Die böse Partnerschaft

»Manche Ehe ist ein Todesurteil, das jahrelang vollstreckt wird.«

August Strindberg

Wieder klingelte das Telefon, wieder zuckte Monika W. ängstlich zusammen, wieder nahm sie den Hörer nicht ab. Sie wusste, am anderen Ende würde sich ihr geschiedener Mann Friedrich W. melden, würde sie mit wüsten Ausdrücken beschimpfen und grausige Drohungen aussprechen, wäre durch nichts zu beruhigen und ließe sie nicht zu Wort kommen. Urplötzlich würde seine Stimmung umschlagen, er würde zu weinen beginnen, bitten und betteln, würde schluchzend von früheren Zeiten und der traumhaft schönen Partnerschaft sprechen, sie als einzige Frau und große Liebe seines Lebens bezeichnen, ehe sein Selbstmitleid wieder zu brutaler Aggressivität wechseln würde.

Monika W. war sich ganz sicher, dass ihr Mann seine Drohungen eines Tages wahr machen werde. Obwohl er bei Nachbarn und Kollegen als umgänglich und korrekt galt, an seinem Arbeitsplatz wegen seines Fleißes und seiner Verlässlichkeit beliebt war, obwohl er noch nie in Haft gewesen oder mit dem Gesetz in irgendeiner Form in Konflikt gekommen war, spürte sie in ihm etwas Gefährliches, Bedrohliches, etwas, das sie fürchtete und das stärker war als seine Selbstkontrolle und seine Fassade – etwas Böses. Sie hatte Sicherheitsschlösser anbringen lassen, Fenster und Türen verstärkt und durchsuchte, sobald sie das Haus betrat, alle Räume. Sie ließ die Rollos herunter, traute sich kaum, eine Lampe oder den Fernseher einzuschalten, hatte das Telefon stets griffbereit bei sich und nahm ein Messer mit, wenn sie in den Keller oder in den Garten musste. Die Tochter hatte sie bei einer Freundin untergebracht, bei der sie selbst auch oft übernachtete.

An diesem Abend stand er plötzlich im Wohnzimmer. Sie hatte ein lautes Geräusch von zersplitterndem Holz und Glas gehört, konnte kaum glauben, wie behände ihr Mann durch das aufgebrochene Fenster eingestiegen war. Er war des Hauses verwiesen worden, hatte sich aber vor zwei Wochen unter dem Vorwand, noch ein paar Sachen aus dem Keller holen zu müssen, Zugang verschafft und offensichtlich im Untergeschoss ein Fenster manipuliert. Nur schemenhaft nahm sie wahr, dass er einen Rucksack bei sich trug. Er drängte seine Frau gegen die Wohnzimmercouch, streckte sie mit einem unmittelbaren Faustschlag ins Gesicht nieder, schloss die Wohnzimmertür von innen ab und öffnete den Rucksack. Diesem entnahm er betont langsam, fast im Zeitlupentempo, wie ihr schien, mehrere Gegenstände, die er behutsam, Stück für Stück, vor sich auf den Tisch legte: einen Elektroschocker, eine Rolle Klebeband, zwei Rasierklingen, einen Vibrator, einen Nylonsack.

Im Polizeibericht war Folgendes zu lesen: »Der Täter setzte den Elektroschocker im Bereich der linken Halsseite, im Brust- und Bauchbereich sowie in der Genitalregion direkt auf der Haut ein. An der Oberbekleidung des Opfers waren deutliche Brandspuren, an der Unterwäsche zahlreiche Versengungen festzustellen. Das Opfer wies zahlreiche Verbrennungen dritten Grades, die vom Einsatz des Elektroschockgeräts herrührten, auf«.

