Kapitel 9
Lena wusste, wie dumm es war, wenn man alle Fakten betrachtete. Außerdem stand es in völligem Gegensatz zu ihrem Entschluss, Cay wieder mehr auf Abstand zu halten. Dennoch fühlte es sich wunderbar an, den kleinen Anhänger an einer Kette um den Hals zu tragen. Sie hatte sich eine besonders lange, goldene Kette ausgesucht, ganz dünn und unauffällig, sodass der Anhänger unter ihrem T-Shirt verschwand. Niemand außer ihr und Mike sollte wissen, dass sie ihn trug. Vor allem Cay durfte es nie erfahren. Allein der Gedanke an seine hochgezogene Augenbraue trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Sie sagte sich so vehement wie möglich, dass sie den Anhänger jetzt sowieso nur um den Hals trug, weil er dort am sichersten verwahrt war. Später würde sie ihn zu Hause in ihre kleine Truhe legen und am besten einfach vergessen.
»Lena! Da bist du ja.« Mike kam auf sie zu. Er trug ein orangefarbenes T-Shirt mit der Aufschrift »Gipfelstürmer«. Die Bar, in der er arbeitete. Er hatte später noch eine Schicht, deshalb hatten sie sich gleich in der Stadt verabredet, nachdem sie ihm gestern lang und breit alles erzählt hatte. Fast alles. Einige Kleinigkeiten, so wie Cays Angebot, mit ihr zu lernen, hatte sie ihm vorenthalten, weil sie genau wusste, wie er darauf reagieren würde. Wenn sie jetzt eines nicht gebrauchen konnte, dann waren es Witze und Anspielungen.
»Zeig, wo ist es?«, fragte er neugierig.
»Hier.« Sie warf einen kurzen Blick um sich, ob auch ja niemand aus der Schule zufällig vorbei ging. Dann zog sie den Anhänger aus dem Ausschnitt ihres T-Shirts und hielt ihn Mike hin. Die Kette hatte sie einfach durch die obere Öffnung der Acht gefädelt.
»Wow. Also ich hab ja keine Ahnung davon, aber der sieht wirklich echt aus.«
Sie nickte. »Ja und nach dem, was ich über das Experiment herausgefunden habe, weiß ich jetzt gar nicht mehr, was ich glauben soll.«
»Was meinst du?«
»Na ja, eigentlich hätte der Anhänger erst nach dem Erhitzen über dem Feuer die goldene Farbe annehmen dürfen. Das haben wir gar nicht gemacht.«
»Umso mehr ein Grund, Herrn Hoffmann aufzusuchen.«
Lena nickte, steckte den Anhänger wieder unter ihr T-Shirt und hakte sich bei Mike ein. Sie gingen durch die Altstadt, vorbei an Constanzas Laden und auch am Gipfelstürmer. Hinein in eine kleine Seitengasse, die so eng war, dass selbst zu den erlaubten Anlieferzeiten kein Auto hindurchfahren konnte. Rechts und links türmten sich Fachwerkhäuser über ihnen auf und ließen nur einen schmalen Streifen des blauen Himmels frei. Hier, abseits des Konsumlärms, gab es nur noch wenige Läden, in die sich kaum einmal jemand verirrte.
»Da ist es.« Lena zeigte auf ein altes, verblichenes Schild, das quietschend an einer schmiedeeisernen Stange hin und her schwang. Das Zunftzeichen der Goldschmiede, einen Pokal mit einem Ring außen herum, konnte man nur noch erahnen.
