Die bösen Gene

»In Wahrheit sind aber die bösen Triebe in ebenso hohem Grade
zweckmäßig, arterhaltend und unentbehrlich wie die guten: nur ihre
Funktion ist eine verschiedene.«

Friedrich Nietzsche

Ein milder Sommerabend lag am 13. Juli 1966 über Chicago. In einem Schwesternwohnheim ging alles seinen gewohnten Gang. Manche der zu Hause gebliebenen Schülerinnen lernten noch, ein paar saßen zusammen, einige hatten sich in die Zimmer zurückgezogen. Alles verlief ruhig und geordnet, nichts deutete darauf hin, dass sich an diesem friedlichen Ort bald eines der grauenhaftesten Verbrechen der amerikanischen Kriminalgeschichte ereignen sollte.

Eine der Schülerinnen war von ihrem Ausgang zurückgekommen und hatte nicht bemerkt, dass ihr jemand folgte, ein Mann, der nach ihr in das Heim eindrang. Es handelte sich um Richard Franklin Speck, einen 25-jährigen, aus Illinois stammenden ehemaligen Müllfahrer und Seemann mit einschlägiger Vergangenheit. Unter Broken-Home-Milieu-Verhältnissen aufgewachsen, wurde er früh in unterschiedlichster Form delinquent. Bis zu seinem 20. Geburtstag war er schon 40 Mal wegen mehrerer Straftaten, darunter Einbruch, Diebstahl und Körperverletzung, verhaftet worden. Im jungen Erwachsenenalter hatte er eine 15-Jährige geheiratet und mit ihr ein Kind gezeugt. Als er diese verließ, habe er es – wie er später ausführte – nicht übers Herz gebracht, sie zu töten. Allerdings fielen ihm vor dem Massaker in Chicago mindestens zwei Frauen zum Opfer: Eine Kellnerin, die sich gegen seine sexuellen Annäherungen gewehrt hatte, und eine 65-jährige Frau, welche er in Raubabsicht überfallen und anschließend vergewaltigt hatte. Es konnte nie geklärt werden, wie viele Menschen Richard Speck tatsächlich getötet hat, jedenfalls wurde er mit einer Reihe von einschlägigen Morden in Verbindung gebracht, ohne dass er diese gestanden oder ihm diese eindeutig nachgewiesen werden konnten.

Im Juli 1966, kurz vor der schwerwiegenden Tat, war er aus Texas gekommen und hatte sich in der Nähe des Schwesternheims ein Untermietzimmer genommen. Wie er ausführte, habe er ursprünglich einen Einbruch geplant, habe sich deswegen mit Messer und Gewehr bewaffnet und sei einer zutraulich wirkenden Schülerin in deren Wohnheim gefolgt. Als er dort von den Schwesternschülerinnen entdeckt worden sei, habe er diese als Geiseln genommen und erst dann den Entschluss gefasst, sie zu töten; dies aus Angst, dass sie ihn identifizieren könnten und er wieder im Gefängnis landen werde.

Er trieb sechs junge Schwestern in einen Raum und zwang sie, sich auf den Boden zu legen, fesselte ihre Hände und Füße mit Streifen, welche er von einem Bettlaken schnitt. Als er auf dem Gang Schritte hörte, versteckte er sich hinter der Tür und überwältigte dann noch drei weitere, nach Hause kommende Schülerinnen. Anschließend löste er bei jeweils einer Schwester die Fesseln, brachte sie der Reihe nach in einen Nebenraum, stach dort mit dem Messer wie rasend auf sie ein, würgte und schlug sie und metzelte so acht Krankenschwestern, eine nach der anderen, nieder. Nur eine einzige, die 23-jährige Corazon Amurao, die sich unter einem Bett versteckt hatte, überlebte. Sie musste mitansehen, wie der Eindringling unmittelbar über ihr eine ihrer Freundinnen vergewaltigte und ermordete, musste ihren Todeskampf, selbst unter höchster Todesangst leidend, hautnah miterleben. Ob er auch die anderen Opfer sexuell missbraucht hatte, ließ sich nie sicher klären, allerdings weist die ganze Tat das Muster eines sexuellsadistisch agierenden Killers auf.

