Kapitel 10
Während Cay den alten grünen Bentley, mit dem er Lena abgeholt hatte, tief in die Berge lenkte, betrachtete sie durch das Beifahrerfenster die hohen, felsigen Gipfel, die in der Nachmittagssonne leuchteten. Es war immer noch sehr heiß und natürlich hatte ein so altes Auto keine Klimaanlage. Als Cay nach kurzer Zeit in eine schmale, ungeteerte Straße einbog, wo die Schatten hoher Nadel- und Laubbäume sich um sie legten wie ein kühlender Mantel, atmete sie erleichtert auf.
»Angenehm, nicht wahr?«, sagte Cay.
Lena nickte und ignorierte seinen wahrscheinlich tausendsten Versuch, ein Gespräch anzufangen. Sie fühlte sich unsicher, so als würde sie etwas Verbotenes tun. Außerdem wollte sie Cay auf gar keinen Fall zu irgendetwas ermutigen.
Nach einigen Minuten fuhren sie durch ein Tor, das sich von allein öffnete und wieder hinter ihnen schloss. Die Bäume wichen einer kleinen Lichtung, die wohl als Parkplatz diente. Nur vereinzelt drang ein Sonnenstrahl durch die dichten Kronen auf den mit Kies bedeckten Boden.
Cay parkte das Auto, stieg aus und öffnete Lena die Tür, bevor sie überhaupt nach dem Griff fassen konnte. Bestimmt würde er ihr gleich die Hand reichen. Sie bereitete sich schon darauf vor, sie geflissentlich zu übersehen, aber er machte keinerlei Anstalten, ihr behilflich zu sein. Erleichtert griff sie nach ihrem Rucksack und stieg aus.
»Von hier aus müssen wir zu Fuß weitergehen, ich hoffe, das macht dir nichts aus.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Hier entlang.« Er deutete den Berg hinauf und ließ ihr den Vortritt.
Der unbefestigte Waldweg führte tief zwischen die Bäume und bald war selbst das wenige Tageslicht nahezu verschwunden. Lena blieb stehen, schloss die Augen und atmete tief ein. Sie liebte den erdigen Geruch von feuchtem Wald, der nach Pilzen schmeckte.
»Der Wald riecht wunderbar, nicht wahr?«
»Ich könnte ewig hierbleiben und nur den Geruch aufsaugen«, sagte sie, bevor ihr wieder einfiel, dass sie eigentlich nicht mit ihm hatte reden wollen. Mist.
Cay lächelte, offensichtlich erleichtert, dass er ihr endlich eine Antwort hatte entlocken können.
Sie seufzte innerlich. Gar nicht mit ihm zu reden, würde sich sowieso nicht durchhalten lassen und die ganze Angelegenheit ziemlich merkwürdig machen. Hier und da ein wenig unverfängliche Konversation konnte wohl nicht schaden.
»Das wäre nur ziemlich schlecht für mein Projekt«, sagte Cay gerade.
Sie öffnete die Augen. »Für meine Pflanzensammlung auch.« Er sollte bloß nicht vergessen, was er ihr versprochen hatte. Als ihre Blicke sich kurz trafen, war Cay es, der sich abwandte. Er deutete auf den Weg und schritt voran. »Gehen wir weiter?«
Lena nickte und folgte ihm weiter den Berg hinauf. Es war ein recht anstrengender Aufstieg, obwohl sich der Weg nicht gerade, sondern in engen Bögen den bewaldeten Hang hinaufschlängelte.
»Das machst du jeden Tag?«, fragte sie keuchend.
»Mehrmals, ja.«
Neidisch stellte sie fest, dass er gar nicht außer Atem war. »Wieso denn mehrmals?«
»Hatte ich nicht erwähnt, dass ich auf dem Schloss wohne, solange ich hier bin?«
Sie schüttelte den Kopf und griff nach einem Zweig, der in den Weg hineinragte. »Das klingt romantisch.« Es rutschte ihr heraus, bevor sie es verhindern konnte. Verdammt. Sie riss so heftig an dem Zweig, um ihn zur Seite zu schieben, dass sie ein paar Blätter in der Hand behielt. Ihr Blick zuckte zu Cay, der sie mit verengten Augen ansah.
