Kapitel 1
Die Toten hatten die beste Aussicht von allen. Natürlich konnten sie den wunderbaren Blick ins Tal nicht mehr genießen. Dafür waren die Besucherzahlen des Friedhofes rekordverdächtig.
Kein Wunder. Oben in Hohengreifenstein verstellten einem alte Bäume oder windschiefe Fachwerkhäuser die Sicht. Der Friedhof jedoch krallte sich unterhalb der Stadt terrassenförmig an den steilen Berghang und von seinen schmalen Wegen aus konnte man das grandiose Panorama ungehindert betrachten.
Lena drehte den Wasserhahn zu, packte die volle Gießkanne mit beiden Händen und schlängelte sich mühsam zwischen den Wanderern hindurch, die jetzt im September die Umgebung bevölkerten. »Aussichtsschmarotzer«, grummelte sie. Gut für den Tourismus, aber schlecht für ihre Stimmung. Genauso wie die Hitzewelle, die unangemeldet über die kleine Stadt hergefallen war und dafür sorgte, dass Lenas Jeans unangenehm an ihrer Haut klebte.
Beim Grab angekommen wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und begann vorsichtig mit dem Gießen.
»Unkraut, von wegen. Rausreißen. Könnte ihr so passen«, schimpfte sie vor sich hin. Zwar musste sie ihrer Mutter recht geben, dass das Grab etwas merkwürdig aussah, seit sie den pelzigen Andorn, der oft mit einer Brennnessel verwechselt wurde, und das langstielige Salomonssiegel mit den vertrockneten schwarzen Beeren zwischen Stiefmütterchen und Buchsbaum gesetzt hatte. Aber es waren nützliche Heilpflanzen, die das Grab nach altem Hexenglauben vor Unheil schützen sollten. Lena glaubte nicht an so etwas, aber sie war sicher, dass es ihrer Großmutter gefallen hätte.
Zum Glück verstand sie sich gut mit dem Grabpfleger. Sie trafen sich oft, wenn sie Gromis Grab besuchte, und es war leicht gewesen, ihn zu überreden, die Pflanzen stehen zu lassen. Vor allem, weil ihre Mutter ohnehin nie herkam. Sie würde nicht merken, dass ihre Anweisungen ignoriert worden waren.
Lena stellte die leere Gießkanne ab und kniete sich vor das Grab. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingerspitzen die versilberten Worte auf dem Grabstein nach, als könnte sie durch die Berührung endlich die Bedeutung der Inschrift erfassen.
Verloren im Licht, geborgen in der Dunkelheit.
Sie schnaubte, als sie daran dachte, wie ihre Mutter die Worte interpretierte. Frieden im Tod, Trost für die Trauernden. Das übliche Blabla. Lena glaubte nicht, dass das alles war. Worte und die darin versteckte Bedeutung waren neben den Heilpflanzen die große Leidenschaft ihrer Großmutter gewesen. Leider waren all ihre Versuche, Lena für den tieferen Sinn zwischen den Zeilen zu begeistern, kläglich gescheitert. Ihr Gehirn war für subtile Andeutungen und versteckte Rätsel einfach nicht gemacht.
Sie griff in ihren Rucksack und holte ein in dunkelbraunes Leder gebundenes Büchlein heraus. Es war etwas größer als ihre Hand und wurde von einer Schleife aus rosa Spitze zusammengehalten, die sie jetzt löste, um ein wenig in dem Büchlein herumzublättern.
Aus den gelblichen Seiten stieg noch immer der vertraute Geruch nach Salbei und Lavendel auf und sie sah ihre Gromi wieder vor sich, wie sie mit dem Buch in der Hand vor einer Pflanze stand. »Hübsch, aber unbrauchbar«, hätte sie vielleicht gesagt. Oder »Hässlich, aber nützlich.«
Lenas Mund verzog sich zu einem Lächeln und sie berührte den rosa Schal, den sie anstelle eines Haarbands trug. Ihre Gromi auf einer Lichtung im Wald, die kleine silberne Schere in den erdverkrusteten Händen und den rosa Schal um den Hals, das war ihre früheste Kindheitserinnerung.
