Kapitel 13

 

 

 

»Heute müssen wir noch mal laufen. Nächstes Mal reiten wir, versprochen«, sagte Cay, als sie aus dem Auto stiegen.

»Schon okay«, erwiderte Lena. Mehr als okay. Sie war froh, Cay noch nicht sagen zu müssen, wie es wirklich um ihre Beziehung zum Reiten bestellt war.

Der Gedanke, wieder durch das Waldstück zu gehen, behagte ihr allerdings auch nicht, aber wenigstens war es jetzt hell. Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie nach interessanten Pflanzen Ausschau hielt. Am Wegesrand zog sich ein kleiner Grünstreifen entlang, der mit hohem Gras, Wildblumen und Kräutern bewachsen war. Plötzlich hielt sie inne.

»Das gibt’s doch nicht«, sagte sie halblaut zu sich selbst.

»Was ist?« Cay blieb neben ihr stehen und folgte ihrem Blick.

Sie zeigte auf eine Pflanze. »Dass das hier wächst. Einfach so am Wegesrand, obwohl es angeblich ausgestorben ist. Ich schätze, man merkt, dass hier keine Autos fahren und nicht viele Menschen hier entlanggehen.«

Cay runzelte die Stirn. »Ja, mag sein.«

Lena zog ihr Handy heraus, um ein Foto zu machen. »Das schicke ich an pflanzen-watch.de. Da kann man interessante Funde melden.«

»Das solltest du besser lassen.«

»Wieso?« Lena runzelte die Stirn.

Cay hob die Schultern. »Der Besitzer möchte nicht, dass hier Fotos gemacht und ins Internet gestellt werden.«

»Aber das muss man der Uni melden! Die führen genau Buch über so was.«

»Er wird schon seine Gründe haben. Wir sollten das respektieren.«

»Gut, wie du meinst.« Sie bekämpfte den Drang, weiter darüber zu diskutieren. Schließlich hatte er recht, sie befanden sich auf Privatgelände. »Das erklärt immerhin, warum ich im Internet nichts über das Schloss entdecken konnte.«

»Du hast versucht, etwas darüber zu finden?«

Sie nickte, während sie ihr Handy wieder in die Tasche schob. »Ich fand es so interessant und wollte mal sehen, ob ich etwas über die Geschichte erfahren kann. Leider war absolut gar nichts zu machen.«

»Gut.« Etwas wie Erleichterung zuckte über sein Gesicht.

Sie verengte die Augen. »Du weißt schon, dass du mir jetzt alles erzählen musst, was ich wissen will.«

Das brachte ihn zum Lachen. »Gern, warum nicht. Solange du versprichst, nichts davon ins Internet zu stellen.«

Auch wenn es ihr wirklich merkwürdig vorkam, dass der Schlossbesitzer so sehr dagegen war, nickte sie. Private Daten zu schützen, Fotos, das sah sie ein, aber eine Pflanze, die auf dem Gelände wuchs? Vielleicht befürchtete er, dass das Neugierige anlocken würde, die der Natur schaden konnten. Wahrscheinlich war das gar nicht so weit hergeholt.

Er deutete mit der Hand den Weg entlang. »Gehen wir weiter?«

Sie nickte. »Aber versuch nicht, mich abzulenken.«

Seine Mundwinkel zuckten. »Was möchtest du denn über das Schloss wissen?«

»Zum Beispiel, warum es so unbekannt ist. Niemand weiß davon, dabei ist das Gelände riesig. Dann interessiert mich, was es mit dieser abgestorbenen Stelle auf sich hat, die ich in der Nähe vom Tor entdeckt habe. Da muss irgendwas passiert sein. Weißt du was darüber?«

»Das kann ich leider nicht beantworten.«

»Hm.« Enttäuscht kickte Lena einen kleinen Stein aus dem Weg. »Dann fällt mir jetzt nur noch ein, dass ich dich wegen der Geschichtshausaufgabe etwas fragen wollte.« Sie hob den Kopf. Cay blickte sie beunruhigt an. »Keine Sorge, da schreibe ich nichts über das Schloss. Ich dachte nur, dass du mir vielleicht weiterhelfen kannst.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann es ja versuchen.«

»Es geht um diese merkwürdigen Todesfälle im Mittelalter. Wahrscheinlich weißt du das gar nicht, du bist ja kein Einheimischer.«

»Oh, ich weiß davon.« Sein Gesichtsausdruck wirkte plötzlich grimmig.

»Ach? Na, dann kannst du mir vielleicht wirklich helfen. Wir sollen herausfinden, was die Ursache für diese Mordserie war. So viele Tote.« Ihre Stimme schwankte. So viele zerstörte Leben.

Cays Miene verfinsterte sich. Vielleicht fand er die Geschichte ebenso bedrückend wie sie. »Ist es nicht ziemlich sinnlos, nach so langer Zeit noch nach der Ursache zu suchen? Ich halte das für Zeitverschwendung, wenn ich ehrlich bin.«

Lena runzelte die Stirn. Dass gerade er so etwas sagte, wunderte sie. Er wirkte eigentlich eher wie jemand, der gern alles ergründete. Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht interessierte Geschichte ihn einfach nicht und er hatte keine Lust, für so etwas Zeit zu opfern, die er lieber in seine Bücher investieren wollte.

»Du weißt doch, Mord verjährt nicht. Obwohl man den oder die Täter natürlich jetzt nicht mehr zu fassen kriegt. Höchstens ihre Geister, die noch irgendwo herumspuken.« Die Vorstellung entlockte ihr ein Kichern. »Vielleicht ist ja auf dem Schloss auch einer davon?«

Cay lachte nicht, er presste die Lippen zusammen.

