Kapitel 12
Gedankenverloren stand Lena auf dem Gang der Schule und starrte vor sich hin, eine Hand um den kleinen, goldenen Anhänger geschlossen. Wieder hatte sie vergessen, ihn abzulegen, wahrscheinlich, weil sie völlig übermüdet war. Die ganze Nacht hatte sie kein Auge zugemacht. Sie sagte sich, dass es mit ihrer Mutter zu tun hatte und mit dem Erlebnis im Wald, dabei wusste sie genau, dass das nicht der wahre Grund war. Es war der Traum, den sie nicht hatte vergessen können, und die Vorstellung, wie er weitergegangen wäre. Auch jetzt sah sie wieder vor sich, was passiert wäre, wenn niemand sie unterbrochen hätte. Die Vorstellung war so real, dass ihr Atem etwas schneller ging.
Um sie herum tobte der normale Wirbelsturm des Schulalltags, andere Schüler rempelten sie an, aber sie bemerkte es kaum. Erst der Gong, der die erste Stunde ankündigte, ließ sie aufsehen. Direkt in Cays Gesicht, der eine Augenbraue in seiner vertrauten Art hochgezogen hatte.
»Oh, hallo«, murmelte Lena. »Ich hab dich gar nicht gesehen.«
Er lächelte. »Das hab ich gemerkt. Hast du die Nacht gut überstanden?«
Nein, ich habe mich die ganze Zeit hin und her gewälzt und mir gewünscht, dich wirklich zu spüren. Schon wieder wurden ihre Wangen heiß. Mist. »Ja, alles bestens.«
»Gut.« Seine Stimme erinnerte sie an seine tröstenden Worte am Abend zuvor und wie er sie im Arm gehalten hatte.
Als sein Blick zu ihrer Hand wanderte, merkte sie erst, dass sie immer noch den kleinen Anhänger festhielt. Erschrocken stopfte sie ihn unter ihr T-Shirt, damit Cay ihn nicht sah, aber es war zu spät.
»Neuer Schmuck?«, fragte er, äußerst interessiert.
Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Ähm, na ja, neu, ja, irgendwie schon.« Lena verfluchte ihre Vergesslichkeit, der sie nun diesen peinlichen Moment verdankte. Sie hoffte, dass er sich nicht weiter für die Kette interessieren würde, aber diese Hoffnung starb einen schnellen, unrühmlichen Tod.
»Darf ich mal sehen?«
Sie wollte Nein sagen, flüchten und hoffen, dass er später nicht mehr daran denken würde. Bevor sie irgendetwas davon in die Tat umsetzen konnte, spürte sie die federleichte Berührung seiner Fingerspitzen an ihrem Hals. Es fühlte sich fast an wie in ihrem Traum, ein sanftes Kribbeln, das sich bis zwischen ihre Beine fortsetzte. Sie hielt den Atem an, während er die Kette hervorzog und erstaunt die kleine goldene Acht betrachtete, die daran baumelte.
»Du trägst sie?« Langsam ließ er die Kette fallen und fixierte Lena mit seinen dunkelgrünen Augen.
»Ja. Wieso? Ist dir das nicht recht?« Sie bemühte sich um einen herausfordernden Ton, aber es klang eher wie ein Keuchen.
»Sie gehört dir, du kannst damit machen, was du möchtest.« Es sollte wohl gleichgültig klingen, aber Lena konnte einen winzigen Moment lang Freude in seinen Augen aufblitzen sehen, bevor sie wieder spiegelglatt und undurchdringlich wurden.
Sie hätte gern irgendetwas Schlagfertiges gesagt, aber wie immer, wenn es darauf ankam, war ihr Gehirn wie leer gefegt. Ihr blieb nur die Flucht nach vorn.
»Was machst du überhaupt hier? Heute ist doch gar kein Kurs.«
»Ich wollte dich fragen, ob du heute Nachmittag Zeit hast, um mir mit den Büchern zu helfen.«
Sie nickte. »Lässt sich einrichten, denke ich.«
»Gut, dann hole ich dich nachher ab.«
»Bist du deswegen extra hergekommen?«, fragte sie. »Was für ein Aufwand.«
»Es hat sich ja gelohnt.« Sein Blick wanderte vielsagend zu dem goldenen Anhänger um ihren Hals.