Sie hielt das Buch vor den Grabstein, als wäre er das faltige Gesicht ihrer Großmutter. »Du machst es mir ganz schön schwer. Ich glaube langsam, manche dieser Pflanzen existieren gar nicht.«
Manchmal befürchtete sie, dass das Büchlein der letzte Versuch ihrer Großmutter war, ihr doch noch beizubringen, wie man Texte enträtselte. Das wäre tragisch, denn dann würde sie die restlichen Pflanzen nie finden.
»Aber ich gebe nicht auf. Du kennst mich. Ich suche weiter, so wie du es wolltest.«
Schon wieder Tränen. Sie atmete tief durch und wischte sie weg. Das Gesicht ihrer Mutter mit dem üblichen genervten Zug um den Mund erschien vor ihrem inneren Auge. Ein halbes Jahr ist es her und du weinst immer noch. Du musst endlich loslassen. Das ist nicht gesund. Die übliche Ansprache eben.
Sogar Mike, ihr bester Freund, runzelte nur noch sorgenvoll die Stirn, wenn sie davon anfing. Warum gab es keinen Knopf, den man drücken konnte, um die Gefühle einfach auszuschalten? Oder wenigstens die verständnislosen Kommentare der anderen?
Sie seufzte und legte das Buch zurück in ihren Rucksack. Er enthielt die Utensilien zum Pflanzensammeln, die sie immer mit sich herumschleppte. Eine winzige silberne Schere, besonders scharf geschliffen, und einen kleinen Beutel. Nur für den Fall, dass sie ein interessantes Kraut fand. Natürlich waren auch noch ihre Schulsachen darin, allen voran das dicke Chemiebuch, das sie gebraucht im Internet erstanden hatte. Mikes entsetztes Gesicht, als er das Buch zum ersten Mal gesehen hatte, brachte sie jetzt noch zum Lachen. Seitdem zog er sie immer damit auf, dass das normale Schulbuch ihr zu dünn war.
Die Glocken des Kirchturms schlugen vier Mal und rissen sie aus ihren Gedanken. »Mist, ich komme zu spät.« Sie stand auf und klopfte sich die Jeans ab, dann wandte sie sich noch einmal zum Grab. »Bis bald, Gromi.« Sie warf sich ihren Rucksack auf den Rücken und machte sich an den steilen Aufstieg zum Ausgang des Friedhofs. Immer im Slalom um die Wanderer herum bis zu der schmiedeeisernen Pforte, die auf die Hauptstraße unterhalb von Hohengreifenstein führte. Hier draußen war es erstaunlich leer in Anbetracht dessen, dass der Friedhof wirkte, als hätte gerade ein Reiseunternehmen zehn Busse mit Touristen angekarrt. Lena betrat die Straße. Die Allgemeinheit war stolz auf den weltkulturerbeverdächtigen Zustand des Kopfsteinpflasters, vor allem der Bürgermeister, der sich für alles begeistern konnte, was alt, schief und nahezu unbenutzbar war. Die riesigen Spalten zwischen den glatt geschliffenen Steinen waren für Radfahrer allerdings eine Todesfalle, weswegen Lena für gewöhnlich ihr Fahrrad hier unten stehen ließ. Sie warf einen Blick auf die andere Straßenseite, wo es an einem Baum lehnte und ihr fiel auf, dass sie vergessen hatte, es abzuschließen. Wieder einmal. Sie ging hinüber und griff nach dem Schloss, das im Fahrradkorb lag, um das Versäumnis nachzuholen.
Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Ihr Nacken kribbelte und auf ihren Unterarmen bildete sich eine Gänsehaut. Es fühlte sich an, als würde sie beobachtet. Sie sah sich um. Stand da jemand zwischen den Birken? Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie die Umgebung ab. Nichts. Vielleicht nur ein Windhauch.
Trotzdem warf sie auf dem Weg ins Zentrum der kleinen Stadt immer wieder einen Blick über die Schulter. Erst, als sie beinahe mit jemandem zusammenstieß, sah sie nach vorn.
»Na Kräuterhexe, hast du wieder am Grab deiner Großmutter rumgeheult?« Eine Stimme, die sie leider nur zu gut kannte, zerschnitt die schwüle Luft. Luise.
