Kapitel 4
»Hey, Lena!« Mike stand auf der breiten Steintreppe, die zum Portal des alten Schulgebäudes hinaufführte.
Wie konnte er morgens nur so ekelhaft fröhlich sein?
»Morgen«, nuschelte Lena, während sie sich die Stufen hinaufquälte.
»Wow, da spricht die pure Lebensfreude!« Mike grinste.
»Ach, geh doch weg«, erwiderte sie, aber ihre Mundwinkel zuckten. Es war wirklich schwer, sich Mikes guter Laune zu entziehen.
»Mal wieder Morgenmuffeltag, was?«
Aus dem Zucken ihrer Mundwinkel wurde ein schwaches Lächeln. »Hab wieder zu lange über den Büchern gehockt.«
»Und? Hast du endlich das ganze Chemiebuch auswendig gelernt?«
Lena stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. »Nein, daran arbeite ich noch. Aber dafür hab ich was zu erzählen.«
»Ach?«
»O ja.« Sie machte ein todernstes Gesicht. »Ich habe eine neue Stelle zum Pflanzensammeln entdeckt.«
Mikes Lächeln verblasste. »So, eine neue Pflanzenstelle. Ja, das ist natürlich …« Er verstummte, auf der Suche nach passenden Worten.
Lena kicherte. »… noch lange nicht alles. Es kommt noch besser.«
»Kann ich kaum glauben«, murmelte er.
Noch einmal knuffte sie ihn. »Mach nur weiter so, dann hast du bald einen großen blauen Fleck.«
Während sie langsam den langen Gang zur großen Treppe entlanggingen, erzählte sie Mike, was am Abend zuvor passiert war. Dabei gab sie sich Mühe, so beiläufig wie möglich über den Fremden zu reden. Ihre alberne Schwärmerei wollte sie nicht preisgeben, nicht einmal vor Mike. Als sie bei der Stelle mit dem Irrlicht angekommen war, stockte sie kurz. Sollte sie das wirklich erzählen? Aber dann rief sie sich zur Ordnung. Mike war ihr bester Freund, sie konnte ihm alles anvertrauen.
Auf dem ersten Treppenabsatz blieb sie stehen. Andere Schüler schimpften ungehalten und drängten sich an ihnen vorbei in den ersten Stock. Lena zog Mike aus dem Strom in eine Ecke.
»Halt mich jetzt nicht für verrückt, okay? Ich bin durch den Wald gefahren und plötzlich war da ein Irrlicht. Es hat mich zu einer Pflanze geführt, die wollte, dass ich sie anfasse, damit sie mich vergiften kann.« Lena krampfte die Hände in den Träger ihres Rucksacks. Ob er ihr glauben würde?
Mike erwiderte nichts, er runzelte nur die Stirn.
Sie sah ihm in die Augen, als könnte er darin sehen, was sie erlebt hatte. »Ich schwör’s dir, Mike. Auf das Periodensystem.«
»Ach komm, das hast du doch geträumt«, sagte er schließlich.
»Nein, wirklich nicht.«
Sein Lachen klang unsicher. »Lena, du bist meine beste Freundin, aber alles nehme ich dir trotzdem nicht ab.«
»Ich weiß selbst, wie bescheuert das klingt. Trotzdem war es so.«
Mike schnaubte. »Und dann kam ein Ritter in schimmernder Rüstung und hat der schrecklichen Pflanze mit seinem Schwert den Garaus gemacht.«
Lena hob drohend den Ellenbogen. »Denk an den blauen Fleck.«
Mike grinste und wich ein Stück zurück. »Also kein Ritter?«
Ein Bild sprang ungebeten in Lenas Kopf. Der Fremde in Ritterrüstung auf einem schwarzen Pferd. Gar nicht schlecht, die Vorstellung. Irgendwie … sexy. Lena verdrehte die Augen. Ging das schon wieder los?
»Nicht wirklich, nein. Es war der Mann aus der Stadt. Er ist einfach aufgetaucht und er hatte eine Jeans an, keine Rüstung.«
Mike riss die Augen auf. »Ich fass es nicht. Meinst du, er hat dich verfolgt, oder so was?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, vielleicht. Auf jeden Fall hat er verhindert, dass ich diese seltsame Pflanze anfasse. Er wusste, dass sie giftig ist.« Sie verstummte und grübelte, ob sie nicht doch versuchen sollte, ihn aufzuspüren. Dann könnte sie ihn fragen, woher er so viel über eine Pflanze wusste, die sie noch nie in irgendeinem Buch gesehen hatte.