»Findest du?« Seine Augenbrauen wanderten kaum merklich nach oben, als ob er es eigentlich gar nicht wollte, aber nicht verhindern konnte.
Sie hielt seinem Blick stand und ließ die Blätter unauffällig hinter ihrem Rücken auf den Boden rieseln, während sie fieberhaft nach einer passenden Antwort suchte.
»Ähm. Ja. Ich meinte, wegen der ganzen Atmosphäre und Architektur.«
Er hob die Schultern. »Ich habe mich wohl schon zu sehr daran gewöhnt.«
»Innerhalb von den paar Tagen?«
Er warf ihr aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Ja.«
»Na ja, solange das Badezimmer nicht noch mittelalterlich ist.«
Das brachte ihn zum Lachen. »Nein, zum Glück nicht. Aber natürlich merkt man, dass es ein altes Gemäuer ist.«
»Woran denn?« Lena sah ihn neugierig an.
Ein paar Falten bildeten sich auf seiner Stirn. »Es gibt nicht überall elektrisches Licht. Oft muss man eine Fackel benutzen.«
»Wäre eine Taschenlampe nicht praktischer?«
»Die gibt es natürlich auch, aber immer, wenn ich sie brauche, liegt sie am anderen Ende des Schlosses. Die Fackeln sind immer griffbereit.« Er grinste schief.
Sie unterdrückte ein Lächeln. »Das klingt ganz schön umständlich.«
»Auch nicht umständlicher, als den Kamin anzuheizen, wenn es mal kälter wird. Das gehört dazu, nehme ich an.«
»So wie die Folterkammer?«
»Nein, damit kann ich nicht dienen. Aber ein dunkles Verlies gibt es und der eine oder andere Geist lässt sich vielleicht auch noch finden.« Er zwinkerte ihr zu.
»Klingt kuschlig, da kriegt man doch Lust, mal dort zu übernachten.«
»Warum nicht? Das sollte Luise allerdings wirklich nicht erfahren.« Er grinste jungenhaft.
Lena wurde rot bis unter die Haarspitzen und biss sich auf die Lippen. Funktioniert ja echt prima, mit der unverfänglichen Konversation. Vielleicht sollte ich doch lieber den Mund halten.
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her und bald hätte Lena gar nicht mehr reden können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Der Weg stieg so steil an, dass ihre Oberschenkel brannten und ihr das Atmen schwerfiel. Mit Genugtuung stellte sie fest, dass auch Cay jetzt schneller atmete.
»Da oben ist es.«
Lena blickte auf und sah, dass der Weg etwas weiter oben über eine Kante führte und verschwand. Erst jetzt bemerkte sie, dass wieder Sonnenlicht auf den Boden fiel. Sie überwand die letzten Meter der Steigung, brachte das letzte Stück Wald hinter sich und trat dann aus dem Schatten der Bäume auf eine Wiese hinaus.
Am Ende des Weges lag ein See, der so sehr in der Sonne glitzerte, dass sie die Augen zusammenkneifen musste, um noch etwas anderes erkennen zu können. Ein Wasserfall stürzte aus einer Felswand in den See und daneben, gerade außerhalb des Sprühnebels, erhob sich das Schloss aus dem Wasser.
Eine hölzerne Zugbrücke führte an einer schmalen Stelle über den See und zum Tor zwischen den zwei Türmen.
Cay sah sie erwartungsvoll an. »Gefällt es dir?«
Gefallen? Es ist der absolute Wahnsinn! Es kostete sie jedes bisschen Selbstbeherrschung, ihre sorgsam gehegte Zurückhaltung nicht aufzugeben. »Ja klar, wirklich schön.«
Eine plötzliche Bewegung auf der linken Seite des Sees, in der Nähe des Wasserfalls, zog ihren Blick auf sich.