Obwohl es Lena egal sein sollte, was Luise dachte, versetzten ihr die Worte einen Stich. Sie atmete einmal tief durch. Sie wollte sich nicht provozieren lassen und außerdem war sie spät dran. »Lass gut sein«, murmelte sie und wollte sich an Luise vorbeischieben.
Doch diese machte sich extra breit und setzte ihr arrogantestes Gesicht auf. »Ich hab gehört, du willst auch das Chemiestipendium für die Uni in München haben. Schlag dir das aus dem Kopf. Das hole ich mir.«
Einen Moment war sie sprachlos. Warum wollte Luise das Stipendium? Ihr Vater hatte Geld wie Heu, sie hatte das gar nicht nötig.
»Du hast dich auch beworben?«, fragte sie gepresst.
»Natürlich. Muss man doch nutzen, wenn der Professor extra an unsere Schule kommt, um einen Intensivkurs für die Bewerber abzuhalten. Außerdem wäre so ein kleines Taschengeld schon nett, und dann gibt es ja noch die Sonderbehandlung für die Stipendiaten, zusätzliche Seminare, Kontakte zu wichtigen Leuten und so weiter.«
Ein kleines Taschengeld? Lena wäre am liebsten vor Zorn explodiert. Für sie war das kleine Taschengeld lebenswichtig, um das Studium und die teure Lebenshaltung in München überhaupt finanzieren zu können. Einen Nebenjob würde sie wahrscheinlich trotzdem noch brauchen.
Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, denn Luise wollte nichts anderes, als sie zur Weißglut zu treiben, und diese Genugtuung wollte sie ihr nicht gönnen.
»Das werden wir ja dann sehen«, sagte sie kühl. »Gehst du jetzt aus dem Weg oder zwingst du mich, die Straßenseite zu wechseln?«
Luise schnaubte. »Na gut, ich will ja nicht allzu lange mit dir gesehen werden. So wie du rumläufst.« Sie sah abschätzig von Lenas abgewetzten Turnschuhen über ihre alte Jeans auf das schlichte T-Shirt und blieb dann mit dem Blick an Lenas Frisur hängen. Luise kicherte. »Das ist echt schick. Die Haare zu einem Krähennest zusammengerafft, und damit die Fransen nicht in die Augen hängen, hast du dir ein altes Band um den Kopf gebunden. Ich hab schon Wetten angenommen, wie lange es noch dauert, bis das abfault.«
Lena seufzte innerlich. Jedes Mal das Gleiche. Sie war eben eher der pragmatische Typ, sie fühlte sich in Jeans und T-Shirt einfach am wohlsten.
Gerade wollte sie erwidern, dass Luise auch nicht unbedingt eine Stilikone sei mit ihrem Businessoutfit, das sie fünfzehn Jahre älter wirken ließ, als im Hintergrund die Kirchturmuhr einmal schlug. Lena fluchte leise. Schon Viertel nach vier. »So wertvoll deine Modetipps auch sind, ich muss leider los.« Sie ging an Luise vorbei und rannte los. Mike war einiges von ihr gewohnt, aber irgendwann hatte selbst er das Warten satt.
Zum Glück war es nicht weit. Sie lief ein paar Schritte die Straße hinauf, durch das alte Stadttor und hinein in die Fußgängerzone, wo sie mit Mike verabredet war. Schon von Weitem sah sie ihm an, dass er ziemlich genervt war. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, was ihm allerdings auch nicht zu einer breiteren Statur verhalf, und sein rechter Fuß, der in einem seiner ausgeflippten Chucks steckte, wippte auf und ab.
»Entschuldige!« Außer Atem umarmte sie ihn.
»Schon gut«, brummte er. »Das bin ich ja schon gewohnt.«
Sie verzog das Gesicht. »Diesmal kann ich wirklich nichts dafür. Nicht so viel wie sonst jedenfalls.«
Mike seufzte und verdrehte die Augen. »Also erzähl mir schon deine Ausrede.«
»Hey.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Das ist keine Ausrede. Es war ein hinterhältiger Angriff.«
»Ein Angriff? Entführung von Außerirdischen oder was?« Er musterte sie mit gerunzelter Stirn, als könnte er ihr ansehen, ob sie endgültig durchgedreht war.