Monika W. spürte, wie ihre Muskeln zusammensackten, sie keine Abwehrbewegungen mehr machen konnte und sie die Kraft ihrer Beine verließ. Sie wollte schreien und um sich schlagen, wollte sich wehren und davonlaufen, musste aber erkennen, dass ihr der Körper nicht mehr gehorchte, dass sie ein paralysiertes Skelett- und Organbündel war, welches den bösen Agitationen eines gnadenlosen »Rächers« ausgesetzt war, dass sie nicht einmal mehr fähig war, Luft zu holen. Sie hörte noch die Worte: »Sex oder ich bring dich um«, glaubte dann, das Bewusstsein zu verlieren, blieb aber wach. Mit klarem, ja überklarem Bewusstsein sah sie, wie ihr einst so vertrauter Mann sie an Händen und Füßen fesselte und mit dem Klebeband den Mund zuklebte. Sie konnte keinen Laut von sich geben, konnte nicht schreien und nicht betteln, nicht auf ihre Panik und ihre Angst aufmerksam machen, nicht auf ihr Erstickungsgefühl, konnte ihm nicht einmal vermitteln, dass sie ja »freiwillig« mit ihm schlafen würde.

Nur noch die zwei Nasenlöcher, beide völlig eingetrocknet, verbanden sie mit dem Leben. Sie musste ganz plötzlich denken, dass es das Ende bedeutete, wenn er diese zudrücke … und dass da ja noch ein Nylonsack auf dem Tisch lag.

Im Polizeibericht hieß es weiter: »Der Täter legte seine gefesselte Frau mit dem Rücken in der angrenzenden Küche auf den Tisch, entkleidete den Unterkörper vollständig, zog sich selbst ebenfalls komplett aus und wollte an ihr den Beischlaf durchführen. Da dies aufgrund der Lähmungserscheinungen an den Beinen des Opfers nicht gelang, fixierte er das linke Bein mit einem Klebeband an einem Küchenstuhl, das rechte am Haltegriff der Backofentür, die sich in der Folge immer wieder öffnete. Er brachte den Vibrator zum Einsatz und vergewaltigte seine Frau mindestens drei Mal. Dazwischen verletzte er sie mit mehreren Faustschlägen ins Gesicht, zündete sich eine Zigarette an, mit der er ihr drei Brandwunden an der Nase, an der linken Brust und im Bereich der Schamlippen beifügte.«

Das hilflose Opfer spürte die Schmerzen, die Schläge und die Verbrennungen nur noch durch einen Schleier. Der alles beherrschende, vernichtende, entsetzliche Gedanke richtete sich auf den noch auf dem Tisch liegenden Nylonsack. Mit geweiteten Augen und verzerrtem Gesicht sah die röchelnde Frau, wie ihr Ex-Mann sich dem Tisch ganz ruhig näherte, den Nylonsack wie ein Spielzeug, wie einen Luftballon zu sich nahm, diesen in aller Ruhe seitlich emporstülpte und sich ihr mit seltsam fremdem Lächeln näherte …

Im gerichtsmedizinischen Protokoll hieß es: Das Gesicht war bläulich verfärbt und gedunsen, die Lunge gebläht und die rechte Herzhälfte akut erweitert, die Weichteile zeigten typische Stauungszeichen, der Tod trat durch Ersticken mit einem über den Kopf gestülpten Nylonsack ein.

Vor Gericht stand kein abgebrühter Verbrecher, kein gemütsloser Psychopath und kein kalter Killer, sondern ein Häufchen Elend, ein schluchzender und heulender Angeklagter, der immer wieder versicherte, wie sehr er seine Frau geliebt habe. Der psychiatrische Sachverständige sprach von gehemmter Aggressivität und Macht-Kontrolle-Bedürfnissen, stellte eine zwanghafte Persönlichkeit fest, schloss aber jede Form von Geistesstörungen und tiefgreifenden Affekten aus. Von Weinkrämpfen geschüttelt, bat der Beschuldigte um ein strenges Urteil und kündigte an, mit jeder Strafe einverstanden zu sein und in keinem Fall Berufung einzulegen.

