Kapitel 8
»Cay, kannst du bitte mal kontrollieren, ob ich das richtig gemacht habe?« Luise zeigte auf ihr Reagenzglas, in dem die Flüssigkeit ein perfektes Lila angenommen hatte, genau so, wie es im Arbeitsheft stand.
Lena verdrehte die Augen. Sie fragte sich, ob Cay auch bemerkte, wie plump Luise versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen.
»Absolut perfekt, Luise. Gut gemacht. Stimmt die Rechnung auch?«
Luise grinste wie ein Honigkuchenpferd. Ein Honigkuchenpferd, dem Lena nur zu gern den Kopf abgebissen hätte.
Cay nahm Luises Notizbuch und las die Rechnung der Titrierübung durch. Er nickte. »Stimmt alles. Sehr gut.«
Luise klimperte ihn freudestrahlend an. Er warf ihr einen irritierten Blick zu. Lena verkniff sich ein Lachen. Luises Flirtversuche schienen ihr Ziel zu verfehlen. Trotzdem machte es Lena wahnsinnig, dass sie es überhaupt versuchte.
»Das verdanke ich nur dir, Cay, weil du alles so gut erklärst«, säuselte Luise jetzt.
Lena starrte sie mit offenem Mund an. »Ich glaube, mir wird schlecht«, murmelte sie.
Emre, die neben ihr stand, kicherte.
»Ist noch jemand bereits fertig?«, fragte Cay, der sich offensichtlich dazu entschlossen hatte, Luises Bemerkung unkommentiert zu lassen.
Als sich niemand meldete, machte er eine Runde und steuerte Lenas Arbeitsplatz an. Sie stöhnte innerlich. Sie hasste Titrieren. Zumindest mit der vorsintflutlichen Methode, die sie in der Schule benutzten. Aus einer langen Glasröhre mit Zweiwegehahn ließ man eine Flüssigkeit von oben in ein Glas tropfen, bis die untere Flüssigkeit sich verfärbte. Anhand der verbrauchten Flüssigkeit konnte man dann die Menge eines darin gelösten chemischen Stoffes berechnen.
Als Lena den Zweiwegehahn öffnete, trat Cay gerade neben sie. Er sah zu, wie sie vorsichtig einen Tropfen in den Glaskolben fallen ließ und den Hahn sofort wieder zudrehte. Sanft schüttelte sie das Glas, aber die Flüssigkeit war immer noch grün. Seufzend öffnete sie den Hahn wieder, um einen weiteren Tropfen in das Glas fallen zu lassen.
»Geduld, Leonora.« Seine dunkle Stimme umwob ihren Namen mit einer Verheißung, die nichts mit Chemie zu tun hatte. Absolut gar nichts. Eher damit, dass sie sich wünschte, er würde noch einmal die Hand auf ihre Schulter legen. Noch einmal ihren Arm streicheln so wie im Wald. Oder ihr so nahe kommen, dass sie seinen Atem warm auf ihrer Haut spürte. In ihrem Bauch regte sich ein sanftes Kribbeln, das sich bis zwischen ihre Beine fortsetzte. Verdammt. Die ganze Zeit versuchte sie, sich einzureden, dass sie nichts von ihm wollte, aber ihr Körper betrog sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
»Ich glaube, das reicht«, sagte Cay.
Erschrocken stellte Lena fest, dass sie den Umschlagpunkt verträumt hatte. Die Maßlösung tropfte immer noch fröhlich in das Glas. Schnell drehte sie den Hahn zu und starrte verärgert auf die dunkellila Flüssigkeit.
»Jetzt kann ich noch mal von vorn anfangen«, sagte sie wütend.
»Dafür haben wir keine Zeit. Nimm für die Rechnung Luises Werte. Nach der Stunde bleibst du da und wir gehen es noch mal durch.«
Alles, nur das nicht. Noch mehr Zeit mit ihm allein war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Außerdem warf Luise ihr gerade einen äußerst wachsamen Blick zu.
»Nein, vielen Dank. Ich kann titrieren. Wir haben das schon oft genug gemacht.« Sie hoffte, dass er nicht darauf bestehen würde.