Das Lächeln gefror auf ihrem Gesicht. Irritiert sprach sie weiter. »Ich dachte, wir könnten in der Schlossbibliothek nach Büchern suchen, die aus der damaligen Zeit stammen. Vielleicht finden wir etwas. Da das Schloss so unbekannt ist, ist bestimmt vorher noch nie jemand auf die Idee gekommen, hier zu suchen.«

»Da wirst du nichts finden.«

»Ach was, das glaube ich nicht. Lass uns doch erst mal nachsehen.«

»Natürlich kannst du nachsehen, aber es gibt keine Bücher mehr aus der Zeit. Die sind alle bei einem Brand zerstört worden.«

Enttäuscht blieb Lena stehen. Sie waren inzwischen bei der Zugbrücke angekommen. »Bist du sicher? Das ist ja schade. Ich hatte all meine Hoffnungen darauf gesetzt.«

»Es tut mir leid, aber ich bin mir wirklich sicher. Ich glaube auch nicht, dass man überhaupt irgendwo etwas dazu findet. Gehen wir rein?«

Er streckte ihr ganz selbstverständlich die Hand hin. Sie starrte sie einen Moment lang an, als würde der Teufel sie bitten, in einen Handel einzuschlagen. Sie hätte seine Hand gern genommen, so wie gestern Nacht, aber da hatte sie Angst gehabt. Jetzt hatte sie nichts, womit sie es hätte rechtfertigen können. Seit sie auch noch von ihm träumte, war es noch wichtiger, sich in der Realität von ihm fernzuhalten. Sie steckte demonstrativ die Hände in die Hosentaschen und hoffte, dass Cay es ihr nicht übel nehmen würde. Kommentarlos ließ er die Hand sinken und sein Blick zuckte kurz zu der Stelle ihres T-Shirts, unter der sich das Amulett verbarg, als wüsste er genau, dass ihre Weigerung, seine Hand zu nehmen, nur ein winziges Auflehnen gegen ihre Gefühle war.

Verlegen wandte sie den Blick ab und suchte nach etwas, mit dem sie ihn ablenken konnte. Das Wappen über dem Torbogen kam ihr gerade recht und sie zeigte darauf.

»Das ist mir gestern schon aufgefallen. Ist das das Familienwappen?«

»Nein.«

Sie sah nach oben in dem Versuch, genau zu erkennen, was darauf abgebildet war. »Soll das ein Drache sein?«

»Wenn es dich interessiert, kann ich dir ein Bild zeigen, wo man es besser erkennen kann.«

Lena nickte.

Sie gingen in die Bibliothek, wo Cay sie zu einer wuchtigen Vitrine aus dunklem Holz führte. Hinter einer der Glastüren lag ein altes, in Leder gebundenes Buch. Er holte es heraus, schlug eine Seite auf und legte es vor Lena ab.

Was ihr sofort ins Auge stach, war die rote Farbe des Schilds. Blutrot. Darauf war eine pechschwarze Katze mit aufgerissenem Maul und ausgefahrenen Krallen abgebildet. Statt eines normalen Hinterleibs hatte sie einen Schlangenkörper, der sich in einer Acht über das Wappen und um einen etwas merkwürdig aussehenden goldenen Apfel wand.

»Was ist das für ein Tier?«

»Das ist ein Tatzelwurm. Eine Mischung aus Raubtier und Schlange. Was er da umschlingt, ist ein Granatapfel.«

»Hat das eine tiefere Bedeutung?«

Cay zuckte die Achseln. »Der Granatapfel steht für Unsterblichkeit, das war im Mittelalter ein großes Thema für die Alchemisten. Ich schätze, man hat sich davon inspirieren lassen.«

Lena betrachtete nachdenklich das Wappen. »Ich habe noch nie verstanden, warum jemand unsterblich sein will. Es ist doch furchtbar, wenn alle um einen herum altern und sterben und nur man selbst übrig bleibt.«

»Dazu muss man nicht unsterblich sein«, flüsterte er. Immer noch starrte er das Wappen an.

Die Frage, ob er auch jemanden verloren hatte, lag Lena auf der Zunge. Schon als sie mit ihm über Gromi gesprochen hatte, hatte sie ihn das fragen wollen. Bevor sie sich diesmal dazu durchringen konnte zu fragen, sprach er schon weiter. »Würde es dich nicht reizen, zu sehen, wie die Welt in hundert Jahren aussieht? Oder mehr Zeit zu haben, all die Dinge zu erfahren, die man unbedingt wissen möchte?«

»Natürlich. Wer würde das nicht wollen? Aber für mich überwiegen die Nachteile. Glaubst du nicht, dass man sein Leben auch viel intensiver lebt, wenn man weiß, dass es irgendwann vorbei ist?«

»Ja, vielleicht.« Sein Blick war plötzlich leer und fiel einfach durch Lena hindurch, als wäre sie gar nicht da. Er wirkte niedergeschlagen. Lena fiel auf, wie wenig sie tatsächlich von ihm wusste.