In dem halb blinden Schaufenster lagen vor allem Eheringe und Uhren, wahrscheinlich das Hauptgeschäft eines Goldschmieds heutzutage. Lena öffnete die Tür des winzigen Ladens und schubste damit ein Glöckchen an, das sofort geschäftig klingelte. Sie traten vor die Theke und warteten darauf, dass Herr Hoffmann, der Goldschmied, durch die Tür aus dem Hinterzimmer kommen würde. Sie hörten ihn, lange bevor sie ihn sahen. Er war schon ziemlich alt und passte damit zu seinem Laden, dessen Einrichtung aus den Fünfzigerjahren übrig geblieben war. Endlich kam er schnaufend hinter die Theke geschlurft, wobei er sich auf einen dunkelbraunen Gehstock stützte. Sein Gesicht war tief gefurcht und wirkte etwas unheimlich, aber es lag ein erfreutes Lächeln darauf.
»Oh, wunderbar, ein junges Paar. Da drüben habe ich ein paar wunderschöne Trauringe in Gold, Weißgold und Platin. Wenn Sie mir folgen wollen?« Er deutete auf eine Vitrine voller glitzerndem Schmuck. Lena blinzelte ihn sprachlos an.
Mike grinste vergnügt. »Toll, dann schauen wir doch mal. Ich bevorzuge ja Platin, oder was meinst du, Schatz?« Er stöhnte auf, als Lena ihn in die Seite knuffte.
Der alte Goldschmied sah sie fragend an. »Oder geht es zunächst erst einmal um einen Verlobungsring?«
»O ja, natürlich, wie konnte ich den vergessen. Du solltest unbedingt einen Verlobungsring haben.« Ein freches Grinsen hatte sich auf Mikes Gesicht breitgemacht.
»Lass das", sagte sie, musste aber ein Lächeln unterdrücken. »Entschuldigung, Herr Hoffmann, aber wir sind nicht hier, um Ringe zu kaufen. Wir sind nicht mal ein Paar.«
Die buschigen grauen Augenbrauen senkten sich so tief über die klaren Augen, dass diese zur Hälfte darunter verschwanden.
»Schade. Ja, wirklich schade. Sie würden ein hübsches Paar abgeben. Wie kann ich Ihnen sonst behilflich sein?«
Lena zögerte kurz, dann holte sie den Anhänger unter ihrem T-Shirt hervor. Sie löste ihn von der Kette und reichte ihn dem Goldschmied.
»Wir würden gern wissen, ob das echtes Gold ist.«
Vorsichtig nahm der Goldschmied den Anhänger entgegen. Er legte ihn auf ein mit rotem Samt ausgeschlagenes Tablett und betrachtete ihn dann durch eine große Lupe.
»Hm. Stempel ist keiner zu sehen. Moment.« Er schlurfte ins Hinterzimmer und kam bald mit einer kleinen Kiste zurück. Er holte einen schwarzen Stein mit einer matten, gleichmäßigen Oberfläche heraus.
»Was ist das?«, fragte Mike.
»Das ist ein Lydit, ein Probierstein. Das hier«, er zeigte auf eine Reihe von Fläschchen, »ist Königswasser in verschiedenen Konzentrationen.« Er setzte sich eine Schutzbrille auf, zog Handschuhe über und sah Lena und Mike vielsagend an.
Sofort machte Lena einen Schritt zurück. Als Mike sich nicht von der Stelle bewegte, packte sie ihn am Ärmel und zog ihn vom Tresen weg. »Königswasser ist eine Mischung aus Salzsäure und Salpetersäure«, erklärte sie.
Der Alte grinste. Bedächtig nahm er den Anhänger und zog ihn vorsichtig über den Stein, wo nun ein goldener Strich zu sehen war. »Sehr weich. Gleich mal vierzehn probieren«, murmelte er. Dann griff er nach einem der Fläschchen und tropfte etwas von der Säuremischung auf den Strich. Nichts tat sich. »Dachte ich mir schon. Muss doch eher achtzehn sein.«
»Ist es Gold?«, fragte Mike ungeduldig.
Herr Hoffmann schien es gar nicht zu bemerken. Völlig vertieft in seine Tätigkeit wiederholte er die Probe noch zweimal mit verschiedenen Säuremischungen, aber beide Male tat sich nichts. Herr Hoffmann betrachtete das kleine Schmuckstück nachdenklich.