Wo war die Gletscherspalte, wenn man sie brauchte? Warum tat sich die Erde nicht auf und verschluckte sie? Warum hatte er extra herkommen müssen? Hätte er sie nicht einfach anrufen können? Sie schüttelte den Kopf. Nein, natürlich nicht. Er hatte ihre Nummer ja gar nicht.
»Ich gebe dir meine Handynummer, dann kannst du in Zukunft anrufen«, grummelte sie. Sie wühlte in ihrem Rucksack nach einem Zettel, kritzelte ihre Nummer darauf und drückte ihn Cay in die Hand.
Er grinste. »Dann hat es sich ja doppelt ausgezahlt, dass ich hergekommen bin.«
Sie warf ihm einen bösen Blick zu. Sein Grinsen wurde nur noch breiter.
»Störe ich?«, fragte Luise, die wie aus dem Nichts plötzlich neben ihnen stand.
Cay fixierte Lena und nickte so leicht, dass nur sie es bemerkte. Offensichtlich erhoffte er sich von Lena Unterstützung. Das konnte er vergessen.
»Aber nein. Er gehört dir, Luise«, sagte sie und lächelte unschuldig.
»Sehr gut. Ich hätte da noch eine Frage zu einem der Versuche. Das kann aber etwas dauern.« Luise schenkte Cay ein Lächeln, das sie wohl für betörend hielt.
Lena hatte alle Mühe, ihr Lachen in ein Husten zu verwandeln. »Ach, dafür nimmt er sich sicher gern Zeit. Nicht wahr? Ich glaube, du hattest erwähnt, dass du nichts vorhast?«
Cay starrte Lena entsetzt an.
»Perfekt. Ich habe eine Freistunde«, sagte Luise. »Dann können wir das ja ganz in Ruhe besprechen.«
Lena wandte sich wieder an Cay. »Dann hat es sich ja wirklich gelohnt, dass du hergekommen bist, oder?« Sie grinste.
Cay funkelte sie an, aber es sah eher amüsiert als wütend aus. Lena winkte ihm zu und machte sich auf den Weg zu ihrer ersten Stunde. Sie hörte noch, wie Cay sich an Luise wandte, und nahm mit Genugtuung den ungnädigen Unterton in seiner Stimme wahr.
Die ganze erste Stunde lang versuchte Lena verzweifelt, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen. In der zweiten Stunde, Mathe, fiel es ihr beinahe noch schwerer, bei der Sache zu bleiben.
Die ganze Zeit liefen die Bilder vor ihrem inneren Auge ab. Cays Freude darüber, dass sie den Anhänger trug, der merkwürdige Vorfall im Wald, das seltsame Ergebnis der Übersetzung ihrer Liste. Und immer wieder seine Umarmung.
»Lena!«
Sie schreckte auf. Frau Meier starrte sie an.
»Wieder da aus dem Traumland?«, fragte sie schnippisch.
Frau Meier mochte es gar nicht, wenn man ihr nicht die volle Aufmerksamkeit widmete.
»Entschuldigung«, sagte Lena betreten.
»Kommen Sie nach vorn und lösen Sie die Aufgabe an der Tafel.«
Lena stand auf und ging den Gang zwischen den Pulten entlang.
»Träumen ist ja nicht verboten, aber doch nicht in der Schule und nicht von unserem Chemie-Kursleiter«, sagte Luise halblaut, als Lena an ihr vorbeiging. Sie schüttelte mahnend den Kopf. Lenas Wangen wurden heiß. Sie heftete ihren Blick auf die Tafel und versuchte, zu ignorieren, dass alle sie anstarrten.
