Die böse Mutter

»Und ich habe nichts mehr auf dieser Welt zu tun
als meinem Buben einen Abschiedskuss auf die geliebte Stirne
zu drücken und zu gehen.«

Arthur Schnitzler

Auf einem Polizeiposten meldete sich eine gepflegt wirkende 26-jährige Frau und gab mit emotionslosem Ausdruck und ruhigem Ton an, dass sie in ihrer Wohnung soeben ihren zweijährigen Sohn getötet habe. Ihr 18 Jahre älterer Mann, der sich kürzlich von ihr getrennt habe, habe sie vor zwei Stunden besucht, sie beschimpft, bedroht und ihr wieder einmal heftige Vorwürfe gemacht. Am Höhepunkt der Auseinandersetzung habe er ihr triumphierend das Schreiben eines Rechtsanwalts vorgehalten, in welchem sie aufgefordert wurde, dem Gatten das Kind zur weiteren Obsorge zu übergeben. Dies habe sie nicht verkraftet und daher beschlossen, den Jungen unter keinen Umständen herzugeben. Sie sei nach dem Weggang des Mannes »wie ein Geist« in der Wohnung herumgewandelt, habe etwas Alkohol getrunken, sei dann vom Gefühl übermannt worden, dass es nur noch einen Ausweg gebe. Sie erinnere sich noch schemenhaft, ein Messer in der Hand gehalten zu haben. Plötzlich seien dessen Klinge und ihre Hand voll Blut gewesen. Sie sei in die Küche gewankt, habe sich und das Messer abgewaschen, habe dieses Messer abgetrocknet und in die Lade gelegt, habe sich Schuhe und Mantel angezogen und sei zur Polizeistation gegangen.

Zu ihrem Zustand vor der Tat führt sie wörtlich aus: »Als mich der Mann nach dem Streit verlassen hat, habe ich gewusst, dass es für mich keine Chance gibt, seinem Terror zu entrinnen. Ich holte ein Messer aus der Küche, ging ins Schlafzimmer und habe fünf- bis sechsmal auf das friedlich schlafende Kind eingestochen. In meinem Kopf war nur Leere und Hass. Dann bin ich in der Wohnung auf und ab gegangen, war ganz ruhig, fühlte mich wie in Trance.«

Die Tat der Frau ist vor dem Hintergrund eines schweren Partnerschaftskonflikts zu sehen. Sie hatte mit ihrem deutlich älteren und ihr sozial überlegenen Mann eine rasche und intensive Beziehung begonnen, die dann allerdings in eine Krise geraten ist. Sie hat einerseits die soziale und wohl auch persönliche Sicherheit, die ihr der Mann vermittelt hat, geschätzt, andererseits unter seinen Kontrollbedürfnissen und seiner Eifersucht gelitten. Dieser habe sich ihr gegenüber wie ein Tyrann verhalten, habe sich massiv in ihre Angelegenheiten eingemischt und habe auch dem Alkohol zugesprochen. So entwickelte sich allmählich ein ambivalentes und später konflikthaftes Verhältnis, in welchem die partnerschaftlichen Kräfteverhältnisse mehr und mehr in Ungleichgewicht geraten sind. Verschiedene Versuche der Aussöhnung brachten keinen Erfolg. Die Frau wurde zunehmend aggressiv, hatte das Gefühl, »seelisch zugrunde« zu gehen, habe nach eigenen Worten ihren Mann »nicht mehr riechen« können.

Die partnerschaftliche Situation wurde extrem gefährlich, als sich nach beschlossener Trennung die Frage des Sorgerechts für das Kind stellte. So wurde das Kind mehr und mehr zum Zentrum des Konflikts, an dem sich der Machtkrieg der beiden Eheleute immer deutlicher abspielte. Auch in der letzten Auseinandersetzung ging es um das Kind. Die spätere Täterin hatte das Gefühl, dass ihr der Sohn auf jeden Fall weggenommen werde und sie diesen letzten Kampf verliere. In diesen Situationen hat sie dann die ganze Wut, die eigentlich dem übermächtigen Partner galt, auf das Kind übertragen. Die Tötung war eine hilflose Primitivreaktion, eine von Rachegefühlen getragene Aggressionsabfuhr und ein Akt des »letzten Rechthabens«. Derartige psychische Abläufe sind bei etwa einem Viertel aller Mutter-Kind-Tötungen bekannt und werden als »Medea-Syndrom« bezeichnet.