Mit einer sich aus der Täterbeschreibung ergebenden Besonderheit brachte sich Speck gleichsam selbst zu Fall. Die Worte einer Tätowierung auf Specks linkem Unterarm hatte sich die überlebende Schülerin eingeprägt: »Born to raise Hell«. Als er sich in einem Krankenhaus eine Wunde, die er sich bei der Bluttat zugezogen hatte, behandeln lassen wollte, wurde die Tätowierung erkannt und der Täter gefasst.

In der über hundert Stunden dauernden Gutachtensuntersuchung durch den Psychiater Marvin Ziporyn sagte Speck unter anderem wörtlich: »Als ich im Sandkasten spielte, schlug ich mir versehentlich einen Hammer auf den Kopf und wurde bewusstlos. Ein paar Jahre später – etwa im Alter von zehn Jahren – spielte ich mit einigen Kindern. Sie verfolgten mich und ich kletterte auf einen Baum. Ich verlor den Halt, stürzte auf den Kopf und wurde in bewusstlosem Zustand gefunden …« Etwa fünf Jahre später ist es wieder passiert: »Ich rannte eine Straße hinab, prallte mit dem Kopf gegen eine Markisenstange aus Stahl und fiel wieder in Bewusstlosigkeit«. Ziporyn vertrat die Ansicht, dass Speck zum Mörder geworden sei, weil sein Hirn geschädigt war …, »der tödliche Ausbruch war unvermeidlich«, hielt ihn allerdings für zurechnungsfähig. Aus heutiger Sicht würden wir Speck wohl als desorganisierten Sexualmörder, welcher sozial verwahrlost und in vielfältiger Form kriminell geworden ist und unter einer extrem destruktiven inneren Dynamik leidet, bezeichnen.

Richard Speck wurde im folgenden Prozess zum Tode verurteilt, konnte allerdings nicht exekutiert werden, da der Oberste Gerichtshof im Jahr 1972 die Todesstrafe für verfassungswidrig erklärte. Speck wurde zu mehreren Freiheitsstrafen zwischen 50 und 150 Jahren verurteilt. Im Gefängnis verhielt er sich sehr angepasst, galt als zurückhaltend und bereitete nie disziplinäre Schwierigkeiten. Die beiden Sperlinge, die er mit Erlaubnis der Gefängnisleitung in der Zelle halten durfte, versorgte er vorbildlich. Daneben verbrachte er seine Zeit mit Malen. Einer seiner Aufseher erzählte: »Alles was er sagt, ist ja und nein. Und er lächelt immer freundlich«. Mehrere Anträge auf Begnadigung wurden abgewiesen. Er starb am 5. Dezember 1991 an einem Herzinfarkt in seiner Zelle.

Ein nach seinem Tod gefundenes Video zeigte Speck bei Sexspielen und Drogenpartys im Gefängnis. Gut gelaunt scherzte er über die Morde an den Schwesternschülerinnen und meinte wörtlich: »Es war einfach nicht ihre Nacht.« Seine ebenfalls auf dem Video festgehaltene Äußerung: »Wenn sie wüssten, wie viel Spaß ich hier habe, würden sie mich sofort freilassen« löste in den USA eine intensive Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe aus. Selbst nach seinem Tod kam Speck seinem Auftrag raise Hell nach. Auf die Frage, wie er sich während der Tötungshandlungen gefühlt hatte, meinte er: »So wie immer, ich habe keine Gefühle« und fügte hinzu, dass er nichts bereue. Auf die Frage, wie er sich fühle, wenn er jemanden erwürge, meinte er ohne jegliche Regung: »Es ist nicht dasselbe wie im Fernsehen, es dauert drei Minuten und man muss hart arbeiten«.