Trotzdem bemerkte sie, dass Frau Meier Luise mit verengten Augen ansah. Während Lena die Aufgabe zu lösen versuchte, fühlte sie Frau Meiers prüfenden Blick auf sich. Eigentlich hatte sie keine Schwierigkeiten in Mathe, die Aufgabe hätte sie normalerweise auch lösen können, ohne zugehört zu haben, aber sie bekam einfach den Kopf nicht frei. Daran war nur er schuld. Die wunderbare Wärme seiner Arme und das leichte Kitzeln in ihren Haaren, von dem sie sich immer noch fragte, ob es ein Kuss gewesen war.
»Bestimmt ist sie nur müde, weil das Projekt sie bis nach Hause verfolgt hat, und vielleicht sogar ins Bett, wer weiß?«, lästerte Luise.
Lena erstarrte, die Hand mit der Kreide noch in der Luft. Ein paar ihrer Mitschüler lachten, andere tuschelten aufgeregt. Wusste Luise doch etwas? Hatte sie irgendwie Wind von gestern Abend bekommen? Das konnte eigentlich nicht sein. Panisch suchte Lena in ihrem Hirn nach einer brauchbaren Erwiderung, als Frau Meier ihr zuvorkam.
»Luise, ich muss Sie warnen. So etwas dulde ich nicht in meinem Unterricht.«
Luise hielt den Mund, hatte aber ein schadenfrohes Grinsen auf dem Gesicht.
Mit gesenktem Kopf legte Lena schließlich die Kreide weg. Sie konnte nur daran denken, was passieren würde, wenn jemand die Gerüchte ernst nahm, die Luise zu verbreiten versuchte. Dann würde genau das eintreten, wovor sie Angst hatte. Verdammt, sie war nicht einmal mit Cay zusammen, nicht einmal annähernd, und doch gab es schon Probleme.
»Entschuldigung, Frau Meier, ich kann das heute nicht. Es tut mir leid.« Sie ging langsam zurück zu ihrem Tisch.
Die restliche Stunde vergrub Lena ihr Gesicht in ihren Notizen und bemühte sich, gewissenhaft alles mitzuschreiben. Die ganze Zeit fragte sie sich, was Luise wusste. Irgendwann fiel ihr ein, dass eine von Luises Freundinnen bei ihr um die Ecke wohnte, vielleicht hatte sie etwas gesehen und gleich weitererzählt? Aber es hätte ihr doch auffallen müssen, wenn jemand in der Nähe gewesen wäre. Sie hörte kaum die Glocke und schrak erst aus ihren Gedanken hoch, als Frau Meier sie ansprach.
»Lena, was ist nur los mit Ihnen?«
Lena sah auf und wusste nicht, was sie antworten sollte.
»Sie geben doch nichts auf das Geschwätz von Luise Bachmann, oder?«
Stumm schüttelte sie den Kopf.
Frau Meier seufzte. »Ich mache mir langsam Sorgen um Sie, Lena. Diese Unkonzentriertheit und so eine schlechte Leistung, das kenne ich nicht von Ihnen. Sie sind doch sonst so motiviert und waren immer eine meiner besten Schülerinnen.« Sie sah nachdenklich auf Lena herunter. »Liegt es vielleicht an dem Stipendium? Das ist bestimmt ein ziemlicher Druck für Sie.«
Lena sah auf, dankbar, dass ihr diese Ausflucht geboten wurde. »Ja. Ich glaube schon.«
Frau Meier sah sie prüfend an. »Stimmt es, dass Sie an einem Projekt mit Herrn Magnus arbeiten?«
»Ja. Ich … es ist sehr interessant.«
»Nun, vielleicht sollten Sie etwas kürzer treten. Sie muten sich offensichtlich zu viel zu.«
Wut stieg in Lena auf und riss sie aus ihrer Antriebslosigkeit. Erst hatte ihre Mutter ihr verbieten wollen, weiter mit Cay zusammenzuarbeiten und jetzt das? Sie stand auf.