»Das wäre bestimmt angenehmer gewesen.« Sie lachte. »Nein. Luise hat mich abgefangen und mich ihren typischen Charme spüren lassen.«
»Das klingt nicht gut. Dann doch lieber die Außerirdischen.«
»Ja. Normalerweise bin ich inzwischen abgehärtet, wenn es um Luise geht, aber diesmal …«
»Was war denn?«
Lena spürte den Ärger wieder in sich aufsteigen. »Sie hat sich für das Stipendium beworben.«
»Was will die denn mit dem Stipendium?«
»Es gibt wohl eine besondere Betreuung für die Stipendiaten, man kann Kontakte knüpfen, wird vielleicht zu interessanten Veranstaltungen eingeladen und so. Das will sie sich natürlich nicht entgehen lassen.«
»Kann sie das Stipendium denn überhaupt bekommen? Wo ihre Familie doch im Geld schwimmt?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Aber ich habe nicht vor, es darauf ankommen zu lassen.«
Mike grinste und klopfte ihr auf die Schulter. »Siehst du, das ist die richtige Einstellung. Du lässt sie in diesem Kurs ordentlich Staub schlucken …«
»O nein!« Sie stöhnte auf. »Der Kurs. Da ist sie ja dann auch dabei, daran hab ich noch gar nicht gedacht. Und darauf hatte ich mich so gefreut.«
Er legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ach komm, das wird bestimmt trotzdem … äh …« Er suchte nach Worten.
»Spannend, aufregend, interessant?«
»Wenn du meinst. Alles nichts, was ich mit Chemie verbinden würde, aber gut. Jeder, wie er mag.«
»Eben. Ich mag dich ja auch, obwohl ich weiß, dass du mit Chemie nichts anfangen kannst.« Sie spürte, wie ihre Mundwinkel zuckten und die schlechte Laune langsam verflog.
»Zu gütig.« Mike verzog das Gesicht.
Grinsend hakte sie sich bei ihm unter und sie schlenderten die Fußgängerzone entlang. Schiefe, in Pastellfarben gestrichene Fachwerkhäuser reihten sich aneinander. In den Erdgeschossen hatten sich Geschäfte angesiedelt. Ein Supermarkt, in dem man für Milch, Nudeln und Salat drei verschiedene Stockwerke aufsuchen musste, eine Drogerie, die sich über die Erdgeschosse von zwei Häusern erstreckte und trotzdem so winzig war, dass man durch manche Gänge nur seitwärts hindurchpasste. Abgesehen davon gab es vor allem kleine, verwinkelte Läden, in denen man herrlich stöbern konnte. Sie sah zum »Drudenfuß« hinüber, ihrem Lieblingsladen, der allerlei Zubehör für die ambitionierte Hexe von heute führte. Sie zeigte darauf.
»Ich will kurz reingehen, kommst du mit?«
Mike verdrehte die Augen, nickte aber. »Für dich tue ich fast alles.«
»Es wird wohlwollend vermerkt.«
Ein Windspiel klingelte, als Lena die Ladentür öffnete. Sofort umhüllte sie der typische Duft nach Kräutern und Räucherkerzen, den sie so gern mochte.
Mike zog die Nase kraus. »Ich kann mich einfach nicht an diesen Geruch gewöhnen«, flüsterte er.
»Ich liebe ihn. So verheißungsvoll.« Im Halbdunkel des winzigen Ladens glitzerten ihr unzählige Dinge entgegen; verschwommene Punkte, bis ihre Augen sich an das merkwürdige Zwielicht gewöhnt hatten. Goldene Ohrringe in Schlangenform, Ketten mit Anhängern, die angeblich vor Flüchen schützten. Amulette mit geheimnisvollen Runen und gefährlich aussehende Dolche für das effektvolle Ritual bei Mondenschein. Natürlich war das alles Krimskrams, den eigentlich niemand brauchte, und der ganz sicher keine magischen Kräfte hatte. Trotzdem liebte sie es, darin herumzustöbern.
Sie strich vorsichtig über einen chinesischen Drachen, der in die Klinge eines Dolches eingeätzt worden war.