»Bist du sicher? Das sah gerade nicht so aus.« Er warf einen vielsagenden Blick auf die lila Flüssigkeit.
Luise grinste boshaft. Lena grub ihre Fingernägel so fest in den Handrücken, dass es wehtat. Ruhig bleiben. Sie atmete tief durch.
»Ja.« Sie hielt seinem Blick stand, während sie ihren Kopf verzweifelt nach einer Ausrede durchforstete. »Außerdem habe ich schon einen Termin.« Falls man das Lernen mit Mike so nennen konnte.
»Einen Termin, der wichtiger ist als das Stipendium?« Luise schüttelte missbilligend den Kopf. Ein Grinsen zuckte um ihre Mundwinkel.
Lena warf ihr einen giftigen Blick zu. Dann sah sie verunsichert zu Cay. Würde er ihr das als mangelnden Einsatz für das Stipendium auslegen? Cay starrte sie durchdringend an, doch schließlich ging er ohne ein weiteres Wort zur Tafel und schrieb die chemische Formel der Titration an.
In der Zwischenzeit musste Lena in den sauren Apfel beißen und Luise um die Messwerte bitten. »Ich brauche bitte dein Notizbuch«, murmelte sie.
Luise nahm es und hielt es Lena hin, zog es aber weg, als Lena danach greifen wollte.
»Mach nur weiter so, dann hab ich das Stipendium sicher«, flüsterte sie mit einem boshaften Grinsen, das Lena ihr am liebsten aus dem Gesicht gekratzt hätte.
Wütend packte Lena das Notizbuch und riss es Luise so heftig aus der Hand, dass ihr Arm zurückschnellte. Sie musste Luises Arbeitsgeräte hinter sich berührt haben, denn sie wackelten wie der Zeiger eines Geigerzählers und kippten vom Tisch. Luise schrie auf. Lena sprang ein Stück zurück und hielt sich die Hände vors Gesicht. Jeden Moment würde das Glas auf den Kacheln in tausend Stücke zerbersten. Und genau das tat es auch. Es klirrte laut. Flüssigkeit durchsetzt von kleinen Scherben spritzte durch die Gegend. Dann war es still.
Wie angewurzelt stand Lena da und betrachtete, was sie angerichtet hatte. Schon wieder. Einfach unglaublich. Vielleicht sollte sie gleich freiwillig aus dem Kurs aussteigen, bevor sie noch jemanden verletzte.
»Alles in Ordnung?« Cay stand plötzlich neben ihr.
»Ja, bei mir schon«, sagte Lena immer noch geschockt.
Er sah fragend in die Runde. »Ist jemand verletzt?«
Verneinendes Gemurmel hob an.
»Es tut mir leid, das war ein Unfall.« Lena starrte auf ihre Fußspitzen, damit die anderen ihr Gesicht nicht sahen. Es war zum Heulen, warum passierte ihr gerade jetzt ständig so etwas? Eigentlich war sie doch gar nicht so ungeschickt.
Luise grinste schadenfroh. »Tja, da wird wohl nichts aus deinem Termin. Stattdessen kannst du schon mal für später üben und das Labor putzen.«
Cay verengte die Augen. Es sah aus, als müsste er sich ziemlich zurückhalten, Luise nicht anzufahren. »Für heute ist der Kurs ohnehin beendet«, sagte er stattdessen.
Während die anderen langsam den Saal verließen, machte sich Lena an die Arbeit. Sie holte Schaufel und Besen und ging neben den Scherben in die Hocke, um sie aufzukehren.
Als sie hörte, wie Cay näher kam, fixierte sie angestrengt den Boden. »Tut mir leid, ich bin normalerweise nicht so tollpatschig«, murmelte sie.
»Das passiert eben.«
Sein verständnisvoller Tonfall ließ sie den Kopf heben.
»Wahrscheinlich mache ich dich nervös.«
Das Kehrblech fiel Lena mit lautem Klappern aus der Hand und alle Scherben landeten wieder auf dem Boden. Sie starrte ihn entgeistert an. Wie konnte er das wissen? War es wirklich so offensichtlich? Konnten die anderen es auch so deutlich sehen?