Wie von allein näherte sich ihre Hand seiner und berührte sie sachte. Er sah auf und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, wiesen seine Augen sie nicht ab. Die Wärme und Zuneigung darin nahm ihr beinahe den Atem und machten es ihr schwer, ihm ihre Hand wieder zu entziehen. Eigentlich wollte sie das auch gar nicht mehr. Es wäre so viel leichter, einfach ihren Gefühlen nachzugeben. Vorausgesetzt, dass er überhaupt mit ihr zusammen sein wollte. Vielleicht hatte er das ja gar nicht vor? Dass er etwas für sie empfand, daran zweifelte Lena allerdings inzwischen nicht mehr. Nicht, wenn er sie so ansah wie jetzt. Lena schluckte und wandte den Blick ab.

Als seine Finger sich unter ihrer Hand bewegten, schreckte Lena auf. Schnell zog sie ihre Hand weg. »Die Bücher. Wir sollten dringend weitermachen, ich …« Ich möchte heute nicht wieder in die Dunkelheit kommen. Die Erinnerung an den Schatten im Wald saß Lena immer noch in den Knochen. »Ich habe heute nicht so viel Zeit.«

Egal, was Cay empfand, an ihrer Situation änderte das nichts. Sie wollte immer noch das Stipendium. Eine Beziehung mit Cay stellte immer noch eine Gefahr dafür dar. Sie warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu. Seine Miene war verschlossen, der Ausdruck der Zuneigung verschwunden. Vielleicht hatte sie sich auch geirrt. Vielleicht war sie so überrascht gewesen, überhaupt eine Gefühlsregung zu sehen, dass sie viel mehr hineininterpretiert hatte, als tatsächlich da war. Natürlich, er mochte sie, das war sicher. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass er mehr für sie empfand als Freundschaft. Lena biss sich auf die Lippen. Zu wissen, dass er sich nicht weiter für sie interessierte, würde vieles einfacher machen. Nur, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie es herausfinden sollte. Ihn einfach fragen konnte sie wohl kaum, und so etwas auf subtile Art herauszufinden, lag ihr überhaupt nicht. Mike war viel besser darin. Plötzlich sehnte sie sich danach, mit ihm zu reden. Ihm doch alles zu erzählen, auch das, was sie ihm bisher verheimlicht hatte, und seine Meinung dazu zuhören, selbst wenn sie ihr vielleicht nicht gefiel.

»Ich muss zu Mike.«

Als Cay sie fragend ansah, merkte sie erst, dass sie den letzten Satz laut ausgesprochen hatte. Sie räusperte sich. »Ähm, ich meinte, deswegen muss ich heute früher weg. Ich brauche dringend Mikes Meinung.«

»Worum geht es denn? Vielleicht kann ich dir auch weiterhelfen?«

Sie wurde rot. Ja, das könntest du wohl, aber ich werde dich sicher nicht fragen.

»Nein. Es … es ist etwas sehr Persönliches. Ich brauche Mike dafür.«

Cay warf ihr einen finsteren Blick zu.

»Hab ich etwas Falsches gesagt?«, fragte sie verwirrt.

»Nein.«

»Warum siehst du mich dann an, als würdest du mich umbringen wollen?«

Cay runzelte die Stirn. »Tue ich das?«

»Ja, und zwar nicht zum ersten Mal. Das eine Mal in der Mensa …«

Er unterbrach sie. »Es tut mir leid. Ich bin sicher, es hat nichts mit dir zu tun.«

Lena redete trotzdem weiter. »Als ich zu Mike gegangen bin. Als Mike mich abholen wollte, weil wir verabredet waren und jetzt …« Sie verstummte. Als ich gesagt habe, dass ich zu Mike will. War er etwa eifersüchtig? Auf Mike? Glaubte er vielleicht, dass sie mit Mike zusammen war?

»Aber wir sind doch nur Freunde«, flüsterte Lena. »Mit ihm zusammen zu sein, wäre ungefähr so, als würde ich etwas mit meinem Bruder anfangen.«

Sie sah Cay an und erwartete, dass er abstreiten würde, was sie sich zusammengereimt hatte, aber die offensichtliche Erleichterung in seinem Blick sagte alles. Womit diese Frage auch geklärt wäre. Lena fluchte innerlich. Er empfand definitiv mehr für sie als Freundschaft.

»Ich habe sowieso keine Zeit, mit irgendwem zusammen zu sein.« Nicht, dass er noch auf irgendwelche Ideen kam.

Cay antwortete darauf mit einem angedeuteten Lächeln, das wie eine Kampfansage wirkte und die letzten Zweifel an seinen Absichten vertrieb. Lena schlug das Herz bis zum Hals.

»Das würde mich im Moment nur ablenken.« Sie gab ihrer Stimme einen entschlossenen Klang. »Das lasse ich nicht zu.«

Eine Weile betrachtete er sie nachdenklich. »Du tust alles, um deine Ziele zu erreichen.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ob er sie dafür kritisieren würde, so wie Mike oder ihre Mutter?

Cay ließ sie nicht aus den Augen, als er weitersprach. »Das kann ich gut nachvollziehen. Wenn ich ein Ziel habe, dann setze ich alles daran, es zu erreichen, egal, was es kostet.«

Lenas Haut kribbelte unter seinem durchdringenden Blick. In seiner dunklen Stimme meinte sie, ein Versprechen zu hören. Eines, das ziemlich nah an ihren Traum herankam. Eines, von dem sie sich einen winzigen Augenblick lang wünschte, er würde es einlösen. Jetzt sofort.

