Kapitel 7

 

 

 

Am nächsten Nachmittag stand Lena einige Minuten vor Beginn des Kurses unschlüssig vor der Tür des Chemiesaales. Sie machte sich immer noch Gedanken wegen ihres unhöflichen Verhaltens gegenüber Cay und hoffte, dass sie es sich nicht schon mit ihm verdorben hatte.

Sie atmete tief ein und drückte die Klinke hinunter. Cay war schon da. Er stellte gerade ein paar Reagenzgläser in eine Halterung auf dem Tisch.

»Hallo«, sagte sie zaghaft.

Er sah auf und lächelte. Ihr verräterisches Herz machte einen Satz.

»Leonora. Schön, dass du da bist.«

Erleichtert erwiderte sie sein Lächeln. Er war eindeutig nicht verärgert wegen gestern.

Sie ging zu den Sitzreihen hinüber und ließ ihren Rucksack auf den Tisch fallen. Dann ging sie zu Cay und betrachtete den Versuchsaufbau.

»Viel gibt es noch nicht zu sehen, ich habe gerade erst angefangen«, sagte er.

»Was kann ich tun?«

»Komm mit, du kannst mir tragen helfen.«

Sie folgte ihm durch eine Tür in ein kleines Nebenzimmer. Es war ziemlich dunkel und bis unter die Decke vollgestellt mit Regalen. Darin stapelten sich neben Büchern auch Zutaten für chemische Experimente. Reagenzgläser, Bunsenbrenner und Dosen, die irgendwelche Pulver enthielten. In einem Schrank, der normalerweise abgeschlossen war, entdeckte Lena Behälter mit Pulvern und dunkelbraune Fläschchen für Flüssigkeiten, von denen ihr orangefarbene Gefahrstoffaufkleber entgegenleuchteten. Auf manchen prangte ein Totenschädel.

Cay zeigte auf den Schrank. »Wir brauchen Schwefelsäure, Brennspiritus und Kaliumpermanganat.«

Während Lena nach den richtigen Chemikalien suchte, wühlte er in den anderen Regalen und zog Schutzhandschuhe und Schutzbrillen heraus.

»Das scheint ja was Explosives zu werden heute«, sagte sie.

Er lachte. »Ich hoffe nicht.«

Mit zwei Fläschchen und einer Plastikdose in den Händen ging Lena zurück in den Saal. Cay folgte ihr und legte seine Ausbeute auf den Labortisch.

»Jetzt müssen wir fünf Stationen aufbauen. Jeweils für zwei Leute.«

Sie stellten zuerst die Halterungen mit den Reagenzgläsern auf. Dann legten sie neben jede Halterung zwei Pipetten für die Flüssigkeiten und einen Spatel für die Kaliumpermanganat-Kristalle, außerdem Handschuhe und Schutzbrillen.

»Gibst du mir mal die Flaschen, bitte?«, sagte Cay.

Sie nahm die beiden Fläschchen, ging damit zu ihm hinüber und hielt sie ihm hin. Als er sie entgegennehmen wollte, berührten seine Finger ihre Hand und brachten ihre Haut zum Kribbeln. Sie sah erschrocken auf und das Fläschchen mit der Schwefelsäure rutschte ihr fast aus der Hand. Gerade noch rechtzeitig schloss sie die Finger.

»Verdammt!« Mit zusammengepressten Lippen stellte sie die Chemikalien vor ihm auf den Tisch.

Cay warf ihr einen amüsierten Blick zu, sagte aber nichts. So viel zum Thema sorgsames Arbeiten. Das ging ja schon gut los.

»Noch etwas?«

»Ich schreibe noch die Formeln an die Tafel. Du kannst mir diktieren.« Er reichte ihr das Buch mit seinen Notizen, in dem die chemischen Formeln für den Versuch standen.

Am Anfang diktierte sie ihm, aber sie merkte schnell, dass er das gar nicht brauchte. Er hatte die Formeln schon beendet, bevor sie alles vorgelesen hatte. Er stellte sich hinter sie, um einen Blick in das Notizbuch zu werfen. Sie erschauderte, als sein Atem sie im Nacken kitzelte.