In der Tragödie »Medea« von Euripides wird die Thematik der gekränkten, verlassenen Ehefrau und deren Rache am untreuen Mann Jason, dem Helden der Sage vom Goldenen Vlies, beschrieben. Nachdem dieser eine Königstochter geheiratet hatte, beschließt Medea, sich zu rächen und entwirft einen detaillierten, rationalen Plan. Sie schickt der Königstochter als Hochzeitsgeschenk ein vergiftetes Gewand, wodurch diese und der ihr zur Hilfe eilende Vater sterben. Dann tötet sie ihre Söhne aus der Ehe mit Jason, um diesen noch tiefer zu treffen. Nach der Tat entflieht sie auf dem Wagen des Sonnengottes Helios. Sie wird also nach der griechischen Mythologie nicht bestraft …

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Anders stellt sich die Situation bei Marybeth Tinning aus Schenectady, New York, dar, von der man annimmt, dass sie neun Kinder im Säuglingsalter getötet hat. In den Jahren 1972 bis 1985 starben alle Kinder im Alter von weniger als drei Jahren, wobei von den Ärzten in allen Fällen ein plötzlicher Kindstod oder ein sogenanntes Reye-Syndrom, worunter man eine akute Erkrankung der Leber und des Gehirns als Folge eines fieberhaften Infekts der Atmungsorgane versteht, als Todesursache angenommen wurde. Marybeth Tinning ertrug die Todesfälle gefasst und habe jeweils gesagt: »Es ist Gottes Wille, diesen muss ich demütig hinnehmen.« Die New York Times schrieb nach Bekannt werden der wahren Todesumstände: »Jahr um Jahr starben die Babys von Marybeth Tinning, eines nach dem anderen, insgesamt neun im Laufe von vierzehn Jahren. Die offizielle Angabe der Todesursache wechselte. Aber etwas Böses hat in der merkwürdigen Abfolge dieser Todesfälle niemand bemerkt – weder Polizei, Leichenbeschauer, Ärzte, Sozialarbeiter noch Nachbarn, ja nicht einmal Mrs. Tinnings Mann«.

Am 4. Februar 1986 wurde Marybeth Tinning verhaftet und gestand, ihre Tochter Tami Lynne mit einem Kissen erstickt zu haben, weil diese in der Nacht unaufhörlich geschrien habe. Später gab sie zu, auch die Söhne Timothy und Nathan auf dieselbe Weise getötet zu haben, während sie abstritt, mit dem Tod der anderen Kinder etwas zu tun zu haben. Die Staatsanwaltschaft beschränkte sich auf den Fall Tammy Lynne, die Täterin verweigerte beim Prozess die Aussage. Sie wurde wegen Totschlags zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt, welche sie in einem New Yorker Gefängnis verbüßte.

Als Tatmotiv führte Marybeth Tinning aus, dass ihr die Belastungen durch die Kinder auf die Nerven gegangen seien und sie stets unter dem Gefühl gelitten habe, keine Mutter zu sein. Im psychiatrischen Gutachten wurde ein »Münchhausen-by-Proxy-Syndrom« diagnostiziert. Man versteht darunter eine ungewöhnliche Form der Kindesmisshandlung, bei der eine Erkrankung des Kindes von der Mutter vorgetäuscht, von dieser sogar hervorgerufen und aufrechterhalten wird. Das Kind wird von der scheinbar rührend besorgten Mutter zu medizinischen Untersuchungen und Behandlungen gebracht, ohne dass die wahre Ursache der Störung angegeben wird. Die häufigsten präsentierten Symptome sind Fieber, Allergien, Atemschwierigkeiten, Essstörungen, Durchfall, Kollapszustände und Krämpfe sowie unklare Blutungen. Im Herbeiführen dieser Störungen sind die Täterinnen sehr erfinderisch. Anfälle werden durch Ersticken des Kindes mit der Hand, durch ein Kissen oder eine Plastiktüte erzeugt. Manche Mütter haben sich selbst Blut abgenommen und verschmieren es am Kind oder entziehen ihm die Nahrung. Eine Mutter ließ das Kind nahezu verhungern, brachte es dann ins Krankenhaus, wo sie sich als liebevolle und höchst besorgte Mutter präsentierte. Eine andere Mutter, von Beruf Krankenschwester, saugte mit Spritze und Plastikschlauch die ihrem Kind im Krankenhaus gegebene Nahrung heimlich wieder ab. Die Sterblichkeit dieser heimlichen Kindesmisshandlung liegt bei 31 Prozent, etwa 10 Prozent tragen dauernde körperliche und psychische Folgen davon.