»Egal, was es kostet?«, murmelte sie, so leise, dass er es nicht hörte. Eigentlich konnte sie dem nicht zustimmen, sie würde sicher nicht alles für ihre Ziele opfern. Manchmal war der Preis eben zu hoch, irgendwo musste es eine Grenze geben. Nur wo? Sie dachte an das wunderbare Gefühl, sich an seine Brust zu schmiegen. Wie er sie gehalten hatte. Wie seine Lippen ihren Scheitel berührt hatten. Schnell wandte sie den Blick ab und ignorierte das sehnsüchtige Ziehen in ihrer Brust. Wie gern hätte sie seine Arme noch einmal so gespürt. Und noch viel mehr. Opferte sie vielleicht schon zu viel, wenn sie ihre Gefühle für ihn verdrängte?

Der Gedanke ließ sie nicht mehr los, während sie in das Arbeitszimmer gingen und schweigend die Bücher durcharbeiteten.

Irgendwann legte sie das letzte Buch zur Seite. »Wieder eine Kiste leer. Lange dauert es nicht mehr, dann sind wir durch.«

Cay hatte seinen Stapel ebenfalls fertig bearbeitet und warf einen Blick auf die restlichen Kisten. »Ja. Viel ist es nicht mehr.«

»Das klingt nicht sehr begeistert.« Sie verzog das Gesicht. »Bist du denn nicht froh, dass die Arbeit bald erledigt ist?«

Er sah sie mit spöttisch hochgezogener Augenbraue an. Inzwischen mochte sie es, wenn er das tat. »Das wäre ich, wenn es mir nur um die Bücher ginge.«

Sie erstarrte mitten in der Bewegung. Es war das erste Mal, dass er es offen zugab. Wenn sie nur wüsste, wie sie darauf reagieren sollte. Sie wich Cays Blick aus und stand auf. »Ähm, ich muss … mir mal die Hände waschen.«

»Ich bringe dich ins Bad.« Er schob seinen Stuhl zurück und erhob sich.

Lena räusperte sich. »Nein, schon gut. Sag mir nur, wo es ist, ich finde es allein.« Einen Augenblick allein zu sein, fern von ihm, war schließlich der Sinn der Sache.

Cay sah sie durchdringend an. Schließlich nickte er und beschrieb ihr den Weg.

 

*

 

Lena verließ die Bibliothek, durchquerte die Halle und ging auf die Tür unterhalb der Galerie zu. Sie befand sich schräg unterhalb der Tür, von der Lena gedacht hatte, dass dahinter eigentlich nur noch Fels liegen konnte. Sie drückte die Klinke herunter und betrat den kleinen Raum, der mit einem herkömmlichen Bad nicht viel gemein hatte, sondern mehr einer Höhle glich. Der vordere Teil war noch normal gebaut. Der hintere Teil war in den Fels gehauen und das Wasser zum Händewaschen stürzte aus dem Stein, wenn man einen kleinen silbernen Knopf drehte. Es sah aus wie eine Nachbildung des großen Wasserfalls neben dem Schloss.

Lena hielt die Hände unter das angenehm kühle Wasser und legte sie dann auf ihre Wangen. Gut, immerhin weiß ich jetzt Bescheid. Er will mit mir zusammen sein. Du meine Güte, er ist sogar eifersüchtig auf Mike. Lächerlich. Und was jetzt?

Sie stöhnte und schüttelte den Kopf. Warum musste nur alles immer so verzwickt sein? Eine Weile stand sie nur so da und genoss die Kälte auf ihren Wangen. Dann trocknete sie sich die Hände ab und verließ das Badezimmer. Sie konnte schließlich nicht ewig hier bleiben. Irgendwann musste sie ihm wieder gegenübertreten. Schon halb auf dem Weg zur Bibliothek wanderte ihr Blick noch einmal zu der Tür auf der Galerie.

Sie war offen. Gerade eben war sie noch geschlossen gewesen, da war sie sich sicher. Es wäre zu interessant, nachzusehen, was dahinter lag. Vielleicht noch so ein außergewöhnliches Badezimmer wie dieses? Oder ein anderer in den Felsen gehauener Raum? Sie biss sich auf die Lippen. Schließlich konnte sie nicht einfach allein im Schloss herumlaufen und irgendwelche Räume betreten. Wenn schon, dann sollte sie Cay fragen, ob er sie herumführte. Oder besser nicht, wenn sie nicht wollte, dass er es falsch interpretierte. Schon halb im Umdrehen warf sie einen letzten, bedauernden Blick auf die Tür und erstarrte mitten in der Bewegung.

»Das glaube ich jetzt nicht.« Sie schlich sich an die Treppe heran, die auf die Galerie hinaufführte, und sah nach oben.

Es war das Irrlicht aus dem Wald. Ganz eindeutig. Es existierte. Lena schnaubte, als sie an Cays Worte dachte. Von wegen Glühwürmchen. Das war schon eher ein ausgewachsener Glühwurm.

»Was machst du denn hier im Schloss?«, flüsterte Lena mehr zu sich als zu dem Irrlicht.

Langsam stieg sie die Stufen hinauf. Die kleine Kugel schwebte immer noch regungslos in der Nähe der Tür. Oben angekommen griff Lena blitzschnell nach dem Irrlicht, aber sie verfehlte es. Schmerzhaft prallten ihre Knöchel gegen die schwere Holztür, die sich knarrend etwas weiter öffnete. Das Irrlicht kicherte und schlüpfte hindurch.

»Verdammt, das darf doch nicht wahr sein!« Die altbekannte Wut regte sich in ihr.

