»Eine schlechte Handlungsweise kann man sein lassen, man kann sie
bereuen, aber böse Gedanken gebären fortgesetzt böse Taten.«
Leo N. Tolstoi
Am 1. August 1966, einem heißen Sommertag, herrschte auf dem Campus der Universität Austin in Texas das übliche geschäftige Treiben. Studenten eilten zu ihren Vorlesungen, Professoren gingen zu ihren Instituten, Besucher schlenderten herum und zahlreiche Touristen wollten von der im 27. Stock des Universitätsturms errichteten Aussichtsplattform den Blick über das Gelände genießen.
Es war 11.48 Uhr, als Schüsse fielen. Von den Studenten und Campusbediensteten wurde dies gar nicht richtig registriert, sodass sie vorerst weder Schutz suchten noch die Flucht ergriffen. Dadurch hatte der Heckenschütze, welcher sich auf der Plattform mit einem Scharfschützengewehr, einer abgesägten Schrotflinte, diversen anderen Waffen und einem Koffer voller Munition verbarrikadiert hatte, ein leichtes Ziel. Er schoss auf alles, was sich auf dem Universitätsgelände und einer nahen Einkaufsstraße bewegte, traf mit hoher Präzision bis auf eine Entfernung von über 400 Metern, tötete insgesamt 17 Menschen und verletzte 66 weitere. Erst nach 66 Minuten konnte er durch den heldenhaften Einsatz von vier Polizeibeamten, die die nahezu uneinnehmbaren Barrikaden zur Plattform überwunden hatten, erschossen werden. Beim Toten, welcher als der am 24. Juni 1941 geborene Charles Joseph Whitman identifiziert werden konnte, wurde bei der Obduktion ein Hirntumor gefunden.
Unter den Opfern von Whitman befanden sich nicht nur zwei Familien, sondern auch ein ungeborenes Kind, das im Mutterleib am Kopf getroffen und tot geboren wurde. Das letzte Opfer starb im November 2001. Der zum Zeitpunkt des Anschlages 23-jährige David Gunby war mit einer Niere zur Welt gekommen und verlor durch Whitmans Schüsse nicht nur dieses Organ, sondern auch sein Augenlicht.
Der Turm der Universität zu Austin wurde für zwei Jahre gesperrt, dann für Besucher wieder geöffnet, ehe er wegen mehrerer Suizide im Jahr 1975 neuerlich geschlossen werden musste und bis 1989 unzugänglich blieb. Noch heute zeugen die vergipsten Einschusslöcher in den Wänden von der Tragödie des 1. August 1966.
Das Massaker von Austin steht am Beginn einer neuen kriminologischen Ära, jener der Schulmassaker und der unmotivierten Tötung vieler Unbeteiligter durch einen einzelnen Amokschützen. Aus der Krise in seinem Lebenslauf und dem medizinischen Befund des Charles Joseph Whitman kann das Zusammenspiel von zwei unabhängigen, in die Katastrophe mündenden Faktoren abgeleitet werden:
Whitman wuchs bei seinen Eltern unter vorerst guten familiären Verhältnissen auf, zeigte keine Entwicklungsverzögerungen und keine Verhaltensauffälligkeiten, galt in seiner katholischen Schule als Musterschüler und war im Baseball-Team sehr beliebt. Er hatte bei den Pfadfindern als »Eagle Scout« den höchstmöglichen Rang erreicht und beim United States Marine Corps vorbildlich gedient. Zu einem Knick in seiner Lebenslinie und zu deutlichen Verhaltensänderungen kam es in seinem 25. Lebensjahr, als ihn seine Eltern über ihren Plan, sich scheiden zu lassen, informierten. Whitman wurde nervös, litt unter Konzentrationsstörungen und Kopfschmerzen. Er suchte am 29. März 1966 den Psychiater Dr. Heathly auf, um mit ihm über seine psychischen Probleme zu sprechen. Dabei erzählte er ihm von seinen zwanghaften Gedanken, auf einen Turm zu steigen und mit einem Gewehr viele Menschen zu erschießen. Dr. Heathly notierte eine »gewisse Feindseligkeit«, unternahm aber keine weiteren Schritte, was ihm später den Vorwurf der Fahrlässigkeit und eine Menge rechtlicher Probleme einbringen sollte.