Der Name Münchhausen-by-Proxy-Syndrom bedeutet so viel wie »Münchhausen in Vertretung« und ist nach der populären Gestalt des Lügenbarons Münchhausen benannt, weil die Mütter systematisch die Ärzte mit frei erfundenen Geschichten über Krankheiten täuschen. Die erste derartige Störung wurde vom britischen Kinderarzt Roy Meadow 1977 publiziert. Er hatte herausgefunden, dass manche Mütter ihre Kinder heimlich krank machen. In einem Fall hatte die Mutter dem Urin ihres Kindes heimlich Blut und Eiter beigemischt, was zahlreiche Untersuchungen zur Folge hatte. Erst als der Junge sechs Jahre alt war, wurde erkannt, dass er nicht krank war, sondern Opfer der versteckten Kindesmisshandlung geworden war. In einem zweiten Fall musste ein Säugling wegen Erbrechen und Bewusstseinstrübung immer wieder auf der Kinderstation aufgenommen werden, wobei dort auffiel, dass sich das Kind im Krankenhaus rasch erholte und sich die Zwischenfälle nur zu Hause ereigneten beziehungsweise nach dem Besuch der Mutter auftraten. Schließlich brachte die Mutter das Kind in tiefem Koma in die Klinik, wo es bald starb. Bei der Autopsie konnte eine extreme Salzvergiftung festgestellt werden und es ließ sich nachweisen, dass die Mutter, welche von Beruf Krankenschwester war, dem Säugling das Salz mit einer Magensonde zugeführt hatte.

Die Täterschaft betrifft zu 98 Prozent Frauen, in 90 Prozent handelt es sich um die leiblichen Mütter. Häufig sind diese in der Kindheit selbst Opfer von Misshandlung oder emotionaler Vernachlässigung geworden und leiden nicht selten selbst an unklaren gesundheitlichen Störungen oder absichtlich erzeugten körperlichen Beschwerden. Oft sind sie vom Wunsch beseelt, über das Kind im Mittelpunkt medizinischer Aufmerksamkeit zu stehen. Sie sind von der Fantasie beherrscht, das Kind sei krank oder könne nicht gedeihen, und sehen sich selbst als lebensrettende Engel, die sich für ihr Kind grenzenlos aufopfern. Das Böse tritt über die Gestalt der liebenden Mutter auf.

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Die Eheleute T. brachen an einem Samstagnachmittag zum Besuch des Marktes auf. Ihre einzige Tochter, die 18-jährige Monika, wollte sie nicht begleiten. Sie fühle sich müde und schlapp, sie wolle ein Bad nehmen und sich dann zu Bett legen. Als die Eltern zurückkehrten, fanden sie ihre Tochter auf dem blutigen Boden des Bades liegend. Sie war kollabiert, wachte aber auf Rütteln auf und führte aus, dass sie eine sehr heftige Menstruationsblutung habe und ihr schwarz vor den Augen geworden sei. Der Vater hob seine Tochter auf, brachte sie zum Auto und fuhr sie ins Krankenhaus. Nach einer halben Stunde erschien der untersuchende Gynäkologe und teilte dem fassungslosen Mann mit: »Ihre Tochter muss innerhalb der letzten zwei Stunden ein Kind geboren haben …« Er eilte nach Hause und durchsuchte mithilfe der Rettungsleute das Bad. Tatsächlich wurde in der Klomuschel die Leiche eines Neugeborenen gefunden. Die nachfolgende gerichtsmedizinische Obduktion erbrachte ein für die Eltern noch schockierenderes Ergebnis: Das Kind war lebendig zur Welt gekommen, wurde nicht bei einer Sturzgeburt in die Klomuschel verletzt, sondern erwürgt.