»Dann bleibt nur noch eines, kann ja nicht anders sein.« Sich das Kinn reibend, schlurfte er ein weiteres Mal in seinen Lagerraum. Er kam mit einer kleinen Flasche zurück, auf der ein großer, orangefarbener Gefahrstoffaufkleber prangte. »Das ist die höchste Konzentration, die ich da habe. Reines Königswasser, unverdünnt.« Er tropfte vorsichtig ein wenig von der Flüssigkeit auf den goldenen Strich, der sich immer noch unversehrt über den schwarzen Stein zog.
Lena erwartete nicht, dass sich diesmal etwas tun würde. Doch dann sah sie, wie der goldene Strich unter dem Tropfen langsam schwächer wurde und schließlich verschwand.
Her Hoffmann nickte zufrieden, beugte sich hinunter und nahm den kleinen Anhänger noch einmal genau unter die Lupe.
Lena ertappte sich dabei, wie sie nervös über das Tuch ihrer Großmutter strich, während Herr Hoffmann seine Utensilien sorgfältig aufräumte. Erst dann sah er wieder zu Lena und Mike hinüber und winkte ihnen, näherzutreten.
»Was hat das jetzt zu bedeuten, dass erst die letzte Säure es aufgelöst hat?«, fragte Mike.
»Das, junger Mann, bedeutet, dass es echtes Gold ist und nicht nur das, es ist absolut rein. Vierundzwanzig Karat.«
Lena fiel die Kinnlade herunter. Sie schwankte plötzlich so sehr, dass sie sich mit den Händen am Tresen festhalten musste. Der Goldschmied blickte sie verwirrt an. »Ist das keine gute Nachricht für Sie?«
Lena schüttelte den Kopf und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. »Sagen Sie, Herr Hoffmann, es ist doch unmöglich, Gold herzustellen, oder?«
»Nun, ganz unmöglich ist es nicht.«
»Ich meine wirklich echtes Gold, so wie dieses.«
»Auch das ist möglich.«
Mike und Lena starrten ihn an.
Er kicherte. »Wenn Sie einen Atomreaktor zur Verfügung haben. Das Verfahren funktioniert zwar, erzielt aber keinen wirtschaftlichen Gewinn, weil man dazu entweder teures Platin oder sehr viel Energie benötigt.«
Lena versuchte, die Gedanken zu bändigen, die wild in ihrem Kopf kreisten.
»Also nicht aus Kupfer und Zink?«
»Das Einzige, was sie da herausbekommen, ist billiges Messing.«
»Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen«, murmelte sie.
Sie bemerkte den neugierigen Blick des Goldschmieds und fragte sich, ob sie ihm von dem Experiment erzählen konnte. Wahrscheinlich würde er sie dann nur für verrückt halten. Sie suchte nach einer unverfänglichen Frage.
»Kann ein Klumpen Kupfer in kochender Zinkchloridlösung die Form ändern?«
»Junge Dame, Kupfer schmilzt erst bei Temperaturen von über tausend Grad, wie sollte das also möglich sein? Dafür bräuchten Sie schon einen Hochofen. In Zinkchloridlösung bildet sich lediglich eine Zinkschicht auf Kupfer, aber es verformt sich nicht.«
Nachdenklich nahm Lena den Anhänger wieder an sich.
»Vielen Dank, Herr Hoffmann, Sie haben mir sehr geholfen. Was macht das?«
»Schon gut. Nicht der Rede wert. Kommt einfach zu mir, wenn ihr irgendwann eure Eheringe kaufen wollt«, sagte er freundlich zwinkernd.
»Das machen wir bestimmt.« Mike schien sich köstlich zu amüsieren.