In den folgenden Wochen muss Whitman innerlich Furchtbares mitgemacht haben. Über seine inneren Gefühle, seine Gedankenwelt und seine immer zwanghafteren Denkinhalte gibt sein letztes Schreiben, das beim Leichnam seiner Frau gefunden wurde, eindrucksvollen Einblick. Im ersten Teil schildert er die offensichtlich durch den Hirntumor hervorgerufenen psychischen Veränderungen, die er selbst schmerzhaft spürte und als krank und fremd erlebte. Beinahe flehend hält er über die unerklärlichen Zwangsgedanken fest:
»Ich kann nicht verstehen, was es ist, das mich zwingt, diesen Brief zu schreiben. Vielleicht gibt es einen Grund für die Taten, die ich vor Kurzem begangen habe. In diesen Tagen kann ich mich nicht verstehen. Ich sollte ein durchschnittlicher, normaler und intelligenter junger Mann sein. Jedoch kürzlich (ich kann nicht mehr sagen, wann es begann) wurde ich ein Opfer vieler ungewöhnlicher und vernunftwidriger Gedanken. Diese Gedanken kehren ständig wieder und es erfordert eine enorme Bemühung, sich auf die nützlichen und progressiven Aufgaben zu konzentrieren. Im März, als bei meinen Eltern ein körperlicher Konflikt ausbrach, geriet ich unter großen Druck.
Ich konsultierte einen Dr. Cochrum am University Health Center und fragte ihn, ob er mir einen Spezialisten für Geisteskrankheiten empfehlen könne, die ich bei mir vermute. Ich sprach mit einem Arzt über zwei Stunden und versuchte ihm meine Ängste über meine wiederkehrenden aggressiven Gedanken zu schildern. Nach einer Sitzung sah ich den Doktor nie wieder und seither kämpfe ich allein gegen meine geistigen Probleme. Nach meinem Tod soll eine Autopsie an mir vorgenommen werden, ob da eine Geisteskrankheit vorliegt. Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen in der Vergangenheit und brauchte zwei große Flaschen Excedrin in den letzten drei Monaten.
Nach etlichen solcher Gedanken entschloss ich mich, meine Frau Kathy zu töten, heute Nacht, nachdem ich sie von ihrer Arbeit bei der Telefonfirma abgeholt habe. Ich liebe sie wirklich und sie war mir eine gute Frau, die sich jeder Mann nur wünschen kann. Ich kann keinen rationalen Grund dafür nennen. Vielleicht ist es Egoismus oder es liegt daran, dass ich sie mit meinen Taten nicht in Verlegenheit bringen möchte. Derzeit ist es der Grund, dass ich es nicht wert bin, in dieser Welt zu leben und ich sie nicht allein lassen möchte. Ich werde sie so schmerzlos wie möglich töten.
Ähnliche Gründe bewegen mich auch dazu, meiner Mutter das Leben zu nehmen. Ich denke nicht, dass die arme Frau das Leben so genossen hat, wie sie es verdient hat. Sie war eine einfache junge Frau, die einen besitzergreifenden und dominanten Mann geheiratet hat. Mein ganzes Leben als Junge, bis ich zum Marine Corps kam …«
Hier hörte Whitman auf zu tippen und gab in handschriftlichen Notizen Einblick in seine Motivlage. Er schien durch die Auseinandersetzung seiner Eltern schwer irritiert, spürte einen steigenden Hass gegen seinen Vater und sah darin ein Motiv für das ihm selbst nicht verständliche Verbrechen, nämlich seinen Vater dadurch in Schande zu stürzen. Dazu schreibt er:
»Ich war Zeuge, wie er sie mindestens einen Monat lang schlug. Dann, als sie genug von ihm hatte, wollte mein Vater darum kämpfen, sie unter ihrem Lebensstandard zu halten. Ich kann mir vorstellen, dass es so scheint, dass ich meine Lieben brutal umgebracht habe. Aber ich will nur eine schnelle, sorgfältige Arbeit machen.