»Nein«, sagte sie viel zu spät und viel zu heftig. Gleichzeitig wurde sie so rot, dass es einem Geständnis gleichkam.
Er zog seine verdammte Augenbraue hoch. »Ich dachte nur, weil ich dich doch für das Stipendium bewerten soll.«
Sie schloss die Augen. Wie peinlich. Natürlich meinte er nur das Stipendium.
»Ach so. Ja, das macht mich wirklich sehr nervös«, sagte sie schnell. Warum sollte sie eine gute Ausrede nicht nutzen, wenn sie ihr angeboten wurde? »Dabei habe ich wahrscheinlich sowieso keine Chance mehr.«
Er schüttelte knapp den Kopf. »Wieso glaubst du das?«
»Ich habe mich ziemlich dumm angestellt, das ist sonst gar nicht meine Art …« Sie stockte. Ob er es glauben würde, wenn sie es oft genug sagte?
»Du bist eben aufgeregt, das kann sich alles noch ändern. Ich halte dich trotzdem für eine der aussichtsreichsten Kandidatinnen, wenn ich den Rest deiner Arbeit betrachte.«
»Wirklich? Ich hatte den Eindruck, du hältst Luise für besser.«
»Warum das?« Er wirkte ehrlich überrascht.
Sie sah verlegen auf die Scherben, die immer noch auf dem Boden lagen. »Weil du wolltest, dass sie dir beim Aufbauen der Versuche hilft.«
Seine grünen Augen fixierten sie. Verrieten sie überhaupt jemals etwas über seine Gefühle? »Ich versuche nur, alle gleich zu behandeln und persönliche Sympathien außer Acht zu lassen, damit es keine Probleme gibt.« Er verzog das Gesicht. »Auch, wenn es mir am meisten wehtut.«
Das Blut rauschte in ihren Ohren. Bedeutete das etwa, dass er sie mochte? »Wie meinst du das?«
»Weil ich jetzt ständig Luise um mich haben muss und das ist wirklich hart.« Er grinste schief.
»Oh.« Sie konnte nicht verhindern, dass ein wenig Enttäuschung in ihrer Stimme mitklang. Natürlich war sie erleichtert, dass sie immer noch Chancen auf das Stipendium hatte, aber dass er nichts weiter für sie empfand, versetzte ihr dennoch einen Stich. Eigentlich sollte sie froh darüber sein. Vielleicht konnte sie sich dann endlich etwas entspannen.
Als es laut an der Tür klopfte, hob Lena den Kopf. »Mist, das ist bestimmt Mike. Den hab ich ganz vergessen.«
»Dein Termin?« Der spöttische Tonfall in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Sie räusperte sich. »Ich helfe ihm beim Lernen.«
Die Tür öffnete sich und tatsächlich steckte Mike den Kopf herein. »Hey, Lena, da bist du ja.«
»Mike, was machst du denn hier?« Lena stand auf, klopfte sich die Hände ab und ging zur Tür.
»Ich hab die anderen runterkommen sehen, nur du warst nicht dabei. Dabei waren wir doch verabredet. Oder hast du das vergessen?«
»Nein, hab ich nicht. Ich …« Sie warf Cay einen vorsichtigen Blick zu. »Ich muss hier noch etwas nacharbeiten, tut mir leid.«
»Oh. So schlimm?« Mike reckte sich, um über Lenas Schulter hinweg einen Blick in den Saal zu werfen. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, bestens. Ich erzähle dir alles morgen, okay?« Sie konnte schlecht alles vor Mike ausbreiten, solange Cay hinter ihr stand und jedes Wort mit anhörte.
»Aber dann kommst du zu mir. Ich brauche wirklich dringend deine Hilfe. Und kein Kräutersammeln morgen.«
»Ja, gut. Versprochen.« Sie konnte Cays bohrenden Blick förmlich spüren. »Ich muss jetzt weitermachen, wir telefonieren nachher, ja?«
Mike nickte und wollte sich schon umdrehen, aber dann überlegte er es sich anders. Er ging auf Lena zu und umarmte sie. »Ist wirklich alles in Ordnung? Der Typ hat wieder diesen mörderischen Blick im Gesicht. Vielleicht sollte ich lieber dableiben?«, flüsterte er ihr dabei ins Ohr.