»Pferde?«
»Ja, zwei. Die gehören sozusagen zum Inventar. Genauso wie das Auto.«
Mit einem unguten Gefühl betrachtete sie die beiden friedlich grasenden Tiere. Hoffentlich gehörte es nicht auch zu ihren Aufgaben, sie zu reiten. Allein bei dem Gedanken wurde ihr flau im Magen.
»Wenn du möchtest, können wir nächstes Mal die Strecke vom Auto hier hoch reiten. Es kostet zu Fuß doch sehr viel Zeit.«
Na prima. Ihre ziemlich kurze Reitkarriere war keine besonders appetitliche Angelegenheit gewesen und außerdem ziemlich peinlich. Niemand außer Mike wusste davon, es war einfach zu lächerlich. Zumindest hatte die Reitlehrerin es damals für eine dumme Ausrede gehalten, dass Lena von den schwankenden Bewegungen des Pferdes schlecht wurde. Wenn es ein Kamel wäre, aber es ist doch nur ein Pferd, hatte sie gesagt. Als Lena sich auf das Pferd übergeben hatte, hatte sie ihr schließlich doch geglaubt und nicht mehr versucht, sie zum Weitermachen zu überreden. Seitdem mied Lena Pferde, weil allein ihr Anblick reichte, damit alles wieder hochkam. Wortwörtlich.
Cay deutete ihr Schweigen offensichtlich völlig falsch. »Es macht nichts, wenn du nicht reiten kannst. Ich nehme dich einfach mit auf mein Pferd.«
Lena riss die Augen auf. Alles nur das nicht! Allein die Vorstellung so eng an ihn gelehnt zu sitzen und sich an ihm festhalten zu müssen, ließ sie erschaudern.
Wohlig natürlich. Sie fluchte innerlich.
»Äh, nein, schon gut«, sagte sie schnell. Was jetzt? Sie konnte ihm wohl kaum erklären, warum sie nicht mit ihm auf einem Pferd sitzen wollte. Und sie würde sich lieber an Luise ketten lassen, als ihm zu sagen, warum sie eigentlich überhaupt nicht auf einem Pferd sitzen wollte. »Ich kann mich oben halten. Es ist nur ziemlich lange her und ich …« Sie verstummte. Ich will mich nicht auf das arme Pferd übergeben.
In dem Moment nahm sie in der Nähe der Pferde eine Gestalt wahr, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie ging etwas gebeugt und humpelte, vielleicht weil sie einen schweren Eimer schleppte. Oder aber … Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken.
»Wer ist das?« Sie zeigte auf den Mann, der gerade bei einem der Pferde stehen blieb.
Cay kniff die Augen zusammen. »Ach, das ist nur der Hausmeister.«
Der Hausmeister. Ja, natürlich, deswegen hatte er auch die Schlüssel. Das ergab Sinn. »Wie groß ist denn das Schlossgelände?«, fragte sie vorsichtig.
»Ziemlich groß. Links von uns geht es noch ein ganzes Stück wieder den Berg hinunter, aber da ist nur Wald.«
Lena hatte kein gutes Gefühl für Himmelsrichtungen, aber es erschien ihr durchaus möglich, dass das Tor, an dem sie diese merkwürdige Begegnung gehabt hatte, ebenfalls links von ihnen lag.