»Stimmt alles«, sagte sie atemlos.

Er nickte zufrieden. »Es ist immer besser, sicherzugehen.« Dann streckte er die Hand nach dem Buch aus und sie gab es ihm, diesmal ohne Berührung. Als sie etwas wie Enttäuschung verspürte, sah sie auf. Seine Mundwinkel zuckten. Verdammt, war sie wirklich so leicht zu durchschauen?

»Das war es. Vielen Dank, dass du mir geholfen hast.« Er legte ihr kameradschaftlich eine Hand auf die Schulter. Die Wärme seiner Finger drang in ihren Körper und breitete sich wie eine sanfte Welle darin aus. Ihr stockte der Atem und plötzlich war sie unfähig etwas zu sagen. Stattdessen zwang sie sich zu einem zittrigen Lächeln. »Gern geschehen.«

Ein lauter Knall ließ Lena zusammenfahren. Die Tür des Saales war ins Schloss gefallen. Davor stand Luise und warf ihr einen giftigen Blick zu.

Sofort machte Lena einen Schritt von Cay weg, sodass seine Hand von ihrer Schulter fiel.

»Hallo, Cay«, sagte Luise mit einem klebrigen Lächeln im Gesicht.

Lena spürte einen Stich in der Magengrube.

Cay sah Luise nachdenklich an, dann schüttelte er den Kopf. »Entschuldige, ich konnte mir nicht so schnell alle Namen merken. Wie heißt du?«

Luise wurde blass und ihre Augen blitzten. »Luise Bachmann.«

Lena musste ein Grinsen unterdrücken.

Cay nickte knapp. »Ich muss noch etwas holen«, sagte er und ging in den Lagerraum.

Sofort stürzte sich Luise auf Lena. »Es wird dir nichts bringen, dich an ihn ranzumachen«, zischte sie.

»Spinnst du? Ich mache mich doch nicht an ihn ran!«

»Ach, ja? Ich hab genau gesehen, wie du ihn mit Kuhaugen angestarrt hast. Pass bloß auf. Wenn ich merke, dass er dich bevorzugt, informiere ich die Jury und dann kannst du das Stipendium vergessen.« Sie drehte sich um und ging hocherhobenen Hauptes zu ihrem Platz. Sprachlos vor Wut starrte Lena ihr hinterher.

Während nach und nach die anderen Kursteilnehmer hereinkamen, versuchte Lena, Luises Drohung zu verdrängen und sich auf den Kurs zu konzentrieren. Auch ihre Mitschüler betrachteten interessiert die Fläschchen und stellten Mutmaßungen über den Versuch an.

Lena mochte diese Atmosphäre. Keine gelangweilten Gesichter, niemand, der die Augen verdrehte, wenn sie nachfragte, weil sie etwas genauer wissen wollte. Alle waren freiwillig hier und selbst an den Antworten auf Lenas viele Fragen interessiert.

Cay war inzwischen aus dem Lagerraum zurück. Er warf einen Blick in die Runde und begrüßte die Teilnehmer. »Ich habe heute etwas ausgesucht, das hoffentlich ein wenig Spaß macht. Es ist allerdings auch ein Versuch, bei dem ihr sehr sorgfältig und vorsichtig arbeiten müsst. Die Schutzbrillen setzt ihr am besten gleich auf und nehmt sie nicht wieder ab, bis ich es euch sage.«

Lena zog eine Grimasse, während sie sich eine Schutzbrille überzog. Wie sorgfältig und vorsichtig sie war, hatte sie ja heute schon gezeigt.

»Wir arbeiten immer zu zweit, da ihr neun seid, muss einer von euch mit mir arbeiten.« Er warf einen Blick in die Runde und machte schließlich bei Luise halt. Er nickte ihr zu. »Du kannst heute mit mir zusammen den Versuch machen.«

Eigentlich war Lena erleichtert, dass die Wahl nicht auf sie gefallen war. Bestimmt konnte sie sich viel besser konzentrieren, wenn er nicht neben ihr stand. Aber hatte er gerade Luise aussuchen müssen?