Wenn meine Lebensversicherungspolice noch gilt, sehen Sie bitte, dass alle ungedeckten Schecks, die ich dieses Wochenende schrieb, bezahlt werden. Zahlen Sie bitte meine Schulden. Ich bin 25 Jahre alt und bin finanziell unabhängig gewesen. Spenden Sie den Rest anonym einer Stiftung für Geisteskrankheiten. Möglicherweise kann die Forschung weitere Tragödien dieser Art verhindern.
Charles J. Whitman«
Am 31. Juli 1966 fuhr Whitman zu seiner Mutter und erstach sie, danach tötete er seine schlafende Gattin. Am darauffolgenden Morgen mietete er einen Montagewagen, bekleidete sich mit einem Arbeitergewand, nahm den mit einem ganzen Waffenarsenal voll bepackten Koffer und fuhr zum Eingang der Universität. Mit der Behauptung, Material liefern zu müssen, erhielt er eine Fahrerlaubnis für das Campusgelände. Er parkte vor dem Hauptgebäude, dem Universitätsturm mit Aussichtsplattform, schleppte den Koffer mit den Waffen über die letzten zwei Stockwerke, erschoss im Stiegenhaus zwei Besucher und erschlug mit dem Gewehrkolben die an ihrem Schreibtisch vor der Plattform sitzende Rezeptionistin. Dann verbarrikadierte er sich auf der Plattform und begann zu schießen …
Jener Hirntumor, der bei der gerichtsmedizinischen Obduktion von Whitmans Leiche gefunden wurde, befand sich im Bereich des rechten Linsenkerns, einer Region, die in den letzten Jahren bei der wissenschaftlichen Suche nach dem Sitz des Bösen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist.
Das Putamen ist einer der geheimnisvollsten Teile unseres Gehirns. Ursprünglich glaubte man, dass dieser nur eine Funktion im Bereich der Bewegungsanbahnung habe. Durch moderne Untersuchungen mithilfe von Magnetresonanz-Tomografen konnte aber nachgewiesen werden, dass er auch bei verschiedenen Gefühlen, besonders Liebe und Hass, aktiv wird. Eine Gruppe von Neurowissenschaftlern vom University College London zeigte 17 Probanden Fotos von verhassten Menschen, gewöhnlich privaten oder beruflichen Nebenbuhlern. Zum Vergleich wurden ihnen Bilder neutraler Personen, zu denen die Probanden keine besondere Gefühlsbeziehung hatten, vorgehalten. Jeder Teilnehmer konnte die Intensität seines Hasses in einer Skala von 0 bis 72 Punkten einordnen. Die Scan-Untersuchungen zeigten dann ganz eindeutig, dass bei Personen mit Hassgefühlen das Putamen hochgradig aktiviert wurde, woraus sich schließen lässt, dass dieses kleine Hirnareal mit der Entstehung negativer Gefühle und Aggressionen in Verbindung steht.
Einzelne spektakuläre Fälle hatten das Interesse auf die bislang wenig erforschte Hirnregion, zu welcher auch das Putamen gehört, gelenkt: Bei einer Untersuchung des konservierten Gehirns, des schon an anderer Stelle erwähnten Massenmörders Wagner, wurde im Bereich des limbischen Systems ein etwa ein Zentimeter langer Riss gefunden. Somit war das Gehirn in einer Region geschädigt, die nach Meinung des untersuchenden Wissenschaftlers, des deutschen Neurologen Oskar Vogt, »für die adäquate emotionale Einstufung« und Realitätsbewertung der wahrgenommenen Umwelt von zentraler Bedeutung ist und an der gleichen Stelle liegt, bei der auch bei Patienten mit paranoid-halluzinatorischen Psychosen Struktur- und Funktionsdefizite nachgewiesen werden konnten.
