Kapitel 3

 

 

 

Leise schloss Lena die Eingangstür des kleinen Reihenhauses hinter sich. Darauf bedacht, ja keinen Laut zu machen, um ihre Mutter nicht zu wecken, streifte sie im Flur die Schuhe ab und schlich zur Treppe. Es nutzte nichts.

»Lena.« Die glockenreine Stimme ihrer Mutter hallte durch den Flur. Hatte sie etwa auf sie gewartet? »Du bist spät dran. Ist alles in Ordnung?«

Langsam drehte sie sich um. Ihre Mutter stand in der Tür des Arbeitszimmers, die langen, flammend roten Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten und um ihre Schultern hing das obligatorische Maßband. Sie war Schneiderin. Dass ihre Mutter als Einzige in der Familie rote Haare hatte, war immer ein großes Rätsel gewesen. Es gab vor allem blonde, aber auch braunhaarige Vorfahren, deswegen hatte ihre Mutter als Kind fest geglaubt, adoptiert worden zu sein.

»Ja, alles bestens. Ich hätte Bescheid sagen sollen, dass ich später komme, tut mir leid.«

Ihre Mutter nickte. »Warst du etwa noch mit den anderen weg?« In der Stimme ihrer Mutter lag ein Hauch von Überraschung. Fast etwas wie Freude.

Lena seufzte. »Nein.«

»Wo warst du dann? Etwa beim Grab?« Die Freude war wie weggewischt und um den Mund ihrer Mutter lag jetzt ein harter Zug.

»Ja.« Innerlich wappnete sie sich für die übliche Diskussion.

Ihre Mutter presste die Lippen zusammen. »Aha.« Ein Wort nur, aber darin lag mehr Missbilligung als in einem ganzen Satz. »Ich weiß, dass ich dir keine Vorschriften mehr machen kann, aber den ganzen Abend am Grab sitzen, das ist doch …«

»Nicht den ganzen Abend«, unterbrach Lena sie in der Hoffnung, dem üblichen Vortrag noch entgehen zu können. Vielleicht auch dem Streit, der immer darauf folgte. »Ich hab im Wald die Zeit vergessen. Ich hab eine neue Pflanze entdeckt, die ich noch nicht kannte, und …«

Ihre Mutter verdrehte die Augen. »Hätte ich mir denken können. Immer diese verdammten Pflanzen. Hast du denn nichts anderes im Kopf?«

Lena atmete tief durch. Ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu geben, wurde immer schwerer. »Ich will eben Großmutters Sammlung fertig machen. Ihr liegt so viel daran.«

»Lag. Sie ist tot«, sagte ihre Mutter kalt.

Wut machte sich in Lena breit. Musste sie so grausam sein? Plötzlich wollte sie sich unbedingt mit ihrer Mutter streiten. So war es immer, wenn das Gespräch auf ihre Großmutter kam. »Sie war deine Mutter, wie kannst du sie so schnell vergessen? Als ob es dir egal wäre, dass sie nicht mehr da ist.«

»Nein. Es ist mir nicht egal und ich habe sie ganz sicher nicht vergessen. Ich will nur nicht, dass du deine Zeit mit etwas Sinnlosem verschwendest. Das mit den Pflanzen machst du doch nur ihr zuliebe und nicht, weil es dich wirklich interessiert.«

Der Zorn trieb Lena Tränen in die Augen. »Nur, weil du nie hören wolltest, was sie zu sagen hat, heißt das nicht, dass ich es auch langweilig finde.« Ihr Magen krampfte sich zusammen. Es war alles so falsch. Warum konnte ihre Mutter sie nicht in den Arm nehmen? Warum artete es immer in Streit aus? Vielleicht sollte sie es einfach selbst tun. Aufhören und ihre Mutter in den Arm nehmen, aber ihre Arme hingen wie Sandsäcke an ihren Seiten und ließen sich nicht bewegen. Es war so schwer, den Anfang zu machen. »Sind wir fertig? Ich muss noch lernen.«

»Lernen, ja richtig. Da gab es ja doch noch etwas anderes in deinem Leben außer den Pflanzen. Die Schule.« Ihre Mutter verzog abfällig den Mund.

»Sei doch froh. Oder soll ich lieber den ganzen Tag irgendwo rumhängen und die Schule schwänzen?«

»Sei nicht theatralisch. Natürlich nicht. Ich meine nur, dass es dir auch ganz guttäte, ein paar Freunde zu haben, ein Leben außerhalb der Schule, ein bisschen Normalität.«

Lena schüttelte den Kopf. Normalität? Sie wollte keine Normalität. Das bedeutet vergessen und das kann ich einfach nicht. So etwas sagte sie natürlich nicht laut. Schon lange nicht mehr. »Ich kann eben nicht weitermachen, als wäre nichts passiert, so wie du.«

Ihre Mutter funkelte sie an. Dann atmete sie tief durch und fuhr sich erschöpft über die Augen. »Das bringt doch nichts. Versuch, nächstes Mal anzurufen, dass du später kommst. Du weißt, ich mache mir sonst Sorgen«, sagte sie schroff.