Lena grinste. »Heroisch von dir, aber das braucht es nicht. Wirklich. Er schaut nur so mörderisch, weil du mich davon abhältst, endlich meine Sauerei wegzumachen.« Sie schob ihn energisch von sich und klopfte ihm auf die Schulter. »Bis später.«
Sie schloss die Tür und sah Cay ins Gesicht, während sie zurück zu ihrem Scherbenhaufen ging. Eine unmutige Falte hatte sich zwischen seine schwarzen Augenbrauen gegraben.
Lena rollte mit den Augen. »Ich räume ja schon auf«, murmelte sie. »Kein Grund sich so aufzuregen.«
Sie nahm Schaufel und Besen wieder auf, ging in die Hocke und kehrte die Scherben ein zweites Mal auf. Cay brachte ihr einen Eimer und einen feuchten Lappen und sammelte vorsichtig ein paar Scherben ein.
»Was war das mit dem Kräutersammeln?«, fragte er unvermittelt.
Sie sah auf. »Wie bitte?«
»Dein … Freund sagte etwas von Kräutersammeln.«
»Oh, das. Ich sammle Pflanzen. Ist ein Hobby von mir.«
»Warst du deswegen damals auf der Lichtung?«
Nein, war ich nicht. Ich bin dem Irrlicht gefolgt, weißt du nicht mehr? Aber das hatte er ihr damals schon nicht geglaubt, also nickte sie nur.
»Diese Pflanze, vor der du mich gewarnt hast, von der habe ich noch nie etwas gehört. Ich bin noch mal hingegangen, um sie mir anzusehen, aber es war keine Spur mehr davon zu finden.«
Er hielt mitten in der Bewegung inne, eine Scherbe noch in der Hand, und sah sie an. »Tatsächlich? Sonderbar.«
»Ja, komisch, oder?« Ohne den Blick von Cay abzuwenden, kippte sie den Inhalt der Schaufel in den Eimer. Als die Hälfte daneben fiel, grinste er und sie beeilte sich, alles noch mal aufzukehren und wegzuwerfen, diesmal mit Blick auf den Eimer.
»Wofür brauchst du die Pflanzen?« Er schmunzelte immer noch.
»Ich habe keinen blassen Schimmer«, antwortete sie wahrheitsgemäß.
»Wie bitte? Warum sammelst du sie dann?«
»Weil es meiner Großmutter wichtig war. Als sie gestorben ist, hat sie mir ihr Notizbuch hinterlassen, mit dem ausdrücklichen Wunsch, dass ich alle Pflanzen finde, die darin stehen.«
Sie erwartete, dass er das lächerlich finden würde, so wie ihre Mutter und viele andere Leute in ihrer Umgebung, aber das Lachen war aus seinem Gesicht verschwunden.
»Das klingt, als ob du sie sehr vermisst«, sagte er leise.
Zuerst wollte sie nur eine wegwerfende Geste machen, nicht schon wieder jemandem mit ihrer Trauer auf den Geist gehen, aber da war etwas in seinem Gesicht, das wie echtes Interesse wirkte. Sie atmete tief durch.
»Ja, wahnsinnig. Sie hat mich zusammen mit meiner Mutter aufgezogen. Sie war immer für mich da.« Sie schluckte schwer und fuhr mit einer Hand über das Tuch in ihren Haaren. »Es ist so unfassbar, dass sie weg ist. Dass sie nicht mehr antwortet, wenn ich an ihre Zimmertür klopfe.« Sie stockte. »Ich kann einfach nicht darüber hinwegkommen, dabei ist es so lange her, ein halbes Jahr schon.«
Cay schnaubte. »Das nennst du lange? Es ist völlig normal, dass du in der kurzen Zeit noch nicht alles verarbeitet hast.«
Dankbarkeit löste den Knoten in ihrer Kehle auf. Es war schön, jemanden zu haben, der ihr zuhörte und sie ernst nahm. »Wirklich? Ich höre immer nur von allen Seiten, dass ich mich endlich zusammenreißen soll.«
Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. »Ja, es fällt den Menschen schwer, damit umzugehen, dass man nicht schnell wieder zu seinem gewohnten, fröhlichen Selbst zurückfindet.«
Erstaunlich, dass er so gut in Worte fasste, was sie fühlte, so als wüsste er genau, wovon er sprach. Sie hätte ihn gern danach gefragt, aber ein abweisender Ausdruck hatte sich in seine Miene geschlichen und hinderte sie daran.