Die Amygdala-Kerne gerieten endgültig in Verdacht, als bei der Untersuchung des Gehirns der toten Führerin der RAF (Rote-Armee-Fraktion), Ulrike Meinhof, in diesem Hirnbereich ein gutartiger, aber nicht operabler Blutgefäßtumor gefunden wurde. Dieser war an der Basis des Gehirns gelegen, hatte aber erhebliche Auswirkungen auf das limbische System, besonders die Amygdala-Kerne. Verschiedene Neurowissenschaftler glauben, dass die Wesensänderung, welche die ehemals hervorragende Kolumnistin zu einer aggressiven, fanatischem Gedankengut zuneigenden Person verwandelte und sie in den terroristischen Untergrund abgleiten ließ, Folge dieser Störung sei. Zeitzeugen schildern, dass Meinhof nach der erfolglosen Operation im Jahr 1962 gefühllos und emotional »wie abgeschnitten« geworden sei und einen Selbstentfremdungsprozess durchgemacht habe.
Seit Längerem bekannt und auch besser durchschaubar sind die Auswirkungen von Störungen des Frontalhirns auf aggressives und kriminelles Verhalten. Eine Schädigung des Frontalhirns durch Kopfverletzungen, Tumoren oder Entzündungen führt zu erhöhter Impulsivität und Aggressivität, zu rücksichtslosem Verhalten, zu erhöhter Risikobereitschaft, kurzum, zu einer Enthemmung von Trieben und Impulsen. Der Frontallappen, der für die normative Kontrolle des Verhaltens zuständig ist, ist eine höchst komplex organisierte Hirnregion, in der nicht nur viele motorische und vegetative, sondern auch kognitive und emotionale Funktionen organisiert sind. Diese sind zuständig für vorausschauendes Denken und Planen, für das Erkennen und Befolgen von Regeln, für die Abstraktionsfähigkeit und Konzeptbildung sowie für kontrollierendes Verhalten, somit für eine Reihe von Funktionen, welche in der Entstehung von Kriminaltaten eine Rolle spielen können.
Bei Schädigungen kommt es zur Verminderung des psychomotorischen Antriebs und zu affektiver Verflachung, darüber hinaus zu Enthemmung, zu gehobener Stimmungslage, zu Kritiklosigkeit und Witzelsucht, vor allem aber zu eingeschränkter emotionaler Schwingungsfähigkeit und dem Verlust von Wertvorstellungen. Häufig leiden die Betroffenen an einem »Gefühl der Gefühllosigkeit« sowie an stark reduzierter Impuls- und Triebkontrolle. Historisch berühmt geworden ist der Fall des Schienenarbeiters Phineas Gage, dessen Wesen sich nach einem Unfall, bei dem sein Stirnhirn von einer Eisenstange durchbohrt wurde, radikal änderte. Der früher verlässliche, verantwortungsbewusste, willensstarke Vorarbeiter wurde reizbar, launisch, jähzornig, triebhaft und ordinär, obwohl seine sprachlichen und motorischen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt waren.
»Gage ist nicht mehr Gage«, sagten seine Mitarbeiter, und sein Hausarzt John Harlow schrieb markant: »Er ist jetzt ein Mensch mit den intellektuellen Fähigkeiten eines Kindes und den animalischen Leidenschaften eines starken Mannes«.
Prof. Adrian Raine, welcher als Neuropsychologe an der Universität von Pennsylvania forscht und lehrt, führte bei 41 Mördern, die im Affekt jemanden getötet hatten, Computertomografie-Untersuchungen der Gehirne durch. Er fand bemerkenswerte Störungen im Bereich des Frontalhirns, also jener Hirnregion, die für das Zustandekommen von Kontrolle, Hemmung, Verantwortlichkeit, Mitgefühl und Ethik zuständig ist und die aus dem limbischen System ankommende aggressive Impulse hemmen soll. Raine fand heraus, dass ein Großteil der untersuchten Mörder nicht nur einen sehr niedrigen Intelligenzquotienten hatte, sondern auch ein um bis zu 14 Prozent kleineres Volumen der Frontalhirnregion gegenüber nicht kriminellen Menschen aufwies.