Er habe seine Frau auf einer Dienstreise kennengelernt, habe sich in das freundliche, ruhige Zimmermädchen verliebt, habe ihr vom Leben in der großen weiten Welt, seinen beruflichen Erfolgen und seinen finanziellen Möglichkeiten erzählt, habe sich wie ihr Vater gefühlt, der dieses »junge, naive Ding« mit dem wirklichen Leben vertraut gemacht habe. Sie sei ihm gefolgt, habe sich rasch an die neuen Verhältnisse gewöhnt, habe den Wohlstand genossen, habe ihm den Haushalt gemacht und sei eine ganz ausgezeichnete Frau und Mutter geworden. Sie seien miteinander sehr glücklich gewesen. Begonnen hätten die Probleme nach dem Einschulen der Tochter, als die Frau den Plan fasste, eine neue Ausbildung zu machen und eine Berufstätigkeit aufzunehmen. Er sei dagegen gewesen, habe sich aber gegen ihre Beharrlichkeit und ihre Entschlossenheit nicht durchsetzen können.

Damals sei zwischen ihnen wohl ein Riss entstanden, die Frau habe auf eigenem Einkommen und getrennten Konten bestanden, sei immer selbstbewusster geworden und habe ihm nicht mehr jene Liebe wie früher geschenkt: »Sie war auf einmal außenorientiert.« Er sei sich nicht mehr wichtig vorgekommen, habe sich immer weniger geliebt gefühlt, sei eifersüchtig geworden und habe mit der Frau immer häufiger Streit gehabt. Er habe ihr gedroht und um ihre Zuwendung gebettelt und habe es nicht glauben können, als sie auf seinen gar nicht ernst gemeinten Vorschlag einer Trennung nicht geschockt reagiert habe. In dieser Zeit habe er sie während der immer heftiger werdenden Streitigkeiten geschlagen, weshalb sie mit der Tochter in eine Notwohnung für Frauen übersiedelt sei. Mit allen Mitteln habe er versucht, sie zurückzugewinnen. Er sei gescheitert, sei sich immer hilfloser und verlassener vorgekommen und schließlich in eine schwere Krise verfallen. Er habe nicht mehr schlafen und nicht klar denken können, habe den Appetit verloren, habe an nichts mehr Freude gehabt, habe Tag und Nacht gegrübelt, habe sich tief gekränkt und verletzt gefühlt und seine Situation als immer trostloser erlebt. Oft habe er den Wunsch gehabt, zu sterben, später habe er sogar mit Selbstmordgedanken gespielt: »Ich war am Ende, ich war völlig platt.«

Besonders aufgerieben habe ihn die Weigerung seiner Frau, mit ihm zu sprechen. Sie habe auf seine unzähligen Anrufe nicht reagiert, habe seine Mailbox-Botschaften nie beantwortet, habe seine Briefe ungeöffnet zurückgeschickt und sei davongerannt, wenn er vor dem Haus oder an ihrem Arbeitsplatz auf sie wartete. Er habe nur noch ein Gespräch mit ihr gewollt, ein einziges, eine letzte Aussprache, habe sie einmal zum Zuhören bewegen wollen, habe vor ihr seinen Schmerz und seine Liebesbeteuerungen hinausschreien wollen. Am Schluss sei es nur noch um ein Gespräch gegangen. Die vom Arzt verordneten Schlaf- und Beruhigungstabletten habe er nicht regelmäßig genommen, ein paar Mal habe er sich mit Alkohol volllaufen lassen. Am Tag, als er die Tat durchführte, sei er aber völlig nüchtern gewesen.