»Gibt es da vielleicht noch ein Tor?«
Cay sah sie überrascht an. »Woher weißt du das?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich war schon mal da. Mit dem da«, sie deutete auf den Hausmeister und verzog das Gesicht, »hatte ich, glaube ich, auch schon das Vergnügen.«
»Tatsächlich?«
Lena wurde rot. »Na ja, das Tor hat mich neugierig gemacht. Da bin ich eben drübergeklettert.«
Cays Mundwinkel zuckten. »Ich schätze, darüber war Wendel nicht sehr erfreut.«
Lena schüttelte vehement den Kopf. »Der hat mich angefallen, ich dachte, er brät mir seine Schlüssel über.«
»Ja, er geht sofort zur offensiven Verteidigung über, wenn jemand unbefugt das Gelände betritt.«
Irgendwie konnte Lena darüber nicht lachen. Die Erinnerung daran war noch zu frisch. »Hoffentlich weiß er, dass ich jetzt ganz offiziell herkommen darf.«
Cay nickte. »Ich habe ihn davon in Kenntnis gesetzt. Ich hoffe, du kannst ihm sein Verhalten nachsehen. Das Schloss ist sein Ein und Alles, ich glaube manchmal, dass er sich für den wahren Besitzer hält. Er ist jedenfalls schon ewig hier. Sogar länger als der Besitzer des Schlosses.«
Lena nickte zögerlich. Immerhin hatte sie nichts auf dem Gelände zu suchen gehabt. Vielleicht hatte er sich auch erschrocken, als sie so plötzlich vor ihm gestanden hatte. Ihr wäre es wohl auch nicht anders gegangen. Dennoch blieb ein ungutes Gefühl.
Während sie den Weg entlang auf die Zugbrücke zugingen, musterte Lena die schweren, schwarzen Eisenketten, die von den Ecken der Brücke zu Scharten in der Schlossmauer hoch über dem Eingangstor führten.
»Funktioniert die noch?«
Cay warf ihr einen eindringlichen Blick zu. »Alles funktioniert hier noch.«
Lena musste an das Verlies denken und schluckte. »Wie schön.«
Zwei große braune Flügeltüren versperrten den Weg ins Schloss. In eine der riesigen Türen war eine kleine Pforte eingelassen, die Cay nun mit einem rostigen Eisenschlüssel aufschloss. Während sie wartete, sah sie sich um und entdeckte über sich im Torbogen ein steinernes Wappen, auf dem eine Art Drache oder vielleicht auch eine Schlange zu sehen war, die sich um einen Apfel wand.
»Wie kann es sein, dass ich noch nie von all dem gehört habe?« Unvorstellbar, in Zeiten des Internets, in denen sich Informationen und Bilder mit Lichtgeschwindigkeit verbreiteten.
Cay zuckte die Achseln. »Der Besitzer legt eben sehr viel Wert auf Privatsphäre.«
Er hielt ihr die Tür auf und bedeutete ihr einzutreten. Sie überquerten den Schlosshof, stiegen eine wuchtige Steintreppe hinauf und betraten durch eine hohe Flügeltür aus dunklem Holz die große Eingangshalle.
Überrascht blieb Lena stehen. Helles Sonnenlicht flutete über den Marmorboden und strahlte die breite Treppe bis auf die Galerie hinauf, die über ihnen zu schweben schien.
»Das sieht aber nicht mittelalterlich aus. Es ist so hell und die hohe Decke …«
»Es wurde immer wieder auf den neusten Stand gebracht.«
Lena betrachtete den Stuck an den Decken. »Das ist der neueste Stand?«
Cay lächelte. »Damals schon. Ich gebe zu, es ist eine Weile her. Es soll ja auch zum Gesamtbild passen. Darum wurde es auch so gemacht, dass man nach außen hin nicht sieht, dass es innen nicht mehr originalgetreu ist.«
»Ist das nicht ungewöhnlich? Normalerweise hat man doch immer so gebaut, wie es gerade in Mode war, ohne sich darum zu kümmern, ob es zusammenpasst.«
Er hob die Schultern. »Also ich mag es, wenn es stimmig ist, zumindest nach außen hin.«
Lena grinste. »Dann ist es ja gut, dass derjenige, der die Umbauten veranlasst hat, deiner Meinung war.«
»Ja.« Er räusperte sich. »Komm, ich zeige dir, wo wir arbeiten.« Er ging zu einer Tür zu ihrer Rechten und öffnete sie. Lena wollte ihm gerade folgen, als ihr die Tür auffiel, die am oberen Ende der Treppe lag. Sie blieb stehen und musterte die Tür nachdenklich. Eigentlich musste doch dahinter die Felswand liegen. Merkwürdig. Aber vielleicht täuschte das auch nur, vielleicht war die Eingangshalle in Wirklichkeit kleiner, als sie aussah.