Luise grinste Lena triumphierend an, als sie sich neben Cay stellte.

»Wie wär’s mit uns beiden?«, fragte Alessandro, ein schlaksiger, braunhaariger Junge mit John-Lennon-Brille.

»Klar, warum nicht?«

Alessandro zwinkerte ihr zu. »Wenn ich gewusst hätte, dass das so einfach geht, hätte ich schon viel früher gefragt.«

Das brachte Lena zum Lachen und ihre Anspannung löste sich ein wenig.

»Ihr seht vor euch drei Fläschchen. Vielleicht kennt ja jemand von euch den Versuch schon und kann mir sagen, worum es geht?«, fragte Cay.

Lena schüttelte stumm den Kopf. Sie sah, dass auch die anderen ratlose Gesichter machten. Sogar Luise.

Cay nickte. »Gut, dann ist der Effekt umso besser.« Er hielt das erste Fläschchen hoch. »Zuerst gebt ihr die Schwefelsäure in das Reagenzglas. Luise, du kannst anfangen. Ich helfe dir, falls es Probleme geben sollte.«

Die Schüler zogen sich die Handschuhe an. Lena wich ein Stück zurück. Alessandro saugte mit der Pipette die Säure auf und füllte sie in das Reagenzglas.

»Jetzt kommt der schwierige Teil. Der Brennspiritus muss auf der Schwefelsäure schwimmen, er darf sich nicht mit der Säure vermischen. Das erfordert Fingerspitzengefühl.«

Lena trat an den Tisch heran, befüllte eine Pipette mit Brennspiritus und ließ ihn dann behutsam in das Reagenzglas laufen. Zufrieden betrachtete sie die perfekte Linie, die sich zwischen den Flüssigkeiten gebildet hatte.

»Gut. Jetzt kommt der eigentliche Effekt.« Cay ging zum Lichtschalter und legte die Hand darauf. Dann nickte er Emre, einer der Kursteilnehmerinnen, zu. »Du gibst jetzt das Kaliumpermanganat dazu. Schnell, aber vorsichtig, und trittst sofort vom Tisch zurück, wenn du fertig bist.«

Emre nickte nervös und befolgte Cays Anweisungen. Als sie fertig war, betrachtete Lena das Reagenzglas. Braune Schlieren bildeten sich darin. Sollte das etwa alles gewesen sein? Ein wenig enttäuscht sah sie das Glas an. Aber dann schaltete Cay das Licht aus und Lena riss überrascht die Augen auf. Auch die anderen starrten jetzt wie gebannt auf das Reagenzglas. Winzige Blitze zuckten hell auf. Überall, inmitten der Flüssigkeiten.

»Gewitter unter Wasser, so wird dieser Versuch auch genannt, obwohl es natürlich kein Wasser ist«, sagte Cay und schaltete das Licht wieder ein.

»Sehr gut gemacht, Emre, danke.« Er lächelte das Mädchen freundlich an, bevor er sich an die anderen wandte. »Jetzt könnt ihr den Versuch an euren Plätzen durchführen.«

Alessandro ließ Lena den Vortritt und sie griff nach dem Spatel, um die lila Kaliumpermanganatkristalle aus der weißen Plastikdose zu holen. Cay beobachtete mit Argusaugen, wie sie den Spatel über das Reagenzglas mit den Flüssigkeiten hielt. Warum gerade sie? Musste das sein? Ihre Hand zitterte schon vor Nervosität. Sie warf Cay einen giftigen Blick zu. Geh und mach jemand anderen nervös! Mit Schwung kippte sie die Kristalle in die Flüssigkeit.

»Leonora, nein!«

Etwas traf sie hart an der Brust und schleuderte sie vom Tisch weg. Sie stolperte rückwärts und wäre hingefallen, wenn Alessandro sie nicht in letzter Sekunde am Arm gepackt und festgehalten hätte.