Lena verkniff sich ein Grinsen und wollte sich zum Gehen wenden, als der Goldschmied sie noch einmal ansprach. »Gehen Sie sorgsam mit dem Schmuckstück um, reines Gold ist sehr weich und nimmt leicht Schaden.«
Sie bedankte sich, murmelte einen Abschiedsgruß und trat durch die Tür hinaus, ohne auf Mike zu warten. In der kleinen Gasse war es schon fast dunkel, obwohl gerade erst die Dämmerung eingesetzt hatte. Sie dachte darüber nach, was der Goldschmied gesagt hatte. Echtes Gold und ganz rein, was nur logisch war, falls es wirklich bei dem Versuch entstanden sein sollte. Nur war das völlig unmöglich.
»Unfassbar, oder?« Mike war hinter sie getreten.
Sie seufzte. »Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll. Warum schenkt er mir so einen wertvollen Anhänger?«
»Also glaubst du, dass er ihn während des Versuchs ausgetauscht hat?«
»Ich weiß zwar nicht wie, aber es ist die einzige Erklärung. Du hast es doch gehört. Schon allein, dass das Kupfer die Form geändert haben soll, ist unmöglich.« Sie wollte das Schmuckstück wieder auf die Kette fädeln, aber dann hielt sie inne und sah traurig auf ihre Hand. »Unter diesen Umständen kann ich den Anhänger natürlich nicht behalten.«
»Wieso denn nicht?«, fragte Mike.
»Weil er kein Produkt des Versuchs sein kann, sondern ein Geschenk von Cay. Das ist total unangebracht.«
»Das weißt du doch gar nicht. Vielleicht hat er tatsächlich etwas Neues herausgefunden.«
Natürlich war das möglich, aber sehr unwahrscheinlich. Sie kaute unentschlossen an ihrer Unterlippe.
»Außerdem denkt er ja, dass du denkst, dass es unecht und bei dem Versuch entstanden ist. Also wird er es sicher nicht als irgendein Zeichen interpretieren, wenn du es behältst.«
Es war eine dünne Argumentation und sie wusste es. Sie sollte es Cay zurückgeben, um ein für alle Mal eine Grenze zu ziehen. Ihr Magen zog sich zusammen, als ihr noch etwas einfiel. »Wenn Luise das herausfindet, ist es vorbei mit dem Stipendium.«
»Wie soll sie das denn rausfinden? Ich werd’s ihr nicht sagen und du auch nicht. Hast du Angst, dass er es tut?«
Langsam schüttelte Lena den Kopf.
»Na also. Problem gelöst.«
Vielleicht hatte er recht. Sie wollte, dass er recht hatte. Sie öffnete ihre Faust. Sie konnte kaum noch etwas erkennen, also hob sie die andere Hand und fuhr mit dem Zeigefinger die Form der kleinen Acht nach. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Ihre Fingerspitze kribbelte, als hätte sie Cays Haut berührt.
In diesem Moment wusste sie, dass ihr jedes noch so fadenscheinige Argument gut genug war, wenn sie nur den Anhänger behalten konnte. Als einziges Zugeständnis an ihre völlig irrsinnigen Gefühle. Das einzige Zugeständnis, das sie sich je erlauben würde.
Entschlossen fädelte sie die kleine goldene Acht wieder auf die Kette und schob sie unter ihr T-Shirt. Sie nahm sich vor, sie zu Hause sofort auszuziehen und in ihre Truhe zu legen. Dort war sie gut aufgehoben und niemand würde jemals davon erfahren.
*
Lena stand bereits an ihrem Arbeitsplatz, als Luise hereinkam. Sie blieb neben Lena stehen und warf Cay einen wachsamen Blick zu. »Heute schon ein Desaster geplant?«, raunte sie. »Ich kann dir dabei ein wenig zur Hand gehen, das mache ich gern, wirklich.«
Lena verdrehte die Augen. Luise wollte sie nervös machen, aber das würde ihr nicht gelingen. »Peinlich, dass du auf so eine Strategie zurückgreifen musst, aber anders kannst du wohl nicht gewinnen«, zischte Lena, während sie an der goldenen Kette um ihren Hals herumfingerte. Sofort blieb Luises Blick daran hängen.