»Uh, den brauchen wir dringend für morgen Abend.« Mike war hinter sie getreten. »Ist der auch richtig scharf? Ich mache Sushi.«
Lena kicherte. »Lass das nicht Constanza hören. Ihr Prachtstück, entweiht durch einen profanen Fisch.« Sie legte die Stirn in Falten. »Du wirst den Drachen erzürnen, der der Klinge innewohnt!«
Mike zuckte die Achseln. »Solange er nicht mein Sushi frisst, kann ich damit leben.«
Lena legte den Dolch wieder an seinen Platz und ging dann zum Kräuterregal. Es war das Herzstück des Ladens und der Grund, warum sie so gern hierherkam. Sie nahm das eine oder andere Tütchen aus dem Fach und schnupperte daran. Es war wirklich ein Jammer, dass sie die Kräuter nicht verwenden konnte, zumindest nicht für etwas anderes als Tee. Ihre Großmutter hatte ihr eingeschärft, wie unglaublich wichtig es war, dass sie die Pflanzen aus dem Büchlein selbst sammelte. Genau zum richtigen Zeitpunkt, mit genau dem richtigen Werkzeug.
Bedauernd legte sie die Päckchen ins Regal zurück und sah sich nach Mike um. Er wusste hier wohl nicht viel mit sich anzufangen, denn er stand vor einem Spiegel mit verschnörkeltem Goldrahmen und zupfte lustlos an seinen Haaren herum. Eigentlich waren sie hellblond, aber seit er sie immer mit Gel in Form brachte, sahen sie viel dunkler aus. Sie trat hinter ihn und riskierte ebenfalls einen Blick. »So schlimm, wie Luise behauptet, ist es doch gar nicht, oder?«
Er ließ seine Frisur links liegen und drehte sich zu ihr um. »Lass dich doch von dieser dummen Kuh nicht so verunsichern. Du bist blond und blauäugig, was willst du denn noch?«
»Straßenköterblond, und das blau ist mehr grau. Aber danke für den Versuch.«
»Bitte, immer gern. Können wir dann gehen?«
»Gleich. Ich will noch was nachschauen.«
Lena ging zu dem kleinen Tresen, auf dem eine vorsintflutliche Registrierkasse stand, ließ sich auf die Knie nieder und stöberte in dem kleinen Bücherregal, das in den Sockel eingelassen war. Ein paar der Bücher zog sie heraus, aber leider gab es nichts Neues. Nicht, dass sie wirklich erwartet hätte, hier ein Buch zu finden, das ihr mit den seltsamen Pflanzen ihrer Großmutter helfen konnte.
Das Klingeln von unzähligen Glöckchen und das Rascheln von Stoff zogen Lenas Aufmerksamkeit auf sich. Sie erhob sich und sah Constanza die Treppe herunterkommen – fast schien sie zu schweben. Sehr wirkungsvoll, wie der Rest ihrer Erscheinung. Lena lächelte.
Constanza war eine sehr anziehende Frau mittleren Alters, mit blonden Locken und leuchtenden grünen Augen. Überall an ihr hingen Kettchen und Amulette, sodass sie aussah wie ein lebender Schmuckständer. Sie trug ein mittelalterlich anmutendes Miederkleid, das ihre eigentlich füllige Taille so sehr einschnürte, dass Lena schon vom bloßen Anblick Atemnot bekam.
»Lena, wie nett, das ’d auch mal wieder reinschaust!«
Lena lächelte. Es war schön, sich hier immer willkommen zu fühlen, obwohl sie selten etwas kaufte.
»Hast schon was gefunden?«
Lena schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«
»Suchst denn was Bestimmtes?«
Lena nickte. »Ich brauche dringend ein Buch über magische Kräuter.«
»Ich hab schon was über Hexenkräuter, hast da unten g’schaut?«
»Ja, da war nichts dabei.«
Constanza schüttelte bedauernd den Kopf. »Sonst hab ich leider nix. Vielleicht nächstes Mal.«
»Ja, bestimmt«, sagte Lena. Sie sah sich noch ein wenig um, dann ging sie zur Tür. »Bis bald, Constanza.« Mike seufzte erleichtert und folgte ihr.
Constanza winkte ihr zum Abschied.
Sie streiften noch eine Weile in der Stadt herum und sahen sich in ein paar Läden um. Als sie den Elektroladen verließen, in dem Mike ein neues Gaming-Headset erstanden hatte, schlug der Kirchturm gerade sechs Uhr.