Vorsichtig sah Lena durch den Türspalt. Dahinter lag ein dunkler Gang. Sie wusste, dass sie das nicht tun sollte, aber ihr Verlangen, endlich dieses leuchtende Biest einzufangen und es vielleicht Cay zeigen zu können, als Beweis, dass es existierte und sie nicht verrückt war, ließ sie alle Vorsicht vergessen. Sie schaute sich um, ob sie auch unbeobachtet war, und drückte die Tür ein bisschen weiter auf. Dann zwängte sie sich hindurch.

Das Irrlicht schwebte wenige Meter vor ihr und erhellte die Wände aus behauenen Steinen. Sie musste sich jetzt ungefähr über dem kleinen Bad befinden. In diesem Gang gab es keine Fenster und das Gemäuer sah uralt aus, viel älter, als der Rest des Schlosses. Aber es waren gemauerte Wände, nicht rohe Felsen so wie unten im Bad. Es musste hinter dem Schloss in der Felswand eine Höhle geben, in die dieser alte Teil hineingebaut worden war.

Das Kichern des Irrlichts ließ Lena auffahren. Es schwebte jetzt einige Meter entfernt vor einer Tür, und als Lena ihm nachging, schwebte es auf und ab hüpfend hindurch. Mist. Sie hatte nicht vorgehabt, in eines der Zimmer zu gehen. Dass sie diesen Gang betreten hatte, war schon schlimm genug. Aber jetzt hatte sie sich in den Kopf gesetzt, das Biest zu fangen, also folgte sie ihm. Was konnte schon passieren? Baufällig sah dieser Teil des Schlosses eigentlich nicht aus. Dann wäre auch die Tür sicher nicht offen gewesen. Wahrscheinlich standen hier nur irgendwelche verstaubten Kisten herum oder irgendwelche Dinge, von denen der verschrobene Schlossherr nicht wollte, dass sie jemand sah.

Sie machte einen entschlossenen Schritt in das Zimmer. Der schwache Schein des Irrlichts war ihre einzige Lichtquelle. Ein mulmiges Gefühl machte sich in Lena breit, als ihr wieder einfiel, dass das Irrlicht sie zu der giftigen Pflanze gelockt hatte. Wo hatte das gemeine Biest sie diesmal hingeführt? Sie wagte kaum, sich zu bewegen, aus Angst irgendetwas Gefährliches zu berühren. Das Irrlicht schwebte mittlerweile an der gegenüberliegenden Wand vor einem Wandgemälde. Sie machte ein paar Schritte darauf zu, um sich dem Irrlicht wieder anzunähern. Als ihr Blick auf das Bild fiel, erstarrte sie.

Feuer.

Es war überall, in leuchtendem Orange und Rot nahm es fast die ganze Wand ein. Drei Männer und eine Frau befanden sich inmitten der Flammen. Das Feuer leckte an ihren Körpern, hatte schon Brandwunden hineingefressen, die so echt aussahen, dass Lena den Schmerz beinahe fühlte. Die drei Männer würden nie wieder etwas fühlen. Sie waren bewusstlos, vielleicht sogar schon tot. Nur die Frau war hellwach. Trotzdem suchte sie nicht nach einem Ausweg. Sie saß regungslos in der Mitte und hielt einen der Männer im Arm.

Eiseskälte krallte sich in Lenas Magen. Es gab keine Rettung und die Frau wusste es. Unwillkürlich wich Lena ein Stück zurück. Im Blick der Frau lagen trotz allem kein Schmerz und auch keine Angst. Es war Freude. Und noch etwas. Triumph. So intensiv, dass es Lena kalt den Rücken herunterlief. Sie wollte verbrennen.

Lena schüttelte sich. »Grausam«, flüsterte sie. »Wer malt denn bloß so etwas?«

Erst jetzt fiel ihr auf, dass auf dem Bild noch eine fünfte Person zu sehen war. Kein Wunder, dass sie den Jungen, der Größe und Statur nach ein Teenager, zunächst übersehen hatte. Er war kaum mehr als ein Schatten in einer Ecke des Bildes, außerhalb der Flammen. Obwohl sein Gesicht kaum zu erkennen war, war der Ausdruck darauf nur allzu deutlich. Nacktes Entsetzen. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen, als Lena noch etwas anderes im Gesicht des Jungen erkannte. Es wirkte, als würde er in den Kreis hinein springen wollen. Als wollte er mit den anderen verbrennen. Die Sehnsucht des Jungen, nicht allein zurückzubleiben, schnitt ihr ins Herz.

Unfähig sich zu bewegen, stand sie vor dem Bild und starrte es an. Es wirkte so real.

Eigentlich wollte sie es nicht mehr ansehen, wollte es am liebsten sofort wieder vergessen. Stattdessen konnte sie nicht aufhören, sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, wenn das Feuer ihr das Fleisch von den Knochen fraß. Sie spürte beinahe den Schmerz, fühlte, wie der Rauch ihre Lungen vergiftete, bis sie brannten. Sie rang nach Luft und schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Es fühlte sich an, als würde sie wirklich bewusstlos werden.

Aber sie blieb wach. Mühsam. Es war nicht sie, die in den Flammen gefangen war. Nein, sie sah nur zu. Sie hustete, weil der Rauch auch in ihre Lungen drang, aber es war nicht genug, um sie zu töten. Alle Muskeln ihres Körpers waren schmerzhaft angespannt, weil sie etwas tun wollte, irgendwas. Es war zu spät. Sie wehrte sich dagegen, es einzusehen, so wie ihre Nase sich dagegen wehrte, den Geruch nach verbranntem Fleisch wahrzunehmen. Der Geruch, der ihr ihre Familie nahm. Unaufhaltsam drang er mit dem Atem in sie ein, in ihre Kehle, ihren Rachen, ihren Magen, bis sie sich würgend zusammenkauerte. Aber sie war es auch nicht, die sich übergab.