Die junge Täterin führte aus, in der Schule aufgeklärt worden zu sein, auch über Möglichkeiten der Verhütung, während zu Hause das Sexualthema tabuisiert war. Die erste Menstruationsblutung, die sie mit 14 Jahren gehabt habe, sei für sie aber nicht unerwartet gekommen, der Zyklus sei unregelmäßig gewesen. Im Elternhaus sei das Thema Schwangerschaft nur vereinzelt angesprochen worden, man habe sie aber nie direkt gewarnt oder abgeschreckt. Ab dem 15. Lebensjahr habe sie mehrere Freundschaften zu Burschen und auch kleinere Liebeleien gehabt, es sei aber nie zu Intimkontakten gekommen. Erst mit dem Kindesvater habe sie regelmäßig geschlafen. Sie hätten dabei aber immer Kondome verwendet, sodass sie einfach nicht glauben könne, dass sie schwanger geworden sei. Während der ganzen Zeit der von ihr nicht bemerkten Schwangerschaft seien in unregelmäßigen Abständen Blutungen, welche sie für Regelblutung gehalten habe, aufgetreten. Sie habe wohl in einer »Traumwelt« gelebt. Am Tag der Geburt habe sie, so entsinne sie sich, starke Bauch- und Rückenschmerzen gespürt, weshalb sie ein Bad gegen die vermeintlichen Regelbeschwerden genommen habe. Für die Folgezeit fehle ihr teilweise die Erinnerung. Sie wisse nur noch, wie sie auf dem WC-Stuhl gesessen, dort zusammengesackt und auf allen Vieren im Bad herumgekrochen sei. Dann habe sie das Bewusstsein verloren. Ihre nächste Erinnerung betreffe jene Situation, in der der Vater gekommen und sie emporgehoben habe. Sie habe dann erst durch die Ärzte im Krankenhaus erfahren, dass eine Geburt erfolgt sein müsse. Man habe das tote Kind dann zu Hause im Bad gefunden. Sie sei ganz geschockt gewesen und könne sich bis heute nicht vorstellen, ein Kind geboren und getötet zu haben. Mit Ausnahme des beschriebenen Schmerzes erinnere sie sich an überhaupt nichts. Sie könne sich nur vorstellen, dass das Kind durch den Sturz in die Klomuschel geschädigt worden sei. Sie habe wie so oft während der Menstruation heftigen Durchfall gehabt, dabei müsse die Leibesfrucht abgegangen sein.

Bei Kindestötungen während oder unmittelbar nach der Geburt sind zwei Gruppen von Täterinnen zu unterscheiden: In der Mehrzahl der Fälle, zu denen auch Monika T. gehört, handelt es sich um jugendliche oder junge Frauen, die in ihrer Persönlichkeitsentwicklung retardiert, manchmal auch unterbegabt sind. Die Schwangerschaft wird zum Teil nicht richtig realisiert, die Betroffenen weichen dem herannahenden Ereignis aus. Vorbereitungen für das Kind unterbleiben, ohne dass an eine Tötung des Kindes schon gedacht würde. Vom Geburtsereignis werden die jungen Frauen dann überrascht und sind der Situation nicht gewachsen. Kurzschlussartig, nahezu reflektorisch und in hohem Maße panisch führen sie die Tötungshandlung, die ihnen in einer anderen Situation nicht zuzutrauen wäre, durch.