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Bei Tötungen des Intimpartners durch den ehemaligen Gatten oder Gefährten entwickelt sich der böse Gedanke aus einem Gefälle in der Täter-Opfer-Beziehung, nachdem sich die ursprünglich stabilen Kräfteverhältnisse in den emotionalen Beziehungen innerhalb einer Partnerschaft verändert haben. In der Regel nimmt der spätere Täter, meist der Mann, am Beginn der Beziehung die Position des Dominierenden ein, er ist seiner Partnerin überlegen, sorgt für das gemeinsame Einkommen und legt mit Selbstverständnis die Regeln des Ehe- und Familienlebens fest. Hingegen passt sich das spätere Opfer lange Zeit an, ordnet sich dem bestimmenden Partner unter, schränkt die eigenen Bedürfnisse ein und verzichtet auf eine autonome Lebensführung.

Sobald nun der bislang zurückstehende Teil erste Versuche macht, sich eigene Bereiche zu schaffen und selbstständige Wege zu gehen, gerät das ehemals klare, starre Machtgefüge in erhebliche Instabilität. Der noch Bestimmende sieht seine Position gefährdet, reagiert mit Unruhe und Unverständnis und versucht, die alten Verhältnisse wiederherzustellen. Mit allen Mitteln kämpft er um das Wiedererreichen des früheren, für ihn so angenehmen Gleichgewichts und seiner alten Machtposition. Dabei bringt er alle Formen der psychischen Beeinflussung, vom Betteln bis zum Drohen und von Suiziderpressungen bis zu Mordankündigungen reichend, zum Einsatz. Trotzdem muss er spüren, wie sich seine immer verzweifelteren Agitationen als fruchtlos, ja sogar als kontraproduktiv erweisen und wie er den Partner immer weiter von sich wegtreibt.

In seiner immer aussichtsloseren Lage versucht er, dem durch »Dosissteigerung« entgegenzusteuern: Die Bitten und Forderungen werden ultimativer und die Drohungen schärfer. Der ursprünglich mehr liebende Teil wendet sein Interesse umso entschlossener ab und zieht seine Zuwendung drastisch zurück. Aus seiner Sicht verliert der in der alten Ordnung geliebte und nie infrage gestellte Mann an Ansehen und Attraktivität, die bisherige Rangordnung wird hinterfragt gestellt, die eigenen Autonomiebestrebungen werden durch die Gefahr neuer und intensiverer Einengungen immer stärker. In der Entfaltung des weiteren Konflikts klammert sich der eine Partner immer verzweifelter an den anderen, während dieser Distanz und Unabhängigkeit sucht, sich immer mehr absetzt und dadurch unerreichbar wird, ja durch die Gegenwehr sogar feindliche Züge annimmt. Die Spirale der negativen Emotionen wird durch die täglichen Auseinandersetzungen emporgeschraubt, die Situation des Unterlegenen wird immer hoffnungsloser. Er fühlt sich unverstanden, verletzt, erledigt und unendlich gedemütigt.

Der ehemals Bestimmende, Bewunderte und Maßgebende findet sich somit plötzlich in der Situation des Unterlegenen. Er reagiert auf die Erkenntnis, weniger geliebt zu werden, immer panischer und verfällt in Selbstmitleid, Depressivität und Suizidalität. Es tritt das ein, was man als narzisstische Kränkungsreaktion bezeichnet. Im Gefühl, die Situation nun nicht mehr steuern zu können und der Entwicklung ohnmächtig ausgeliefert zu sein, lässt sich der Gekränkte nun zu panikartigen Agitationen, Tätlichkeiten und Erpressungen hinreißen. Während dieser durch spannungsreiche Instabilität gekennzeichneten Phase wechseln sich Selbstmordfantasien, Pläne zur Tötung des Partners und zum gemeinsamen Tod ab. Hoffnung schlägt um in Enttäuschung, Widerstand in scheinbare Akzeptanz des Unvermeidlichen, um erneut den Versuch eines Neuanfangs mit anschließender Resignation zu unternehmen. Der Verlassene hat, tief verletzt und schwer frustriert, immer mehr das Gefühl, als ob es um »alles oder nichts« gehe, als ob das Schicksal auf der Waage stehe und der unerträgliche Spannungszustand um jeden Preis beendet werden müsse. Er greift zu Alkohol und Beruhigungsmitteln, findet in der Nacht keinen Schlaf, leidet unter psychosomatischen Störungen und spürt intensiv den Wunsch nach Frieden und Ruhe, nach der großen Ruhe. Der bohrende Zermürbungsprozess unterminiert sämtliche Widerstandskräfte, der Wunsch nach Vergeltung nimmt überhand.