»Warum denkt eigentlich jeder, dass er mir etwas vorschreiben kann? Ich weiß ganz genau, was ich tue. Ich brauche niemanden, der sich in meine Angelegenheiten mischt.«
Sie nahm ihren Rucksack und stürmte aus dem Klassenzimmer, ohne einen Blick zurück zu riskieren. Sie hastete um ein paar Ecken und lehnte sich schließlich zitternd an eine Wand. Verzweifelt legte sie sich die Hand über die Augen. Frau Meier so anzufahren hatte ihre Situation sicher nicht verbessert. Vor allem, weil sie den Grund für ihr Aufbrausen so genau kannte. Ihre Mutter und die Lehrerin hatten ganz einfach recht. Das Stipendium, die Schule, das Projekt mit Cay und die Suche nach den Pflanzen. Es wuchs ihr alles über den Kopf.
»Du bist ja weiß wie ein Stück Tafelkreide.«
Lena öffnete die Augen. Mike war vor ihr aufgetaucht. Seine Stirn lag in tiefen Falten.
»Mike!« Sie umarmte ihn und legte den Kopf an seine Schulter.
»Was ist denn nur los?«
»Ich hab einen schlechten Tag, das ist alles. Kannst du mich mal drücken?«
Zögerlich legte Mike die Arme um Lena und drückte sie an sich. Sie hob den Kopf. »Danke. Das hilft.« Sie lächelte verlegen.
Sie vermied es absichtlich, Mike alles zu erzählen. Sie wollte nicht auch noch von ihm hören, dass sie kürzertreten musste. Lieber fraß sie alles in sich rein und machte weiter wie bisher. Es würde ja nicht für immer so weitergehen. Bald war der Kurs vorbei. Auch das Projekt mit Cay würde nicht allzu lange andauern. Warum versetzte der Gedanke ihr einen Stich? Sie sollte erleichtert sein.
»Also sag schon, was ist los?« Mike war ein zu guter Freund, um lockerzulassen.
»Ach, ich bin einfach nur todmüde. Ich hab nicht gut geschlafen und war unkonzentriert in Mathe. Willst du nicht lieber wissen, wie es gestern war?« Ihre Hoffnung, Mike damit abzulenken, wurde nicht enttäuscht.
»Richtig, du warst auf dem Schloss.«
»Komm gehen wir in den Aufenthaltsraum, da können wir in Ruhe reden.«
Auf dem Weg dorthin schilderte Lena Mike die Ereignisse des vorigen Tages. Sie erzählte ihm alles, bis zu der Stelle mit dem Schatten im Wald. Was danach zwischen ihr und Cay vorgefallen war, ließ sie weg. Sie wollte jetzt einfach nicht hören, was er dazu zu sagen hatte und sich auch nicht dafür rechtfertigen müssen. Irgendwann würde sie es Mike erzählen, aber noch nicht heute. Nur, dass sie dann auch nicht mit ihm über Luises neueste Attacke reden konnte. Dabei hätte sie ihn so gern gefragt, was er davon hielt und ob er glaubte, dass Luise wirklich etwas wusste.
»Mann, das Schloss hört sich toll an, das würde ich zu gern mal sehen.«
Sie waren jetzt im Aufenthaltsraum der Oberstufe angekommen. Lena zeigte auf den Computer, der auf einem der Tische stand. »Dann lass uns doch einfach ins Internet schauen. Bestimmt gibt es ein paar Bilder irgendwo!«
Sie setzten sich an den PC und suchten eine Weile lang mit allen gängigen Suchmaschinen, probierten verschiedene eindeutige Suchbegriffe und schließlich abwegige Kombinationen. Sie fanden nichts.
»Das ist doch merkwürdig. Man sollte meinen, dass es über so ein Schloss massenhaft Berichte und Fotos gibt!« Lena konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Sie hatte gehofft, vielleicht die eine oder andere spannende Geschichte über das Schloss nachlesen zu können, und hätte auch gern mehr über die Bedeutung des Wappens über dem Torbogen erfahren. Jetzt musste sie sich eben bis heute Nachmittag gedulden und Cay fragen.
»Ja, das ist schon echt komisch. Es gibt doch eigentlich über alles im Internet was nachzulesen. Dass man nicht einmal eine Erwähnung findet, also da könnte man fast glauben, dass jemand es absichtlich verhindert«, sagte Mike.