»Lena?«
Mikes Stimme drängte sich zwischen ihre Gedanken. »Wie bitte? Hast du mich was gefragt?«
Er verdrehte die Augen. »Ich würde gern noch das Ende erfahren. Hat der Typ dich hinter einen Busch geschleift oder was ist passiert?«
Sie hob abwehrend die Hände. »Quatsch, so war das nicht. Er hat meine Verletzung angeschaut und …«
»Was? Du bist verletzt? Das sagst du erst jetzt?«
»Nicht schlimm, ich spüre es kaum noch.«
»Zeig mal.«
Sie sah Mike an, während sie den Ärmel zurückzog. »Hier, sieht fies aus, ist aber nicht so schlimm.«
»Das ist der falsche Arm«, sagte Mike trocken.
»Was? Nein, ganz sicher nicht!« Lena verzog empört das Gesicht. »Ich werde doch wissen …« Sie stockte, als ihr Blick auf ihren Arm fiel. Der Kratzer war noch zu sehen, aber nur gerade so, als dunkle Linie auf ihrer Haut.
Mike schüttelte den Kopf. »Das ist bestimmt nicht von gestern.«
»Aber … doch, das muss es sein, vorher hatte ich da nichts.«
Sie konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Aber dann kam ihr etwas in den Sinn. Seine Fingerspitzen auf ihrer Haut, wie sie ganz sanft über ihren Arm strichen. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, läutete die Glocke zum Unterricht. »Mist, keine Zeit mehr«, murmelte sie.
»Lena, langsam mach ich mir echt Sorgen um deinen Geisteszustand.« Auf Mikes Gesicht lag derselbe Ausdruck, den er aufsetzte, wenn sie von ihrer Großmutter redete.
»Also glaubst du mir nicht?« Sie sah ihn herausfordernd an.
Mike zuckte die Achseln. »Sorry, aber das ist einfach zu verrückt.«
»Ich weiß. Aber es war so. Das Irrlicht war da und auch der Fremde mit seinen interessanten Augen …« Sie biss sich auf die Lippe.
Langsam breitete sich ein Grinsen auf Mikes Gesicht aus. »Aha, jetzt ist alles klar. Hättest du das nicht gleich sagen können? Dann ist ja alles gut.«
»Wie meinst du das denn jetzt?«
»Verliebte haben eben Halluzinationen und reden wirres Zeug, dafür muss man sich nicht schämen.« Dann drehte er sich um und rannte die restlichen Stufen hoch, bevor sie etwas erwidern konnte.
»Nur, weil mir seine Augen gefallen, bin ich doch nicht verliebt«, rief sie ihm nach.
Mike grinste nur noch breiter. »Wir reden in der Mittagspause, dann will ich alles wissen.« Weg war er.
Wütend starrte Lena ihm hinterher. »Der spinnt doch«, murmelte sie und machte sich an den Aufstieg in den zweiten Stock. Hier gab es keine Klassenzimmer, sondern nur Lager und einige Räume für die praktische Arbeit, unter anderem der Chemiesaal, den sie jetzt ansteuerte. Der alte Dielenboden knarzte, als sie den Gang entlang lief, der heute gar kein Ende nehmen wollte. Die Morgensonne fiel warm durch die riesigen Fenster auf Lenas nackte Unterarme und ließ erahnen, dass die Hitzewelle noch eine Weile anhalten würde. Als die Schulglocke ein zweites Mal klingelte, zuckte sie zusammen. Erschrocken rannte sie die letzten Meter zur Tür des Chemiesaals und riss sie auf.
Bankreihen, die angeordnet waren wie eine überdimensionale Treppe, beherrschten den Raum. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass die anderen acht Kursteilnehmer es sich schon in den unteren beiden Reihen bequem gemacht hatten. Natürlich, sie war mal wieder die Letzte.
»Wie schön, dass Sie es einrichten konnten«, sagte eine tiefe Stimme. Ein paar ihrer Mitschüler kicherten.
Das Blut stieg ihr ins Gesicht. »Entschuldigung.«
Sie wandte sich dem Sprecher zu. Es war ein älterer Mann mit graublonden Haaren. Er war drahtig und etwas größer als sie. Sein Outfit aus schwarzer Hose und blauem Hemd mit grauer Krawatte erstaunte sie. Irgendwie hatte sie sich den Chemieprofessor als exzentrischen Cordjackenträger mit gepunkteter Fliege vorgestellt.