»Kommst du?«
Sie riss sich von dem Anblick los, nickte und trat durch die Tür, die Cay ihr offen hielt.
Die Bibliothek erstreckte sich wie die Eingangshalle über beide Stockwerke, war aber noch ein Stück größer. Im Licht, das durch die großen Fenster fiel, sah Lena, dass alle Wände bis unter die hohe Decke mit Bücherregalen bestückt waren. In der Mitte des Raums standen Regale quer. Alle waren voller Bücher. Der Anblick ließ ihr Herz höher schlagen. Das halbe Schloss bestand aus Papier und Buchstaben.
»Was sind das alles für Bücher?«, fragte sie, während sie zu einem der Regale ging und vorsichtig ein Buch herauszog.
»Von allem etwas. Das meiste sind Fachbücher. Physik, Biologie, Chemie, Botanik.«
»Unglaublich, was man hier für Möglichkeiten hat, kein Vergleich zu der beschränkten Auswahl in der normalen Bücherei.«
Er lächelte. »Wie ich sehe, hast du sofort die richtige Abteilung gefunden.«
Sie sah auf das Buch in ihrer Hand hinunter und musste lachen. Lexikon der Heilpflanzen. »Ja, ich hab wohl einen eingebauten Sensor.«
Sie schlug das Buch auf und blätterte ein wenig darin herum. Dann stellte sie es wieder zurück, ließ ihren Blick über das Regal wandern und nahm sich ein Buch, das wesentlich älter aussah – und interessanter. Es wäre ihr fast aus der Hand gefallen, so schwer war es. Neuw Kreuterbuch stand auf dem abgegriffenen Ledereinband.
»O mein Gott, ist das eine Originalausgabe?« Als Cay nickte, wusste sie nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Sollte sie das Buch wieder zurückstellen, um ihm nicht zu schaden? Andererseits wollte sie unbedingt reinschauen.
»Sollte es nicht in einer Vitrine liegen? Ich kenne mich ja nicht so gut aus, aber wenn es mehrere Hundert Jahre alt ist …«
»Keine Angst, es ist … konserviert. Du kannst es dir ruhig ansehen.« Er deutete auf ein Schreibpult zwischen den Regalen.
Sie konnte es kaum glauben, allerdings hatte sie von so etwas auch überhaupt keine Ahnung. Sie schleppte das dicke Buch hinüber und legte es auf das Pult. Ehrfürchtig schlug sie es auf. Natürlich kannte sie ein paar Auszüge des Buches, Abschriften oder Zusammenfassungen, aber sie hatte noch nie eine vollständige Ausgabe in Händen gehalten. Sie überflog die Seiten auf der Suche nach etwas Besonderem, etwas, das vielleicht nicht in den Abschriften stand und auf magische Pflanzen hindeutete, aber auf die Schnelle war das ziemlich schwierig.
»Und?« Cay war hinter sie getreten und sah ihr über die Schulter.
Lena schreckte auf. Für einen Moment hatte sie ihn vollkommen vergessen. Sie versuchte, zu ignorieren, dass seine Nähe sie beinahe schwindlig machte. Dass sie sich wünschte, er würde noch ein Stück näher kommen. Dass sie sich danach sehnte, er würde sie berühren.
»Ich hatte noch nie so ein altes Buch in der Hand. Das fühlt sich unglaublich an.«
»Ja, das stimmt. Allerdings glaube ich nicht, dass du darin etwas findest.«
Damit hatte er wahrscheinlich recht. Es handelte sich um eines der ehemaligen Standardwerke und es standen sicher keine ausgefallenen Hexenkräuter darin. Cay ging zurück zu dem Regal und holte aus einem der oberen Fächer ein Buch heraus. »Ich hatte an das hier gedacht.«
Es war dick und ebenfalls in Leder gebunden. Obwohl es deutlich dünner war als das Neuw Kreuterbuch, war es immer noch schwer genug, wie sie feststellte, als sie es entgegennahm. Seltene Heilpflanzen, Eigenschaften und Verwendungsmöglichkeiten.