Lena runzelte die Stirn. »Wenn das stimmt, dann würde ich wirklich gern wissen, warum.«
*
Wie immer auf den letzten Drücker stürzte Lena in den Geschichtsunterricht, die letzte Stunde für heute, und hastete zu ihrem Platz neben Mike, ohne sich umzusehen. Umso erstaunter war sie, als sie nicht den mit einem Bein in der Rente stehenden Herrn Müller an der Tafel sah, sondern eine jüngere Frau, ungefähr im Alter ihrer Mutter, mit kurzen dunkelbraunen Locken.
»Nächstes Mal erwarte ich Pünktlichkeit, aber da heute meine erste Stunde ist, sehe ich mal darüber hinweg.« Sie sah Lena mahnend, aber nicht unfreundlich an. Dann richtete sie den Blick auf die anderen Schüler. »Mein Name ist Frau Hofstetter. Ich bin Ihre neue Geschichtslehrerin. Besser gesagt, die Vertretung.«
Lena war erleichtert, dass sie nicht gleich wieder Ärger bekommen hatte. Das Gespräch mit Frau Meier und ihre Reaktion, die ihr inzwischen leidtat, hing ihr noch nach.
»Ich habe auch gleichzeitig den Posten der Vertrauenslehrerin übernommen und ich hoffe wirklich sehr, dass Sie mit Ihren Problemen zu mir kommen, auch wenn ich noch ganz neu an der Schule bin.«
Lena betrachtete Frau Hofstetter eingehend. Sie sah sehr sympathisch aus, mit den freundlich glitzernden Augen und den weichen Gesichtszügen, in denen sich die ersten Falten abzeichneten. Lena konnte sie sich tatsächlich gut als Vertrauenslehrerin vorstellen.
Allerdings bezweifelte sie, dass sie etwas daran ändern konnte, dass Geschichte ihr einfach keinen Spaß machte.
»Geschichte ist bei vielen Schülern nicht sehr beliebt, das ist mir klar, aber ich hoffe, dass ich das vielleicht ein wenig ändern kann.« Lena starrte sie an. Konnte sie Gedanken lesen? »Eigentlich ist es ein sehr spannendes, lebendiges Fach, das uns lehrt, wie unsere Kultur entstanden ist. Unsere Kultur formt schließlich unseren Charakter und macht aus uns einen ganz bestimmten Menschen.« Sie sah begeistert in die Runde, aber Lenas Mitschüler begegneten ihrem Blick mit dumpfem Unverständnis. Sie zog kurz die Augenbrauen zusammen und spitzte nachdenklich den Mund.
»Ich sehe schon, ich muss gleich mit etwas Spannendem starten, um Ihnen zu zeigen, was ich meine.« Sie hob eine schwere, ziemlich abgegriffene Aktentasche auf den Tisch und wühlte darin herum. Schließlich zog sie ein Notizbuch heraus, aus dem auf allen Seiten Zettel herausragten. Sie schlug es auf.
»Ah ja. Das ist es. Stadtgeschichte im Mittelalter.«
Ein paar Schüler stöhnten leise. Die Stadtgeschichte kam ihnen allen zu den Ohren raus, denn sie wurde durchgekaut, wann immer der Lehrplan es zuließ, weil der heimatkundeverrückte Bürgermeister das so wünschte.
Frau Hofstetter hob beschwichtigend eine Hand. »Ich weiß, was ihr denkt, aber wartet es mal ab. Ich glaube, dass ich euch doch noch etwas Neues erzählen kann.« Sie zwinkerte Lena zu, die sie abwartend ansah. Sie hielt es für sehr unwahrscheinlich, dass es irgendetwas in der kleinen Stadt gab, was man ihnen noch nicht mehrfach erzählt hatte.
»Vor ungefähr fünfhundert Jahren starben hier in der Stadt und der näheren Umgebung ziemlich viele Menschen.«
Lena lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Das war jedenfalls noch nichts Neues.