In dieser Phase spielt Eifersucht keine Rolle mehr. Gewöhnlich führt dann der Versuch einer »letzten Aussprache« zur völligen Eskalation, bei der die Tat für das Opfer – anders als in unserem Beispiel – überraschend kommt und – wie viele Fälle beweisen – auch den Täter gewissermaßen überrollt. Der Gedanke an die tabuisierte Lösung gewinnt an Gestalt, verdichtet sich allmählich zu einem Plan und ist für den Betroffenen, obwohl er alles andere als ein Gewalttäter sein mag, tröstlich. Er vermittelt ihm für einige Minuten die Illusion, die früheren Verhältnisse seien jetzt wiederhergestellt. Ähnlich wie bei suizidalen Entwicklungen tritt nach dem Tatentschluss eine scheinbare Entspannung, die berühmte »Ruhe vor dem Sturm« ein. Der Betroffene scheint die neue Situation hinzunehmen und die Trennung allmählich zu akzeptieren. Die äußere Abgeklärtheit täuscht seine Umgebung darüber hinweg, dass der Tatentschluss gefasst ist. Die Tat selbst erfolgt meist bei einer Aussprache, die sich tatsächlich als final erweisen sollte.

Das Tatgeschehen bricht mit elementarer Wucht über den Täter herein, er fühlt sich ein Stück weit fremdbestimmt und berichtet, sofern er die Tat überlebt, dass er diese in der konkreten Situation nicht erwartet und sich selbst auch »gar nicht zugetraut« hätte. Dies heißt aber nicht, dass er nicht anders hätte handeln können, dass der freie Wille völlig ausgeschaltet war und er nicht schuldfähig gewesen wäre. Die Gerichte gestehen aber manchmal eine heftige Gemütsbewegung zu und erkennen dann auf Totschlag, was eine viel geringere Strafe zur Folge hat als im Falle eines aus bösem Willen verübten Mordes. Tötungen dieser Art sind nicht immer auf Schädigung, Zerstörung oder Schmerzzufügung, in vielen Fällen nicht einmal auf Rache ausgerichtet, sondern wollen die als unerträglich erlebte eigene Situation beenden. Im Gefühl des »Alles oder Nichts« wird die Katastrophe zur Lösung – das Böse hat obsiegt.

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Weshalb hat Friedrich W. neben extremer körperlicher auch noch sexuelle Gewalt angewendet? Keinesfalls nur zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, sondern vielmehr zur Ausübung von Macht und Kontrolle, zur Bestätigung seiner Dominanz. Er wollte die Frau beherrschen und erniedrigen, wollte sein vermeintliches »Recht« demonstrieren und, wie wir ausgeführt haben, die alte Kräfteverteilung wiederherstellen. Da er in seiner Irritation die Gattin als stark, überlegen, ja bedrohlich erlebt hat, handelte er unter dem Einfluss dieses verzerrten Bildes mehr aus aggressiver als aus rein sexueller Motivation. Seine Tat war weniger ein Sexualdelikt als ein Gewaltdelikt mit sexuellem Charakter. Wenn sich Männer bedroht fühlen, etwa durch eine von der Partnerin forcierte Trennung, definieren sie ihren Status und ihre Männlichkeit besonders stark über und durch ihre Sexualität. Männer, welche sexuelle Gewalt ausüben, sind zudem Meister des Verdrängens. Sie halten ihr Verhalten für »rechtmäßig« und normal oder projizieren ihre eigenen Bedürfnisse in die Opfer hinein, wenn sie rechtfertigend sagen: »Frauen wollen das so haben!«