»Ach, du trägst Schmuck? Toll, damit ist dein Gesamtoutfit jetzt sicher das Zehnfache wert. Nur deiner äußeren Erscheinung nutzt das leider nichts.« Sie sah abfällig an Lena herunter. »Aber da ist eh alles zu spät.« Dann drehte sie sich um und stolzierte zu ihrem Platz.
Erschrocken nahm Lena sich die Kette vom Hals und stopfte sie in ihre Hosentasche. Sie hatte doch glatt vergessen, sie gestern Abend in ihre Truhe zu legen. Da hatte Luise ihr mit ihrer Stichelei ausnahmsweise mal einen Gefallen getan. Nicht auszudenken, wenn Cay die Kette bemerkt hätte.
»Ich habe eine Ankündigung zu machen«, sagte eine dunkle Stimme.
Wenn man vom Teufel spricht.
»Solange ich wegen des Kurses hier bin, mache ich für einen Bekannten ein paar Arbeiten in einem alten Schloss. Hauptsächlich geht es darum, Fachliteratur zu sichten und zu katalogisieren. Ich bräuchte dringend jemanden, der mir in den nächsten Tagen nachmittags aushilft. Jemanden, der auch naturwissenschaftlich interessiert ist. Normalerweise würde ich einen Kommilitonen von mir fragen, aber die sind alle weit weg in München.«
Es klang interessant. Ein altes Schloss und viele Bücher, in denen man herumstöbern konnte und … er. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Auf gar keinen Fall konnte sie das auch nur in Erwägung ziehen.
»Es ist mit der Schulleitung abgesprochen und selbstverständlich hat es keinerlei Einfluss auf das Stipendium.« Er sah Lena fragend an.
Lena erschrak. Wollte er etwa, dass sie es machte? Hastig schüttelte sie den Kopf.
Ein paar ihrer Mitschüler schienen interessiert zu sein, soweit sie das ihren Gesichtern entnehmen konnte. Unter anderem Emre, deren Steckenpferd Geschichte war und die in so einem alten Schloss sicher in ihrem Element wäre, und Alessandro, der seine Nase ständig in irgendein wissenschaftliches Buch steckte. Und natürlich Luise, die jede Gelegenheit nutzen würde, um sich bei Cay einzuschleimen. Dafür hätte sie wahrscheinlich auch Ställe ausgemistet oder Steine geschleppt. Lena verzog den Mund. Immerhin, mangelnden Einsatz konnte man ihr wirklich nicht vorwerfen.
»Natürlich ist die Arbeit nicht besonders spannend und der Aufstieg zum Schloss ist ziemlich lang. Bezahlen kann ich leider auch nichts.«
Lena musste grinsen. Er mochte viel von Chemie verstehen und sogar ein bisschen was von Pflanzen, aber wie man jemandem eine Arbeit schmackhaft machte, davon hatte er wirklich keine Ahnung.
»Hat jemand Interesse?«, fragte Cay. Sein Blick wanderte wieder zu Lena, die sofort demonstrativ den Kopf senkte und auf ihre Notizen starrte.
Ein paar Hände wanderten in die Luft, darunter Emres und Luises. Ein Bild tauchte in Lenas Kopf auf. Luise und Cay, nebeneinander an einem Tisch, die Köpfe über dicke Bücher gebeugt. Sie sah Luise süßlich lächeln und eine Hand auf Cays Arm legen. Die Vorstellung verursachte ihr solche Magenschmerzen, dass sie sich fast gemeldet hätte. Fast. Noch war ihr Verstand stark genug, um so eine Dummheit zu verhindern.
Cay sah nachdenklich in die Runde. Schließlich zog er ein leeres Blatt aus seiner Tasche und reichte es Luise. »Schreibt eure Namen darauf. Wir losen später aus.«
Der Zettel wurde herumgereicht, während Cay den heutigen Versuch erklärte. Lena ignorierte das Bedürfnis, sich immer wieder nach dem Zettel umzusehen und begann mit ihrem Versuch. Als die Liste schließlich vor ihr lag, standen vier Namen darauf.