Trotz der äußeren Beruhigung hat sich die Persönlichkeit des Killers in der Haft nicht gewandelt. Hinter der freundlichen Fassade und dem unauffälligen Verhalten lauerten immer die anderen, die gemütskalten und manipulativen, die bösen Persönlichkeitsanteile in unveränderter Schärfe.

In der Person und in den Verbrechen des Richard Speck zeigen sich wesentliche Bestandteile des Bösen in ihrer bedrückendsten Form. Der in seiner Willensfreiheit durch keine mentale Behinderung und durch keine psychische Erkrankung eingeschränkte Mann wurde schon sehr früh delinquent, hat zahlreiche Straftaten in unterschiedlichsten Kriminalitätskategorien ausgeführt, hat bereits vor dem grauenhaften Massaker einen Raub und einen Sexualmord verübt, ist bei der Tötung der Schwesternschülerinnen ungemein brutal vorgegangen, hat sein letztes Opfer in dessen Todeskampf vergewaltigt und im Nachhinein keine Spur von Reue gezeigt. Nahezu selbstmitleidig hat er sich über die körperliche Anstrengung, welche ihm das Töten von Menschen bereitet habe, beklagt. Die zentrale Eigenschaft eines psychopathischen Charakters, nämlich das Fehlen jeder Empathie und das Vorherrschen absoluter Gemütskälte, beschreibt er wohl selbst am besten mit den Worten, dass er beim Erwürgen und Erdrosseln der Opfer so wenig Gefühl gehabt habe wie in seinem sonstigen Leben.

Die Tat des Richard Speck ist in der Skala des Bösen ganz oben anzusiedeln. Einzig eine genaue Planung kann man nicht beweisen. Alle anderen Kennzeichen des Bösen, von fehlendem Gemüt bis lustvollem Sadismus, von hochgradiger Delinquenzbereitschaft bis zu bösartigem Narzissmus reichend, waren bei ihm erfüllt – und das alles schien genetisch determiniert.

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Als sich die Welt mit diesem unfassbaren Verbrechen konfrontiert sah und intensiv über Motive des Täters und die Ursachen solchen Sadismus’ diskutiert wurde, tauchte das Gerücht auf, bei Richard Speck sei das »Mörder-Gen« in Form eines zusätzlichen Y-Chromosoms gefunden worden. Dies löste nicht nur eine rege Forschungsaktivität, sondern eine enorme Erleichterung der Bevölkerung aus. Endlich schien eine Erklärung für das Böse, endlich ein Beweis für die biologische Determiniertheit verbrecherischen Verhaltens, endlich eine handfeste wissenschaftliche Erklärung gefunden, endlich hatte das Böse einen Namen.

Die wilden Spekulationen wurden durch eine in Schottland durchgeführte Untersuchung, in welcher bei 8 von 197 wegen Gewalttätigkeit inhaftierten Gefängnisinsassen ein zusätzliches Y-Chromosom entdeckt wurde, gefördert. Als dann 1974 ein Forscherteam seine Ergebnisse publizierte, nach welchen diese Anomalie bei drei Prozent der Normalbevölkerung, jedoch bei elf Prozent der Kriminellen zu finden sei, schien der Beweis, dass Gewalttätigkeit häufig an eine Chromosomen-Anomalie mit einem zusätzlichen X- und insbesondere einem zweiten Y-Chromosom gebunden sei, endgültig erbracht. Während die Zellen von Frauen zwei X-Chromosomen enthalten, weisen die männlichen ein gemischtes Paar, jeweils ein Chromosom vom X-Typ und eines vom Y-Typ, auf. Bei Männern, die von Geburt an ein zusätzliches Y-Chromosom besitzen – sodass die Zelle ein X und zwei Y enthält –, wurde die Wahrscheinlichkeit, dass sie kriminell werden, als besonders hoch eingeschätzt.