In Struktur und Verhalten von dieser Gruppe verschieden sind die triebhaften Persönlichkeiten, welche gewöhnlich gleich zu Beginn der Schwangerschaft Abtreibungsversuche unternehmen und den Entschluss zur Tötung des Kindes schon während der Gravidität fassen. Bei diesen Täterinnen liegt die Kindestötung auf der gleichen Linie wie ihr bisheriges antisoziales Verhalten. Bei ihnen ist die Gefahr einer Wiederholung des Delikts groß, während die Frauen der ersten Gruppe ihre Tat ernsthaft bereuen und sie so gut wie nie wiederholen.

Tötungen von Neugeborenen, sogenannte Neonatizide, waren in Griechenland und im Römischen Reich bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. ein legitimes Mittel der Bevölkerungskontrolle. Auch später wurde die Tötung eines Neugeborenen als weniger gravierend angesehen und geringer bestraft als andere Formen von Mord und Totschlag. In Zeiten unsicherer Empfängnisverhütung und starker Stigmatisierung lediger Mütter waren die Belastungen durch eine ungewollte Schwangerschaft besonders groß. Schwangerschaften wurden häufig verdrängt, die Geburt kam unvorbereitet, die Neugeborenen wurden beseitigt, wobei sie oft kaum bewusst wahrgenommen wurden. Wenngleich die Belastungen für junge Frauen heute viel geringer sind, kommt es doch noch zur Tötung von Neugeborenen durch ihre Mütter. In Deutschland werden pro Jahr bei knapp 800 000 Geburten 50 Neonatizide bekannt. In Österreich wurden in den letzten 25 Jahren insgesamt 89 Mütter wegen Tötung ihres Kindes bei der Geburt verurteilt, wobei 10 Täterinnen noch im jugendlichen Alter waren. Insgesamt ist aber eine stark rückläufige Tendenz dieses Delikts, das meist nur mit einer bedingten Strafe geahndet wird, zu beobachten.

Tötungen von Kindern durch ihre Mutter haben somit ganz unterschiedliche, zum Teil sehr spezifische Motive. Während bei den klassischen Neonatiziden, also der unmittelbaren Tötung nach der Geburt, meist unreife Täterinnen von der Geburt überrascht werden und die Tatsache der Mutterschaft im wahrsten Sinne des Wortes »verdrängen« wollen, handeln andere Mütter aus wohlmeinenden Motiven. Durch ihren »Mord aus Liebe« wollen sie das Kind vor der als hoffnungslos erlebten Welt beschützen, vor einem tragischen Schicksal bewahren und mit in ein besseres Jenseits nehmen. In letzter Zeit häufen sich in beunruhigender Weise Fälle, die nach der griechischen Medea-Tragödie konzipiert sind. Kinder werden von den Eltern bei einem Scheidungsverfahren oder einem Rosenkrieg als Pfand, als Waffe eingesetzt und letztlich aus egoistischen Motiven getötet: Wenn ich das Kind nicht haben werde, wird es niemand bekommen, lieber tot als beim verhassten ehemaligen Partner.

Wenn sich jener Elternteil, der das Kind getötet hat, auch selbst das Leben nimmt, können wir nicht mehr von erweitertem Selbstmord sprechen, sondern müssen die treffende Bezeichnung »erweiterter Mord« verwenden. Bei einem solchen Vorgehen steht nicht mehr das vermeintliche Wohl des Kindes, sondern nur noch das eigene Bedürfnis nach Rache im Mittelpunkt. Dies hat nichts mehr mit den Tötungshandlungen depressiver Mütter an ihren Kindern zu tun, welche in ihrem melancholischen Erleben ihr Liebstes, nämlich ihr Kind, vor der bösen Welt bewahren und mit in ein besseres Jenseits nehmen wollen. Diese Form des erweiterten Suizids ist dank der modernen Psychiatrie und Psychotherapie zurückgegangen, während jene des erweiterten Mords im Zeitalter der Scheidungen in beängstigender Form ansteigt. Das Böse ändert sein Gesicht, aus dem kranken Motiv ist ein böses geworden.