Dabei würde es bleiben.
Sie war die Letzte und würde sich sicher nicht darauf schreiben. Sie schob das Blatt ans äußerste Ende des Tisches und versuchte, sich wieder auf den Versuch zu konzentrieren.
»Willst du dich wirklich nicht eintragen?«, fragte Cay, der plötzlich neben ihr stand.
Sie schrak auf und blinzelte ihn an. Natürlich wollte sie. Vor allem, wenn er sie so ansah. Mit diesen Augen, in denen sie versank, auf der Suche nach einer Regung, einem Gefühl, irgendwas.
Sie räusperte sich und versuchte, ihrer Stimme einen kühlen Unterton zu verleihen. »Eigentlich nicht.«
Er hob eine Augenbraue. »Ich dachte, du interessierst dich für außergewöhnliche Bücher. Viele davon sind sehr selten und ziemlich alt. Es gibt auch eine sehr große botanische Abteilung. Ich glaube kaum, dass du noch mal so eine Gelegenheit bekommst.«
Verdammt, er hatte wirklich gute Argumente. Sie biss sich auf die Lippe. Nur zu gern hätte sie ja gesagt, aber es war einfach zu gefährlich. So viel Zeit mit ihm allein? Unmöglich. Vor allem, seit sie den Verdacht hatte, dass er sich vielleicht doch für sie interessierte.
Sie zuckte die Achseln und machte ein gelangweiltes Gesicht. »Schon. Aber ich habe sehr viel zu tun, für die Schule und das Stipendium. Dann ist da auch noch Mike.«
Er durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick. Sie starrte ihn regungslos an, wie eine Maus die Schlange, die sie zum Abendessen verspeisen will.
»Deine Pflanzensammlung nimmt bestimmt auch viel Zeit in Anspruch. Hat dir die Übersetzung weitergeholfen?«
Argwöhnisch verengte sie die Augen. Was sollte das denn jetzt? »Ich bin noch nicht dazu gekommen. Ich habe einfach zu wenig Zeit.«
Eigentlich hatte sie das gestern Abend gleich machen wollen, aber das Lernen hatte erst mal Vorrang gehabt. Danach war sie todmüde ins Bett gefallen.
»Ich dachte, ich könnte dir im Gegenzug mit den Pflanzen helfen. Zum Beispiel mit der Übersetzung.«
Sie starrte ihn unbeweglich an. Sein Angebot grenzte an Erpressung. Das Einzige, an dem ihr vielleicht noch mehr lag als an dem Stipendium, waren die Pflanzen. Seit Monaten kam sie damit nicht weiter. Selbst wenn sie die Namen übersetzte, würde ihr das wahrscheinlich nichts nutzen ohne die entsprechenden Bücher. Sie könnte seine Hilfe wirklich gut gebrauchen. Mist.
»Ich überlege es mir. In der Zwischenzeit solltest du besser jemand anderem helfen gehen, Luise schaut schon«, fauchte sie.
Er lächelte sie an. Es sah irgendwie wölfisch aus. »Ich bin nicht sicher, ob ich weitergehen kann, bis du dich entschieden hast.«
»Also gut«, zischte sie. »Ich mach es ja.« Sie griff nach der Liste und kritzelte ihren Namen darauf.
Obwohl der Versuch nicht uninteressant war und Lena auch die Gleichung und die dazugehörige Rechnung gut lösen konnte, kostete es sie jedes Fitzelchen Selbstbeherrschung, bei der Sache zu bleiben. Jetzt war es eindeutig. Cay interessierte sich für sie. Auch wenn Lena nicht so recht begreifen konnte, warum. Bald würde sie vielleicht noch mehr Zeit mit ihm allein verbringen. So viel zu ihrem Entschluss, sich von ihm fernzuhalten. Natürlich bestand die Chance, dass das Los auf jemand anderen fiel. Nur war sie sich jetzt gar nicht mehr sicher, ob sie sich das wünschte. Die Aussicht, dass er ihr mit den Pflanzen half, war zu verlockend.