Frau Hofstetter lächelte geheimnisvoll. »Es waren hundertundsieben Tote, um genau zu sein, und man konnte die Zeitspanne, in der sie gestorben sind, auf etwa ein Jahr eingrenzen. Dann hörte es plötzlich auf.«
Lena horchte auf. So viele Tote? Sie beugte ich zu Mike hinüber. »Woher hat sie diese Zahlen? Die hab ich noch nie gehört«, flüsterte sie ihm zu.
Mike zuckte mit den Schultern. »Vielleicht irgendwelche neuen Erkenntnisse?«
»Wusstest du, dass es so viele waren?« Lena erschauderte. Das Städtchen hatte damals nur wenige Einwohner gehabt, es war im frühen Mittelalter entstanden, zunächst ein Stück entfernt vom jetzigen Standort. Wenn sie sich nicht täuschte, relativ nah am Schloss, wo sie gestern mit Cay gewesen war.
Mike schüttelte den Kopf. »Echt viele für die damalige Zeit. Haben überhaupt so viele Leute hier gelebt?«
»Hat jemand eine Idee, was der Grund dafür gewesen sein könnte?«
Sofort schossen mehrere Hände in die Höhe. Frau Hofstetter deutete auf Lukas.
»Bestimmt die Pest.«
»Könnte sein. Allerdings waren alle Opfer gesunde Menschen.« Sie lächelte zynisch. »Zumindest, bis sie tot aufgefunden wurden.« Sie warf einen Blick in die Runde. »Gibt es andere Vorschläge?«
Luise meldete sich zu Wort. »Eine Naturkatastrophe.«
Frau Hofstetter nickte bedächtig. »Eine sehr gute Idee. Leider ist sie falsch. Wir wissen sicher, dass damals keine Katastrophe solchen Ausmaßes stattgefunden hat.«
Lena biss sich auf die Lippen. Lukas wirkte schon halb gelangweilt, aber dieses Gefühl konnte sie nicht teilen. Irgendetwas an diesen Vorfällen machte sie unruhig.
»Findet ihr es nicht merkwürdig, dass ihr alle schon mal davon gehört habt, aber keiner den Grund für die vielen Todesfälle kennt?«
Lena hob die Hand und antwortete. »Vielleicht weiß einfach keiner, was damals passiert ist.«
Frau Hofstetter lächelte ihr zu. »Genauso ist es. Fünfhundert Jahre sind vergangen und bis heute hat man es nicht geschafft, diese Morde … aufzuklären.«
Sofort redeten die Schüler durcheinander und spekulierten über die Ursache. Lukas hob wieder die Hand. Frau Hofstetter nickte ihm zu.
»Wie wurden die Menschen denn getötet?«
»Es gab keine Spuren von vorsätzlicher Gewalt. Alle starben an unterschiedlichen Dingen, man vermutet, dass auch einige Selbstmorde darunter waren. Das macht es ja so mysteriös. Die einzige Gemeinsamkeit, die bei sehr vielen der Opfer festgestellt werden konnte, war ein extremer Blutverlust.«
»Bestimmt waren es Vampire«, sagte Mike und grinste. Er amüsierte sich mal wieder prächtig.
Einige Mitschüler lachten, aber andere schienen es nicht so abwegig zu finden. Lena wusste nicht, was sie von all dem halten sollte. Noch vor wenigen Tagen hätte sie allein den Gedanken an eine übernatürliche Ursache weit von sich gewiesen. Bevor sie das Irrlicht gesehen hatte. Oder nur geglaubt hatte, es zu sehen? Nur zu gern würde sie glauben, dass sie auf eine optische Täuschung hereingefallen war.
Frau Hofstetter lächelte, aber ihre Augen blieben ernst. »Ich denke, wir sind uns einig, dass es keine Vampire gibt.«
»Genau. Das ist doch Blödsinn.« Lukas schüttelte den Kopf.