Spätere Untersuchungen haben diese Ergebnisse allerdings nicht bestätigt. Im Gegenteil, mehrere amerikanische Wissenschaftler stellten bei XYY-Männern sogar eine verminderte Aggressionsneigung fest. Auch das Klinefelter-Syndrom weist keinen direkten Zusammenhang mit Kriminalität auf. Die späteren Forscher wiesen auf einen zentralen Mangel der den Mythos des Mörder-Chromosoms bedingenden Untersuchungen hin: Diese hatten die naheliegendste Möglichkeit nicht überprüft, nämlich, inwieweit die mit der Chromosomen-Anomalie verbundenen Störungen wie Intelligenzminderung oder Störungen in der Impulskontrolle erst indirekt zur Kriminalität führen könnten.

Bei einem aufsehenerregenden Prozess im Paris des Jahres 1968 plädierte der Verteidiger des wegen Prostituiertentötung angeklagten Daniel Hugon auf Freispruch. Er argumentierte, dass dieser wegen eines XYY-Chromosomenmusters für sein Verhalten nicht zur Verantwortung gezogen werden könne. Hugon war von außerordentlicher Körpergröße und verhielt sich oft ungeschickt und tollpatschig, weshalb er bereits als Kind gehänselt, verspottet und geschlagen wurde. Er entwickelte schon früh neurotische Störungen, litt unter Minderwertigkeitskomplexen und wurde in der Schulgemeinschaft in eine so isolierte Rolle gedrängt, dass er es nicht mehr aushielt und die Schule verließ. Von Selbstwertzweifeln geplagt, gelang es ihm nicht, eine weiterführende Ausbildung zu machen oder ein geregeltes Arbeitsverhältnis aufzunehmen. Über lange Zeiträume war er arbeitslos und ohne festen Wohnsitz, fand nie eine befriedigende Partnerschaft und sprach vermehrt dem Alkohol zu. Jene Arbeitgeber, die ihn vorübergehend als Hilfsarbeiter beschäftigten, beschrieben ihn als sehr fleißig und außerordentlich höflich. 1965 suchte Hugon mit der Prostituierten Marie Louise Olivier ein heruntergekommenes Hotel am Place Pigalle auf. Als es zu Intimitäten kommen sollte, war er von der bereits 62-jährigen, verlebt wirkenden Frau angewidert und weigerte sich, mit ihr zu schlafen. Hochgradig irritiert, verbrachte er noch die Nacht mit ihr, befand sich aber in einem durch Scham, Vorwürfe und reaktivierte Minderwertigkeitsgefühle hervorgerufenen Spannungszustand, lief ständig im Zimmer auf und ab und fand keinen Schlaf. Als die Prostituierte am Morgen darauf bestand, ihr den vereinbarten Lohn von 50 Francs zahlen zu müssen, übergab er ihr den sein gesamtes Vermögen umfassenden Betrag – und erwürgte sie anschließend.

Der hinzugezogene Genetiker, eine angesehene wissenschaftliche Koryphäe, stellte zwar fest, dass es den geborenen Verbrecher nicht gebe, dass bei Menschen mit Chromosomen-Abnormitäten dieser Art die Wahrscheinlichkeit, zum Verbrecher zu werden, um 30 Prozent höher liege als in der Durchschnittsbevölkerung. Trotzdem vertrat er mit Vehemenz die Ansicht, dass Hugon deswegen bei der Ermordung der Prostituierten nicht schuldfähig gewesen sei. Das Gericht schloss sich aber dieser Ansicht nicht an und verurteilte Hugon unter Berücksichtigung einer Reihe von Milderungsgründen zu sieben Jahren Gefängnis.