Lena verbiss sich die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Was bringt das? Wenn ich anrufe, bist du ja meistens nicht da und dein Handy ist immer aus.

Sie schwieg, weil die Worte ihrer Mutter ein Friedensangebot waren. Ich mache mir Sorgen war die Art ihrer Mutter, Ich hab dich lieb zu sagen. Jedenfalls vermutete Lena das. In ihrer Familie war niemand gut darin, über Gefühle zu sprechen. Sogar ihre liebevolle, fürsorgliche Großmutter hatte ihre Zuneigung nie mit Worten ausgedrückt. Stattdessen hatte sie Lena viel Zeit gewidmet, beim Kräutersammeln, Geschichtenerzählen und Zuhören. Ihre Kehle wurde eng. Das war jetzt vorbei und das Dreimäderl-Haus, wie Gromi es immer genannt hatte, gab es nicht mehr. Sie musste sich endlich damit abfinden. Wenn da nur nicht diese Angst gewesen wäre. Die Angst, eines Tages aufzuwachen und nicht mehr zu wissen, wie ihre Großmutter ausgesehen oder wie ihre Stimme geklungen hatte.

Ihre Finger wanderten wie von selbst zu dem Tuch in ihren Haaren und strichen sanft darüber. Ihre Mutter bemerkte die Geste und verdrehte die Augen, aber ausnahmsweise sagte sie nichts. Auch das wertete Lena als Friedensangebot. Sie zwang ihre Lippen zu einem Lächeln und ihre Stimme zu einem freundlichen Ton. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, antwortete ihre Mutter. Es klang ebenso niedergeschlagen, wie Lena sich fühlte.

Müde schleppte sie sich die enge Treppe in den ersten Stock hinauf. Oben angekommen fiel ihr Blick auf die Tür zum Zimmer ihrer Großmutter. Ihre Brust schmerzte vor Sehnsucht. Wie gern wäre sie hineingegangen, aber es war abgeschlossen, seit ihre Großmutter gestorben war.

In ihrem Zimmer stellte Lena den Rucksack neben den alten, abgenutzten Schreibtisch und sank auf den Stuhl. Eine Weile saß sie einfach nur da und überließ sich dem dumpfen Schmerz in der Magengegend, den sie nach einem Streit immer mit sich herumtrug. Ihre Gedanken kreisten um die immer gleichen Worte. Streit, Trauer, Schule, Freunde, Leben, Tod, Normalität. Sie konnte einfach keinen roten Faden finden.

Ziellos schweifte ihr Blick durch das kleine Zimmer, vollgestopft mit Regalen voller Bücher, und blieb schließlich an einem Schränkchen zwischen den beiden Fenstern hängen. Mechanisch stand sie auf, ging hinüber und öffnete die beiden Türen. Gläser, Tütchen und Phiolen lagen darin, sorgsam etikettiert und geordnet. Sie betrachtete ihre umfangreiche Sammlung an Kräutern und Pflanzen und spürte, wie Betäubung und Zweifel langsam von ihr wichen. Das hier war ihr roter Faden. Der Wunsch ihrer Großmutter. Es war richtig, ihn zu erfüllen, da war sie sich sicher.

»Ich habe Gromi mein Versprechen gegeben. Außerdem bin ich schon so weit gekommen.« Nein. Aufgeben kam nicht infrage.

Entschlossen ging sie zu ihrem Schreibtisch zurück und holte das Büchlein aus ihrem Rucksack. Das weiche Leder fühlte sich tröstlich an. Sie löste die Schleife und schlug willkürlich eine Seite auf. Darauf war das Bild einer Pflanze zu sehen, umgeben von Notizen in Gromis altertümlicher Handschrift. Diese Pflanze hatte sie bereits gefunden und auch alle anderen, die mit einem Bild und Notizen versehen waren. Sie öffnete das Buch an einer anderen Stelle. Diesmal war es kein Eintrag über Pflanzen.

Die drei Magier stand da in verschnörkelten Buchstaben. Dieses Märchen hatte Gromi ihr immer wieder erzählt, seit sie denken konnte. Sie wischte sich über die Augen, die schon wieder feucht wurden. Sie konnte fast Gromis Stimme hören, sah sich als kleines Mädchen auf ihrem Schoß sitzen.

»Sie waren abgrundtief böse und furchtbar mächtig. Wohin sie auch kamen, verbreiteten sie Angst und Schrecken. Niemand hatte ihnen etwas entgegenzusetzen.«

»Doch, Gromi, der Kreis der Acht.«

»Natürlich, Lena, du hast recht. Acht Magier, gute Magier. Nur waren sie zu schwach, um die bösen Magier zu vernichten.«

»Ja, aber sie haben sie davongejagt.«

»Genau. Bis heute sorgen sie dafür, dass den Menschen nichts passiert.«

»Glaubst du das echt?«

»O ja. Ganz bestimmt.«

So ähnlich war es immer gewesen. Ein Lächeln schlich sich auf Lenas Gesicht. Gromi hatte bis zum Schluss versucht, ihr weiszumachen, dass sie wirklich an all das glaubte.