»Soll ich Sie zu Ihrem Platz führen oder schaffen Sie das allein?«, fragte er ungeduldig und warf ihr einen verärgerten Blick zu. Na großartig, da hatte sie sich ja gleich gut eingeführt. Ohne darauf zu achten, wer dort saß, stürzte sie zu einem der Plätze in der zweiten Reihe und setzte sich hin. Ein großer Fehler, wie sich herausstellte, als sie den Blick hob und in Luises hämisch grinsendes Gesicht blickte. Lena stöhnte innerlich.
»Nett von dir, dass du dich gleich von Anfang an unbeliebt machst«, flüsterte Luise. »Das macht’s mir leichter.«
Verärgert verzog Lena das Gesicht, verkniff sich aber eine Erwiderung, um nicht schon wieder aufzufallen. Sie richtete den Blick starr nach vorn. Heute würde sie sich keinen Schnitzer mehr erlauben.
»Nun denn.« Der Professor sah kurz auf sein Klemmbrett. »Leonora Weber.«
Lena zuckte zusammen. Sie war es nicht gewohnt, ihren ganzen Namen zu hören. Niemand benutzte ihn, und wenn, dann nicht für lange. Bis zu ihrem ersten Schultag hatte sie gar nicht gewusst, dass sie eigentlich Leonora hieß.
»Sicher ist es Ihnen lieber, wenn ich das abkürze? Wie nennt man Sie? Leo? Lena? Nora?«
Sie seufzte und nickte ergeben. »Lena.« Warum glaubten eigentlich alle, dass sie ihren Namen nicht mochte? Es hätte ihr gefallen, so angesprochen zu werden. Die anderen Mädchen hatten früher immer davon geträumt, dass ein Prinz kam und sie mit auf sein Schloss nahm. Nachdem Lena erfahren hatte, wie ihr ganzer Name lautete, hatte sie eine Weile lang immer nur davon geträumt, dass ihr Prinz sie Leonora nannte.
Mike hatte das ziemlich lustig gefunden und sich dann die Erlaubnis geholt, sie weiter Lena zu nennen. Um Missverständnissen vorzubeugen, wie er sagte. Ein winziges Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.
»Der Intensivkurs für das Stipendium wird vier Wochen dauern«, riss die Stimme des Professors sie aus ihren Gedanken. »Ich werde jede Woche zwei Seminare im Rahmen der Chemiestunden abhalten, über die am Ende ein Test geschrieben wird. Dazu kommen die praktischen Übungen am Nachmittag.« Er ließ seinen Blick über die zwei Sitzreihen mit Schülern schweifen. »Am Ende entscheiden aber nicht nur die Prüfungsergebnisse. Ein guter Wissenschaftler zeichnet sich auch durch andere Dinge aus. Disziplin, Motivation, Interesse und sorgsames Arbeitsverhalten. Auch Kreativität spielt eine große Rolle.«
Lena sog alles in sich auf. Der Professor war so ganz anders als ihre Lehrer. Man merkte ihm die Leidenschaft für sein Fachgebiet tatsächlich an. Sie konnte ihn sich gut in einem weißen Kittel vorstellen, wie er an einem Versuch arbeitete. Es war sicher faszinierend, ihm dabei über die Schulter zu sehen. Aber da war noch mehr. Er hatte eine Art zu reden, die ihr das Gefühl gab, dass er sie nicht für uninteressierte Schüler hielt, sondern für zukünftige Kollegen. Lena konnte es kaum erwarten, von ihm zu lernen und ihm all die Fragen zu stellen, für die ihr Chemielehrer entweder keine Zeit oder nicht das nötige Fachwissen hatte.
»Aus Zeitgründen werde ich nur die theoretischen Seminare abhalten. Die praktischen Übungen werden Sie unter der Leitung eines meiner besten Studenten absolvieren.«
Lena musste ein enttäuschtes Stöhnen unterdrücken. Auch Luise verzog das Gesicht. Sie hatte wohl ebenfalls erwartet, dass der Professor den Kurs persönlich leiten würde.
Der Professor lächelte. »Ich versichere Ihnen, dass er äußerst fachkundig und versiert ist, und sicher mehr Geduld mit Ihnen hat als ich. Was aber nicht bedeutet, dass Sie schludern dürfen. Denken Sie an die Abschlussbeurteilung.« Er warf einen mahnenden Blick in die Runde. »Bevor wir mit dem ersten Seminar beginnen, möchte ich Ihnen meinen jungen Kollegen vorstellen.« Er sah nach oben zur letzten Reihe und hob auffordernd die Hand. »Bitte, Herr Magnus.«
Was denn, da oben saß noch jemand? Darauf hatte sie vorhin in der Eile gar nicht geachtet. Neugierig drehte sie sich um und riss erstaunt die Augen auf.