»Klingt gut.« Sie wollte es aufschlagen, um es sich anzusehen, merkte aber schnell, dass es gar nicht so leicht war, so ein großes, schweres Buch auf einem Arm zu balancieren. Sie warf einen Blick auf das Pult, aber da lag noch das andere Buch.
»Komm, ich zeige dir, wo wir arbeiten. Du kannst es mitnehmen und dir dort in Ruhe ansehen«, sagte Cay.
Er führte sie zu einer schmalen Tür, die sich zwischen die Regale drängte. Dahinter lag ein kleines Zimmer, an dem Lena als Erstes der riesige Stapel Umzugskisten auffiel, der die Mitte des Raums beherrschte. Als Lena sich umsah, erkannte sie, dass das Zimmer mitnichten klein war, sondern nur so wirkte, wenn man gerade aus der riesigen Bibliothek kam.
»Hier arbeite ich.« Cay deutete auf einen wuchtigen Schreibtisch aus dunklem, fast schwarzem Holz, in der Nähe der beiden Fenster, auf dem zwei Laptops standen. »Möchtest du etwas trinken, bevor wir anfangen?«
Sie nickte. Cay verschwand hinter dem Kistenstapel und kam bald mit einem Glas Wasser zurück. Sie legte das Buch auf den Tisch und wollte das Glas aus seiner Hand entgegennehmen, aber er stellte es kommentarlos vor ihr auf den Tisch. Unwillkürlich fiel ihr die Schwefelsäure wieder ein. Aber das hier war ja nur Wasser und es gab sicher keine Veranlassung zu übertriebener Vorsicht. Wollte er vielleicht vermeiden, sie zu berühren? Sie nahm das Glas und starrte nachdenklich das Wasser an. Er war heute den ganzen Tag schon ziemlich zurückhaltend. Ob das Absicht war? Auf jeden Fall muss ich ihn dann nicht dauernd auf Abstand halten. Hoffentlich bleibt es so.
Über den Rand des Glases hinweg sah sie zu Cay hinüber, der gerade dabei war, die Laptops hochzufahren.
Willst du das denn?, fragte eine innere Stimme. Eine, die ganz genau wusste, was sie sich wirklich wünschte, wenn sie ihn so vor sich sah. Sie atmete entschlossen ein und knallte das Glas auf den Tisch. »Ja, verdammt!«
Cay sah auf. »Wie bitte?«
Fieberhaft suchte sie ihr Gehirn nach einer Erklärung ab. »Ach, nichts. Ich habe nur mein Notizbuch mit den Pflanzen zu Hause vergessen.«
Sie musste sich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen. Eine bessere Ausrede fällt dir nicht ein?
»Dann schaue ich mir das eben nächstes Mal an.«
Sie biss sich auf die Lippen und unterdrückte den Fluch, der ihr auf der Zunge lag. Jetzt würde sie womöglich mehrere Tage warten müssen, bis er ihr helfen konnte. Daran bist du jetzt selbst schuld. »Ja, gut.«
Wütend schlug sie das Buch auf, dass Cay für sie aus dem Regal geholt hatte und las ein wenig darin. Es war nicht ganz so alt wie das Neuw Kreuterbuch und ziemlich interessant. Bei vielen Pflanzen standen Eigenschaften, die man heute gar nicht mehr kannte oder nicht mehr für wichtig hielt, und viele Rezepte. Unter anderem einige merkwürdige Salben, die Gefühlsschwankungen lindern sollten und skurrile Tränke gegen Gemütszustände wie Trauer oder Angst, von denen sicher kein einziger funktionierte. Sie wollte das Buch schon wieder zuklappen und als unbrauchbar abhaken, als ihr Blick an der Überschrift der gegenüberliegenden Seite hängen blieb.
Elixier gegen Liebe.
»Das könnte ich wirklich gut brauchen«, murmelte sie.