»Du hast keine Ahnung, was sie damit bezweckt, dass du diese ganzen Pflanzen finden sollst?«, fragte er.
Lena schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin immer davon ausgegangen, dass sie einfach möchte, dass ihr Werk vollendet wird. Ich glaube nicht, dass es einen größeren Sinn dahinter gibt.«
»Darf ich das Buch mal sehen?«
»Na klar, warum nicht.« Sie ging zu ihrem Rucksack und wühlte darin herum. Schließlich fand sie das kleine Büchlein und zog es heraus. »Hier.« Sie hielt es ihm hin.
Er nahm es, fuhr behutsam über den Einband und betrachtete es von allen Seiten.
»Keine Angst, es beißt nicht, du kannst das Band ruhig lösen und es öffnen.«
Mit Wohlwollen beobachtete sie, dass er äußerst behutsam mit dem Buch umging. Er zog die Schleife auf und öffnete den Deckel. Dann blätterte er ein wenig herum und las hier und da ein paar Zeilen, bis er auf einer Seite innehielt.
»Sind das die Pflanzen, die dir noch fehlen?«
Er deutete auf die Liste mit den acht Namen ganz am Ende des Buches.
Sie nickte. »Ich kann nirgendwo etwas darüber finden. Ich dachte, dass die Pflanze von der Lichtung vielleicht eine davon ist.«
Nachdenklich betrachtete er die Liste. »Das ist Latein. Hast du schon mal versucht, die Namen einfach zu übersetzen?«
Sie starrte ihn an. Natürlich. Warum war sie da nicht selbst drauf gekommen? Wahrscheinlich war sie zu fixiert darauf gewesen, die Pflanzennamen im Internet oder in einem Buch zu finden, um über so etwas Naheliegendes nachzudenken.
»Ich … nein. Das mache ich. Danke.«
Er nickte nur, während er eine Seite zurückblätterte. Plötzlich erstarrte er. Das Blut wich aus seinem Gesicht und er umfasste den ledernen Einband so fest, dass Lena Angst hatte, er würde das Buch zerreißen.
»Was ist los?«, fragte sie. »Stimmt etwas nicht?«
Er antwortete nicht.
Sie neigte sich zu ihm, um einen Blick auf die Seite zu werfen, die ihn so verstörte. Er wollte das Buch zuschlagen, aber sie hatte schon gesehen, dass es die Seite mit der Legende von den drei Magiern war.
»Das ist nur ein altes Märchen, das Gromi mir immer erzählt hat.«
»Woher hatte sie das?«, fragte er tonlos.
»Keine Ahnung. Ich habe diese Geschichten auch nie von jemand anderem gehört, immer nur von ihr.«
Cay hielt das Buch immer noch so fest in seinen Händen, dass seine Knöchel vor Anspannung weiß waren.
»Ich habe immer gedacht, dass sie sich die Geschichte für mich ausgedacht hat, weil ich sie ständig damit genervt habe, dass sie mir Märchen erzählen soll. Aber offensichtlich kennst du sie auch, also kann das nicht sein. Weißt du, ob es aus einer Märchensammlung stammt?«
Mühsam löste er seinen Blick von dem Buch und sah sie an. »Nein. Das ist nur eine uralte Schauergeschichte, wie man sie früher den Kindern erzählt hat. Offensichtlich nicht spannend genug für die Gebrüder Grimm und auch für niemanden sonst«, sagte er schroff und reichte ihr das Buch. Verwirrt nahm sie es und packte es in ihren Rucksack.
»Zeigst du mir noch deine Rechnung vom Versuch?« Seine Stimme klang gepresst und sein schwaches Lächeln wirkte bemüht.