Sie fand nur langsam ihr Gleichgewicht wieder. Stimmen redeten durcheinander und einige ihrer Mitschüler scharten sich um sie. Sie warf Cay, der sie besorgt ansah, einen fragenden Blick zu.

»Nichts passiert, alles in Ordnung«, sagte sie zittrig und löste ihren Arm aus Alessandros Griff.

»Was war das denn?«, fragte Alessandro.

Lena schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Es hat sich angefühlt, als hätte mich jemand weggestoßen.« Nur wer? Alessandro hatte sie aufgefangen, er konnte es nicht gewesen sein und die anderen hatten zu weit weggestanden. Von einer Explosion hatte sie auch nichts mitbekommen und die hätte auch ganz schön heftig sein müssen, um sie derart von den Füßen zu reißen.

»Ist doch klar, erst wirft sie viel zu viele Kristalle auf einmal in das Glas und dann behauptet sie, dass jemand sie gestoßen hat, um davon abzulenken«, raunte Luise so laut, dass es alle hörten. Jemand kicherte, aber Lena nahm es kaum wahr.

Mit weichen Knien betrachtete sie die Überreste des Versuchs. Es war nichts kaputt. Nur die Flüssigkeit war aus dem Reagenzglas herausgespritzt, hatte sich in weitem Umkreis verteilt und fraß sich gerade zischend durch ihre Notizen.

Alessandro riss die Augen auf. »Da hast du echt Glück gehabt, stell dir mal vor, das hätte dich im Gesicht getroffen.«

Lenas Mund wurde trocken. Das war wirklich knapp gewesen.

»Ich bin wohl vor Schreck gestolpert«, murmelte sie. Anders konnte sie es sich nicht erklären. Den Stoß auf die Brust musste sie sich eingebildet haben.

 

*

 

»Dann hat Cay auch noch Luise gebeten, das nächste Mal früher zu kommen, um mit ihm den Versuch aufzubauen«, beendete Lena ihren Bericht. Sie rührte so heftig in ihrem Tee, dass ein großer Schwall über den Rand schwappte und auf dem Küchentisch landete. Seufzend holte sie einen Lappen und wischte langsam über die Tischplatte.

»Stört dich das etwa?«, fragte Mike mit einem anzüglichen Grinsen.

»Natürlich stört mich das.«

»Schau an, gibst du endlich zu, dass du in ihn verliebt bist?«

Lena schrubbte den alten Holztisch jetzt so heftig, dass er wackelte und Mikes Kakao in der Tasse schwappte.

»Deswegen doch nicht. Wegen des Stipendiums«, sagte sie mit mehr Überzeugung, als sie fühlte. »Luise versucht schon die ganze Zeit, mich schlechtzumachen. Wer weiß, was sie ihm erzählt, wenn sie mit ihm allein ist. Aber wenn sie glaubt, dass sie mich einschüchtern kann, hat sie sich geschnitten. Diese ganzen Gemeinheiten und Sticheleien spornen mich nur noch mehr an, es ihr zu zeigen.« Sie ging zur Spüle und wrang den Lappen so heftig aus, dass er riss. Sie schnaubte und pfefferte ihn in den Mülleimer.

Mike schüttelte ungläubig den Kopf. »Mannomann. Ich wusste ja, dass ihr euch nicht leiden könnt, aber in letzter Zeit ist Luise ein richtiges Biest geworden.«

Lena nickte, während sie sich wieder auf ihren Stuhl fallen ließ. Sie waren schon als Kinder nicht gut miteinander ausgekommen, aber es war nie eine richtige Feindschaft gewesen, sondern eher eine Rivalität um die beste Note oder den Sieg in einem Wettbewerb. Es hatte sie beide noch mehr angespornt.

»Ich bin es ja gewohnt, dass sie über mich lästert, aber dass sie mich so angreift und über mich herzieht, das war früher nicht so. Heute hat sie mir sogar gedroht, der Jury zu erzählen, dass ich mich an Cay ranmache.« Lena ballte die Fäuste.