Die Vermischung von physischer und sexueller Gewalt wird gerade bei Vergewaltigungen in der Ehe, die nach einer Allensbach-Umfrage in jeder fünften Partnerschaft vorkommen, häufig gesehen. Entgegen der landläufigen Meinung wird sexualisierte Gewalt quer durch alle Schichten nicht von fremden Männern, sondern bei über 80 Prozent der Fälle durch Personen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld ausgeübt. Zwei Drittel davon sind die aktuellen oder ehemaligen Ehemänner und Partner. Wenn in Europa fast jede siebte Frau in ihrem Leben einmal Opfer einer Vergewaltigung wird, geschieht dies bei der Hälfte der Fälle im Kontext der Partnerschaft. Der häufigste Tatort ist nicht ein Park, ein abgelegener Innenhof oder ein dunkler Hausflur, sondern die Wohnung und das Ehebett, also jener Ort, wo sich Frauen am sichersten fühlen müssten und das Böse am wenigsten vermutet wird. Der Feind befindet sich dann tatsächlich im eigenen Bett.

Das Thema der sexuellen Gewaltausübung unter Partnern ist aber nach wie vor tabuisiert und leider auch politisch immer noch umstritten. So wurde die Vergewaltigung in der Ehe in vielen europäischen Ländern erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts in das Strafrecht aufgenommen. Amnesty International warf der ungarischen Regierung erst kürzlich vor, viel zu wenig zu tun, um Frauen vor erzwungener Sexualität in der Partnerschaft zu schützen, und weltweit wird in dem vom afghanischen Präsidenten Karsai erst im Juli 2009 geänderten Ehegesetz ein »Freibrief« zur Vergewaltigung in der Ehe gesehen. Wenn man sich vor Augen hält, dass 21 Prozent aller Notoperationen an Frauen wegen Verletzungen infolge körperlicher Misshandlungen durch den Partner notwendig werden, kann man sich vorstellen, wie hoch die Dunkelziffer bei diesem zwar nicht mehr tolerierten, aber noch immer stark ignorierten Thema ist. Ein noch viel größeres Dunkelfeld weisen andere Formen häuslicher Gewalt wie Drohungen, Nötigungen, Nachstellungen, Freiheitsberaubung, Einschüchterung, Verbot oder Zwang zur Arbeit oder Entzug des Haushaltsgeldes auf. Davon ist jede zweite Frau betroffen.

Aus dem Gesagten wird ersichtlich, dass – wie es die frauenpolitisch engagierte Juristin Renate Augstein ausdrückt – die Sexualität bei sexuellen Gewalthandlungen als Vehikel für nicht sexuelle Motive dient. Die sexuellen Gewalthandlungen resultieren wie im Beispiel des Friedrich W. aus Krisensituationen und stellen Kompensationsversuche für Minderwertigkeits- und Unzulänglichkeitsgefühle dar. Sexuelle Gewalthandlungen sind nicht Ausdruck von Stärke, sondern von Schwäche und Minderwertigkeitsgefühl. Es gibt Taten aus Machtgier, deren Ziel die Unterwerfung des Opfers ist, aber auch Taten aus Hass, bei denen das Opfer gedemütigt werden soll. Die Lust, die Frau zur Stärkung des eigenen Selbstwertgefühls zu unterdrücken, ist viel dominanter als die sexuelle Lust. Lust an der Macht und Macht in der Lust kombinieren sich bei der gewaltsamen Sexualität oft in fataler Weise. Wesentliche Gründe für männliche Gewalt liegen nicht nur in der Psyche des Täters und in der Verschiebung der partnerschaftlichen Machtverhältnisse, sondern auch in gesellschaftlicher Tradition, in unterschiedlichem sozialen Status der Partner, in fehlendem gesetzlichen Schutz und in Besonderheiten aufseiten der Opfer. So sind die betroffenen Frauen nicht nur wegen ihrer physischen Unterlegenheit benachteiligt, sondern haben zu 50 Prozent schon in der eigenen Kindheit Gewalterfahrungen gemacht oder sind Zeuginnen von Misshandlungen der Mutter geworden. Daraus hat sich bei manchen offensichtlich eine Haltung entwickelt, die sich nach dem berühmt gewordenen Satz richtet: »Der gewalttätige Mann ist ebenso normal wie der normale Mann gewalttätig ist.«