»Ich bin nicht mehr dazugekommen, mir Luises Messwerte abzuschreiben.«
»Dann mach den Versuch noch mal. Es ist ja noch alles aufgebaut. Ich habe sowieso noch hier zu tun.«
Was blieb ihr schon anderes übrig? Immerhin konnte sie ihm so beweisen, dass das Titrieren für sie kein Problem darstellte, und wenn er beschäftigt war, konnte er auch nicht hinter ihr stehen und sie nervös machen.
Schnell beseitigte sie die letzten Reste ihres Unfalls und machte sich dann an die Titration. Sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit und versuchte, ihn nicht zu beachten. Er ließ sie in Ruhe und so brachte sie den Versuch und die Rechnung schnell und sicher hinter sich. Sie ging zu ihm, um ihm die Werte zu zeigen, und merkte erst jetzt, dass er in der Zwischenzeit nicht nur aufgeräumt, sondern auch einen neuen Versuch aufgebaut hatte.
Während er ihre Notizen kontrollierte, betrachtete sie neugierig die Gerätschaften und Materialien.
»Was ist das für eine Flüssigkeit in dem Glas?«, fragte sie.
Er legte ihr Heft beiseite und sah auf. »Das ist Zinkchloridlösung.«
Sie biss sich auf die Lippen. Zu gern hätte sie bei dem Versuch zugesehen, dabei schrie alles in ihr, dass sie lieber gehen sollte. Verdammte Neugier. Während sie noch mit sich rang, entzündete Cay die Flamme auf dem Bunsenbrenner und schob ihn unter das Glas.
»Ist das Kupfer?« Sie zeigte auf einen kleinen, bräunlichen Klumpen von der Größe einer Johannisbeere.
Er nickte. »Wenn die Lösung kocht, kommt das Kupfer hinein. Hier, mach du es.« Er reichte ihr eine lange Pinzette und die Schutzbrille. Dann trat er ein Stück vom Tisch weg. Kurze Zeit später gab er ihr ein Zeichen und sie ließ den kleinen Brocken in das Glas fallen. Es sprudelte und dampfte.
»Das reicht. Jetzt kannst du es wieder herausholen.«
Sie nahm die Pinzette und nahm damit den Klumpen wieder aus dem Glas. Als sie sah, was es war, hätte sie es vor Überraschung fast fallen lassen. Schnell legte sie es in eine kleine Schale auf dem Tisch. Der bräunliche Klumpen war nicht mehr bräunlich und auch kein Klumpen. Stattdessen lag ein golden schimmerndes Gebilde vor ihr. Es hatte die grobe Form einer Acht und sah ein wenig so aus, als wäre es durch Bleigießen entstanden.
»Na, was denkst du?«
»Es ist wirklich schön. Aber wie ist das möglich?«
Cay lächelte. »Alter Versuch, neues Ergebnis.«
Lena verengte die Augen und musterte die winzige Acht ganz genau. »Das sieht so echt aus. Aber es ist unmöglich, Gold herzustellen.«
»Nichts ist unmöglich. Es erscheint nur so, bis man einen Weg findet, es doch zu tun.«
»Willst du damit sagen, dass das echtes Gold ist? Dass du gerade echtes Gold hergestellt hast?«
»Würdest du mir das glauben?«
Der Blick seiner grünen Augen gab ihr das Gefühl, dass er sie dazu bringen konnte, ihm alles zu glauben. Aber anscheinend wollte er das gerade gar nicht, denn sie war in der Lage, den Kopf zu schütteln. »Nein. Man kann Gold nicht erschaffen. Schon gar nicht aus Kupfer und Zink.«
»Wenn das stimmt, dann kann es unmöglich echt sein, oder?« Er zwinkerte ihr zu.
»Schade.« Aufmerksam untersuchte sie die kleine, goldene Acht von allen Seiten. Sie würde sich sehr gut an einer Kette machen. Ein Lachen stieg in ihr auf. Natürlich, wie hatte sie nur so gutgläubig sein können. »Du hast mich reingelegt.«
»Was meinst du damit?« Er runzelte die Stirn.
»Du hast das Ding hier einfach in die Flüssigkeit geworfen, als ich nicht hingeschaut habe!« So musste es einfach gewesen sein. Eine andere Erklärung gab es nicht.