Langsam wich Lena zurück, jeder Schritt kostete Kraft. Es war kaum möglich, sich loszureißen und sich dem makabren Sog des Bildes zu entziehen. Mühsam, Schritt für Schritt überwand sie die Starre, die sie gefangen gehalten hatte. Sobald es ihr möglich war, das Bild aus den Augen zu lassen, wandte sie sich ab, stürzte aus dem Zimmer und suchte nach dem Ausgang aus der Dunkelheit, die sie umgab. Zuerst sah sie nur gelbe und rote Punkte, als hätte sich das Feuer in ihre Netzhaut eingebrannt. Sie blieb stehen, rieb sich die Augen und starrte in die Dunkelheit, bis die Flecken vor ihren Augen verschwanden. Endlich fand sie den schmalen Streifen Tageslicht, der die richtige Tür markierte. Sie lief darauf zu und riss sie auf. Als sie in die beleuchtete Eingangshalle trat, blinzelte sie und versuchte, etwas zu erkennen, aber alles, was sie sah, war das Bild. Das Feuer. Die Frau. Der Junge.

Heftig schlug sie die Tür hinter sich zu, als könnte sie damit Abstand zwischen sich und das Bild bringen, aber es war immer noch da. Sie trug es jetzt in sich und nichts würde daran etwas ändern.

»O Gott, der Geruch«, stammelte sie und fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht.

»Leonora?« Cays Stimme drang durch den Nebel – oder war es Rauch?

»So viel Rauch«, murmelte sie.

Hände legten sich auf ihre Schultern, versuchten, ihr Halt zu geben. »Leonora. Sieh mich an.«

Sie hob den Kopf. Ihre Augen hatten sich inzwischen an die Helligkeit in der Halle gewöhnt und sie sah Cays besorgtes Gesicht vor sich.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

Sie nickte. »Geht schon wieder. Es ist nur … dieses Bild. Es ist nur ein Bild, nur gemalt, nicht echt, aber ich …« Sie verstummte.

Die Hände an ihren Schultern verspannten sich. »Du hast das Bild gesehen?«

»Da war Feuer überall und der Geruch … warum konnte ich es riechen?« Sie legte sich eine Hand auf den Magen, der sich immer noch flau anfühlte.

Cays Hände fielen von ihren Schultern und er trat einen Schritt zurück. »Das hätte nicht passieren dürfen«, flüsterte er.

»Es tut mir leid, ich wollte das nicht, aber die Tür war offen und …«

»Die Tür war offen?«

»Ich weiß, ich hätte trotzdem nicht reingehen sollen, aber da war das Irrlicht.« Sie biss sich auf die Lippen. Das mit dem Irrlicht hatte Cay ihr schon damals auf der Lichtung nicht geglaubt. Sie hätte es besser nicht erwähnen sollen, wahrscheinlich würde er es nur für eine faule Ausrede halten.

Er registrierte es gar nicht. Machte er sich Sorgen, dass der Schlossherr von dem Vorfall erfahren könnte und ihn entließ? »Es tut mir wirklich leid. Ich hatte das nicht vor.«

»Ich weiß. Es war nicht deine Schuld.« Er warf einen Blick auf die Tür. »Leonora, das Bild …«

Sie schüttelte heftig den Kopf und er verstummte. Über das Bild wollte sie jetzt wirklich nicht reden. Sie wünschte sich, sie hätte es nie gesehen. »Können wir das nicht einfach vergessen? Es muss ja niemand davon erfahren«, krächzte sie. Was für ein Vorschlag, wo sie doch genau wusste, dass sie nichts davon je würde vergessen können.

Cay schien ihre Gedanken zu erraten, denn er sah sie so zweifelnd an, dass sie sich fast schämte, es vorgeschlagen zu haben.

Irgendwann nickte er. »Ich bringe dich nach Hause.«

Ja, nach Hause. So weit wie möglich weg von dem Bild. Wenn sie es nur lange genug ignorierte, wenn sie es aus ihren Gedanken verbannte, dann würde auch der Junge aus ihrem Kopf verschwinden und mit ihm das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

 

*

 

Als Lena wenig später mit Cay vor die Tür trat, fiel ihr auf, dass die Dämmerung schon fast in Dunkelheit übergegangen war.

»O nein«, flüsterte sie. Nicht nur, dass das Bild sich einfach nicht ignorieren ließ, es war auch schuld daran, dass sie jetzt wieder im Dunkeln durch den Wald musste. Sie hatte zu lange davor gestanden und es angestarrt. Ihr Mund wurde trocken. Sie meinte schon, den süßlichen Geruch wahrzunehmen. Sah den Schatten vor ihrem inneren Auge. Sie bemühte sich, nicht zu zittern. Es war dumm, sich vor dem Wald zu fürchten, nur weil sie einmal einen Schatten gesehen hatte, und diesmal würde sie Cay nicht aus den Augen lassen. Trotzdem, zu Fuß war es ein ziemlich langer Weg bis zum Auto und sie wollte so schnell wie möglich hier weg. Weg von dem Bild.

»Ich würde lieber reiten«, flüsterte sie.

»Trotz der Dunkelheit?«, fragte Cay. »Hältst du das für eine gute Idee?«

Sie nickte.