Lena blieb vor der Tür stehen und wandte sich zu Mike um. »Wenn du nicht noch was Bestimmtes vorhast, dann verabschiede ich mich wieder.« Sie deutete auf ihren Rucksack.
»Jetzt schon? Kannst du nicht mal einen Tag ohne deine Bücher auskommen?« Mike verzog enttäuscht das Gesicht. »Ich dachte, du kommst heute mal mit ins Gipfelstürmer.«
Lena schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber ich muss dringend nach Hause. Außerdem kann ich diese vollgestopften Bars nicht leiden. Triff du dich mal mit deinen Kumpels und halte Ausschau nach netten Mädels. Wir sehen uns dann morgen, okay?«
Mike seufzte. »Klar, was bleibt mir schon anderes übrig. Ich fänd’s halt nett, wenn du mal mitkommen würdest.«
»Ich weiß, aber du hast bestimmt auch ohne mich deinen Spaß.« Sie umarmte ihn und stellte verwundert fest, dass sie sich dazu ein wenig auf die Zehenspitzen stellen musste. Wann war er ihr über den Kopf gewachsen?
»Bis morgen dann«, sagte Mike und ging in Richtung der Bar davon.
Lena sah ihm mit einem flauen Gefühl in der Magengegend nach. Es war ein ständiger Streitpunkt zwischen ihnen, dass sie so selten Zeit für Mike hatte. Schließlich war er ihr bester Freund, aber die Schule war ihr einfach wichtig und dann gab es da ja auch noch das Stipendium und die Pflanzensammlung ihrer Großmutter, die sie unbedingt fertigstellen musste. Da blieb nicht mehr viel Zeit für Mike und schon gar nicht für irgendwelche Bars.
Die Sonne stand schon etwas tiefer, aber es war immer noch sehr warm. Die Fußgängerzone war voller Menschen, die in Straßencafés saßen oder vor dem Feierabend noch schnell ein paar Einkäufe erledigten.
Lena packte ihren Rucksack und machte sich auf den Rückweg zu ihrem Fahrrad. Plötzlich blieb sie stehen. Da war es wieder, dieses Kribbeln im Nacken, als würde sie beobachtet. Sicher nur Einbildung. Trotzdem warf sie kurz einen Blick über die Schulter. Sie erstarrte. Langsam drehte sie sich um.
Einige Meter entfernt stand ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig, und sah Lena unverwandt an. Er war nicht im eigentlichen Sinne gut aussehend, dafür war sein Gesicht zu markant und die Nase ein wenig zu groß. Trotzdem wirkte er sehr anziehend mit den schwarzen Haaren, die ihm in die Stirn fielen, und ebenso schwarzen Augenbrauen, zwischen denen eine grüblerische Falte stand. Aber es waren seine dunklen Augen, die sie faszinierten. Sie glitzerten wie die Oberfläche eines zugefrorenen Sees, bereit, jeden in die Tiefe zu reißen, der es wagte, das Eis zu betreten.
Lena wusste nicht, wie lange sie so dastand und ihn ansah. Um sie herum drehte sich die Welt in rasendem Tempo weiter, aber hier, im Auge der Zeit, wo alles still stand, gab es nur sie und ihn.
Dann lächelte er. Eigentlich war es nicht mehr, als ein leichtes Hochziehen der Mundwinkel, aber es ließ Lenas Herz schneller schlagen. Unwillkürlich machte sie ein paar Schritte in seine Richtung. Was sie tun wollte, wenn sie vor ihm stand, wusste sie nicht. Sicher würde sie kein Wort herausbringen.
Als er bemerkte, dass sie näher kam, hob er spöttisch eine Augenbraue. Ebenso gut hätte er sie mit kaltem Wasser überschütten können. Lena fiel aus ihrer Zeitblase und landete hart in der dahinrasenden Wirklichkeit. Machte er sich etwa lustig über sie?
Sie warf ihm ihren eisigsten Blick zu, drehte sich um und stolzierte davon. Er konnte ihr gestohlen bleiben. Trotzdem spürte sie seinen Blick noch immer auf sich, als sie bei ihrem Fahrrad angekommen war.