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Es klingelte wieder an der Wohnungstür. Elfriede S. wusste, dass draußen ihr 28-jähriger Sohn Wolfgang stehen würde. Er hatte während des Tages wiederholt versucht, sie telefonisch zu erreichen, sie hatte die Gespräche aber nie angenommen. Bereits am Nachmittag stand er vor ihrem Wohnblock und bat sie über die Gegensprechanlage um ein Gespräch. Sie hatte ihn mit der Begründung, dass sie Besuch erwarte, abweisen können. Zwei Stunden später klingelte er abermals, wiederum öffnete sie die Tür nicht. Nun entschloss sie sich, ihn kurz zu empfangen, wohl wissend, was der Sohn mit ihr besprechen wollte: Dass sie ihm nie genügend Mutterliebe geschenkt, ihn als Kind vernachlässigt und ungerecht bestraft habe, dass er deswegen depressiv geworden sei und sich des Lebens nicht freuen könnte.

Elfriede S. öffnete die Tür. Ihr Sohn wirkte erschöpft, sein Gesicht machte einen müden Eindruck, die Augen waren gerötet, der Atem roch etwas nach Alkohol. Sie fragte ihn: »Was willst du?«, und fügte hinzu: »Komm mir nicht wieder mit deinen Minderwertigkeitskomplexen und deinen Depressionen daher, über diesen Kram haben wir oft genug gesprochen.« Der Sohn zog schweigend ein Messer aus seiner Tasche, gab sich einen Ruck und stach wie besessen auf den Oberkörper der Mutter ein. Diese sank zusammen und nahm mit sterbendem Blick wahr, wie ihr Sohn hemmungslos zu weinen begann. Gegenüber der bald eintreffenden Rettung, die Wolfgang S. selbst verständigt hatte, sagte er: »Hätte sie nur ein liebes Wort gesagt … dann wäre das nicht passiert.«

In seltenen Fällen wird die als böse erlebte Mutter selbst Opfer einer bösen Tat. Obwohl die mütterliche Liebe für das Kind viel wichtiger ist als die väterliche, werden Mütter, die diese Emotionen den Kindern vorenthalten oder diese auf böse Weise erzogen haben, viel seltener zum Ziel der Rache ihrer Kinder. Dies hat wohl mit der emotionalen Bedeutung der Muttergestalt und der ihr gegenüber viel höheren Tötungshemmung zu tun. Einzelne Fälle wie der des Wolfgang S. zeigen aber, welch verheerende Auswirkungen fehlende Mutterliebe noch nach Jahrzehnten haben kann. Man fragt sich bei solchen Tragödien, wer in welchem Maße Opfer und Täter ist und wie sich die Anteile des Bösen verteilen. Wolfgang S. erlebte seine Mutter als lieblos, uninteressiert und in keiner Weise empathisch. Sie habe ihre Kinder oft geschlagen, ihnen keine positiven Gefühlszuwendungen gezeigt und sie nicht liebevoll erzogen. Sie habe mit den Kindern nie Fest- und Geburtstage gefeiert und ihnen ständig das Gefühl gegeben, eine Belastung darzustellen und nicht gewollt zu sein. Dies sei ihm erst so richtig bewusst geworden, als er später die Mutter-Kind-Beziehung in anderen Familien gesehen habe. Er habe versucht, mit der Mutter ins Gespräch zu kommen, mit ihr den Gefühlsbereich anzusprechen und sie auf seine innere Not hinzuweisen, was von ihr aber immer abgeblockt worden sei. In seinem Erleben fühlte er sich emotional unterversorgt, wenig beachtet und in keiner Weise geliebt. Er hat das vermisst, was mit den drei großen »Z« schlagwortartig erfasst wird: Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit.

