In seltenen Fällen von Elterntötungen wird das Kind als Erfüllungsgehilfe eines Elternteils missbraucht. Am häufigsten finden sich jedoch körperlicher Missbrauch der Kinder durch einen Elternteil und die Unfähigkeit des anderen Elternteils, das Kind vor den Übergriffen zu schützen. Daraus resultieren sich über lange Zeit aufbauende Spannungszustände sowie Gefühle von Ohnmacht, Wut und Angst gegenüber dem als tyrannisch und quälend erlebten Elternteil. Der zweite Elternteil – meist die Mutter – wird in tragischen Fällen ebenfalls zum Opfer, wenn die Jugendlichen bei der Tat ertappt werden und ihre Entdeckung vermeiden wollen. Einige Studien belegen, dass Tötungen von Vätern häufiger vorkommen als jene von Müttern, die meisten Untersuchungen sehen jedoch keinen Unterschied. 40 Prozent der psychisch Kranken, die einen Elternteil töteten, haben ihr späteres Opfer schon zuvor körperlich attackiert. Die Nachuntersuchung dieser Täter nach der Entlassung ergab eine Rückfallrate mit Gewalttaten von 3,8 Prozent. Sie war damit deutlich niedriger als jene der Vergleichsgruppe von Tätern, die Fremde getötet hatten, bei denen sie 11,8 Prozent betrug.
Die Vatertötung ist ein wichtiges Thema der Weltliteratur, so im König Ödipus von Sophokles, in Shakespeares Hamlet oder im Roman Die Brüder Karamasow von Dostojewski. Vor allem aber ist sie seit Sigmund Freud ein zentraler Bestandteil der Psychoanalyse. Das (unbewusste) Motiv der Ermordung des Vaters wird ursprünglich in einem fremden Schicksalszwang, in der Rivalität um die Frau beziehungsweise die Mutter gesehen. Freud schreibt, dass die Erinnerungsspur der Vatertötung in den Urzeiten zu suchen sei und das damit verbundene Schuldgefühl im Unbewussten des Kindes erhalten bleibe und seine Reaktionsweise beeinflusse. In den Anfangszeiten der menschlichen Familie seien Vatertötungen Realität gewesen. Derartige ursprüngliche Vorstellungen könnten als Fantasien in irgendeiner Form von Generation zu Generation weitergegeben werden, tauchen dann als prähistorische Wahrheiten immer wieder auf und können in geeigneten Situationen wiedererweckt werden. Die »archaische Erinnerung« werde ins Unbewusste verdrängt, könne dort verweilen und bei Konflikten mächtige Wirkung entfalten. Da sich die Aggressionsneigung gegen den Vater in den folgenden Geschlechtern wiederholt, wird das Schuldgefühl gleichsam vererbt.
Die Vatertötung ist neben der (unbewussten) sexuellen Übertragung auch Hauptinhalt des zugrunde liegenden psychoanalytischen Modells für die Persönlichkeitsentwicklung, nämlich des Ödipuskomplexes. Damit bezeichnete Freud (1910) die während der Entwicklung eines Kindes auftretenden Gefühle von Liebe und Hass gegenüber seinen Eltern. Nach der psychoanalytischen Lehre werden die frühkindlichen Beziehungen zu den Eltern in der zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr gelegenen frühen genitalen Phase in Analogie zur antiken Ödipus-Sage gestaltet. Gegenüber dem gegengeschlechtlichen Elternteil entwickeln sich Liebe und Inzestwünsche, während sich dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gegenüber Hassund Eifersuchtsgefühle einstellen. Normalerweise gelingt in der Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil die Verdrängung der Wünsche und der damit zusammenhängenden Ängste, womit die ödipale Situation beendet ist. In der Pubertät und auch später kann es zu einer Wiederbelebung kommen. Ist die Bewältigung unzureichend, können Neurosen entstehen. Wird der Ödipuskomplex in der Entwicklung nicht überwunden beziehungsweise wird dessen Inhalt – die Tötung des Vaters – durchgesetzt, spricht dies für eine psychosenahe Störung.