Sexueller Gewalttätigkeit liegt somit ein ganzes Bündel von Motiven und Zielen zugrunde, die überwiegend nicht aus krankhaften Störungen resultieren und somit eher »mad« als »bad« sind. Das Streben nach Stärke, Kontrolle und Identität, schwelende innere Feindseligkeit und Hass gegenüber Frauen, Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühle aufseiten des Mannes sind fast nie Schuldausschließungsgründe.

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Gewaltanwendung in der Ehe ist eine überwiegend, aber nicht ausschließlich männliche Domäne. Allerdings weiß man über die Problematik der Gewalt gegen Männer noch viel weniger als über jene gegen Frauen, da dieses Thema noch stärker tabuisiert ist. Die Auswertung von über 200 vorliegenden wissenschaftlichen Forschungsberichten aus europäischen und amerikanischen Ländern kam zu der überraschenden Schlussfolgerung, dass die Gewalt in Beziehungen zu etwa gleichen Teilen von Mann und Frau ausgeht, teilweise wurde sogar erhoben, dass Männer häufiger von Frauen attackiert werden als umgekehrt. Realistisch scheint die Zahl, dass etwa zehn Prozent der Opfer partnerschaftlicher Gewalt Männer sind. Eine Untersuchung der Berliner Polizei zu häuslicher Gewalt kam zu dem Schluss, dass ein Viertel der registrierten Fälle »gefährlicher und schwerer Körperverletzung« von Frauen an Männern ausgeübt werden. Jedenfalls handelt es sich bei häuslicher Gewalt gegen Männer nicht nur um Einzelfälle.

Die weibliche Gewalttätigkeit gegen den Partner reicht von Beleidigungen, Entwertungen bis zu Attacken mit Flaschen, Messern und Geschirr. Die Opfer schämen sich, jemandem davon zu erzählen, dass sie von der Frau geschlagen worden sind, und fürchten, dass ihnen ohnehin niemand glaubt. Deswegen ist die Anzeigebereitschaft äußerst gering und Hilfseinrichtungen werden von Männern kaum kontaktiert. In der kürzlich publizierten Pilot-Studie im Auftrag des deutschen Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend über die allgemeine Gewalttätigkeit gegenüber Männern wurde erwartungsgemäß festgestellt, dass diese hauptsächlich von männlichen Tätern verübt wird. Überraschend war dann aber doch, dass von 200 befragten Männern jeder vierte angab, einmal oder mehrmals mindestens einen Akt körperlicher Gewalt durch die aktuelle oder letzte Partnerin erfahren zu haben. Je zehn Prozent gaben an, leicht geohrfeigt, gebissen oder gekratzt, schmerzhaft getreten, gestoßen, hart angefasst oder durch einen geworfenen Gegenstand getroffen worden zu sein. Etwa fünf Prozent der Befragten haben durch häusliche Gewalt mindestens einmal eine Verletzung erlitten, und weitere fünf Prozent hatten schon einmal Angst, lebensgefährlich verletzt zu werden.