Ein junger Mann in einer dunkelblauen Jeans und einem langärmligen schwarzen Hemd schritt die Treppe zwischen den Bankreihen herunter. Er hatte schwarze Haare und grüne Augen.
Augen, die sie überall wiedererkannt hätte.
Als ihr bewusst wurde, dass sie ihn anstarrte, drehte sie hastig den Kopf zurück zur Tafel. Sie konnte vor Aufregung kaum atmen. Ausgerechnet er war der Student, der die Versuche leiten würde?
Er ging an ihr vorbei, ohne sie anzusehen, und drehte sich erst um, als er vor dem Lehrerpult angekommen war. Sein Blick wanderte über die erwartungsvollen Gesichter der Schüler, blieb aber nicht an Lena hängen. Nichts deutete darauf hin, dass er sie wiedererkannt hatte.
»Mein Name ist Cay.« Er sprach es aus wie den zweiten Teil von Okay. »Ich finde, wir sollten uns duzen. Immerhin bin ich kein Lehrer und außerdem kaum älter als ihr.«
Während die Klasse zustimmend murmelte, ließ Lena sich den Namen auf der Zunge zergehen. Cay. Ein merkwürdiger Name. Sie bemerkte, dass ein paar der anderen Mädchen ihn ganz unverhohlen musterten. Sogar Luise starrte ihn an. Er schien es gar nicht zu bemerken. Während er erklärte, wie der praktische Teil des Kurses ablaufen würde, riskierte auch Lena einen Blick.
Er war durchschnittlich groß, hatte breite Schultern, sah aber auch nicht aus, als würde er ständig im Fitnessstudio trainieren. Die schwarzen Haare fielen ihm locker in die Stirn, im Nacken waren sie kurz. Ihr Blick blieb kurz an seinen langen Beinen hängen und wanderte dann zurück zu seinem Gesicht und zu seinen Augen, die amüsiert glitzerten. Sie sank etwas tiefer in ihren Stuhl. Er hatte ihren Blick bemerkt. Wie unfassbar peinlich.
Jetzt sprach er sie auch noch an. »Leonora, richtig?«
Sie nickte.
»Wäre es dir recht, das zu übernehmen?«
Obwohl sie keine Ahnung hatte, worum es ging, nickte sie hastig. Alles. Hauptsache, er erwähnte ihren Blick nicht vor den anderen.
Seine Mundwinkel zuckten. Er hatte bemerkt, dass sie nicht zugehört hatte und ihre Lage schamlos ausgenutzt. »Gut. Wir besprechen das nach dem Seminar.«
Sie nickte ergeben. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Luise verärgert den Mund verzog. Offensichtlich hätte sie die Aufgabe gern selbst übernommen, was auch immer es war.
Als Cay geendet hatte, ging er wieder an ihr vorbei zu seinem Platz und der Professor begann mit dem Seminar. Normalerweise hätten seine Ausführungen Lena völlig gefesselt. Jetzt fragte sie sich ständig, wie es sein konnte, dass dieser Cay ausgerechnet hier war und ob er sich tatsächlich nicht an sie erinnerte. Immer wieder verlor sie den Faden, und als das Seminar zu Ende war, betrachtete sie seufzend ihre lückenhaften Aufzeichnungen. Warum ließ sie zu, dass er sie so ablenkte? Wütend, vor allem auf sich, stand sie auf und wollte den Saal verlassen.
»Warte.«
Sie schloss die Augen, atmete tief durch und blieb stehen. Dann drehte sie sich langsam um. Richtig, sie hatte ja zugestimmt, ihm bei irgendwas zu helfen. Er stand vor ihr, fast so nah wie auf der Lichtung.
»Leonora.« Seine dunkle Stimme liebkoste jeden Buchstaben ihres Namens und jagte ihr einen Schauder über den Rücken.
Reiß dich zusammen, verdammt.
»Ja?« Es klang ziemlich schnippisch.
Da war sie wieder, die hochgezogene Augenbraue. »Ist alles in Ordnung?«
Nein, nichts war in Ordnung. Sollte er doch woanders die Kurse halten und dort die Mädchen ablenken. Nicht hier, nicht sie. »Ja, alles bestens.«
Er sah sie zweifelnd an, fragte aber nicht weiter. »Ich möchte dich bitten, morgen etwas früher zu kommen und mir mit dem Versuchsaufbau zu helfen.«
Erleichtert atmete sie auf. Das war alles? Sie nickte knapp und wandte sich zur Tür. Erst, als sie auf den Flur trat, wurde ihr klar, was das bedeutete.
Sie würde mit Cay allein sein.