Bei Wolfgang S. hat sich aus dieser Konstellation, die teilweise auch in seinem eigenen Erleben begründet ist, eine chronische emotionale Konfliktsituation entwickelt. Er hat sich gleichsam auf ständiger Suche nach der vorenthaltenen Liebe befunden, sah diese als Ursache für seine Selbstwertzweifel und Minderwertigkeitsgefühle, für seine depressiven Verstimmungen und seine eingeschränkte Lebensfreude. Er fühlte sich verunsichert, hilflos und, wenn auf seine Fragen nicht eingegangen wurde, geradezu ohnmächtig. Besonders frustriert hat ihn nach eigenen Worten die Weigerung der Mutter, mit ihm über ihr Verhalten zu diskutieren und ihm für ihre Ablehnung Erklärungen zu geben. Da er diesen inneren Konflikt niemandem in vollem Umfang anvertraut und sich nach außen angepasst gezeigt hat, musste er mit seinen Problemen allein fertig werden, was die weitere Intensivierung des Konflikts gefördert und das negative Mutterbild in übersteigerter Form ausgestaltet hat. Dabei hat er einerseits eine zunehmende »narzisstische Wut« entwickelt und andererseits an den Folgen eines inneren Zermürbungsprozesses gelitten, der letztlich seine Widerstandskräfte unterminiert hat.

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Aus der gesamten Entwicklungspsychologie ist die Bedeutung der elterlichen, insbesondere der mütterlichen Emotionen für das Kind bekannt. Vor allem die Zuwendung vonseiten der Mutter ist von höchster Bedeutung, da diese für die Ausgestaltung des Gefühlslebens maßgebend ist. Keine der Wurzeln des Bösen ist so stark, wie es Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern durch Väter und insbesondere durch die Mütter sind. Unter Kindesmisshandlungen verstehen wir gewaltsame psychische oder physische Beeinträchtigungen von Kindern durch ihre Eltern und Erziehungsberechtigten. Diese Beeinträchtigungen können durch konkrete Handlungen, etwa sexuellen Missbrauch und körperliche Misshandlung, oder durch Unterlassungen, vor allem emotionaler und physischer Natur, zustande kommen.

Misshandlungen im engeren Sinne umfassen jene Fälle, in denen die Kinder körperlich verletzt werden, etwa durch Schläge, Stöße, Schütteln, Verbrennungen oder gar Stiche. Über die Häufigkeit lassen sich nicht einmal verlässliche Angaben machen, da die meisten Fälle nicht bekannt und angezeigt werden. Studien zeigen, dass cirka die Hälfte bis zwei Drittel der deutschen, österreichischen und schweizerischen Eltern ihre Kinder körperlich bestrafen, obwohl 85 Prozent der Eltern bei Befragungen für eine gewaltfreie Erziehung plädieren. Möglicherweise rufen sämtliche Kampagnen gegen die »gesunde Ohrfeige« nur bei der alltäglichen Gewalt eine Sensibilisierung hervor, lassen aber Fälle schwerster Misshandlung, die von 10 bis 15 Prozent unserer Eltern praktiziert wird, unberührt. Oft stellt Kindesmisshandlung, die gesellschaftlich glücklicherweise immer weniger gebilligt wird, den Endpunkt eskalierender Konfliktsituationen dar, in welchen Vater und Mutter aus Ohnmacht und Wut ihre Kinder schlagen oder kindliches Verhalten als Anlass für ihre Aggressionsabfuhr nehmen. Die Überforderung vieler Eltern im Umgang mit schwierigen Kindern wird dadurch belegt, dass das Risiko für Misshandlungen bei geistig und körperlich behinderten Kindern mehr als drei Mal höher liegt. Dies ist nicht nur tragisch, sondern eine besonders verwerfliche Form des Bösen.

Misshandlungen im weiteren Sinne, also auch solche emotionaler Natur, sind vielleicht weniger verpönt werden aber häufiger praktiziert. Dazu gehören Bestrafung durch Liebesentzug, ständiges Schimpfen und sexuelle Schädigungen ohne direkten oder intensiven Körperkontakt, wie zum Beispiel gemeinsames Betrachten von Pornofilmen, Berühren der Brust eines Mädchens oder sexualisiertes Küssen. Psychische Misshandlungen bestehen ferner in allen Handlungen oder Unterlassungen der Erzieher, die die Kinder ängstigen, überfordern und ihnen das Gefühl der Wertlosigkeit vermitteln. Dazu gehören die fehlende emotionale Verfügbarkeit, die Ablehnung und Abwertung des Kindes, das ständige Zuschreiben negativer Eigenschaften, der mangelnde Schutz vor traumatischen oder verwirrenden Erfahrungen (etwa wenn Kinder elterliche Aggressionen oder Suizidversuche miterleben müssen) oder die Instrumentalisierung der Kinder für elterliche Bedürfnisse. Wenn Kinder zwischen die Fronten elterlicher Auseinandersetzungen geraten und emotional erpresst werden, ist dies besonders schwierig. Zu Recht zählt man zur psychischen Beeinträchtigung auch die Gewaltausübung durch Worte, die man als »verbale Misshandlung« bezeichnet.