Sie blätterte weiter und seufzte. Nach dem Märchen kamen nur noch leere Seiten. Fast leere. Eine Überschrift stand auf jeder Seite. Zwei Worte, das war alles. Kein Bild, keine Beschreibung, keine Notizen. Lena vermutete, dass es sich um Namen von Pflanzen handelte, die sie nicht kannte. Bisher hatte sie noch nicht einmal davon gehört und niemand konnte ihr etwas dazu sagen. Wo sie danach suchen sollte, wusste sie auch nicht. Ganz am Ende des Buches hatte sie die Namen alle untereinander aufgelistet, aber das hatte sie ihrem Ziel auch nicht näher gebracht. Im Internet brachten sie keine sinnvollen Suchergebnisse und alle Bücher, die sie zurate zog, enthielten nur die üblichen Hexenkräuter.

Der Fremde von der Lichtung fiel ihr ein. Vielleicht hätte er ja etwas darüber gewusst? Zumindest mit der seltsamen Pflanze auf der Lichtung hatte er sich ziemlich gut ausgekannt.

Ihr Nacken kribbelte bei der Erinnerung an den Blick aus seinen grünen Augen. Das Gefühl war so real, dass sie unwillkürlich den Atem anhielt und sich umsah. Natürlich entdeckte sie nichts. Nicht hier in ihrem Zimmer. Sie stand auf, um aus dem Fenster zu sehen.

Nur wenige Laternen erleuchteten die kleine Straße vor dem Haus. Die meisten Lampen waren schon ausgebrannt, seit Lena sich erinnern konnte.

Trotzdem sah sie die Bewegung.

Ein Schatten, der mit der Dunkelheit verschmolz. Ihr Mund wurde trocken. Wurde sie doch beobachtet? Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. Nichts rührte sich. Sie atmete tief durch. Keine Panik. Du hast es dir nur eingebildet. Deine Nerven spielen dir einen Streich, weil du so müde bist, dass du kaum noch aufrecht stehen kannst.

Mit einem letzten misstrauischen Blick aus dem Fenster wandte sie sich ab und löste das Tuch aus ihren Haaren. Sie ging zu ihrem Nachttisch, wo ein Kästchen von der Größe eines Lexikons stand, und legte ihren Finger auf das kleine, runde Schloss, das in das dunkle Holz eingelassen war. Ein Klicken war zu hören, der Deckel sprang ein paar Millimeter auf. Sie hatte es längst aufgegeben, sich zu fragen, wie der Mechanismus funktionierte. Wahrscheinlich war es die Körperwärme, die das Schloss aufspringen ließ. Ziemlich sinnlos, dann überhaupt ein Schloss anzubringen, denn so konnte es ja jeder öffnen, der nicht gerade ohne Handschuhe bei minus fünfzehn Grad draußen herumgelaufen war.

Sie hob den Deckel an, faltete das Tuch und legte es sorgsam hinein. Das Kästchen war ein Geschenk von Gromi gewesen und hatte damals die silberne Schere zum Kräuterschneiden, den kleinen Samtbeutel für die abgeschnittenen Pflanzen und Gromis Büchlein enthalten. Inzwischen trug sie die Sachen immer bei sich, daher blieb das Kästchen meist leer.

Sie zog ihre Kleider aus und warf sie in den Wäschekorb. Luises Bemerkungen fielen ihr wieder ein. Die Jeans sah wirklich ganz schön abgenutzt aus. Normalerweise war sie nicht der Typ, der sich um so etwas scherte, aber ein kleiner verräterischer Teil in ihr fragte sich, wie sie wohl auf den Fremden gewirkt hatte und ob er sich für sie interessierte. Seine Berührung war so vertraulich gewesen, dass sie es fast glauben konnte.

Sie verzog das Gesicht. »Na prima, es geht schon los. Ich stehe hier rum und mache mir völlig unnötige Gedanken wegen irgendeines Kerls, den ich nicht mal kenne.« Selbst wenn er sich für sie interessierte, für so etwas war einfach kein Platz in ihrem Leben.

Entschlossen schob sie alle Gedanken an ihn fort. Sie hatte noch zu tun. Morgen ging der Intensivkurs für Chemie los und sie wollte vorbereitet sein. Also setzte sie sich über ihre Bücher, obwohl ihr fast die Augen zufielen, und versuchte zu lernen. Aber nur allzu bald wanderten ihre Gedanken zu grünen Augen, schwarzen Haaren und einer spöttisch hochgezogenen Augenbraue.