Wie sie es schaffte, dass ihr in dieser Stunde nichts misslang, wusste sie nicht. Sicherlich half es, dass Cay sich ausnahmsweise von ihr fernhielt. Als der Versuch beendet war, atmete sie erleichtert auf. Während sie ihre Sachen wegräumte, sah sie aus den Augenwinkeln, wie Cay mit einer Schere den Zettel mit den Namen in Streifen schnitt. Er knüllte die Streifen zusammen und warf sie in ein leeres Glas. Die Aufregung lag ihr wie ein Klumpen im Magen, als er Luise das Glas hinhielt, damit sie einen Zettel zog.
Luise starrte Cay an. »Aber das ist so unwissenschaftlich.«
»Es ist gerecht und darauf kommt es mir jetzt an. Bitte zieh«, sagte er mit unbewegter Miene.
Luise hob gehorsam die Hand, zog einen Zettel und reichte ihn Cay.
»Mach du ihn auf.«
Luise rollte das zerknüllte Papier auseinander und starrte einen Augenblick fassungslos darauf.
»Nun sag schon«, raunte Emre.
»Lena«, presste Luise hervor und zerknüllte den Zettel wieder in ihrer Faust.
»Gut. Vielen Dank, Luise«, sagte Cay.
Emre und Alessandro sahen nicht allzu enttäuscht aus. Sie kehrten wieder an ihre Plätze zurück, um fertig aufzuräumen. Luise hingegen starrte auf die anderen Zettel im Glas, so, als wollte sie kontrollieren, ob darauf auch wirklich verschiedene Namen standen, aber sie schien Cay dann doch nicht derart verärgern zu wollen. Sie warf den Zettel auf den Tisch, packte ihren Rucksack und schritt ohne einen Blick zurück hocherhobenen Hauptes aus der Tür.
Lena stand immer noch an ihrem Platz und konnte nicht fassen, dass Luise tatsächlich ihren Namen gezogen hatte. Konnte das wirklich ein Zufall sein, nach dem, was Cay vorhin zu ihr gesagt hatte?
»Wie hast du das gemacht?« Sie ging zu dem Glas und holte alle Zettel heraus. Sie nahm die Zettel und öffnete sie. Auf jedem stand ein anderer Name. »Wie konntest du sicher sein, dass sie ausgerechnet mich zieht? Warum der ganze Aufwand?«
Er zuckte mit den Achseln. »Damit alle sehen, dass es eine faire Sache ist und niemand denkt, ich bevorzuge dich.«
Sie blinzelte ihn verwirrt an. Hatte er nun zugegeben, das Losverfahren manipuliert zu haben, oder nicht? Falls ja, dann hätte sie wohl verärgert sein oder sich hintergangen fühlen müssen. Aber immerhin hatte sie ihren Namen freiwillig auf die Liste geschrieben und nun war sie eben gezogen worden. Sie musste zugeben, dass sie sich sogar ein klein wenig darüber freute, weil es bedeutete, dass sie vielleicht endlich mit der Pflanzensammlung vorankommen würde. Eines machte ihr allerdings Sorgen.
»Luise glaubt bestimmt nicht an einen Zufall, das war ihr deutlich anzusehen.«
Cay wirkte nicht sonderlich beunruhigt. »Die Zettel waren einwandfrei, das hast du selbst gesehen.«
Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Es stimmte und schließlich waren Emre und Alessandro auch dabei gewesen, um zu bezeugen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen war.
Sie seufzte. Sie wollte es ja. Wirklich. Es würde nur schwierig werden, ihren Entschluss umzusetzen, ihn auf Abstand zu halten. Trotzdem, es war zu verlockend.
»Also gut, ich mache es«, sagte sie schließlich.
Sein Lächeln ließ Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen.
O ja, es würde schwierig werden. Verdammt schwierig.