Mehrere Untersuchungen an Menschen, die wegen eines Tötungsdeliktes verurteilt worden waren, konnten Störungen des Frontalhirns nachweisen. Ein amerikanisches Forscherteam untersuchte 18 jugendliche Mörder und fand in allen Fällen Anzeichen für Unterentwicklungen oder krankhafte Veränderungen in der Rinde des Frontalhirns. Mit einem anderen Untersuchungsansatz konnte gezeigt werden, dass Menschen mit dissozialen Verhaltensweisen sehr häufig Frontalhirnläsionen aufwiesen. Die dadurch ausgelöste Impuls- und Triebenthemmung könnte sich in einer Störung des »Sozialsinns«, der gefühlsbezogenen Übertragung zu anderen Menschen, bemerkbar machen. Auch Personen, welche sich in der frühen Kindheit durch eine Meningitis oder einen Unfall Schädigungen des Gehirns zugezogen hatten, wiesen gehäuft schwere Mängel im Sozialverhalten auf. Das Aufzählen solcher Studien ließe sich fortsetzen, bringt aber letztlich nur die Erkenntnis, dass Hirnschädigungen in bestimmten Regionen die Bereitschaft für aggressives, gewalttätiges und gemütsarmes Verhalten erhöhen.
Bei manchen Straftätern hat man herausgefunden, dass die beiden als Hippocampi oder Ammonshörner bezeichneten Hirnteile, welche für die Verarbeitung von Gefühlen zuständig sind, in beiden Hirnhälften unterschiedlich groß sind. Bei kriminellen Psychopathen ist der rechte Hippocampus größer als der linke, was dazu führt, dass sie gegenüber menschlichen Signalen unsensibler sind, keine Furcht entwickeln und ihre Emotionen nicht zügeln können.
Weiters scheinen bei Kriminellen die sogenannten Spiegelneuronen, welche für das Einfühlungsvermögen in andere – die Empathie – verantwortlich gemacht werden, nicht so richtig zu funktionieren, weshalb die Betroffenen den Ausdruck von Furcht, Angst und Schmerz im Gesicht ihrer Opfer nicht richtig entschlüsseln können.
Bei Pädophilen fand man signifikant mehr Unfälle mit Kopfverletzungen, was damit zusammenhängen könnte, dass ihre Schädelknochen, was ebenso überrascht, dünner sind als solche von sexuell normal veranlagten Menschen. Sie litten aber auch unter einer verminderten Hirndurchblutung und einer deutlichen Erweiterung der inneren Hohlräume des Gehirns, und sie waren, was als Zeichen einer atypischen Hirnentwicklung interpretiert werden könnte, viel häufiger Linkshänder. Nebenbei wurden bei pädophilen Tätern hormonelle Störungen und, allerdings nicht in allen Untersuchungen, eine gesamthaft verringerte Intelligenz festgestellt.
Ethische Entscheidungen spielen sich in mehreren Regionen des Gehirns ab, in denen der organische Ursprung kriminellen Verhaltens gesucht werden müsste. Der Sitz des Bösen könnte neben den genannten Amygdala-Kernen und dem Stirnhirn auch im Bereich des Schläfenlappens und weiteren Teilen des limbischen Systems liegen. Dazu werden uns in den nächsten Jahrzehnten neue Ergebnisse der Hirnforschung interessante Kenntnisse bringen oder uns auf der Suche nach den Wurzeln des Bösen weiter verunsichern.
Moderne Untersuchungen befassen sich aber nicht nur mit der Frage nach dem Ort des Bösen im Gehirn, sondern beziehen auch den Reifegrad des zentralen Nervensystems und funktionelle Besonderheiten in die Überlegungen mit ein. Vom Gedanken ausgehend, dass jene Hirnstrukturen, die für das Einfühlungsvermögen in andere und die Moralentwicklung verantwortlich sind, erst im dritten Lebensjahrzehnt fertig verkabelt sind, wurde nachgewiesen, dass dieser Vorgang im Gehirn vieler Krimineller auch später nicht abgeschlossen ist. Es ist deshalb noch unreif und ähnelt gewissermaßen dem zentralen Nervensystem Heranwachsender.