»Gut, dann holen wir die Pferde.«

»Nein.« Sie holte tief Luft. »Nimm mich mit auf dein Pferd.«

Überrascht blieb er stehen und sah sie an. »Ich dachte, das wolltest du nicht?«

Will ich auch nicht. Aber es ist das kleinere Übel. Ihr war immer noch flau im Magen und ihre Knie waren weich. Jetzt ein Pferd durch die Dunkelheit zu dirigieren, das erste Mal nach so langer Zeit, wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Außerdem konnten sie nicht getrennt werden, wenn sie zusammen auf einem Pferd saßen. »Ich glaube, so ist es am sichersten.«

Cay sah sie kurz nachdenklich an, dann nickte er. Lena folgte ihm zu den Stallungen im Schlosshof, wo Cay eine Laterne anzündete und eines der Pferde aus einer Box holte. Es war ziemlich groß und schwarz, aber es schien freundlich zu sein, und als Lena ihm ihre Hand hinhielt und dann die samtige Nase streichelte, schnaubte es zufrieden.

»Das ist Athanor«, sagte Cay hinter ihr. Sie drehte sich zu ihm um. Im Schein der Laterne sah sie, dass er ein Zaumzeug in der Hand hielt. Er kam auf sie zu, griff nach dem Kopf des Pferdes und streifte ihm die Trense über. Dann führte er Athanor ein Stück von der Mauer weg und winkte Lena zu sich.

»Kein Sattel?«

Cay schüttelte den Kopf. »Zu zweit sind wir ohne Sattel besser dran. Komm, ich helfe dir beim Aufsteigen.«

Er gab ihr die Zügel und sie legte beide Hände auf den Pferderücken. Cay griff nach ihrem linken Unterschenkel und gab ihr Schwung, damit sie sich auf das Pferd hieven konnte. Dann saß er hinter ihr auf. Noch nie war sie ihm so nah gewesen. Ihr Rücken lag an seiner Brust und ihre Oberschenkel berührten seine auf ganzer Länge. Selbst als er sie schlafend in den Armen gehalten hatte, hatte es nicht so viel Berührung gegeben. Lena versuchte, wenigstens ein bisschen Abstand zu wahren, und rückte ein Stück nach vorn.

»Bereit?«, fragte er.

»Ja«, flüsterte sie. So bereit, wie ich sein kann.

Sie spürte, wie seine Oberschenkel sich anspannten und dem Pferd den Befehl gaben, sich in Bewegung zu setzen. Sofort rutschte Lena wieder gegen ihn. Sie fluchte innerlich und bemühte sich, wieder nach vorn zu rutschen. Vergeblich.

»Es ist einfacher, wenn du dich gegen mich lehnst«, sagte Cay.

»Nein, schon gut.« Sie griff in Athanors Mähne und zog sich daran ein Stück von Cays Körper weg, aber nach zwei Schritten berührte sie ihn wieder. Ihr Rücken an seiner Brust, ihre Oberschenkel an seinen und ein Kribbeln überall auf ihrer Haut.

»Leonora, so geht das nicht. Lass es einfach zu und geh mit der Bewegung.«

Sie wollte widersprechen, aber sie musste selbst zugeben, dass er recht hatte. Es hatte keinen Sinn. Wenn es nur nicht so schwer gewesen wäre, es zuzulassen. All ihre Muskeln waren vor Aufregung angespannt.

»Entspann dich«, flüsterte er.

Beinahe hätte sie geschnaubt. Das sagte sich so leicht. Wie sollte sie sich entspannen, wenn seine Wärme durch die dünnen Kleider in ihren Körper drang, wenn sein Atem sie die ganze Zeit hinter dem Ohr kitzelte und wenn er – so wie jetzt – seinen Arm um ihre Taille legte, um sie festzuhalten. Sie schloss die Augen.

Sofort riss sie sie wieder auf. Es war keine gute Idee, die Augen zuzumachen, wenn einem sowieso übel war. Jetzt, da sie nicht mehr damit beschäftigt war, sich von Cay wegzuschieben, spürte sie jeden der schaukelnden Pferdeschritte umso heftiger in ihrem Magen. Als sie Galle in ihrem Mund schmeckte, verkrampfte sie sich noch mehr.

»Wovor hast du Angst?« Cays Stimme klang sanft.

Davor, mich vor dir zu übergeben. Niemals würde sie sich trauen, ein paar Schritte in den dunklen Wald zu gehen, um dabei allein zu sein. Sie atmete tief ein, um die Übelkeit in den Griff zu bekommen. »Vor nichts«, presste sie hervor und versuchte fieberhaft, sich irgendwie abzulenken. Und ihn, damit er nicht weiterfragte. »Was … was ist hinter dem Schloss? In dem Felsen?«

»Eine Höhlenburg. Das ist der ganz alte Teil.«

»Warum baut man eine Burg in eine Höhle? Ohne Fenster?«

»Früher hatte sie auf der Vorderseite Fenster, bevor der neue Teil davor gebaut wurde. Die Höhle schützt vor Angriffen von oben und hinten, und durch den See war die Burg praktisch uneinnehmbar.«

»Das … das ist echt interessant«, sagte Lena ächzend. »Nur leider … hilft es nicht.«

Cay hielt Athanor an. »Was ist los? Ist es das Bild?«

Mühsam atmete Lena ein. »Nein … ja … auch«, stammelte sie. »Mir war sowieso schlecht von dem Geruch und dann das Reiten. Mir wird beim Reiten schlecht.« So, jetzt hatte sie es gesagt.

»Warum sagst du mir das erst jetzt?«

Lena schluckte mühsam und schüttelte den Kopf.