Der Fall Hugon demonstriert aber recht klar die indirekte Bedeutung der Gene und das Zusammenspiel zwischen genbedingten Störungen und kriminellem Verhalten. Hugon war infolge der Genanomalie sowohl im körperlichen Bereich als auch im Verhalten gehandicapt. Wegen des genbedingten Hochwuchses und des tapsigen Verhaltens wurde er ausgelacht und verspottet, reagierte darauf mit neurotischen Ängsten und Minderwertigkeitsgefühlen. Er geriet innerhalb der Gemeinschaft in eine Außenseiterposition, konnte sich beruflich nicht etablieren und fand keine Partnerin. Als er sich Liebe und Zuneigung erkaufen wollte, wurden ihm wohl seine Ängste, seine Selbstwertzweifel und sein verpfuschtes Leben drastisch bewusst. Er sah sich wieder zurückgeworfen und erneut gekränkt, versuchte eine ganze Nacht lang, seine Spannungen zu unterdrücken, war dazu aber nicht mehr in der Lage, als er sein gesamtes Geld hergeben musste. So lässt sich die Tatmotivation auch psychologisch erklären, wobei die Genabweichung zwar am Anfang der Motivationskette steht und möglicherweise auch den tödlichen Aggressionsdurchbruch fördern, aber niemals direkt Mord und Totschlag auslösen kann.

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Gene könnten aber durch ihren Einfluss auf das Hormonsystem, den Hirnstoffwechsel, die Botenstoffe und die Regelkreisabläufe indirekt kriminelles Verhalten begünstigen. Dies wäre dann der Fall, wenn der Blutspiegel an aggressionsfördernden Hormonen oder Transmittern durch genetische Veranlagung erhöht ist. In den letzten Jahrzehnten hat sich deshalb die kriminologische Forschung auf den Einfluss von körpereigenen Substanzen konzentriert. Im Mittelpunkt des Interesses standen dabei einerseits die männlichen Sexualhormone, insbesondere das Testosteron, andererseits die sogenannten Neurotransmitter, also die Hirnbotenstoffe wie Serotonin, Dopamin oder Noradrenalin. Schwankungen im Spiegel dieser Substanzen könnten genetisch determiniert sein, womit unsere Erbanlagen indirekt eine Auswirkung auf Emotionen und Aggressionen hätten.

Als historisch bedeutsam gelten in dieser Frage die Untersuchungen eines Forscherteams von der Universität Wisconsin. Es befasste sich mit dem Hirnstoffwechsel von 442 Neuseeländern, welche in ihrer Kindheit schwer misshandelt worden waren und später immer wieder durch stark aggressives Verhalten auffällig geworden waren. Die Wissenschaftler fanden bei einem Sechstel einen genetisch bedingten Defekt im MAOA-Gen. Das Enzym MAO baut diverse Hormone, etwa Adrenalin, aber auch Botenstoffe des Gehirns, die für unsere Emotionen verantwortlich sind, ab. Bei einem Ausfall werden die für Verhalten und Steuerung zuständigen Hirnregionen von diesem nun in Überkonzentration wirkenden Neurotransmitter überschwemmt, was die Bereitschaft zu gewalttätigem Verhalten bei den betroffenen Individuen ansteigen lässt.

Unter den Botenstoffen, die Signale von einer Nervenzelle zur anderen senden und dadurch Emotionen und Verhalten steuern, ist der Einfluss des Serotonins am eindeutigsten. Dieser Neurotransmitter ist bei der Unterdrückung von Impulsen wegen seines beruhigendentspannenden und angstmindernden Effekts von größter Bedeutung. Wenn der Serotoninspiegel im Gehirn erniedrigt ist, können Aggressionen und gewalttätige Verhaltensweisen viel leichter durchbrechen. Defizite im Serotonin-Haushalt sind genetisch bedingt, können aber auch durch Umwelteinflüsse verursacht sein.

Nicht so eindeutig sind die Ergebnisse bei den beiden anderen Neurotransmittern Dopamin und Noradrenalin. Zwar hat man auch hier einen Zusammenhang mit Aggressivität nachgewiesen, ohne dass eindeutig geklärt werden konnte, ob eine Überproduktion dieser Stoffe gewalttätiges Verhalten begünstigt.