»Vielleicht wird sie langsam irre. Für die zählen nur Erfolg und Ergebnisse. Wundert mich aber ehrlich gesagt nicht, schau dir nur ihre Familie an, die sind alle so.«

Zuerst wollte Lena nicken. Dann fiel ihr ein, dass es nicht stimmte. Ihre Wut verrauchte, als wäre sie nie da gewesen und machte einem Ziehen in ihrer Brust Platz. »Adrian war nicht so«, flüsterte sie.

Mikes Augen weiteten sich. »Ich Idiot, entschuldige. Ich wollte nicht …«

Lena schüttelte den Kopf. »Schon gut.« Mike konnte schließlich nichts dafür, dass es ihr immer noch schwerfiel, über Adrian zu reden. Längst vergessen geglaubte Erinnerungen stürmten auf sie ein. Sie sah ihn vor sich, wie er sie anlächelte, mit seinen grauen Augen, die genauso aussahen wie Luises und doch ganz anders. Voller Wärme und Lebensfreude. Er hatte auch dieselben dunkelbraunen Haare wie seine Schwester. Damals hatte er sie immer modisch ungekämmt getragen.

»Wo er jetzt wohl ist?« Ihr Blick war auf Mike gerichtet, aber sie nahm ihn nicht wahr.

»Bestimmt in einem Zelt irgendwo in Brasilien.« Mike lachte. »Der ist auch irre, aber auf eine positive Art. Kaum zu fassen, dass er und Luise die gleichen Gene haben.«

Lena lächelte. »Ja, das kann man wirklich kaum glauben.«

»Vermisst du ihn noch?« Die Frage kam behutsam, als hätte er Angst, in ihr etwas aufzuwühlen, was sie mühsam begraben hatte. Lena verscheuchte den Gedanken an einen ungewaschenen Adrian mit Dreadlocks. Sie horchte in sich hinein und erspürte die Stelle ihres Herzens, um die sie die letzten zwei Jahre einen großen Bogen gemacht hatte.

»Ich … nein, ich glaube nicht.« Aber es tut trotzdem noch weh.

Mike sah sie prüfend an und öffnete den Mund. Genau in diesem Moment platzte Lenas Mutter in die Wohnküche. »Oh, hallo Mike!«

»Hallo, Greta!«, sagte Mike grinsend.

»Schön, dich zu sehen. Du warst ja ewig nicht mehr hier.« Sie warf Lena einen erfreuten Blick zu.

Lena verdrehte die Augen. »Er ist nur hier, um Chemie zu lernen.«

»Ja sicher.« Ihre Mutter lächelte wissend.

Lena seufzte und schüttelte den Kopf. Mikes Grinsen wurde breiter. Ihre Mutter hoffte immer noch, dass Mike und sie eines Tages ein Paar werden würden. Egal, wie oft Lena ihr sagte, dass das absolut unmöglich war. Denn so sehr sie Mike auch mochte, es kribbelte einfach nicht zwischen ihnen.

»Wie läuft es mit dem Stipendium?«, fragte ihre Mutter.

Lena schnaubte. »Ach, ich weiß nicht. Ich glaube, nicht so gut.«

»Na ja, wenn es nicht klappt, ist das auch kein Weltuntergang.«

Ohne Vorwarnung kochte Wut in ihr hoch. Warum musste sie das so abtun? Verstand ihre Mutter denn nicht, wie wichtig das für sie war? Ohne Stipendium konnte sie wahrscheinlich gar nicht studieren. »Für dich nicht, das ist mir schon klar«, fauchte sie. »Was es für mich bedeutet, interessiert dich gar nicht.«

»Ich finde nur nicht gut, dass du dich immer so in deinen Büchern vergräbst! Ohne das Stipendium …«

Lena unterbrach sie. »Ich glaube, wir gehen besser nach oben.« Sie stand auf und sah Mike auffordernd an. Der hob die Hände, lächelte Lenas Mutter entschuldigend zu und folgte Lena aus der Küche.

»Meinst du nicht, dass du etwas unfair bist?«, fragte er leise.