Cay stellte gerade eine Kiste neben sie. Schnell schlug sie das Buch zu, bevor er den Namen des Tranks lesen konnte.
»Was denn?«, fragte er.
»Ach, ein Elixier gegen … Vergesslichkeit. Dann hätte ich mein Buch nicht zu Hause liegen lassen.«
Unter seinem interessierten Blick stieg ihr das Blut in die Wangen.
»Daran erinnere ich mich gar nicht. Darf ich mal sehen?« Er streckte eine Hand aus.
Hastig stand sie auf und presste das Buch fest an sich. »Ach, esoterischer Kram, das funktioniert sowieso nicht, damit komme ich nicht weiter. Ich stelle es wieder ins Regal und dann helfe ich dir. Sicher möchtest du endlich anfangen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und flüchtete in die Bibliothek. Sie musste wirklich aufhören, sich so merkwürdig zu benehmen, bestimmt hielt er sie schon für völlig durchgedreht. Sie verzog das Gesicht. Vielleicht bin ich das ja.
Sie stellte das Buch ins Regal und ging dann schnell zurück zu Cay, der sich bereits einen Stapel Bücher vorgenommen hatte. Als sie hereinkam und sich an ihren Platz setzte, stand er auf und kam zu ihr herüber. Sie bewegte die Maus, die an den Laptop angeschlossen war, und der Bildschirm leuchtete auf. Ein Programm erschien, in das man die Informationen über die Bücher eintragen konnte.
Cay war hinter ihr stehen geblieben und sie versteifte sich in der Erwartung, dass er sich über sie beugen würde, dass sein Atem ihren Nacken streifen würde, wie vor ein paar Tagen im Chemiesaal. Vielleicht würde er sogar seine Hand auf ihre legen, um die Maus zu bewegen. Ihr Herz machte schon bei dem Gedanken daran einen aufgeregten Satz.
Er tat nichts dergleichen.
Ein dumpfes Gefühl regte sich in ihrer Magengrube. Sie verdrängte es. Kein Grund enttäuscht zu sein, sei lieber froh.
Statt ihr nahezukommen, erklärte Cay ihr aus sicherer Entfernung, wie die Bücher in das Programm eingetragen werden mussten. Mit Titel, Verfasser, Kurzinhalt, ein paar weiteren Daten und einer kurzen Einschätzung, ob es für die Bibliothek geeignet war. Das Programm war nicht besonders anspruchsvoll. Zum Glück, denn sie konnte sich kaum darauf konzentrieren.
Schließlich ging er wieder auf seine Seite des Tisches zurück. Ohne große Begeisterung nahm sie das erste Buch aus der Kiste. Zuerst war es tatsächlich ein wenig mühsam, aber als sie sich näher mit den Büchern auseinandersetzte, um den Kurzinhalt schreiben zu können, wurde es doch noch spannend. Wie Cay gesagt hatte, handelte es sich hauptsächlich um naturwissenschaftliche Fachbücher und Artikelsammlungen zu neuen Forschungen aus den Bereichen der Physik oder Chemie. Über Pflanzen gab es allerdings nicht viel, wahrscheinlich, weil sich auf dem Gebiet nicht so viel tat und die Bibliothek bereits gut ausgestattet war.
Einige der Bücher hätte sie am liebsten ganz gelesen, statt nur ein paar Seiten stichprobenartig zu überfliegen. Widerwillig legte sie ein Buch über neue Testverfahren in der Biochemie auf den Stapel mit den bearbeiteten Büchern und holte das nächste aus der Kiste. Es sah ziemlich alt aus. Als sie es aufschlug, sah sie, dass es in lateinischer Sprache verfasst war.