Frau Hofstetter sah ihn durchdringend an. »Dennoch sollten wir uns nicht von dem blenden lassen, was wir für die unumstößliche Wahrheit halten, sondern müssen es im Gegenteil hinterfragen und auf Herz und Nieren prüfen.« Sie warf Lena einen Blick zu. »Denkt nur daran, dass alle Menschen früher davon überzeugt waren, dass die Welt eine Scheibe ist. Wann immer wir nach der Lösung für ein Problem suchen, ist ein offener Geist für uns das wichtigste Instrument. Sonst laufen wir Gefahr, zwischen unseren Vorurteilen und subjektiven Eindrücken eingeschlossen zu werden.«
Den Rest der Stunde verbrachten sie damit, über Ursachen zu spekulieren. Sie redeten über das Leben im Mittelalter, über die Überzeugungen der Menschen und welche davon vielleicht zu einem Tatmotiv geführt haben könnten.
»Das hat sie wirklich schlau angestellt«, sagte Lena zu Mike, als sie nach dem Ende der Stunde das Klassenzimmer verließen.
Mike nickte. »Ja. Hat uns heimlich, still und leise lauter Infos untergejubelt. Mein Lieblingsfach wird es trotzdem nicht.«
»Meins auch nicht. Immerhin, die Hausaufgabe ist bestimmt die erste in Geschichte, die mich nicht zu Tode langweilt, sondern die ich sogar spannend finde.« Frau Hofstetter hatte ihnen aufgetragen, ein Referat über die Morde auszuarbeiten.
Mike schlug den Weg zum Glaskasten ein und sah Lena verwundert an, als sie ihm zum Mittagessen folgte.
»Ich dachte, du hast heute Nachmittag frei?«, fragte er, während sie sich an die Essensausgabe stellten.
»Schon, aber ich bin nachher mit Cay verabredet. Er holt mich ab und wir fahren von hier aus zum Schloss. Deswegen esse ich jetzt noch schnell was.«
Gemeinsam suchten sie sich einen Tisch. Mike stocherte lustlos in seinem Essen herum und legte schließlich die Gabel weg »Also das taugt echt nur gegen den gröbsten Hunger. Spaß macht das nicht.«
»Bestimmt gehört das zur Aktion gegen Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen.«
Mike lachte. »Stimmt, der Verdacht liegt nahe. Funktioniert sicher besser als jede Diät.«
Schweigend zwang Lena sich, ein paar Bissen zu essen, legte aber auch bald das Besteck beiseite. »Und, was denkst du wegen dieser Morde? Schon alles sehr geheimnisvoll, oder?«
»Wenn wir wenigstens einen Anhaltspunkt hätten. Hast du eine Idee?«
»Nein, und heute vor allem keine Zeit.«
»Stimmt ja, du bist wieder mit den alten Büchern beschäftigt.«
Lena fasste sich an die Stirn. »Natürlich Mike, alte Bücher! Ich werde einfach Cay fragen, ob es in der Schlossbibliothek dazu etwas gibt. Da gibt es so viele verschiedene, uralte Bücher zu allen möglichen Themen.«
In diesem Moment brummte Lenas Handy. Eine SMS. Sie warf einen kurzen Blick auf das Display und sprang auf. »Das ist Cay. Sorry, aber ich muss los. Er wartet unten.«
»Pass auf dich auf und bleib stark.«
»Was meinst du?«, fragte Lena irritiert.
»Na, du wolltest dich nicht verlieben, weißt du noch? Oder hast du deine Meinung geändert?«
Wenn ich das nur selbst wüsste. Sie bereute es langsam, dass sie nicht mit Mike über alles geredet hatte, aber jetzt war keine Zeit mehr.
»Nein, ich glaube nicht«, sagte sie schließlich unsicher.
Mike starrte sie an. »Was soll das heißen, du glaubst?«
»Ich ruf dich nachher an, ja?«
»Lena, warte doch mal!« Mike war aufgestanden und sah ihr nach.
Aber sie schüttelte den Kopf. »Später, okay?« Sie schenkte ihm noch ein entschuldigendes Lächeln und machte sich dann auf den Weg zum Ausgang.