Lena stampfte die Stufen der uralten Holztreppe nach oben. »Ja, vielleicht«, grummelte sie. »Aber sie versucht nicht mal, mich zu verstehen, das macht mich so wütend.«

»Vielleicht will sie dich nur nicht unter Druck setzen.« Mike folgte Lena in ihr Zimmer.

Lena schnaubte und ließ sich aufs Bett fallen. Eine Weile sagte sie nichts, sondern überließ sich ihren Grübeleien. Schließlich setzte sie sich auf und zupfte an ihrer Bettdecke herum. »Sie kann nur nicht nachvollziehen, dass jemand ein Ziel hat, das er unbedingt erreichen will. Ohne das Stipendium komme ich hier nie weg. Und sie? Sie sitzt hier und näht ihre Sachen und das reicht ihr. Ich versteh das einfach nicht. Ich könnte so nicht leben und ich will es auch nicht!«

»Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass ich mir das nicht ausgesucht habe?«

Lena fuhr herum. Ihre Mutter stand in der Tür, einen Teller mit Schokokeksen in der Hand. Ihr Gesicht war kalkweiß.

»Mama …« Sie verstummte, suchte nach Worten, die das verräterische Schimmern wieder aus den Augen ihrer Mutter vertreiben würden.

»Lass gut sein«, sagte ihre Mutter tonlos, stellte den Teller auf das Regal neben der Tür und ging hinaus.

Beschämt und niedergeschlagen starrte Lena die Kekse an.

»Mann, was ist denn bei euch los? Geht das schon lange so?«, fragte Mike.

Lena nickte. »Seit Gromi gestorben ist.«

»Ich dachte immer, so was schweißt Familien zusammen?«

»Nicht, wenn einer traurig ist und der andere das nicht verstehen kann«, flüsterte sie.

»Das glaube ich nicht. Hast du schon mal mit ihr darüber geredet?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das führt doch zu nichts außer Streit.«

Mike verdrehte die Augen. »Das versteh’, wer will. Du quatschst den lieben langen Tag, aber wenn es mal wichtig wäre, den Mund aufzumachen, bist du stumm wie ein Fisch.«

Wütend griff Lena nach ihrem Kopfkissen und schleuderte es auf Mike.

»Du verstehst das einfach nicht, also halt die Klappe.«

Mike pflückte sich das Kissen aus dem Gesicht. »Na warte, du weißt, was auf Kissenwerfen steht.« Er stand auf und kam langsam mit drohend erhobenen Händen auf Lena zu.

»Nein, nicht. Lass das«, sagte Lena streng. »Wir sind doch keine Kinder mehr.«

»Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du unser fragiles Kissenschlachtfriedensabkommen gebrochen hast.« Er versuchte sich an einem teuflischen Grinsen.

Lena kicherte. »Mike, das kannst du einfach nicht. Ich glaube, dafür bist du zu nett.«

»Ich werde dir schon zeigen, dass ich auch anders kann.« Er stürzte sich auf sie und kitzelte sie, bis sie vor Lachen kaum noch Luft bekam.

»Aufhören, ist ja schon gut, ich ergebe mich!«

Sofort ließ Mike von ihr ab. »Mann, das haben wir schon ewig nicht mehr gemacht«, sagte er.

»Ja, der Frieden hat ziemlich lange gehalten.« Lena umarmte ihn und legte ihren Kopf auf seine Schulter.

»Danke«, flüsterte sie.

Er klopfte ihr auf den Rücken. »Das ist neu. Früher hast du mich immer dafür beschimpft.«

Lena knuffte ihn. »Du weißt genau, was ich meine. Du heiterst mich immer wieder auf. Solange ich dich habe, kann mir Luise nichts anhaben.«

Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Vielleicht solltest du mit Luise einfach mal reden.«

»Mike«, sagte Lena warnend.

»Schon gut, ich dachte ja nur. Damit du herausfindest, warum sie sich so aufführt.«

»Ach was, ich glaube nicht, dass da wirklich etwas dahintersteckt. Sie hasst mich eben.«

Mike runzelte nachdenklich die Stirn. »Vielleicht. Aber auch dafür haben Menschen normalerweise ihre Gründe. Sogar solche wie Luise.«