»Sollen wir lieber laufen? Ich kann Athanor führen.«

Lena schüttelte noch heftiger den Kopf. »Nein, aber kurz stehen bleiben. Das hilft.« Tatsächlich fühlte sie sich schon etwas besser. Vielleicht war es die Wärme von Cays Hand auf ihrem Bauch, die ihr guttat.

Lena schluckte heftig. Cays Hand lag auf ihrem Bauch.

War das ein Kribbeln? Schmetterlinge im Bauch, während einem übel war? Die sollten sich gefälligst zum Teufel scheren. Aber jetzt, da sie es bemerkt hatte und das Schaukeln des Pferdes aufgehört hatte, konnte sie sich plötzlich auf nichts anderes mehr konzentrieren, als Cays Körper an ihrem. Ein Gutes hatte es. Ihr Magen beruhigte sich immer mehr. Dafür pochte ihr Herz jetzt wie verrückt und sie verspürte das drängende Verlangen, ihren Kopf an Cays Schulter zu legen. Wie es wohl wäre, seine Wange an ihrer zu spüren? Nur ganz kurz? Seine Haut auf ihrer, nicht nur im Traum, sondern in Wirklichkeit?

»Weiter. Bitte, reite weiter.« Lena biss sich auf die Lippen. War ihr die Übelkeit wirklich lieber, als sich endlich einzugestehen, dass sie ihren Gefühlen nachgeben wollte? Trotz allem? Dass ihr die Gründe, Cay abzuweisen, nur noch wie fadenscheinige Ausreden vorkamen, wenn sie ihm so nahe war?

Cay ließ das Pferd weitergehen und Lena erwartete, dass die Übelkeit sofort zurückkommen würde. Das tat sie immer. Auch dieses Mal bildete keine Ausnahme, aber sie wurde nicht mehr so stark wie zuvor. Vielleicht war es die kühle Nachtluft auf ihrem Gesicht oder die Tatsache, dass sie jetzt abgelenkt war. Immer noch lag seine Hand auf ihrem Bauch und sie wünschte sich, er würde sie unter ihr T-Shirt schieben. Sie stellte sich vor, wie er mit den Fingerspitzen die weiche Haut ihrer Taille liebkoste. Wie er ganz sachte die Finger nach oben wandern ließ, bis sie die Rundung ihrer Brust streiften. Als sie spürte, dass ihre Brustwarzen hart wurden, keuchte sie leise. Verdammt, sie musste sich endlich zusammenreißen, sonst würde er irgendwann doch noch merken, woran sie ständig denken musste.

Sie atmete erleichtert auf, als das Auto endlich vor ihnen aus der Dunkelheit auftauchte.

Cay stieg zuerst ab und hielt ihr beide Hände hin. »Brauchst du Hilfe?«

»Nein, schon gut.« Sie ließ sich vom Pferderücken rutschen. Das fehlte ihr gerade noch, dass er sie vom Pferd hob und sie vielleicht noch an sich drückte.

»Was machst du denn jetzt mit ihm? Lässt du ihn einfach laufen?«

Cay lachte leise. »Auf keinen Fall, der wäre sofort weg. Er würde sich nur zu gern mal die Umgebung ansehen. Komm, ich zeig es dir.«

Athanors Hufe knirschten auf dem Kies, als Cay ihn und Lena um ein paar Bäume herumführte. Hier gab es eine kleine umzäunte Waldwiese. Cay öffnete das Gatter und schob Athanor hindurch.

»Bilde ich mir das nur ein, oder sieht er beleidigt aus?«

»Er ist beleidigt. Er kann das auch ziemlich deutlich zeigen.« Der große Schwarze drehte sich um und schüttelte unwillig den Kopf, als Cay das Tor wieder schloss.

»Stimmt.« Sie lächelte und strich dem Schwarzen noch einmal flüchtig über die Nase. Eigentlich war er ganz nett. Er konnte ja nichts dafür, dass ihr von seinen Bewegungen schlecht wurde. Als Cay ihr die Hand hinhielt, legte sie ihre sofort hinein.

»Geht es dir wieder besser?«, fragte er, während sie zum Auto gingen.

»Ja.« Erstaunt bemerkte sie, dass die Übelkeit vollkommen verschwunden war. »Ich fürchte nur, wir müssen doch zu Fuß gehen, wenn ich das nächste Mal herkomme.«

Er blieb stehen und drehte sich zu ihr. Seine Augen glitzerten in der Dunkelheit. »Ich bin froh, dass du wiederkommen willst«, flüsterte er.

»Natürlich komme ich wieder.«

Er nickte und einen Moment glaubte sie, er wolle sie an sich ziehen. Doch er tat es nicht. Er hob nur eine Hand und fuhr damit über ihre Wange. Seltsam. Den ganzen Weg vom Schloss hierher hatte sie seinen Körper an ihrem gespürt. Doch diese winzige Berührung seiner Fingerspitzen wirkte viel intimer als alles, was sie gespürt hatte. Sogar intimer als alles, was sie sich vorgestellt hatte. Sie weckte ein Sehnen in ihrer Brust, das nichts mit körperlichem Verlangen zu tun hatte. Nur damit, ihm nahe zu sein. Wenn Cay sie jetzt geküsst hätte, hätte sie es dann zugelassen?

Sie wusste es nicht. Sie wusste gar nichts mehr. Als er seine Hand fallen ließ und Lena zum Auto führte, wusste sie nicht einmal, ob sie enttäuscht oder erleichtert war.