Wie dominant der Ödipuskomplex werden und wie sehr sich in einer krankhaften Übertragung auf Vater und Mutter eine neurotische Störung mit einer »verrückten« Entwicklung vermischen kann, zeigt ein Fall, in dem alles enthalten ist, was es zur krankhaften Sohn-Vater-Beziehung, zum Durchbruch des Bösen aus einer archaischen Konstellation zu sagen gibt:
Der 55-jährige Johannes M. war der Einladung seines älteren Sohnes, des 28-jährigen Thomas M., gefolgt. Beide waren sie Künstler, beide als Maler erfolgreich, beide Partner und Konkurrenten. Neben der Vater-Sohn-Beziehung und den ehemals klar verteilten Meister-Schüler-Verhältnissen hatte sich im Laufe der Jahre eine künstlerische Rivalität entwickelt, die Anlass zu Streit, Distanzierung und Feindseligkeit geworden war. In die zahlreichen, vordergründig wegen beruflicher Anlässe ausgelösten Auseinandersetzungen mischten sich immer häufiger familiäre Vorwürfe: Der Vater habe sich zu wenig um die Familie gekümmert, habe seine unter Depressionen leidende Frau allein sitzen lassen, habe viel zu wenig Zeit mit seinem Sohn verbracht, habe in diesem zuerst ein lästiges Anhängsel, dann einen unangenehmen Konkurrenten gesehen. Zahlreiche Versöhnungsversuche zwischen Vater und Sohn waren gescheitert, mehrere Aussprachen endeten in eskalierendem Streit, heute nun sollte eine definitive Versöhnung stattfinden.
Der Vater wurde von seinem Sohn Thomas umarmt und dann zum Tisch geleitet. Er servierte ihm einen Willkommensdrink, erzählte von seinen künstlerischen Aktivitäten und legte ihm den soeben erschienenen Katalog von seiner nächsten Ausstellung vor. Er solle darin blättern und ihm dann beim Essen seine Meinung zu den neuen Werken sagen. Er gehe nur schnell in die Küche und hole die Vorspeise. Er habe sich etwas einfallen lassen und die Lieblingsspeise des Vaters gekauft.
Der Sohn ging in die Küche, entnahm dem Schrank einen Revolver, näherte sich von hinten dem über dem Buch sitzenden Vater und schoss ihm ins Hinterhaupt. Das Geschoss zerfetzte den Schädel, der zu Boden stürzende Kunstband mit den Werken des Täters war mit Blut und Hirnmasse überspritzt.
Bei der Einvernahme begründete der Täter die geplante, kaltblütige Tötung seines Vaters mit dessen »Terror«, den er ein Leben lang gegenüber den Familienangehörigen ausgeübt habe. Er sei ein egozentrischer, gefühlloser, verschlossener Mensch gewesen, der weder seiner Frau noch den Kindern die nötige Liebe geschenkt habe. Er habe sich um diese nur materiell gekümmert, habe ihnen kaum Zeit gewidmet und sie nur als lästige Anhängsel betrachtet. Deren wahre Probleme hätten ihn nie interessiert: »Alles, was er von uns wollte, waren Leistung und Erfolg.« Er sei allein schuld, dass die Mutter depressiv geworden sei und sich zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik begeben musste.
Neben diesen normal und nachvollziehbar wirkenden Motiven kamen aber immer mehr höchst auffallend und abnorm anmutende Begründungen zutage. Er sei schon als Kind auf seinen Vater sehr eifersüchtig gewesen, habe gespürt, dass ihm dieser die Mutter wegnehmen wolle. Er erinnere sich, dass er schon mit vier Jahren davon geträumt habe, den Vater zu beseitigen. Als er einmal die Eltern beim Geschlechtsverkehr beobachtet habe, sei in ihm ein unbändiger Hass aufgestiegen und er habe damals den Beschluss gefasst, den Vater eines Tages zu töten. Diese Gedanken hätten ihn nie losgelassen, die Feindgestalt des Vaters habe ihn durch Kindheit und Jugend begleitet. In der Pubertät habe er sich mit dem kulturellen Phänomen der Vatertötung beschäftigt. Es sei ihm immer mehr klar geworden, dass ein Sohn die Vaterfigur überwinden müsse, um ein Mann zu werden. Er habe in sich etwas »Wölfisches« gespürt, etwas, das ihm sagte, der Weg zum wahren Leben führe für den Sohn über die Ermordung des Vaters.