Auf der Suche nach möglichen Ursachen der Schul-Amokläufe ist eine Studie berühmt geworden, in welcher man bei 15-jährigen Schülern neuropsychologische Hinweise auf spätere Kriminalität finden wollte. Es ließ sich zeigen, dass die potenziellen Gewalttäter auf Bilder von Unfall- und Mordopfern sowie auf Horrorszenen kaum reagierten, also kaum Empathie und Mitleid empfanden. Im Gegensatz zu den Normalpersonen erhöhten sich weder Pulsschlag noch Muskelaktivität, sie zeigten keine Stress- und keine Angstreaktion und blieben mehr oder minder unberührt.
Die Suche nach dem Sitz des Kriminellen im Gehirn ist nicht neu. Die Geschichte lehrt uns, wie fruchtbringend, aber auch wie gefährlich solch ausschließliche Betrachtungsweisen sein können. Seit Beginn der systematischen Hirnforschung im 19. Jahrhundert wurde die Frage gestellt, ob sich bei verbrecherischen Menschen Besonderheiten in Aufbau und Struktur dieses zentralen Organs ergeben, ob bestimmte Hirnregionen über- oder unterentwickelt sind und ob sich bei Verbrechern spezielle Hirnzellenschädigungen nachweisen lassen. Eine ganze Generation von Wissenschaftlern ging mit großem Eifer der Frage nach, wo der Quell des Bösen im Gehirn zu suchen sei und ob es tatsächlich spezielle Verbrechergehirne gebe.
Insbesondere die im 18. und 19. Jahrhundert recht bedeutende italienische kriminalpsychologische Schule hat sich sehr mit »Mörderschädeln« und »Verbrecherhirnen« beschäftigt. Deren berühmtester Vertreter, der Chirurg Cesare Lombroso, fasste seine Erkenntnisse, die er in anthropologischen Studien an Tausenden von Soldaten und Vermessungen der Schädel von unzähligen Gefängnisinsassen gewonnen hatte, in seinem berühmten Buch L’Uomo delinquente (1876) zusammen. In diesem auf Deutsch unter dem Titel Der Verbrecher erschienenen Bestseller beschrieb er den vermeintlichen Zusammenhang zwischen wohlgeformtem Körperbau und edler innerer Haltung und schlechtem Charakter oder übler Gesinnung und körperlichen Benachteiligungen. Er entwickelte die Theorie, dass Kriminalität einen Rückschritt in der menschlichen Entwicklung bedeute und kriminelle Personen Überlebende aus entwicklungsgeschichtlich primitiven Epochen darstellen. Der Verbrecher stehe auf der Leiter der Evolution viel niedriger als der gewöhnliche Mensch, werde von atavistischen Instinkten beherrscht und könne moderne Gesetz gar nicht befolgen.
Zu dieser Theorie wurde Lombroso bei der Leichenbeschau des berüchtigten Räubers Vilella, welcher über sagenhafte Kräfte verfügt haben soll, inspiriert. Beim Anblick von Vilellas Schädel, in dem sich ein Knochenhohlraum als anatomische Besonderheit fand, habe Lombroso eine Erkenntnis, ja geradezu eine »Offenbarung« gehabt:
»Plötzlich schien ich das Problem der kriminellen Natur, wie eine weite Ebene vom flammenden Himmel erleuchtet, vor Augen zu sehen – ein atavistisches Wesen, in dessen Person die grausamen Instinkte einer primitiven menschlichen Natur unter niederen Tieren wiederkehren. Dadurch erklären sich anatomisch die gewaltigen Kiefer, die hohen Wangenknochen, die vorstehenden Augenbrauenbögen, die Affenfalte in den Handflächen, die übergroßen Augenhöhlen, die abstehenden Ohren oder angewachsenen Ohrläppchen, die man bei Kriminellen, Wilden und Affen findet, ferner Schmerzunempfindlichkeit, besonders scharfes Sehvermögen, Tätowierungen, extreme Faulheit, Vorliebe für Orgien und das unwiderstehliche Verlangen nach dem Bösen um seiner selbst willen, der Wunsch, nicht nur das Leben des Opfers zu zerstören, sondern den Leichnam zu verstümmeln und sein Blut zu trinken«.