In Tierversuchen konnte eindeutig bewiesen werden, dass es einen Zusammenhang zwischen dem männlichen Sexualhormon Testosteron und aggressivem Verhalten gibt. Wird dieses Hormon von außen verabreicht, so beißen, schlagen, kratzen oder stechen friedliche Kreaturen in einem nicht gekannten Ausmaß. Obwohl dieser Effekt beim Menschen nicht so stark ausgeprägt ist, belegen alle Untersuchungen klar, dass ein erhöhter Testosteronspiegel mit aggressivem Verhalten verbunden ist, umgekehrt aber Gewalttätigkeit auch unsere männlichen Hormone steigen lässt.

Die verhaltensgenetische Forschung konnte bislang keine Gene für Kriminalität oder Gewalt identifizieren. Zwillings- und Adoptionsstudien haben aber unbestritten nachgewiesen, dass kriminelles Verhalten Erwachsener zumindest teilweise genetischen Einflüssen unterliegt. Nach verschiedenen Großstudien mit adoptierten Kindern und deren Eltern, welche in den USA, Schweden und Dänemark durchgeführt wurden, zeigte der biologische Nachwuchs von Kriminellen eine deutlich erhöhte Tendenz zu Straffälligkeit, auch wenn die Nachkommen bei nicht kriminellen Adoptiveltern aufgewachsen sind. Alle bedeutenden Adoptionsstudien haben die höchste Quote an Kriminalität bei jenen Adoptivkindern gefunden, deren Adoptiv- und leiblichen Väter vorbestraft waren. Gesamthaft lässt sich folgern, dass der Einfluss der Erblichkeit bei nicht gewalttätiger Kriminalität am größten und bei Gewaltakten am niedrigsten ist. Die bekannte Genetikerin Laura Baker meint, dass günstige Umweltgegebenheiten eine Person grundsätzlich dazu befähigen können, negative genetische Vorprägungen zu überwinden. Gene können Kriminalität und Gewalt und damit auch das Böse nicht direkt kodieren, sagt sie. Ihrer Ansicht nach gilt es als unwahrscheinlich, dass jemals ein »Gen für Gewalt« entdeckt wird, und als noch unwahrscheinlicher, dass der Nachweis eines »Gens des Bösen« gelingt. Wohl aber werde man weitere Gene finden, welche eine Veranlagung zu Gewalttätigkeit bedingen, sei es über Störungen der Impulskontrolle oder erhöhte Aggressionsbereitschaft.

In den USA wurde gar darüber spekuliert, ob man das Böse gleichsam »essen« könne, das heißt, ob delinquente Entwicklungen und aggressive Verhaltensweisen durch falsche Ernährung mitverursacht sein könnten. Als gefährliche Stoffe wurden insbesondere Blei, Milch, Phosphate und Vitamin B1 vermutet. Die bisher vorliegenden Ergebnisse sind ebenso wenig eindeutig wie jene, die einen Zusammenhang zwischen bösem Verhalten und der Herzfrequenz annehmen. Manche Forscher meinen nämlich, dass die von vielen Straftätern als Ursache angeführten inneren Spannungen und das Gefühl der Leere auf eine durch langsamen Herzschlag bewirkte ungenügende Aktivierung des Erregungsniveaus der Hirnrinde zurückzuführen seien und Personen nach langsamer Herzaktivität ein besonderes Bedürfnis nach einem »Kick« haben. Diesen könnten sie durch eine unmotivierte Aggressionshandlung oder einen sexuellen Übergriff anstreben.