Tatsächlich wurde der damals 14-jährige Junge zu einem Jugendpsychiater gebracht, nachdem er völlig unmotiviert den am Tisch sitzenden Vater mit einer Schere attackiert und oberflächlich verletzt hatte. Der Fachmann sprach von einer Pubertätskrise und schlug eine psychotherapeutische Behandlung des Jungen vor, zu der es aber nicht gekommen ist. Mit 16 Jahren versuchte Thomas, seine Mutter zu vergewaltigen. Er stieß diese mit den Worten: »Ich bin der wahre Mann, ich habe das Recht dazu …« zu Boden und versuchte, sie zu überwältigen. Als sich die Mutter nach über einstündigem Widerstand ergab, ließ der Junge mit der Begründung, dass er keine Lust mehr habe, von ihr ab. Seine Wut verlagerte sich immer mehr auf seinen Vater, in welchem er einen immer mächtiger werdenden Feind und die alleinige Ursache seiner Probleme sah. Dieser habe ihm die Mutter weggenommen, habe ihn mit seinen Forderungen erdrückt und ihn auch künstlerisch an die Wand spielen wollen. »Immer war er auf meine Erfolge eifersüchtig, immer hat er über meine Bilder gelacht. Er hat nur noch Angst gehabt, dass ich besser werden könnte als er.«
Die Tat enthält die gesamte Geschichte des Ödipus, jener Gestalt der griechischen Mythologie, die als Sohn des thebischen Königs Laios im Kindesalter ausgesetzt wurde und später in einem Streit seinen Vater tötete und seine Mutter ehelichte, ohne zu wissen, dass dies seine leiblichen Eltern waren. Laios und seine Frau Iokaste waren nämlich lange Zeit kinderlos geblieben. In ihrer Not suchten sie das Orakel von Delphi auf, das ihnen aber einen Fluch verkündigte: »Solltest du dich je unterstehen, einen Sohn zu zeugen, so wird dieser seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten«, lautete der an den König gerichtete Orakelspruch. Als Iokaste tatsächlich einen Sohn bekam, ließ Laios dem Neugeborenen die Füße durchstechen und zusammenbinden und das Kind von einem Hirten im Gebirge aussetzen. Dieser wurde aber von Mitleid mit dem Neugeborenen erfasst und übergab es einem vorüberziehenden Schäfer, welcher den Jungen zu König Polybos von Korinth brachte. Dort wuchs er auf, musste aber im Erwachsenenalter erfahren, dass der König und seine Frau nicht seine leiblichen Eltern seien. Ödipus suchte nun seinerseits das Orakel in Delphi auf, welches ihm verkündete, er werde seinen leiblichen Vater töten und seine Mutter zur Frau nehmen. Damit sich die Prophezeiung nicht erfülle, brach Ödipus in die Ferne auf, geriet aber an einer Weggabelung mit dem ihm nicht bekannten alten Mann, der in Wirklichkeit sein leiblicher Vater war, in Streit und erschlug ihn. Anschließend befreite er die Stadt Theben von der Sphinx, einem Ungeheuer, das alle Vorbeikommenden, welche ein vorgegebenes Rätsel nicht lösen konnten, verschlang. Als Ödipus die Lösung gelang, stürzte sich das Monstrum ins Meer und die Stadt war befreit. Zur Belohnung erhielt er die Hand der Königin Iokaste, seiner eigenen Mutter.
Sigmund Freud hat den Kerngehalt dieser griechischen Sage zur Grundlage des Ödipuskomplexes gemacht. Wenn sich der Ödipuskomplex als beharrlich erweist oder gar ausgebaut wird, spricht dies für eine schwere Neurose oder eine psychosenahe Störung. In der Geschichte des Thomas M. stellte dieser ausgelebte Ödipus-Zustand tatsächlich den Beginn einer Geisteskrankheit dar. Er litt später unter Wahnideen, Halluzinationen und schweren Verstimmungszuständen und suizidierte sich während einer depressiven Phase.
Auch Ödipus starb durch die eigene Hand. Nach glücklichen Regierungsjahren brach in Theben eine Seuche aus. Nach dem Spruch des wiederum befragten Orakels von Delphi konnte diese nur beendet werden, wenn der Mörder des Laios gefunden werde. Der blinde Seher Teiresias enthüllte dem König die Wahrheit. Seine Frau, die gleichzeitig seine Mutter war, erhängte sich, Ödipus stach sich mit zwei goldenen Nadeln aus ihrem Gewand die Augen aus. Nach anderen Versionen stürzte er sich aus Verzweiflung in eine als Tor zur Unterwelt geltende Schlucht.