Sein Blick durchbohrte sie förmlich. »Wie soll das möglich sein? Ich war nicht in der Nähe. Du hast den Versuch allein durchgeführt.«
Sie musste ihm recht geben. Er hatte das Experiment nicht berührt.
Cay griff in die Schale und nahm die kleine Acht heraus. Er betrachtete sie kurz und sah dabei so zufrieden aus wie eine Elster mit einer neuen Spiegelscherbe.
»Du hast den Versuch gemacht, also steht es dir zu.«
Er nahm Lenas Hand und ließ die kleine goldene Acht hineinfallen. Seine unerwartete Berührung ließ ihren Atem stocken. Mühsam verdrängte sie das wunderbare Gefühl, das seine Finger auf ihrer Haut auslösten, und betrachtete das Gold. Es fühlte sich angenehm an. Richtig. So als wäre es für sie bestimmt. Nur zu gern wollte sie es behalten. Natürlich war das unmöglich.
»Ich glaube, es ist keine gute Idee, dass du mir etwas schenkst«, sagte sie leise und streckte ihm die flache Hand hin.
Er sah sie eindringlich an, dann nahm er ihre Finger und schloss sie. Kurz ließ er seine Hand auf ihrer ruhen. Seine Wärme drang in ihre Haut und gab ihr ein Gefühl der Vertrautheit, das sie vergessen ließ, dass sie sich gerade erst kennengelernt hatten. Sie sehnte sich danach, zu wissen, ob er auch etwas fühlte, aber seine Augen warfen ihren Blick zurück, wie die spiegelnde Oberfläche eines Sees und gaben nichts von dem preis, was in ihrer dunklen Tiefe verborgen lag.
»Das ist doch nur das Produkt eines Versuchs, den du durchgeführt hast. Wer sollte etwas dagegen haben können, dass du es behältst?«
Sie biss sich auf die Lippe. Hatte er recht? Der Gedanke, es mitzunehmen, war zu verlockend. Weil er es ihr gegeben hatte und weil sie seine Berührung immer noch spürte, obwohl er ihre Hand längst losgelassen hatte.
Als Cay sie fragend ansah, zuckte sie mit den Schultern. Wenn sie es schon nahm, war es wahrscheinlich besser, wenn er nicht merkte, wie viel es ihr bedeutete. »Na gut, wenn du meinst. Dann behalte ich es eben.«
Sie stopfte das kleine Schmuckstück scheinbar achtlos in ihren Rucksack, achtete aber ganz genau darauf, dass es in die eingenähte Handytasche fiel, wo es nicht verloren gehen konnte.
»Danke, dass du mir das gezeigt hast. Das war sehr interessant. Aber jetzt muss ich nach Hause und anfangen, mich auf den Test vorzubereiten.«
»Wenn du möchtest, könnte ich dir dabei helfen.« Er warf ihr das Angebot hinterher, als wäre es ein Köder an einer Angel.
Sie sah ihn mit verengten Augen an. Erst das Schmuckstück und jetzt das? Hatte Mike recht gehabt? Wollte er vielleicht tatsächlich etwas von ihr? Sie schüttelte genervt den Kopf. Hierzubleiben und ihn so nah an sich heranzulassen, war ein Fehler gewesen. Er hatte sie sogar dazu gebracht, ihm ihr Herz auszuschütten, und es hatte sich so gut angefühlt. Viel zu gut. Gefährlich. Sie beschloss, ihn in Zukunft wieder mehr auf Abstand zu halten.
Sie warf ihm den kühlsten Blick zu, den sie beherrschte, während sie sich ihren Rucksack über die Schulter warf. »Nein, vielen Dank. Ich schaffe das allein. Ich hab es bisher immer allein geschafft. Außerdem könnte das für die anderen wie Bevorzugung aussehen. Oder hast du deine Hilfe auch einem von ihnen angeboten?«
An seinem Gesichtsausdruck erkannte sie, dass es nicht so war.
»Dachte ich mir schon. Wenn du beschließt, der ganzen Gruppe zu helfen, dann bin ich natürlich dabei. Bis dahin lerne ich lieber allein.«