In Zusammenhang mit den Schul-Amokläufen der letzten Jahre wird die Bedeutung der Gene für aggressives Verhalten neuerdings wieder leidenschaftlich diskutiert. Die jugendlichen Täter stammen nämlich meist nicht aus sozial benachteiligten, verwahrlosten Verhältnissen, sondern aus Mittelschichtfamilien, und sind nicht in delinquency areas von Ballungsräumen, sondern in gutbürgerlichen Vorortbezirken aufgewachsen. Die Eltern des Oregon-Attentäters, des 15-jährigen Kipland Kinkel, waren beide Lehrer und vorbildlich um die Erziehung ihres Sohnes bemüht. Mit allen Mitteln hatten sie versucht, diesen von seiner Waffenbesessenheit abzubringen, wurden aber schließlich, ebenso wie neun seiner Klassenkameraden, Opfer von dessen Amoklauf. Auch die Gewalttäter des Highschool-Anschlags in Columbine im April 1999, die weißen Teenager Eric Harris und Dylan Klebold, stammen aus besten Verhältnissen. Die Macht der Gene müsse also, so wurde gefolgert, stärker sein als jene der Erziehungs- und Umwelteinflüsse. Die wissenschaftlichen Untersuchungen ergeben interessante Aspekte, aber keine klaren Antworten.

Nach heutigem Forschungsstand ist auszuschließen, dass Kriminalität durch unsere Erbmasse oder andere biologische Faktoren determiniert ist und der Sitz des Bösen in den Genen liegt. Unzweifelhaft haben aber genetisch bedingte Faktoren wie Körperbau, Intelligenz und Temperament einen gewissen Einfluss, was sich aus alltäglichen Beobachtungen ergibt. Ein umgänglicher, gemütlicher Pykniker wird, sofern er kriminell wird, am ehesten Betrügereien verüben. Ein durchtrainierter, weniger intelligenter Mann wird wahrscheinlich eher zu tätlichen Aggressionen neigen als ein blass-schwächlicher Hochintelligenzler, welcher vermutlich eher »Weiße-Kragen-Kriminalität« bevorzugen wird.

Tatsächlich haben sowohl Veranlagung als auch Umwelt Auswirkungen auf unser Verhalten, auch auf das aggressive und delinquente. Sowohl die Rolle der Gene als auch jene der Sozialisation sind in der Entstehung jeglicher Form antisozialen Verhaltens einschließlich Gewalt und Aggression nicht zu unterschätzen. Nach heutigen Kenntnissen scheint die Kombination bestimmter Anlage- und Umweltfaktoren für die Neigung eines Individuums zu aggressivem Verhalten ausschlaggebend zu sein. Wie genetische und umweltbedingte Faktoren zusammenspielen, ist noch nicht genügend geklärt.

Kriminalität ist nicht allein eine Frage der Gene, sondern resultiert vielmehr aus einem Wechselspiel zwischen Genen und Umwelteinflüssen. Es gibt keine bösen Gene und die Ursache des Bösen schlummert nicht in unserer Erbmasse. Allenfalls können dort bestimmte Verhaltensweisen, die böses Handeln begünstigen, angelegt sein. Das Böse ist aber kein genetisches Problem, und das ist gut so. Würde man tatsächlich Mörder-, Räuber- und Vergewaltigungs-Chromosomen oder Diebstahls-, Betrüger- und Erpresser-Gene finden, wäre mit schwersten Diskriminierungsmaßnahmen zu rechnen. In der auf Sicherheit und Verbannung des Bösen bedachten Welt würden wahrscheinlich Screening-Untersuchungen durchgeführt, um die Träger eines kriminellen Gens zumindest zu identifizieren, auf verschiedene Weisen – viel effektiver als bei Orwell – zu überwachen, ja sogar zu eliminieren. Rehabilitationsmaßnahmen von Verbrechern mit derartigen Genen wären völlig unmöglich, weil dies – da man Gene nicht ändern kann – absolut aussichtslos wäre. Die Erkenntnis, dass das Böse nicht in den Genen angesiedelt ist, mag für Sie, verehrte Leser, unbefriedigend sein, irgendwie wirkt es aber doch sehr beruhigend, dass niemand als ein geborener Verbrecher auf die Welt kommt.

Ach ja, was ich Ihnen noch sagen wollte, auch Richard Speck hat, wie spätere Analysen belegten, ein ganz normales Chromosomenmuster gehabt. Das Mörder-Chromosom hat es bei ihm und auch bei anderen Gewalttätern nie gegeben, es war und ist ein Mythos.