Wesentlich häufiger als von körperlicher Gewalt wird aber von emotionaler Aggressivität, von Demütigungen, Beleidigungen, Herabsetzungen und Einschüchterungen berichtet. Zusammenfassend kommt die Studie zu folgendem Ergebnis: »Es gibt ein hohes Maß an kontrollierendem Verhalten und an psychischer Gewalt durch die Partnerin. Es gibt ein hohes Maß an körperlichen Handlungen, wie Wegschubsen und leichte Ohrfeigen. Es gibt Männer, die Verletzungen davontragen, nach der Studie jedoch meist blaue Flecken. Es gibt Männer, die Angst haben, ernsthaft verletzt zu werden. Es gibt Männer, die sehr viele Gewalthandlungen erleben … Die Tatsache, dass die wenigsten Männer die Polizei einschalten oder Anzeige erstatten, weist auf weitere Fragen hin: Was ist häusliche Gewalt – was sind Beziehungskonflikte? Setzen Männer hier die Grenzen anders – bei sich und anderen?«

Einer der Befragten berichtet, seine Partnerin habe ihn mindestens einmal »wütend weggeschubst, ihm eine leichte Ohrfeige gegeben, ihn gebissen oder gekratzt, sodass es ihm wehtat, seinen Arm umgedreht oder ihn an den Haaren gezogen, sodass es ihm wehtat, ihn heftig weggeschleudert, sodass er taumelte oder umgefallen ist, ihn heftig geohrfeigt oder mit der flachen Hand geschlagen, etwas nach ihm geworfen, das ihn verletzen konnte, ihn mit etwas geschlagen, das ihn verletzen konnte, ihm ernsthaft gedroht, ihn umzubringen, ihn absichtlich verbrüht oder mit etwas Heißem gebrannt, ihn mit einem Haushaltsgegenstand, zum Beispiel mit einem Kochtopf, einer Pfanne oder einem Besenstiel bedroht, mit einem Haushaltsgegenstand auf ihn eingeschlagen und ihn mit einer Waffe, zum Beispiel einem Messer oder einer Pistole, verletzt.« Die Autoren sprechen von einer »Misshandlungsbeziehung«.

Dass es sich bei partnerschaftlicher Gewalt gegen Männer um kein Kavaliersdelikt, keine gern übergangene Bagatelle handelt, zeigt folgender Fall:

An einem Wintermorgen wurde auf dem Gehsteig vor einer Häuserzeile ein schwer verletzter, verwahrloster und deutlich alkoholisierter (1,6 Promille) Mann in bewusstlosem Zustand aufgegriffen. Er hatte ein Schädel-Hirn-Trauma mit mehreren Schädelbrüchen, Rippenserienfrakturen, Brüche an zwei Extremitäten und zahlreiche Prellungen erlitten. Da der Mann als Alkoholiker bekannt war, konzentrierten sich die Ermittlungen vorerst auf die einschlägigen Kreise. Später glaubte man, dass er Opfer eines Raubüberfalls geworden war. Schließlich aber stellte sich heraus, dass der als umgänglich, keinesfalls als aggressiv und auch in berauschtem Zustand als gutmütig geltende Mann von seiner Gattin schon wiederholt attackiert worden war, wenn er betrunken nach Hause kam. Er musste schon öfter wegen Rissquetschwunden, blau geschlagenem Auge, Verlust von Zähnen und Prellungen an der Unfallambulanz behandelt werden. Da er jeweils angab, im Rausch gestürzt zu sein, erfolgten keine weiteren Überprüfungen. Am Tag, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte, war er wieder zu später Stunde mit schwankendem Gang und lallender Sprache in die im zweiten Stock eines Häuserblocks gelegene eheliche Wohnung gekommen. Die auf ihn wartende Gattin schlug mit einem Besenstiel auf ihn ein, packte ihn kurzerhand, als er Widerstand leistete, schleppte ihn auf den Balkon, kippte ihn über die Brüstung und warf ihn in die Tiefe. Ohne sich um dessen weiteres Schicksal zu kümmern, schloss sie die Balkontür, spülte mit einem doppelten Cognac zwei Beruhigungstabletten hinab und ging schlafen.