Wenn man überlegt, welch ideologische Folgen Lombrosos Eifer gehabt hat, scheint es sehr ratsam, in der in den letzten Jahren von Seiten mancher Hirnforscher initiierten Diskussion über die Willensfreiheit beziehungsweise die angebliche Unfreiheit des menschlichen Willens keine einseitigen Standpunkte zu vertreten.
Manche Besonderheiten im Aufbau bestimmter Hirnstrukturen können wahrscheinlich destruktive Gedanken auslösen und aggressive Impulse induzieren. Schädigungen in anderen Hirnregionen erschweren die Kontrolle über gewalttätige Impulse oder verhindern das Zurückhalten von Triebdurchbrüchen. Wieder andere Hirnanomalien schränken die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzufühlen, entscheidend ein oder fördern negative Fantasien. Trotzdem lässt sich keinesfalls folgern, dass Besonderheiten im Hirnaufbau oder Schädigungen der Hirnmasse aus einem normalen Menschen einen Verbrecher machen oder der Sitz des Bösen im Gehirn geortet werden könnte. Hirnschädigungen erhöhen das Risiko für grenzüberschreitendes Verhalten oder verwerfliche Reaktionsmuster, führen aber niemals von sich aus zur bösen Tat. So wird uns die Hirnforschung in den nächsten Jahren viele wichtige Erkenntnisse bringen, wird uns die Entstehung der positiven und negativen Gefühle erklären und uns Einblick in die Entwicklung aggressiven Verhaltens liefern. Sie wird aber trotz immer modernerer Diagnoseinstrumente und perfekter werdender Untersuchungsmethoden zur Klärung der Hirnabläufe niemals den Sitz des Bösen oder dessen Entstehung im Gehirn allein zeigen können. Das Böse geht weit über das Organische hinaus. Wir können sicher sein, dass es keinen Ort im Gehirn gibt, wo das Böse gleichsam lauert.
Eine Reihe von Neurowissenschaftlern glaubt demgegenüber, dass der freie Wille eine bloße Illusion und das Böse ein biologisches Phänomen im Hirn sei. Der Mensch könne nicht frei entscheiden und habe folglich gar nicht die Möglichkeit, moralisch gut oder böse zu handeln. Aus dem antiken Griechenland wird dazu folgende Geschichte erzählt, welche die Unlösbarkeit der Willensfreit und Schuldfrage aufzeigt und durch ihren verblüffenden Schluss ein wenig Heiterkeit in die düsteren Gedanken über das Böse bringen mag:
Ein Dieb steht vor dem Richter und verteidigt sich mit der Unfreiheit seines Willens. Das Schicksal habe vorherbestimmt, dass er stehlen müsse, er habe sich gar nicht anders entscheiden können und habe ausschließlich unter dem Einfluss höherer Mächte gehandelt. Daraufhin antwortet der Richter: »Das mag sein, aber vom Schicksal ist auch vorherbestimmt, dass Sie zur Strafe eine Tracht Prügel bekommen.«
Eine moderne, »neurobiologische« Version dieser Geschichte lautet folgendermaßen: Ein Mann steht wegen wiederholter Gewalttätigkeit vor Gericht. Er begründet seine Straftaten mit einer Störung in einer für unser Handeln sehr wichtigen Hirnregion, dem sogenannten präfrontalen Cortex. Durch dessen mutmaßliche Schädigung sei er Aggressionsimpulsen hilflos ausgesetzt und könne sich gegen den Drang zur Gewalttätigkeit nicht wehren. Schuld sei der nicht funktionierende Hirnteil. Der Richter nimmt dies zur Kenntnis und spricht folgendes Urteil: »Der für Ihr kriminelles Verhalten Ihres Gehirns verantwortliche Bereich, der präfrontaler Cortex genannt wird, wird wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung in mehreren Fällen zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren verurteilt.«