Von der passiven Form der elterlichen beziehungsweise mütterlichen Kindesschädigung, der Vernachlässigung, sprechen wir dann, wenn Kinder unzureichend ernährt, gepflegt, gesundheitlich versorgt, gefördert und beaufsichtigt werden. Vernachlässigungen kommen sehr häufig vor, ziehen sich meist über einen sehr langen Zeitraum hin und sind in erstaunlich vielen Fällen mit anderen Gewaltformen verknüpft. Vernachlässigungen sind besonders bei sozial benachteiligten Schichten, aber auch bei behinderten, psychisch kranken oder alkohol- und drogenabhängigen Elternteilen zu beobachten. Die Folgen zeigen sich sehr früh. Bei vernachlässigten Kindern wurden schon nach drei Monaten Unruhezustände, Schlaf- und Verdauungsprobleme sowie Entwicklungsrückstände festgestellt. Bei Schulkindern zeigt sich dies in sozialem Rückzug, in Lernproblemen, Schulschwänzen, früh beginnendem Missbrauch von Alkohol, Medikamenten oder Drogen und in delinquentem Verhalten. Eine der Wurzeln des Bösen ist gesetzt.

In den USA, wo alle Formen von Misshandlungen meldepflichtig sind, werden jährlich etwa drei Millionen Fälle bekannt, die zu 54 Prozent aus körperlicher Vernachlässigung, 25 Prozent aus körperlicher Misshandlung, 12 Prozent aus sexuellem Missbrauch und zu 3 Prozent aus emotionaler Vernachlässigung bestehen. Auch in Europa wurden vergleichbare Zahlen gefunden, aus denen gesamthaft hervorgeht, dass doppelt so viele Kinder Opfer körperlicher Gewalt wie sexueller Übergriffe werden und dass der emotionale Bereich eine besonders hohe Dunkelziffer haben muss. Zwischen den einzelnen Gewaltformen gibt es aber viele Überlappungen.

Allzu oft liegen die Gründe für Kindesmisshandlungen jeglicher Art in der Vorerfahrung der Erzieher mit harten Strafen und Ablehnung, die sie in der eigenen Kindheit erlitten haben. Wissenschaftlich beschäftigt sich die These der mehrgenerationalen Weitergabe der Gewalt mit dieser Fortsetzung des Bösen. Nach verschiedenen Untersuchungen geben mindestens zwei Drittel der Eltern, die als Kinder misshandelt worden sind, die Gewalttätigkeit an ihre eigenen Kinder weiter. Wie Böses aus Bösem hervorgeht und eigener Missbrauch durch die Mutter später an ein anderes Opfer weitergegeben wird, zeigt das Beispiel eines Sexualmörders, welcher zuerst eine zwölfjährige Schülerin in einem Umkleideraum mit 37 Messerstichen tötete und in weiterer Folge noch drei Messerattentate auf junge Frauen verübte. Der Täter war schon als Jugendlicher durch sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen aufgefallen und wurde im psychiatrischen Gutachten als gemütsarmer, impulsiver Sadist beschrieben. Als er zur Vorbereitung einer medizinischen Kastration, die er sich selbst wünschte, untersucht wurde, zeigte sich den Ärzten ein schockierendes Bild: Sein gesamtes Genitale war spinnengewebeartig von unzähligen Narben überdeckt. Seine offensichtlich schwer sadistische Mutter hatte ihn von Kleinkindestagen an durch Schnitte mit einer Rasierklinge in Penis und Hodensack »bestraft« …