Sie räusperte sich. »Ähm, Cay?«
Er sah auf. »Gibt es ein Problem?«
»Allerdings. Das Buch hier ist auf Latein geschrieben. Ich kann nicht gut Latein.«
»Macht nichts. Dann gibst du es eben mir.«
Sie nickte erleichtert und schob ihm das Buch über den Tisch hinweg zu. »Tut mir leid, dass du dich jetzt damit rumschlagen musst. Ich habe Latein schon immer gehasst. Ich war wirklich froh, als ich das abwählen konnte. So eine elende Quälerei und hängen geblieben ist doch nichts.«
Das brachte ihn zum Lächeln. »So schlimm?«
Sie nickte. »Ja. Sprachen liegen mir einfach nicht.«
Er griff nach dem Buch, blätterte ein wenig darin herum und tippte schließlich die Inhaltsangabe in den Computer. Mit offenem Mund starrte Lena ihn an. Selbst ihr Lateinlehrer hätte sich in den paar Minuten kein umfassendes Bild von dem Buch machen können.
»Wie hast du das gemacht? Kanntest du das Buch schon?«
»Nein«, sagte er, während er die Karte mit den Informationen ausdruckte und in das Buch legte.
»Das ist … unglaublich.«
Er zuckte die Achseln. »Wenn man genug Zeit hat, kann man alles lernen.«
Lena schnaubte und griff nach dem nächsten Buch. »Ich glaube, es gibt Sachen, die kann man einfach nicht lernen, auch wenn man mehrere Jahrhunderte Zeit hätte.«
Cay sah sie nachdenklich an. »Ja, wahrscheinlich hast du recht. Wenn ich da an meine verunglückten Versuche mit dem Klavier denke.«
»So schlimm?«
Sein schiefes Lächeln ließ ihr Herz schneller schlagen. »Grauenhaft.«
Grinsend wandte Lena sich wieder den Büchern zu. Nach relativ kurzer Zeit hatte sie die erste Kiste fertig bearbeitet, was auch daran lag, dass ziemlich viele lateinische Bücher darin gewesen waren. Diese stapelten sich jetzt alle neben Cay auf, der völlig gedankenverloren las. Wahrscheinlich hätte er es nicht einmal bemerkt, wenn sie ihn angesprochen hätte. Offensichtlich fiel es ihm genauso schwer wie ihr, sich mit dem Überfliegen einiger weniger Seiten zufriedenzugeben.
Eigentlich hätte sie sich die nächste Kiste vornehmen sollen, aber stattdessen saß sie einfach nur da und starrte ihn an. Hin und wieder bewegte er lautlos die Lippen oder strich sich die Haare aus der Stirn. Sie spürte sie fast zwischen ihren Fingern, weich und dicht. Ihr Blick wanderte von seiner Schläfe aus über seine Wange, um schließlich auf seinen Lippen innezuhalten. Wie sich sein Mund wohl auf ihrem anfühlen würde? Sie schloss die Augen. Konnte seinen Kuss beinahe spüren. Wie er ihren Mund mit seinen Lippen streifte. Wie seine Zunge in ihren Mund drang, während seine Hände sanft ihre Taille streichelten und dann langsam etwas weiter nach oben wanderten. Allein die Vorstellung trieb winzige Schauder über ihre Haut und weckte ein leises Ziehen in ihrem Unterleib. Wie es sich wohl anfühlte, wenn er sie dort berührte?
Entsetzt sprang sie auf. Der Knall, mit dem ihr Stuhl auf den Holzboden schlug, ließ Cay aufschrecken. »Alles in Ordnung?«
»Ja.« Das Blut rauschte in ihren Ohren. Immer noch spürte sie ein verräterisches Kribbeln zwischen ihren Beinen.
Cay stand auf und kam zu ihr rüber. »Du bist ganz blass. Stimmt etwas nicht?«
Sie wich ein Stück vor ihm zurück. Nur, dass ich mir selbst nicht trauen kann, wenn ich mit dir zusammen bin. »Nein, mir geht’s gut. Ich hab mich nur erschrocken, weil …« Sie sah sich um und deutete schließlich erleichtert auf das Fenster. »Weil es schon dunkel ist und ich unbedingt gehen muss.« So schnell wie möglich.
Cays prüfender Blick schien eine Ewigkeit zu dauern. »Ja, natürlich, entschuldige. Ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es ist. Ich bringe dich nach Hause«, sagte er schließlich.